Wolfgang Cernoch
KULTURPHILOSOPHIE UND POLITIK ZUR GESCHICHTLICHKEIT DER ZEIT UND DER GESCHICHTLICHKEIT IN DER ZEITWAHRNEHMUNG. VON DER TRANSZENDENTALEN ZEITBEDINGUNG ZUM ZEITINHALT IN DER GESCHICHTSPHILOSOPHIE
Wien 2006
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Vorbemerkung In der Einleitung wird die transzendentale Anthropologie zwischen Kulturund Naturwesen des Menschen systematisch in die Geschichtlichkeit des Daseins (im Sinne Kants schließlich Publizistik) eingespannt, und der gesamte Fragekreis von hier aus aufgespannt. Die bereits im Ursprung des philosophischen Fragens in der Rückwendung auf den Menschen selbst sich abzeichnenden Schwierigkeiten, wollte man aus dem Unbekannten, das wir uns selbst sind, ein absolutes Fundament destillieren, um unser mögliches Gattungswesen vollständig und gewiss zu unserem Besitz zu machen, auf daß wir unsere historische Erfahrung zur Ausgestaltung unseres Daseins und unserer Gesellschaft gar nicht mehr benötigen, zwingen zur Transformation der metaphysisch indizierten Fragestellung zur Offenheit einer transzendentalen Fragestellung, die eben beides benötigt: Das Analytische des Rückganges auf das Unbekannte unseres Ursprungs und das Synthetische der jeweils in der Gegenwart stattfindenden Progression, die die Unterbestimmtheit der Vergangenheit mit der Unbestimmtheit der Zukunft, manchmal blind, manchmal, so scheint es, weiter sehend als wir, inmitten unserer Kontingenz vermengt. Der Titel der ganzen Arbeit ist etwas irreführend: Ich komme erst nach der Grundlegung der Geschichtlichkeit der Zeitwahrnehmung zum Zeitinhalt. Die vorliegende Arbeit hat vielmehr ihren ersten Zweck in der Verbindung der Grundlagenproblematik insbesondere der Geschichtsphilosophie mit den Vorstellungen des Regressus in der Dialektik der reinen Vernunft der Kantschen Transzendentalphilosophie, um die Irrtümer Simmels und Mannheims bezüglich des transzendentalen Subjektes der Geschichtsphilosophie oder Kultursoziologie hintanhalten zu können. Der Irrtum besteht im Wesentlichen darin, die transzendentale Zeitbedingung der Sinnlichkeit mit den Formen des Regressus des Erfahrungmachens zu verwechseln, weshalb die Anwendung des Kategoriengerüsts aus der Analytik des Verstandesgebrauches unangebracht ist. Der andere Pol der Untersuchung des Geschichtlichen als Problem der Zeitwahrnehmung ist die Kultursoziologie der Frankfurter Schule, dessen Hegelianismus insbesondere bei Adorno anhand der Unterschiede der Bereiche der Gesellschaft, die bei Adorno, Benjamin und Mannheim als
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Ausdrucksebene aufgefasst werden, kritisch durchleuchtet werden soll. Insbesondere bei Adorno wird die Verwischtheit der Grenze zwischen einem konkreten Kunstobjekt und der geschichtlichen Perspektive in der Methexis einerseits, und den kontingenten Fulgurationen der Methexis, wie sie dem Betrachter nahegebracht wurde und der Spontaneität des Betrachters im Geschmacksurteil andererseits im Zuge der Aufstufung der ästhetisch-philosophischen Reflexion sehr schön einsichtig. Aber auch bei Benjamin und Mannheim gibt es diese aufstufende Denkbewegung im Versuch, den Sinn von Geschichte auszulegen und vor allem zu zeigen die Absicht haben, wie die Rede vom Sinn der Geschichte überhaupt möglich wird. Die Frage nach dem Zeitinhalt der Geschichte ist aber damit beantwortet, daß eben Artefakt, Kulturausdruck und Sinnhorizont der Geschichte gemeinsam den Zeitinhalt darstellen, aber jeweils für sich als Darstellungsebene auftreten.
Als Verbindungsstück soll die Überlegung im Anschluß an die transzendentale Grundlegung des historischen Zeitbegriffes im Regressus und Progressus des Erfahrungmachens Kantens dienen: Da wird Robert Zimmermann zur Darstellung der nämlichen Beziehung des Betrachters zum Kunstwerk herangezogen wie von Adorno abgehandelt. Allerdings bleibt Zimmermann, unter dem Einfluß Herbarts stehend, formalästhetisch, doch erlaubt Zimmermanns Ansatz so auch, deutlicher als es auch bei Adorno möglich wäre, die Ursache, die im Künstler gegenüber dem Artefakt zu sehen ist, die Ursache, die im Artefakt gegenüber dem Betrachter tätig zu sein scheint, und die Ursache, die im interpretierenden Betrachter tätig ist, im Sinne des Spiels von Rückblick und Vorblick, wie von Kant im Zusammenspannen von Regressus und Progressus vermutlich nach thomistischen Vorbild vorgesehen worden ist, unterzubringen. Dabei hat sich gezeigt, daß sich die angerissenen Vorstellungen von Ursächlichkeit sich gemäß der reinen Verstandesbegriffe der dynamischen Kategorien gruppieren lassen, aber als transzendentale Zeitbedingung aufgefaßt der Kausalitätskategorie am überzeugensten eine Verbindung zum transzendentalen Subjekt Kantens herzustellen erlauben. Kierkegaard behandelt mit der Frage nach dem Verhältnis der Jünger zu Jesus im Vergleich zum Verhältnis des später Christus Nachfolgendem zu Jesus ebenfalls eine insofern verwandte Frage, die sich zuspitzt zur Frage nach
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dem Ursprung und der zu erhaltenden oder durch Interpretation erst herzustellenden Einheit der Botschaft durch die Zeit hindurch, die den hermeneutischen Aspekt des Fragekreises analog zur logischen Definition der Sukzessivität zur Kontinuitätsbedingung erhebt. Als Zeitinhalt steht aber in der Philosophie der Ästhetik seit Zimmermann bis zu Adorno der Mensch, der zwischen individueller und gattungsmäßiger Existenz das umrissene Feld Artefakt, Kulturausdruck des Ensembles und Methexis zum Ausdruck wie zur Selbsterkenntnis benutzt. — Nachdem die transzendentale Grundlegung der Zeitwahrnehmung als Geschichtlichkeit (Abschnitt A) und die kultursoziologische Begründung der Zeitwahrnehmung als Geschichtlichkeit, die über die philosophische Ästhetik die Frage nach dem Gattungswesen und seinem historischen Sinnhorizont aufzuwerfen beginnt (Abschnitt B), tritt die Überlegung in den nächsten Fragekreis, der angesichts der Komplexität der Zusammengesetztheit der Spontaneität, die sich der Spontaneität des Betrachters letztlich aufprägt, mit dem Freiheitsproblem zu tun bekommt. Die ganze Überlegung zwischen Individuum und Gattungswesen findet notwendigerweise am Boden der Gesellschaftswissenschaften statt, wenn die Geschichtlichkeit der Zeit wesentlich wird. So stellt sich Verbindung von Freiheit des Individuums und Politik von selbst her (Abschnitt C). Das Freiheitsproblem wird nun nicht mehr ausschließlich oder vorwiegend als Frage an das Individuum verstanden, sondern als Offenheit der historischen Möglichkeiten in den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen und deren externen Randbedingungen. Mit Hilfe eines Aufsatzes von Michael Benedikt (Vom Gattungswesen zum Geist. Metamorphose beim frühen Hegel und beim jungen Marx, in: Philosophische Politik?, Thuria und Kant, Wien 1992) wird das Ungenügen der Idee des Gattungswesen vorgeführt, wenn versucht wird, die Relationen von Tausch und Produktion analytisch aus demselben abzuleiten. Zwar ist sowohl Tausch wie Produktion mit dem Begriff vom Menschen hinreichend als ursprünglich mitgegeben zu denken, doch aber ist die Ausformung zu Relationsbegriffen zweiseitig: Der Mensch als Individuum und als Sozialwesen kann sowohl als Quelle der Spontaneität der gesellschaftlichen Bewegungen wie auch als Material des vergesellschafteten »man« der Institutionen betrachtet werden. Den Bedingungen dieser notwendigen
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Synthesis wird als Aufgabenstellung weiter nachgegangen. Im nächsten Beitrag wird der Veränderung durch die Industrialisierung und Monetarisierung der Wirtschaft selbst nachgegangen, um der Kritik an der Frankfurter Schule ein erstes Gegengewicht geben zu können; und zwar beginnen die Gründe der Beschleunigung der Gesellschaftsbewegung und Veränderung ins Zentrum der Erörterung einzurücken. Die damit verbundenen Veränderung zwischen den Allgemeinen und dem Individuellen betreffen den Einbruch der partikularen Vernunft in die Illusion einer durchgängigen allgemeinen Vernunft schon seit Zimmermann und die Wertediskussion. Damit verschiebt sich die philosophische Fragestellung von einer transzendentalen Problemaufstellung (vom Subjekt ausgehend) zu einer Problemaufstellung der metaphysischen Anfangsgrunde der Gesellschaftswissenschaften. Die vorliegende Arbeit ist konzipiert als Grundgerüst und Ankündigung von Weiterem. Ich möchte in gewisser Vorläufigkeit und Unbestimmtheit einige Punkte anreissen: 1. Zuerst ist eine Diskussion des Rückbezuges auf das Kantsche transzendentale Subjekt bei Simmel und Mannheim abzuführen, die mit den Standpunkten anderer moderner klassischer Soziologen wie Tönnies, Durkheim, Pareto etc. zu konfrontieren wäre. 2. Abgesehen vom allgemein zu erwartenden Ausbau der Argumentation ist sowohl der Vergleich der Positionen innerhalb der Frankkfurter Schule (etwa Horkheimer und Bloch) wie außerhalb näher auszuführen. Es fehlt noch das historische Verhältnis zum Marxismus und den wichtigsten Grundzugen der Hegelrezeption der Exponenten der Frankfurter Schule, und es fehlt noch eine ausformulierte Kritik an den Positionen derselben hinsichtlich der Supplierung der Kritik an Politik, Ökonomie, Rechtsstaatlichkeit durch die Entwicklung des politischen Aspektes der Kunst- und Kulturkritik. 3. Weiters bietet sich die Weiterführung der Diskussion um die Grundlagen der Sittlichkeit des Menschen sowohl transzendentalphilosophisch wie philosophisch wie kultursoziologisch an (materiale Wertethik und
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Lebensmächte: Max Scheler, Alois Dempf, »morale par provision«: Descartes und K. O. Apel). 4. Schließlich ist die Einspielung der Ökonomie nur als erste Skizze zu verstehen, deren bereits geplante Ergänzung einerseits zwischen Carl Mengers Grenznutzentheorie und deren psychologisch-ästhetischen Komponenten zur Warenästhetik, andererseits zwischen Mengers Soziologie und deren primitive Gruppentheorie zu Carl Schmitts politischer Theologie, insbesondere was die Bestimmung des Feldes der Außenpolitik angeht, jeweil eine Verbindung herstellt. Darüberhinaus wird eine Skizze der wichtigsten Positionen in der Geschichte der ökonomischen Theorie wohl für den Gesamtzusammenhang unverzichtbar bleiben. 5. Neben den schon historisch bekannten Schwierigkeiten zwischen Wirtschaftsform, Staatsform und Sozialform kommt nun auch daß Verhältnis von Ökonomie und Ökologie auf uns zu. Es verbinden sich hier projektiv mehrere Aufgaben: Einerseits sollen die verschiedenen Relevanzen anhand einer gewissermaßen »flächig« vorgehenden Untersuchung, die über das Konzept der Lebensmächte hinaus in die relative Selbstständigkeit gesellschaftlicher Prozesse reichen, in ihrer Verschiedenheit der Quellen und Ausformungen skizziert werden, andererseits wird damit auch die Rekonstruktion eines »globus intellectualis« ins Auge gefaßt, um eine systematische Rückbindung an die vertikale Reflexion von Individuum, Vergesellschaftungsformen, Gattungswesen und Natur zu erreichen.
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Inhaltsverzeichnis Einleitung: Die Grundlagenproblematik der philosophischen Anthropologie und die Universalgeschichte — 10
A. ZUR TRANSZENDENTALEN BEGRÜNDUNG DER ZEITWAHRNEHMUNG 1. Die inneren und äußeren Einschränkungen der Vernunft und die Instantierung der Subjektbegriffe. Die sechs direktiven und die drei relativ selbstständigen Arten von transzendentalen Differenzen. Bemerkung zu K. O. Apel. a) Der transzendentale Beweis einer transzendentalen Differenz in der transzendentalen Ästhetik ist erst mit dem transzendentalen Beweis des Kauslitätsprinzips und dessen Fassung der transzendentalen Differenz möglich — 16 b) Zwei nicht-transzendentale formalwissenschaftliche Differenzen: I. Das Ding an sich als Artefakt logischer Intentionalität und der dogmatische Gebrauch der reinen Verstandesbegriffe. Die drei Psychologien der Urteilslehre und die Ideenlehre — 20 II. Die Analogie der Diskursivität als Charakteristikum der Vernunft zur Diskursivität als Ideal der Kommunikationswissenschaften — 24 c) Der Durchblick auf das intelligible Subjekt der empirischen Handlung impliziert eine zweite relativ selbstständige und konstituive transzendentale Differenz als Vervollständigung zur Totalität der reinen Vernunft — 28 d) Der Übergang von reiner Vernunft zur reinen Willensphilosophie des intelligiblen Subjekts — 36 2. Formalontologie, Kultursoziologie, Geschichtsphilosophie? Zur dritten relativ selbstständigen und konstitutiven transzendentalen Differenz a) Der Übergang von der Formalontologie des Daseins zur Geschichtlichkeit des Daseins — 42
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b) Die Zeitlichkeit der Geschichtlichkeit: Die ästhetische Dimension der transzendentalen Zeitbedingung (Robert Zimmermann). Zur Doppeldeutigkeit von Artefakt und kulturellem Symbol — 45 c) Täuschung und Enttäuschung: Individuum und Gattungswesen — 49 d) Die Zeitlichkeit der Geschichtlichkeit: Die hermeneutische Dimension der transzendentalen Zeitbedingung (Sören Kierkegaard). Die Epoche in Erzählung und Natur — 51 e) Die eigentliche und die uneigentliche transzendentale Differenz der Zeit als Geschichtlichkeit — 57
B. ZUR KULTURSOZIOLOGISCHEN BEGRÜNDUNG DER ZEITWAHRNEHMUNG. KULTURSOZIOLOGIE UND GESCHICHTE: ADORNO, BENJAMIN, MANNHEIM 1. Der Schock, die monadische Konzentration (Methexis) und deren Öffnung zu Lebenslauf und Geschichte. Die Wahrheit der Geschichte ist die philosophische Wahrheit — 61 2. Der Widerschein der Politik zwischen Künstler, Publikum und Kunstkritik und die Ersetzung der politischen Kritik durch Kunstkritik. Die Wiederentdeckung der philosophischen Wahrheit in der Kunst als Brechung des Mythos — 67 3. Die Verwandlung von Kunst in Metaphysik und deren Zerstörung als Lichtung gegenüber der kollektiven Auflösung der Weltanschauungsphilosophien ins Mimetische — 72 4. Freiheit als historische Möglichkeit und Utopie? Zur Kompexität und Spontaneität (Fulguration) der Methexis — 77 5. Die Negationen des Scheins und die Geschichtlichkeit als Negat der Zeitform des Seienden. Der Übergang von philosophischer Ästhetik zu Kultursoziologie zu Kulturphilosophie als Bearbeitungsstufen der Kollektivität der Methexis — 85
C. FREIHEIT UND POLITIK 1. Das Allgemeine an der Aufklärung und das emprische Individuum als Wurzel der kritischen Vernunft. Der endgültige Positionswechsel des Realismus und dessen Bedrohung durch die Indifferenz von Totalitarismus und absolutem Individualismus
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a) Der transzendentale Mangel in der Unerkennbarkeit der ratio essendi des Gattungswesens: Freiheit als Grund von Sittlichkeit. Demgegenüber die empirische Bestimmbarkeit in der ratio cognoscendi des Gattungswesens: Sittlichkeit als Grund der Freiheit — 90 b) Das unvollständige Kalkül des Projekts der Aufkärung: Prästabilierte Harmonie, »invisible hand«, List der Vernunft, Fulguration — 94 c) Aufklärung und Humanismus: Wechselseitige Entwertung von Allgemeinheit und Individuum und die Wiederkehr der Gespenster oder das Studium der Relevanzen — 97 2. Philosophische Politik? a) Die Ideen von Gesellschaft und Gattungswesen: Polis und communio primavea — 101 b) Der Übergang von communio primavea zur communio mei et tui originare reicht nicht zur Konstitution der Produktions- und Tauschrelationen — 106 c) Der Mangel an der Idee der Politik als gemeinschaftlicher Willensausdruck und die Künstlichkeit der Relationen — 112 3. Metaphysische Anfangsgründe der Gesellschaftswissenschaften zwischen zwei Ursprünge der Beurteilungsprinzipien: Psychologie und Soziologie im Rahmen der philosophischen Anthropologie I. Zu den Erfahrungsgrundlagen — 118 II. Ökonomie als Dynamik — 120 III. Prinzipien der »sozialen« Anschauung und Prinzipien der Sittlichkeit als Beurteilungsprinzipien — 123 IV. Der Wert (pretium) als das Prinzip der Regeln des Spieles — ist demgegenüber dignitas bloßer Stil und somit Ästhetik? — 127 V. Die »prästabilierte Harmonie« Leibnizens oder die »invisible hand« von Adam Smith? — 131 VI. Die unbekannten Alternativen anhand der gemeinsamen Betrachtung von Relevanzen und Werte — 135 Bibliographie in Arbeit
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Einleitung:
DIE GRUNDLAGENPROBLEMATIK DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE UND DIE UNIVERSALGESCHICHTE Die Anthropologie zeichnet sich durch eine Anzahl problematischer Beziehungen aus, welche alle einerseits die Anthropologie als Begründungsinstanz einzelner methodischer Interessen heranziehen, oder andererseits diese erst nach der erfolgten Ermittlung ihrer jeweils eigenen Grundlagen anhand der Bedingungen einer praktischen Synthese derselben sowohl die Anthropologie konstituieren sollen, wie auch allererst die Praxis einer ethischen Bedingung unterwerfen. Damit spiegelt sich in der formalen Struktur des hier erforderlichen Reflexionsganges die Problematik der zerfallenenden substantialen Formen der Leibniz‘schen Einheit von Monadenwelt und vinculum substantiale ab. Allerdings auf einer Weise, welche die intellektuelle Subsumtion, mit welcher noch an der Nahtstelle zwischen beseelten apperzipierenden Mondaden und der konvergierenden Maschinen- und Organismenwelt eine Vereinbarkeit gedacht werden könnte, offensichtlich als ungenügend entlarvt. Die philosophische Anthropologie steht zunächst in drei große Bezüge eingespannt: Erstens die Bestimmung des Menschen als Naturwesen unter anderen Naturwesen und die Frage nach der Herkunft des Menschen als Kulturwesen; zweitens das Verhältnis zwischen der Vorstellung einer Intelligenz überhaupt aus der Analyse von Wahrheit und Logik und einer Wissenschaft vom Menschen; und drittens das Verhältnis zwischen derart aus der Einheit von absolutem Wissen als scientia generalis und der Vorsehung Gottes gezogenen Bestimmbarkeit der menschlichen Seele zur Bestimmbarkeit des Menschen als geschichtliches Wesen überhaupt, welches den Übergang vom vernünftigen Tier zum Weltbürger zu beinhalten hätte, und nicht den vom Naturwesen zum Kulturwesen. Die Problematik des erstgenannten Themenkreises ist nur an der Oberfläche der Verhaltensforschung zu behandeln, und kann so nur Material, aber keine Konzepte zur Beantwortung der Frage: Was ist der Mensch? liefern, denn immer schon wird der Mensch auch als Kulturwesen angetroffen,
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sodaß sich angesichts der feststellbaren Sozialordnung bei höheren Tieren der Kern der Frage auch von hier aus zum drittgenannten Themenkreis verschiebt. Die Unterscheidung in Naturwesen und Kulturwesen wird also von zwei Seiten her relativiert: einmal läßt sich bei vielen höheren Tieren eine soziale Rangordnung feststellen welche nicht allein durch Instinkt erklärbar ist, sondern aus bloß vorgegeben gedachten Instinkten im Wechselspiel der Individuen erst entsteht; und einmal läßt sich der Mensch nur als Kulturwesen feststellen, sodaß die Frage nach dem, was der Mensch sein solle (und was er hoffen dürfe) nur in der Spannung des Überganges von Kultur zu Zivilisation gestellt werden kann. Gerade die Möglichkeit der Behauptung, daß Geschichte einen Zweck haben soll, ohne daß damit behaupten worden ist, daß Geschichte einen Zwecke haben müsse, gibt die Möglichkeit, zwischen Metaphysik als Naturteleologie (Physik) und Metaphysik als heilsgeschichtliche Teleologie der Konvergenz von Politik und Theologie zu unterscheiden. — Die alternative Bestimmbarkeit der Notwendigkeit einer teleologischen Bestimmbarkeit von Geschichtlichkeit, also als Naturphilosophie der Geschichte oder als historische Phänomenologie einer Kulturanthropologie, ändert an der formalen Struktur des Reflexionsganges nur wenig. Die fraglos vorausgesetzte Einheit des Menschen sollte zuvor die verschiedenen Arten der Praxis zur Einheit bringen können, und damit entweder einer ontotheologischen Metaphysik das Schema ihrer Verwirklichung auch in der Schöpfung durch den Menschen hindurch garantieren, oder allererst einer nur transzendental ortbaren Gesamtmetaphysik die Denkbarkeit ermöglichen. Jedoch wird eben in der Anthropologie gerade diese Einheit selbst zum Gegenstand der Fragestellung, sodaß die philosophische Analyse der Seinsbezüge des Menschen sowohl zur eigenen Grundlegung wie zur Grundlegung ihrer systematischen oder teleologischen Einheit woanders vorstellig werden muß. Kant gibt in der »Metaphysik der Sitten« sowohl für die systematische, wie für die teleologische Einheit einen Ansatz vor, welcher in zwei Schritten verläuft. Zunächst wird die Bestimmung der Intelligenz außerhalb jeder Anthropologie vorgenommen, und bezieht sich auf das transzendentale Subjekt als Bedingungskatalog zur Erkenntnis in der theoretischen Vernunft. Erst im Anschluß darauf wird die so bestimmte Vorstellung eines
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vernünftigen Wesens dahingehend weiterbestimmt, daß ein solches vernünftiges Wesen notwendigerweise auch moralischen Gesetzen unterworfen sein muß. Also erst die Anwendung eines solchen im Rahmen der theoretischen Vernunft bestimmten transzendentalen Wesens auf den Erfahrungsgegenstand, der für uns nur der Mensch selbst sein kann, bringt Universalbegriff und Gattungsbegriff in die Verstrickung von Ontologie und Anthropologie (269). Daraus ergeben sich allerdings zwei grundlegende Probleme, nämlich erstens daß die Bestimmung moralischer Gesetze im transzendentalen Subjekt der theoretischen Vernunft nur den Ort der Reflexion angiebt, aber nicht den Unterschied zwischen Wahrheit als Bestimmung eines Urteils als einer diesem außerhalb vorliegenden Sachverhalt zukommende Vorstellung, und Wahrheit als Bestimmung der Rechtmäßigkeit der Methode oder der Gutheit eines Zweckes. Zweitens aber, daß eine derartige Konzeption der Bestimmung der Anthropologie aus dem Primat eines transzendentalen Wesens überhaupt nur den Kreis der engen Pflichten gegenüber sich selbst beinhalten kann und den schon für die Tierheit partiell zugestandenen Sozialcharakter außer Acht läßt; somit die Übergangsbestimmungen von transzendentalen Subjekt zum anthropologischen Subjekt ohne die Angabe der restringierenden Bedingungen der Sinnlichkeit im Übergang von reinen Kategorien zu schematisierten Katgorien stecken bleibt. Das hat zwar weiters seinen Grund in der Verschiedenheit in der Objektbestimmung bis zum Ding an sich selbst und als Gegenstand bereits vergesellschafteten bzw. anhand der Überlebens- und Lebensinteressen vergesellschaftbaren Gegenstandes als Zeug, macht aber damit nur das Problem zwischen theoretischer und praktischer Vernunftbestimmung des transzendentalen Subjektes selbst als ungelöst sichtbar. Der Übergang von Mannigfaltigkeit als Verschiedenheit der Instanzen des transzendentalen Subjektes zur Vielheit als Gegenstand der Spontaneität, die allem Anschein nach erst mit der Restringtion auf Bedingungen der äußeren Sinnlichkeit gegeben werden kann, führt in einen Paralogismus, worin sich das Subjekt nicht mehr als Ganzes wiedererkennen kann. Wird diese formal festgestellte gegenwendige Struktur des Reflexionsgangs nun auf den Ausfall zwischen transzendentalem Subjekt und anthropologische Subjekt angewendet, ergibt sich im Kant‘schen Ansatz
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eine doppelte Bestimmung des Problemhorizonts, welche mit der doppelten Bestimmung des Begriffes von der Natur des Menschen eine Entsprechung findet. Und zwar nicht als Doppeltheit von Naturwesen und Kulturwesens einerseits und vernünftiges Tier mit Zivilisation und Kultur, aber ohne Moral, andererseits, sondern bereits nur als Zivilisations- und Kulturwesen betrachtet; nämlich als am Individuum feststellbare Vereinigung von Physiognomie und Habitus einerseits und als in der Vergesellschaftung feststellbare Divergenz von Willen bzw. Abmachung und Institutionalisierung andererseits. Hiebei beinhaltet die Vereinigung von Physiognomie und Habitus den Übergang von Naturwesen zum Kulturwesen implizite ohne jede weitere Erklärung, sodaß auch hier nicht wirklich von ursprünglicher Einheit die Rede sein kann. Derart beschränkt bleibt die Anthropologie zwangsläufig hinter den Politikwissenschaften und der Soziologie als Lehre der Organisierbarkeit von Arbeitsteilung und Tausch zurück, da diese bereits wieder einen Naturbegriff vorstellen, welcher aus der Anwendung zuvor eingeforderter wissenschaftlicher Methoden im Rahmen der Idee einer Gesellschaftsmechanik erwachsen ist. Derart durchläuft die Reflexion der Anthropologie vier oder fünf Naturbegriffe: Erstens der Natur als Produkt und eigentliche Metaphysik der Physik, zweitens der dynamischen Auffassung der Natur vom Belebten her auf die ganze Varianz der Natur übertragen, worin auch der Mensch als Naturwesen einen ersten, aber immer verdeckten Platz hat; drittens die Natur des Menschen als Kulturwesen an sich, dem die Einwurzelung in ein »mythopoetisches heiliges Geviert« (communio primavea) aufgegeben ist; viertens die Natur des Menschen als historisch-konkretes Wesen, in der Dialogphilosophie manchmal als Eigentlichkeit pneumatologisch interpretiert (communio mei et tui originaria); und fünftens die Natur des Menschen als vergesellschaftetes Wesen, dessen Institutionen, wie sie auch immer legitimierbar sein mögen, in ihren epistemischen Funktionen mit der Idee einer Gesellschaftsmechanik partiell mittels Statistik übereingestimmt werden kann. Die zweite und dritte Natur sind selbst nicht offenzulegen, ohne nur einen Teil des Menschen ins Blickfeld zu bekommen; die vierte und fünfte Natur wäre noch nach Geschlechterdifferenz, öffentlich-rechtlich und familär-
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naturrechtliche Rollendifferenz und des in der Mitte der beiden letzten Positionen befindliche Herr-Knecht-Verhältnis zu ergänzen. Nach vorhergehender Überlegung bleibt der Anthropologie also nur mehr dritte und vierte Natur als eigenes Thema, und beinhaltet so aber weiter politische Relevanz, da die Öffentlichkeit jenes Bindeglied zwischen privaten und Arbeitsbereich einerseits und der Legitimierbarkeit der Institutionen andererseits darstellt. Jedoch reicht auch schon die von Kant angesetzte publizistische Methode nicht aus, welche er als Methode der Darstellung des ursprünglichen und abgeleiteten Rechts auf die Darstellung der Geschichte überträgt (vgl. Refl. 1439-1443). Kant entwirft die Möglichkeit einer Universalgeschichte, welche mit der Frage des Ursprungs von Gut und Böse beginnt, indem die Tierheit welche an sich nicht böse ist, mit der Vernünftigkeit, welche an sich gut ist, in ein Verhältnis gesetzt wird, woraus erst durch bloße Zivilisation und Kultur ohne Moralität die Möglichkeit des Bösen sich ergibt. Ohne an dieser Stelle auf die Überlegungen zur Religionswissenschaft in den Grenzen bloßer Vernunft selbst einzugehen, soll zumindest die Rolle der Publizistik in der Darstellung der Universalgeschichte vorstellbar werden können. Denn einerseits soll die Geschichte neben biographischer und statistischer (auch statuarischer) Darstellung vor allem in kosmopolitischer Absicht öffentlich werden; d.h. eine Geschichte der Fortschritte hinsichtlich der obersten Idee der Zweckmäßigkeit sein. Andererseits stellt Kant die Idee des obersten Zweckes, welche den Zusammenhängen nach Zwecken, selbst wenn sie nicht als solche intendiert sind (Refl. 1420), zur Bildung des Charakters und zur Bestimmung des Menschen als Gattungswesens inneren und systematischen Zusammenhalt geben soll, in Kontrast zu seiner Beschreibung des Zustandes der Öffentlichkeit in dieser Kultur und Zivilisation, welche ihr Maximum ohne Moralität erreicht habe: Mißtrauen, Mißgunst und Nebenbuhlerei kennzeichnen den öffentlichen Charakter. Die Publizistik hat also im Rahmen der humanistischen Bildungsidee auch die Aufgabe der Propaganda des Guten, und soll einen allgemeinen Chiliasmus herbeiführen, welche die Partikularität des Einzelnen in der
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Öffentlichkeit aufhebt, damit die politischen Institutionen nach der Idee des obersten Zweckes, eben die Ausbildung des sittlichen Charakters der Menschen, was zwar eine Gattungsbestimmung, aber eben nicht eine Bestimmung des Menschen als Naturwesen ist, gestaltet werden, und fortwährend neu legitimiert werden können. Die Universalgeschichte soll also erstens Einsicht geben, wie der höchste Zweck der Gesellschaft und des Staates sich auch aus nicht eigens intendierten partiellen Zwecken sichtbar macht, und gehört insofern zum Schema des anthropologischen Subjektes, welches nunmehr auch berücksichtigt, daß der Mensch von Natur aus ein komplexes Sozialwesen ist, dessen kommunikative Natur nicht ausschließlich dialogisch verfasst ist. Zweitens aber soll die Universalgeschichte ein anschauliches Beispiel sein, welches für die Öffentlichkeit geeignet ist, denn gelehrte Geschichte oder Religionsphilosophie zählt Kant nicht zu den kosmopolitischen Darstellungsmethoden. Nimmt man diese Kurzdarstellung als Grundlage für das, was aus der Erörterung der Öffentlichkeit als politischer Teil der Anthropologie (als Teil der vierten Natur) gewonnen werden kann, ist allerdings nur wenig mehr erreicht. Zwar wird nun auch der empirische Sozialcharakter berücksichtigt, was allein aus der Ableitung des anthropologischen Subjekts aus den transzendentalen Subjekt nicht geglückt ist, aber Kant gelingt es auch nicht (und macht konkret auch keinen ausdrücklichen Versuch dazu), den Ablauf der Geschichte als notwendige Ideengeschichte der Entfaltung, welche die Gattungsbestimmung des Menschen garantiert, noch als konsequent sich fortbildende Tradition der Selbstschöpfung des Menschen darzustellen. Dazu muß die Idee der Universalgeschichte selbst erst methodische Mittel erschließen, was sofort wieder, wie anfangs bereits gezeigt, die Begründungsproblematik außerhalb der transzendentalen Anthropologie verlegt. So ist selbst nach einer etwaigen Lösung des Methodenproblems zwischen Geschichte und Gesellschaftstheorie, und nach der Aufhellung des Unterschiedes zwischen Wahrheit und Rechtmäßigkeit bzw. Gutheit eines Urteils im Rahmen des transzendentalen Subjekts die Anthropologie nicht auf die ganze Menschheit anzuwenden; jedoch immer individuell und partiell.
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A. ZUR TRANSZENDENTALEN ZEITBEGRÜNDUNG DER ZEITWAHRNEHMUNG 9. Die inneren und äußeren Einschränkungen der Vernunft und die Instantierung der Subjektbegriffe. Die sechs direktiven und die drei relativ selbstständigen Arten von transzendentalen Differenzen. Bemerkung zu K. O. Apel. a) Der transzendentale Beweis einer transzendentalen Differenz in der transzendentalen Ästhetik ist erst mit dem transzendentalen Beweis des Kauslitätsprinzips und dessen Fassung der transzendentalen Differenz möglich I. Die transzendentale Ästhetik beginnt mit Setzung der Objektivität des Raumes, welcher allerdings auf Erfahrung respektive wiederum deren transzendentalästhetischen Erscheinungsformen a posteriori ihr Argument a priori gründen kann. Die Geometrie als Wissenschaft wird hier noch nicht als Argument gefordert, da der Raum als bloßes Auseinandersein weder metrische noch dimensionale Eigenschaften voraussetzt. Diese Setzung ist bekanntlich zunächst metaphysisch (erste metaphysische Erörterung des Raumes) und schließt die transzendentale Differenz zwar ein, vermag diese aber nicht selbst als transzendentale zu konstituieren. Wie schon an verschiedenen Stellen, insbesondere zu Beginn dieser Arbeit ausgeführt, überlagern sich hier eine ontologische und eine transzendentale Differenz: Der Raum ist selbst kein Seiendes, etc.; der Raum ist bloße Anschauungsform, etc.. Die Demonstration der ursprünglich entscheidenden Differenz in der ersten metaphysischen Erörterung des Raumes geschieht zwar selbst in zwei Schritten, in welchem schon die Übertragung des Ortes des Subjekts und seiner Beziehung zu einem davon verschiedenen Ort auf etwas in einem andern Ort und dessen Beziehungen zu anderen Örtern stattfindet, und ist so nicht selbst einfach, kann aber selbst konstitutiv betrachtet nur eine sythetisch-metaphysische Operation der Vernunft sein, deren vorgängige Synthesis, von der die Notwendigkeit nur a posteriori eingesehen werden kann, selbst unbekannt bleibt. Deren Transzendentalität erweist trotz dieses pseudo-analytischen Beweises aus
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dem Gegenteil der Unmöglichkeit der nur als vorgängig veranschlagten synthetischen Metaphysik, wie weiter oben bereits im Ansatz in der Widerlegung des Idealismus gezeigt, sich in vollem Umfang erst im Rückgang auf das System der Erfahrung. Der durch Mangel an Beweiskräftigkeit notgedrungen aufgegebene metaphysische Ansatz des Raumes und dessen Geometrisierbarkeit wird in einem möglichen System der Erfahrung für die Grundlegung der Geometrie durch die transzendentale Anschauungsform ersetzt (entwicklungspsychologischgenetisch gesehen liegt die Anschauung auch der Arithmetik voraus und wird durch Grammatik ersetzt). M. a. W., es wird eine mit Descartes für Kant naheliegende Alternative des Problems des Gegebenseins der res extensa angepeilt, nämlich die Formen der Sinnlichkeit (Locke), die als solche noch keines weiteren Beweises ihrer objektiven Realität bedürften (Aristoteles); da aber doch von Anschauungsform die Rede ist, bei Kant, zumal in Verbindung mit der euklidischen Verfaßtheit des objektiven Raumes, zunächst als Fortschritt nur zu verbuchen ist, daß ein argumentatives Problem der reinen Geometrie zwischen Idee (philosophischer Begriff vom Dreieck) und Konstruktion in reiner Anschauung (geometrischer Konstruktionsbegriff des Dreiecks) die Problematik zwischen Anschauungsform des Gegebenen und Sinnlichkeit zu ersetzen beginnt, wobei erstere die transzendentale Apperzeption (die in der ersten Erörterung des Raumes eingeklammert wurde), die zweite den inneren Sinn zwischen Einbildungskraft und äußerer Sinnlichkeit (was durch die Objekthaftigkeit kollektiver physikalischer Erscheinungen ersetzt werden wird) zum theoretischen Hintergrund hat. Die erste metaphysische Erörterung des Raumes klammert das transzendentale Subjekt der transzendentalen Apperzeption aus, zur transzendentalen Psychologie ist man in diesem Stadium der Erörterung so wenig wie zur Physik fähig: Allein das Auseinandersein verschiedener Objekte, die verschiedene Orte im Raum bezeichnen, ist die eigentliche Aussage der ersten metaphysischen Erörterung des Raumes. In der transzendentalen Ästhetik wird (a) die Differenz zwischen transzendentalem Idealismus und transzendentalem Realismus maximal interpretiert, (b) der Unterschied der metaphysischen und der transzendentanalytischen Erklärung der Geometrisierbarkeit des Raumes zwischen Letztbegründung in der reinen Idee und Anwendungsproblem ein
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erstes Mal vorgestellt, und (c) in der ersten metaphysischen Erörterung des Raumes ein absolutes Minimum an Erfahrung eingeführt, die für die Widerlegung des Idealismus in den Empirischen Postulaten als Ausgangspunkt zureicht; aber es wird auch (d) das Problem der Erfüllbarkeit der damit verbundenen metaphysischen Hypothese vom universalisierbarem Auseinandersein der transzendentalanalytischen Untersuchung zugewiesen. Damit wird begründet die transzendentale Differenz zwischen transzendentalem Subjekt (res cogitans) und seinem Objekt (res extensa) inmitten unserer Leiblichkeit behauptet, aber gerade nicht transzendentalanalytisch vollständig gerechtfertigt. Insofern behaupte ich nach wie vor, daß die transzendentale Differenz in der transzendentalen Ästhetik noch nicht konstituiert wird, obgleich gerade die radikale Fassung des transzendentalen Idealismus in der transzendentalen Ästhetik nicht nur eine deutliche »transzendentale Direktion« auf selbstständige Existenzen aufweist, sondern selbst eine ziemlich radikale Fassung der transzendentalen Differenz vorstellt. Die Urbildhaftigkeit dieser ersten transzendentalen Differenz kann aber nicht daran hindern einzusehen, daß die hier von mir eingeführte Verschärfung die Einseitigkeit, von wo her die transzendentale Differenz gedacht wird, nicht länger gelten kann, denn ab der transzendentalen Ästhetik ist der transzendentale Unterschied bereits dem transzendentalen Subjekt zustellbar und der Reflexion auf eine mögliche Ganzheit unterwerfbar: »Die Leibniz-Wolffische Philosophie hat daher allen Untersuchungen über die Natur und den Ursprung unserer Erkenntnisse einen ganz unrechten Gesichtspunkt angewiesen, indem sie den Unterschied der Sinnlichkeit vom Intellektuellen bloß als logisch betrachtete, da er offenbar transzendental ist, und nicht bloß die Form der Deutlichkeit oder Undeutlichkeit, sondern den Ursprung und den Inhalt derselben betrifft« (B 61 f./A 44). Die Definition der Transzendentalität, die dort zu finden ist, bezieht sich jedoch nicht selbst konkret auf die Problemstellung der transzendentalen Ästhetik und bleibt ihr gegenüber neutral, da es sich bei den Anschauungsformen von Raum und Zeit zuerst nicht um Begriffe und nicht um Produkte der Einbildungskraft im inneren Sinn handelt. Der Ursprung der transzendentalen Differenz liegt sowohl synthetisch-metaphysisch wie transzendentalanalytisch in der Differenz zwischen Intellektualität (nicht dem Verstand selbst!) und Sinnlichkeit. Dies ist metaphysisch, weil
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Intellektualität und Sinnlichkeit allein aus Wesensgründen gegeneinandergestellt werden; synthetisch, weil die transzendentale Psychologie (rationale Psychologie und rationale Physiologie) des transzendentalen Subjekts argumentativ vorausgesetzt wird; aber nicht ontologisch: die transzendentale Differenz zwischen transzendentalem Subjekt und Objekt ist nur mittelbar transzendental zu nennen; diese Differenz wäre selbst ontologisch, ginge es nur um die Differenz von reiner Intellektualität und physischer Objektwelt. Die Bestimmung der Differenz von transzendentaler (diesmal mittelbar) und ontologischer Differenz scheint im Anschluß auf ein Übersetzungsproblem reduzierbar zu sein (Verwechslung von transzendentalem und intelligiblem Subjekt). In der transzendentalen Logik wird von einem Prinzip nur mehr erwartet aufzuklären, »daß und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden, oder möglich seien, [damit es] transzendental (d. i. die Möglichkeit der Erkenntnis oder Gebrauch derselben a priori) heißen müsse« (B 80 f./A 56). Das scheint zwar deutlich weniger zu sein als prinzipiell in der transzendentalen Ästhetik von einem transzendentalen Prinzip verlangt, doch aber soll zumindest für die »gewissen Vorstellungen« die Rechtfertigung aus einem Prinzip nach wie vor die leitende Idee sein. Die Frage nach dem Ursprung der transzendentalen Differenz scheint nicht berührt worden zu sein; es wird also desweiteren der Geltungsbereich eines transzendentalen Prinzips abgehandelt. II. Die Untersuchung des Verstandesbegriffs im kategorialen Gebrauch beginnt mit der Untersuchung der Anwendungsbedingungen der reinen Verstandesbegriffe gemäß ihrer Exposition und der logischen Erfassung der transzendentalen Zeitbedingung. Der Vergleich der Reihen der Erscheinungen mit den Reihen der Vorstellungen ist die argumentative Grundlage der synthetischen Grundsätze der dynamischen Kategorien in transzendentalanalytischer Hinsicht. In der selbst formalen Idee der Vergleichung von Reihen liegt die transzendentale Rechtfertigung der Anwendung der Varianzrechnung. Die Kantsche Untersuchung der Differenz von mathematischen und dynamischen Kategorien führt aber anhand der Kausalitätskategorie zur zweiten transzendentalen Differenz,
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deren Analogien zur Handlung wie zum Naturgeschehen mit der vollständigen Deduktion der Verstandesbegriffe in den Kategorien (die also Analyse wie Synthesis, insofern also bereits eine Art von Regressus wie Progressus umfaßt) zur einen Hälfte als bereits geleistet ausgewiesen werden konnte. Diese transzendentale Differenz ist entlang der Analogie der reinen Kategorie zum empirischen Gebrauch des reinen Verstandesbegriff der Kausalität ein erstes Mal formal vollständig zu konstituieren und ist die erste relativ selbstständige transzendentale Differenz. Kant beschränkt diese Analogie in der transzendentalen Analytik des Verstandesgebrauches in der Erfahrung nicht grundlos auf die sinnliche Anschauung, da er sich von deren Kontinuität erwartet, einen vollständigen oder grundsätzlich vervollständigbaren Schematismus der Verstandesbegriffe zu erhalten, womit sich letztere rechtfertigen lassen. Daß diese Absicht trotz mannigfaltiger Schwierigkeiten und einigen Unvollkommenheiten letztlich wegen der logischen Definition des Wechsels zur Sukzessivität als durchführbar erscheinen muß, habe ich versucht, in den vorhergehenden, insbesondere aber im ersten Teil des zweiten Abschnittes zu zeigen. Es handelt sich keinesfalls um einen Nachweis der im Rahmen der transzendentalen Ästhetik (hier insbesondere in Bezug auf die erste metaphysische Erörterung des Raumes) diskutierten ursprüngliche transzendentalen Differenz, die noch mit der ontologischen Differenz mittelbar verwechselt werden kann; vielmehr wird eben diese durch eine andere transzendentale Differenz, die zum Unterschied der ersteren im transzendentalen Subjekt hinlänglich darstellbar ist, indirekt bewiesen, obwohl die erstere der zweiteren im Argumentationsgang vorausgesetzt ist.
b) Zwei nicht-transzendentale formalwissenschaftliche Differenzen: I. Das Ding an sich als Artefakt logischer Intentionalität und der dogmatische Gebrauch der reinen Verstandesbegriffe. Die drei Psychologien der Urteilslehre und die Ideenlehre Die erste nachvollziehbare Einschränkung der reinen spekulativen Vernunft geschieht nun auf Grund des Argumentes aus der Deduktion der Kategorien, und ist insofern nicht selbstständig aus der reinen Vernunft entnommen. Ein relativ selbständiges Moment dieser Einschränkung steht jedoch in Verbindung mit dem rein theoretischen Ding an sich als
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formalwissenschaftliches Experiment der reinen Vernunft mit sich selbst. Dieses Ding an sich ist eine rein formalwissenschaftlich gewonnene Fassung der logischen Gegenständlichkeit der orthogonalen Intentionalität und nicht das transzendentale Objekt oder das Dinges an sich selbst; oder genauer: Diese formalwissenschaftlich gewonnene Fassung des theoretischen Dings an sichs widerspricht inhaltlich nicht dem Konzept des transzendentalen Objekts, während das Ding der durchgängigen Bestimmbarkeit mittels Prädikate wegen eben dieser prädikativen Bestimmbarkeit nicht mit dem Konzept des transzendentalen Objekts zur Deckung zu bringen ist, obgleich letzteres das Selbe intendieren kann. Hier wird weder selbst eine transzendentale Differenz eingeschlossen noch konstituiert; es stellt sich bloß heraus, daß das Konzept des transzendentalen Objekts mit dem Konzept des Dings an sich formal darin »ähnlich« sind, als daß diese Konzepte nur aus der Bestimmung einer Stellung in der theoretischen Erörterung bestehen und keinerlei weitere inhaltliche Bestimmungen mehr an sich haben. Solche Vergleiche sind bloße Handlungen im inneren Sinn (Gemüt) wie die Vergleichung von Begriffen auch und beinhalten weder, noch konstituieren sie eine transzendentale Differenz. Die Entscheidung des Für-Wahr-Haltens oder des Für-Richtig-Haltens beziehen sich aber um nichts weniger als auf die Eigenschaft der Kategorien, einen dogmatischen Gebrauch der reinen Verstandesbegriffe zu ermöglichen. Damit ist nichts weiter explizit über die Verfaßtheit physikalisch charakterisierbarer Weltlichkeit gesagt worden, es wäre aber ohne der Eigenschaft der Deduktion der Kategorien, den Verstandesgebrauch in der sinnlichen Erfahrung grundsätzlich zu sichern, nicht möglich, die Einschränkung auf den von Kant »logisch« genannten Gebrauch der Vernunftschlüsse für anders gerechtfertigt zu halten wie andere zunächst in sich folgerichtige, aber a fortiori in Widersprüche mit sich selbst führende Systeme der reinen spekulativen Vernunft auch. Nicht aber die transzendentale Differenz in der Deduktion der transzendentalen Kausalität in der Kausalitätskategorie, sondern eben nur die allgemein beurteilte Eigenschaft der Deduktion, ein für sich jedenfalls schon gerechtfertigter Grund für eine Entscheidung im Rahmen des Einschränkungsproblems der reinen spekulativen Vernunft sein zu können, ist das, was der dann schon wieder als reines synthetisches Urteil a priori zu behauptende Vernunftschluß genau aussagt. Genau betrachtet bleibt aber, unabhängig vom Inhalt der Aussage und dessen Valenzen zum mannigfaltig Ausgesagtem, die Quelle der Apriorität solange
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im Dunkeln, bis die Priorität der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe in den Kategorien vor den Vernunftbegriffen klar herausgestellt ist. Daß die Kategorien als Begriffe nur Titel von Relationen von Aussagen über Wahrnehmungen und Aussagen über Regeln sind, ist das Ergebnis der transzendentalanalytischen Untersuchung des empirischen Verstandesgebrauchs und nicht das Ergebnis der Untersuchung der reinen Vernunft. Daß Kant diesen von Descartes vorgezeichneten Schritt über das Konzept der transzendentalen Subsumtion hinausgehend macht, und die Schematen der Sinnlichkeit (Einbildungskraft) und der Verstandesbegriffe, also das Ungleichartige, im transzendentalen Schematismus zusammensetzt, ist der erste und entscheidende Schritt zu einen Begriff objektiver Realität, der aber nichts als der Titel einer Relation ist, die in A den Anspruch erhebt, die Relation in und zwischen den daseienden Dingen auszudrücken, in B immerhin noch die Wahrnehmungsurteile gemäß dem Kausalitätsprinzip zu verknüpfen vorschreibt. Der zweite, die Methode reflektierender und formalisierender Schritt führte im Rahmen der Intentionslehre zuerst zur Frage nach der Gerichtetheit und der Modi der Aufmerksamkeit, und dann in einem weiteren Schritt zu einer »transzendentalen« Grammatik, wie sie Kant meiner Auffassung nach im Duisburger Nachlaß als Problem skizziert hat. Dies als Sprachphilosophie zu erkennen fällt den Vertretern der analytischen Sprachphilosophie schwer, wenn auch Searle sich von einem Kritiker der Intentionslehre zu einem Verteidtiger gewandelt hat, insofern er anzuerkennen bereit ist, daß die Urteilslehre ohne Psychologie sinnlos wird, weil Urteilen und Schlußfolgern nicht durch eine mechanisierbares Kalkül der aussagenlogischen Schlußformen ersetzt werden kann. Darüberhinaus zeigt sich die Wichtigkeit der psychologischen Komponente der Urteilslehre sowohl in der Beurteilung der Prämissen als einzusetzende empirische Begriffe subjektiver Realität wie in der Beurteilung der Bedeutung der auf Analogien zu den Verstandesschlüssen in den Kategorien in heuristischer Hinsicht bereits eingeschränkten Vernunftbegriffe. Das erste Mal als Instanzen des transzendentalen Subjekts wie Apperzeption und innerer Sinn; der notwendigerweise vorauszusetzende Influx von Intelligibilität und Ausdehnung stellt die Verbindung her zum äußeren Sinn und der Leiblichkeit als Ort und als Gestalt im Raum. Diesen psychologisch-physiologischen Strang der Argumentation aus der Untersuchung der transzendentalen Apperzeption nenne ich, in diesem
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Zusammenhang gegen Kant, die transzendentale Psychologie des transzendentalen Subjekts, da die rationale Psychologie des Ich denke nur die Bestimmungen des reinen Verstandes und noch nicht die Bestimmbarkeit der im inneren Sinn gegebenen Erscheinungsmannigfaltigkeit behandeln kann. Wenn nun das transzendentale Subjekt den unhintergehbaren Horizont der transzendentalen Analytik ausmacht, kann man nicht mit absoluter Sicherheit behaupten, hier sei eine transzendentale Differenz notwendigerweise enthalten, die nur nicht herausgehoben werden könnte, um daraus ein Argument zu machen. Dazu ist eigens die Gegenüberstellung der Intellektualität und der Sinnlichkeit als transzendentale und metaphysische Differenz (aber nicht unbedingt als ontologische Differenz) notwendig. Sicherlich kann jedoch behauptet werden, daß hier keine transzendentale Differenz innerhalb der reinen Vernunft beansprucht wurde, so wenig wie von der Unterscheidung in rationale Psychologie und rationale Physiologie als Tableaus der spezifischen Reflexionbegriffe selbst andere als formale Differenzen entstehen. Erst im Vergleich mit dem möglichen Ganzen kann eine transzendentale Reflexion stattfinden. Das dritte Mal geht es ebenfalls um eine Psychologie, die aber völlig unabhängig von der gerade behandelten zu fundieren ist. Das Problem zu beginnen besteht darin, daß in der Einteilung der Seelenvermögen die Vernunft bereits als oberes Begehrungsvermögen vorgestellt wird, hier aber noch eine Psychologie der reinen (theoretischen) Vernunft verlangt wird. Ich unterstelle der Ideenlehre der Vernunft einen psychologischen Aspekt, der durch die im Umkreis skizzierten alternativen Übergänge zur empirischen, praktisch-philosophischen und transzendentalen Anthropologie nicht erschöpft werden kann, weil es unweigerlich immer nur die Vernunft einer individuellen Person sein kann, die in der transzendentalen Dialektik auf ihre allgemeinen Formen hin kritisch untersucht wird. Ich behaupte damit mitnichten, die Vernunftideen seien selbst Produkte transzendental ursprünglicherer, phylogenetisch tieferliegender oder genetisch präformierter psychologischer Strukturen oder dergleichen interessanter Fragen, die zu entscheiden aber für die Transzendentalphilosophie zu ihrer Fundierung nicht unbedingt notwendig sind. Vielmehr handelt es sich um eine für die Aufgabenstellung angemessene, vom Entwurf her aber nur als unvollständig veranschlagtes Konzept, das seine Richtigkeit ohne eine andere Möglichkeit des Wahrheitsbeweises allein aus der
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widerspruchsfreien Passendheit zur Aufgabenstellung herstellt: Die Frage der Einteilung der Seelenvermögen entspricht modal der Exposition eines nicht vollständig durchbestimmten philosophischen Begriffes, doch kann man nicht umhin, die Frage nach der Einteilung der Seelenvermögen transzendentalanalytisch als eine ursprünglichere als die der Untersuchung der Erkenntnisvermögen selbst anzusehen, bedenkt man, daß der erste Schritt der transzendentalen Analytik: die Beschränkung auf die Erkenntnisvermögen, eine Einklammerung des praktischen und des intelligiblen Subjekts bedeutet. Die transzendentalanalytische Gesamtperspektive betrachtet die Erkenntnisvermögen hingegen als ein Teil des Horizontes der Seelenvermögen, an welchem der Anspruch gestellt wird, die Vollständigkeit der Einteilung an der Vollständigkeit und Passendheit der architektonischen Folgen für die einzelnen Untersuchungen, die sich daraus ableiten, zu messen. Diese systematische Frage wird von Kant versucht mit den drei Kritiken (und Umliegendes) zu beantworten; die Vollständigkeit liegt in der Selektion und in der Ordnung aller Ideen; nicht nur der Ideen der reinen Vernunft.
II. Die Analogie der Diskursivität als Charakteristikum der Vernunft zur Diskursivität als Ideal der Kommunikationswissenschaften Die zweite Einschränkung durch die Kritik des Dogmatismus in der reinen Vernunft (dergleichen ist nur als Doktrin der bestimmenden Urteilskraft möglich) hält die Möglichkeit bereit, sich im Rahmen der transzendentalen Methodenlehre anhand der Diskursivität philosophischer Beweise (wo nur aus Begriffen erwiesen werden kann) eine Analogie zur Vernunftphilosophie des »linguistic turn« denken zu können: Die Diskursivität als Charakterisierung der Vernunft im Feld formaler Spekulation und Kombinatorik bis in die formalontologische Auslegung der reinen Vernunft (Christian Wolff) fordert dazu heraus, den Anspruch der Sprachphilosophie zwischen intuitus und Diskursivität der Elemente der »formalen« Logik Kantens einerseits und innerem Monolog Husserls zwischen kommunikativer und darstellender Funktion andererseits noch
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näher zu betrachten. Die Schlußfolgerungen aus dem Horizont einer rein theoretischen »Gleichursprünglichkeit« von ursprünglich angesetzter Ausdrucksintention und ursprünglich vorausgesetzter Darstellungsfunktion sind naturgemäß selbst spekulativ und gehören zur synthetisch vorgehenden Metaphysik. Dieser hypostasierte Horizont der Aufmerksamkeit kann uns eben nur soviel sagen: 1) Der rein monologische Horizont der bloßen Darstellungsfunktion ist nicht nur in sich selbst diskursiv verfaßt, indem unterschieden und verglichen, identifiziert und abgeleitet, anerkannt und verworfen wird, sondern er ist auch daraufhin angelegt, eine Mitteilungsabsicht zu verwirklichen. Der ausdrücklich monologische Horizont ist bereits das Ergebnis einer bewußten Einklammerung der Mitteilungsintention. 2) Im Gegenzug wird aus der Beobachterposition von außen auch ohne ausdrückliche Ausdrucksintention teilweise aus dem wahrnehmbaren Verhalten die inhaltliche Orientierung der intentionalen Verfaßtheit des Bewußtseins (hier als Zustand des inneren Sinnes denkbar) einer anderen Person bekannt werden können. 3) Schließlich verlangt die Ausdrucksintention immer schon einen Inhalt, der mitgeteilt werden will. Dieser Inhalt ist nun nicht immer Gegenstand einer Satzaussage oder eines endlichen Systems von Satzaussagen, sondern kann auch Ausdruck einer Befindlichkeit oder desweiteren einer Absichtskundgebung sein, wie K. O. Apel mit der Unterscheidung in propositionale Aussage und illokutionären Redebestandteil die reine Ausdrucksintention isoliert hat. Doch auch Apel bestreitet nicht, daß die illokutionären Akte nochmals als propositionale Sprachakte ausdrückbar sein können. Dies kann nun durch andere objizierend, oder im inneren Monolog objizierend stattfinden. Eine Ausdrucksintention ohne jeden Inhalt, der nicht propositional ausdrückbar wäre, gibt es auch für analytische Sprachphilosophen nicht. Allerdings kommt es offenbar bei einigen Vertretern der Sprachphilosophie in England wie in Deutschland, insbesondere bei K. O. Apel, zu einer Verwechslung ganz anderer Art, und zwar innerhalb der Analogie zwischen immanenter Struktur der reinen Vernunft und der sprachimmanenten, also schon selbst idealisierten, kommunikativen Struktur selbst. Denn weder ist bis zu diesem Schritt die reine Vernunft noch die kommunikative Struktur einer Gesellschaft, welche die (transzendental)philosophische Fragen zu
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stellen ermöglicht, selbst transzendental. Ist doch zunächst diese als realmöglich vorauszusetzende Kommunikationstruktur bereits selbst Ergebnis einer Auswahl aus verschiedenen empirisch möglichen Kommunikationstrukturen. Insofern ist einmal mit dem Akt der Wahl selbst die transzendentale Freiheit mit angesprochen und zumal das Motiv, daß die Wahl eben auf die ideale und nicht reale Verfaßtheit der Kommunikationstruktur gefallen ist, für die Beantwortung dieser Frage entscheidend. Das Motiv ist die Frage nach der Wahrheit, was sowohl die theoretische wie die praktische Vernunft betrifft, als daß die Beantwortung der Frage nach der Wahrheit zwar aus beiden Gründen am propositionalen Gehalt der Aussage primäres Interesse hat (insofern das Theoretische unter dem konkret-praktischen Interesse), komplementär aber auch am illokutiven Gehalt der Aussage Interesse hat. Als reale Handlung der Kommunikation betrachtet ist eben beides in Rechnung zu stellen. Vermag man auch zwischen Behaupten, Wünschen, Befehlen als für die weitere Charakterisierung der Intentionalität (als Haltung) noch die Liebe zur Wahrheit als weitere Leidenschaft in die Psychologie einzufügen, hat man aber immer noch nicht die reine praktische Vernunft als Quelle der reinen Willensphilosophie erfaßt, um die Reflexion des rationalen Sprechaktes auch im postiv-konkreten Handlungssinne abschließen zu können (Franz Fischer). Doch dürfte bisher deutlich geworden sein, daß die reine Liebe zur Wahrheit zwar schon eine sittliche Haltung in der ideal verfaßten Kommunikation erwarten lassen würde, aber selbst noch nicht eine Theorie der Sittlichkeit impliziert. Die Wahl der idealen diskursiven Kommunikationssituation impliziert nicht eine Theorie der Sittlichkeit; diese Aussage behauptet aber nicht die Unmöglichkeit irgendeiner Art von Theorie über die Sittlichkeit. Es ist also erstens festzustellen, daß das Motiv der Wahl zwar eine ethische Frage, aber nicht die Frage nach einer Theorie der Sittlichkeit selbst stellt, und zweitens, daß auch sonst nichts auf eine transzendentale Differenz hinweist, die mit einer formalisierbaren Differenz zwischen der diskursiven Verfaßtheit der reinen (theoretischen) Vernunft und der idealen, aber immerhin als realmöglich gedachten Kommunikationsstruktur verläßlich konstituiert werden könnte. Die einzige transzendentale Differenz besteht zwischen der Idealität der diskursiven Kommunikationsstruktur und deren wie auch immer beschränkten
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Realmöglichkeit. So konnte auch zwischen metaphysischem Ansatz und transzendentalästhetischem Ansatz in der Frage nach der Begründung der Geometrisierbarkeit des Raumes keine eigene transzendentale Differenz ausgemacht werden. Allenfalls ist eine einseitige ontologische Differenz auszumachen, indem die verschiedenen realmöglichen Kommunikationsstrukturen zumindest teilweise in der physikalischen Realität, welche eben Gegenstand der Kategorien ist, fundierbar sind, während die reine Vernunft zuerst immer nur als Idee »existiert« und so nur im Ganzen des Daseins eines Subjektes fundiert werden kann, auch wenn der idelle Inhalt selbst Diskursivität und Komplementarität zur Ausgestaltung und Generierung von Ideen vor jeder Reduktion voraussetzt. Die reine Vernunft ist als spekulative Vernunft zwar diskursiv verfaßt, aber nicht nur an die selbst als monologisch verfaßt gedachte intelligible Spontaneität der transzendentalen Apperzeption sondern auch an die transzendentale Subjektivität der Leiblichkeit im Raum gebunden. Die Erörterung bleibt in der Doppeldeutigkeit des inneren Monologs Husserls: Schon mittels der bloßen Darstellungsintention wird das betrachtete einzelne Subjekt letztlich zur möglichen Quelle der Interpretation durch andere. Zum Schutz unserer Privatheit, aber auch zum Schutz der Intaktheit der vermittelten Botschaft scheint es angezeigt zu sein, dennoch Ausdrucksintention und Darstellungsintention systematisch zu unterscheiden. Weiters ist es für die darstellende Intention kein Widerspruch, im Rahmen des inneren Monologs widerstreitende Standpunkte zu diskutieren. Der innere Monolog Husserls ist insofern als eine sprachliche Fassung des inneren Sinnes, welcher nach Kant bei Bedarf auch als Medium des Vergleiches empirischer Begriffe herzuhalten hat, anzusehen. Daher ließe sich auch nachvollziehen, weshalb die empirische kommunikative Verfaßtheit des Verhältnisses der Individuen untereinander zwar als Analogie zur diskursiven Verfaßtheit des inneren Monologs geeignet ist, aber auch, weshalb diese erkenntliche Differenz vielleicht eher eine ontologische Differenz genannt werden dürfte als selbst eine transzendentale Differenz. Eine transzendentale Differenz kann per definitionem (ein transzendentales Prinzip ist eines der synthetischen Urteile a priori und setzt so analytisch Erscheinungen existierender Dinge in der inneren Erfahrung voraus) nur von einem transzendentalsubjektivistischen Standpunkt aus bestimmt werden. M. a.
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W., hier kann aus anderen Gründen als vorher keine transzendentale Differenz konstituiert werden: Es ist nicht anders als komplementär möglich, reine Vernunft und ideale Kommunikationsstruktur zu denken; sie liegen also nicht in einer einfachen und geraden Intentionsrichtung.1 Die transzendentale Differenz kann aber nur primärintentional ausgebildet werden, was sich auch an der Behandlung des transzendentalen Schematismus und dessen Schwierigkeit der gleichzeitig zu berücksichtigenden doppelten Intentionsrichtung gezeigt hat; dort aber war eine Lösung des psychologischen Problems in der Urteilslehre möglich, weil die Gegenwendigkeit von Objektintention und Handlungsintention in einer Linie gelegen ist mit der doppelten Orientierbarkeit der Ausrichtung der Subjekt-Objekt-Differenz, die wesensmäßig in der Affinität des Daseins gegeben ist. So wird der transzendentalen Differenz, welche einerseits ein synthetisches Urteil a priori notwendig macht, dieses aber bei geeignetem Prinzip auch erst für uns zu konstituieren ermöglicht, die gegenwendige Intentionalität als Reflexion bereits vorausgesetzt. Die einzelnen Schematen des transzendentalen Schematismus konstituieren selbst mitnichten irgendwelche transzendentalen Differenzen; die Schwierigkeit liegt dort vielmehr in der Gruppierung verschiedener Ansätze, die selbst teilweise keine ontologische Bedeutungen im epistemologischen Sinne, aber ontologischen Relevanzen besitzen (wie die Beharrlichkeit in den Erscheinungen) und solchen, die ontologische Bedeutung und Relevanz besitzen, wie etwa die dynamische Erklärung der Materie oder das Bewegliche als Substrat der M. A. d. N. überhaupt. Wenn nun auch die verschiedenen Schematen selbst nur komplementär betrachtet werden können, so haben sie in ihrer Zusammensetzung doch die Orientierung der primären Intentionalität nicht verloren, als daß ein gemeinsames Substrat als Gegenstand der Erfahrung zugrundegelegt wird, was zwar nicht für den ganzen möglichen Umfang des transzendentalen Schematismus, aber für den Vergleich von »subjektiver Vorstellungsreihe« und »objektiver Erscheinungsreihe«, worauf die Deduktion der Kategorien schlußendlich beruht, im dritten Abschnitt bewiesen wird. Eben dieses vorausgesetzte und voraussetzende gemeinsame Substrat in einer aktuellen Ereignishaftigkeit fehlt in der komplementären Betrachtung von reiner Vernunft und idealer 1
Brentano sagt dazu Orthogonalität.
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Kommunikationsstruktur ebenso wie eine auch nur formale durchgehende Subsummierbarkeit. Hingegen ist nichts gegen die Vorstellung einzuwenden, es ließen sich aus den Grundsätzen der diskursiven reinen Vernunft Prinzipien a parte priori für Kommunikationsverhältnisse ableiten, doch wird dabei die Konstitution einer transzendentalen Differenz bereits vorausgesetzt oder eben übersprungen, weil es sich um Kommunikationsverhältnisse handelt. c) Der Durchblick auf das intelligible Subjekt der empirischen Handlung impliziert eine zweite relativ selbstständige und konstituive transzendentale Differenz als Vervollständigung zur Totalität der reinen Vernunft Erst die dritte Einschränkung in der Auflösung dritten Antinomie der kosmologischen Ideen erlaubt den Durchblick auf das intelligible Subjekt; und zwar als vollständige Darstellung der transzendentalen Analogie der Kausalität, indem hier von der Kausalität aus Freiheit (ausgehend von der transzendentalen Freiheit die Frage nach der Wertsetzung) über die Kausalität durch Freiheit (die Spontaneität, eine Reihe von Erscheinungen in der Natur beginnen zu können) bis zur Kausalitätskategorie des reinen Verstandesbegriffes alle möglichen Abschnitte des Anwendungsbereiches des transzendentalen Prinzips der Kausalität versammelt werden können; was auch dann relevant ist, wenn der eine oder der andere Abschnitt hinsichtlich des modalen Anspruches seines Beitrages zur Frage, woher es notwendig ist und woher was notwendig ist (Quaeitas und der ostensive Beweis) als defizient angesehen werden sollte. Obwohl von der Deduktion der Kategorien, insbesondere von der transzendentalen Deduktion und ihrer selbst synthetischen Fortsetzung im Schematismuskapitel und in den Erläuterungen zu den synthetischen Grundsätzen ein eigener Beweisgang zu fordern ist, kann doch auch im selben Geltungssinn behauptet werden, daß dieser Beweisgang seinen Ansprüchen genügt und in der Vorstellung der Kausalität durch Freiheit synthetisch-metaphysisch gedacht bereits analytisch enthalten ist. Diese Analogie der Kausalität durch die Doppeltheit, sowohl als Bedingung wie als Teil des Bedingten vorzukommen, ist nun wahrhaft ein metaphysisches Kompositum und nur für die intensionale Logik möglich. Es lassen sich auch einige formale Merkmale für diese Auffassung angeben: Erstens die Vollständigkeit der Darstellung in den aufgezählten Abschnitten einer zu fordernden
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Untersuchung, zweitens der mit der Doktrin der bestimmenden Urteilskraft bereits als geliefert zu betrachtenden transzendentale Beweis der Deduktion der Kategorien, drittens die metaphysische Argumentationen von Seiten (a) des intelligiblen Subjekts, (b) als metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften (Elastizität und Repulsion bzw. Bewegung aus Impuls und Attraktion) , (c) als teleologisches Naturprinzip (Commercium und Dialektik der teleologischen Urteilskraft). Systematisch ist zu fordern, daß die transzendentale Analytik und deren gegenwendig aufzusuchende synthetische Urteile a priori in den synthetischen Grundsätzen der Kategorien — also samt deren synthetischer Metaphysik — analytisch in ihre Stellungen im Untersuchungsgang der Architektonik der reinen Vernunft eingewiesen werden können. Ein Hinweis auf die Schwierigkeit in der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft, den Einsatz der intelligiblen Ursächlichkeit in die Reihe der Erscheinungen zu denken, vermag folgende Stellungnahme des späten Kants zu geben (Benedikt: Deduktion von oben gegenüber dem Doppelsystem von Empfindung und beweglichen Kräften als Deduktionsansatz von unten). Die Schwierigkeit besteht näher darin, daß die Weiterbestimmung des Ding an sichs beginnt, die Freiheit des erkennenden Subjekts in die Schematen von Raum und Zeit einzusperren; also neben der Absicht, ein verlässliches Instrumentarium zur Beurteilung der Erscheinungen zu erlangen, damit auch begonnen wird, weitere Prinzipien zur Beurteilung einer Handlung aus Gründen einer freien Entscheidung auszuschließen: »In dem Erkenntnis eines Gegenstandes liegt zweyerlei Vorstellungsart 1. des Gegenstandes an sich 2. dem in der Erscheinung. Die erstere ist diejenige wodurch das Subject sich selbst uranfänglich in der Anschauung setzt (cognitio primaria) [ — wohl aber deshalb noch nicht selbst als Anschauung, vgl. erste metaphysische Erörterung des Raumes — ] die zweyte da es sich mittelbar selbst zum Gegenstand macht nach der Form wie er affiziert wird (cognitio secundaria) [ — als psychologische und kosmologische Idee —], diese letztere ist die Anschauung wodurch der Sinnengegenstand dem Subjekt gegeben wird ist die Vorstellung und Zusammensetzung des Mannigfaltigen nach Raum/ u. Zeitbedingung Das Objekt aber an sich = X ist nicht ein besonderer Gegenstand sondern das bloße Princip der synthetischen Erkenntnis a priori
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welches das Formale der Einheit dieses Mannigfaltigen der Anschauung in sich enthält (nicht ein besonderes Object).« (AA XXII, p. 20) Hier wird der Kosmotheoros durch das transzendentale Objekt ersetzt, das den Kosmos und den Leib als Teil dieses Kosmos darzustellen beginnt, während in der Deduktion von unten (Benedikt gibt S. 395 stellvertretend eine Stelle aus AA XXII, p. 461) das »subjektive System« der Wahrnehmungsorganisation nicht nur die immanente Schwierigkeit hat, wie diese gänzlich unter die Regeln des Systems beweglicher Kräfte gebracht werden kann, was doch zur Physik als doktrinales System der Wahrnehmungen gefordert werden muß, sondern dazu noch gerade deshalb — eben wie die »Deduktion von oben« — in Zweifel gerät, ob das »subjektive System« überhaupt geeignet ist, einer kategorischen Pflicht unterworfen zu werden. M. a. W., das Freiheitsproblem droht letzlich da wie dort aus der Kosmologie der Welt gleich ganz in den Kosmotheoros, und damit außer Reichweite anthropologischen Philosophierens verlegt zu werden. Dieser aber ist von einem bloßen Demiurgen bald nicht mehr zu unterscheiden. Der Durchblick auf das intelligible Subjekt holt hingegen den gesamten Regressus in seinen verschiedenen Varianten des Rückganges von Vorstellungen auf oberste Ideen (wie dann auch die Prinzipien des Progressus bis hin zum Wandel der Prinzipien a parte priori des konkretempirischen Erfahrungmachens) prinzipiell und theoretisch ein. Zuerst wird das intelligible Subjekt in der Kritik der reinen Vernunft zur Voraussetzung der transzendentalsubjektivistischen Letztbegründungsstrategien und deren Kritik; schließlich zur Voraussetzung der Vereinigungsversuche der reinen (theoretischen) und praktischen Vernunft. Obgleich das intelligible Subjekt nicht unmittelbares Ergebnis der transzendentalen Analytik ist, nenne ich diesen Durchblick mit Kant transzendental, gerade weil zwischen »intellektuellem« Subjekt und empirischem Objekt zwar zweifellos eine transzendentale Differenz der Vorstellungsart bestehen muß, damit wohl aber auch erst recht eine ontologische Differenz zwischen dem Subjekt und Objekt der formalontologisch von Wolff behaupteten Affinität behauptet wird. Das intelligible Subjekt könnte als der Restbestand der synthetischmetaphysischen Philosophie angesehen werden, in dessen topos sich allerdings nunmehr intellektuelle Spontaneität und intellektuelle
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Rezeptivität im Problem der transzendentalen Freiheit treffen. Es erweist sich, daß das intelligible Subjekt kein Artefakt irgendwelcher Methoden ist (was man, uneingeschränkt der objektiven Gültigkeit der transzendentalen Analytik, vom transzendentalen Subjekt als deren Zielpunkt gerade nicht sagen kann), sodaß hier, zumal die Darstellung der Analogie vollständig ist, von einem eigentlichen und selbstständigen Substrat des Begriffes die Rede sein kann, dessen Ort in der Untersuchung der dritten Antinomie zugleich vollständig bestimmt ist. In der Deduktion der Kategorien waren die Relationen der mathematischen (Phoronomie) und der dynamischen Kategorien (Relationen zwischen daseienden Dingen) in der subjektiven Realität der Phänomene das Unterpfand für ein außersubjektives Substrat des Geschehens und der, der transzendentalen Deduktion gegenüberliegende Eckpfeiler, worauf sich eine transzendentale Analyse und Synthese unserer Erfahrungen errichten hat lassen. Hier steht nun sowohl methodisch abermals eine transzendentalanalytische wie inhaltlich eine synthetisch-metaphysische Entscheidung an, mit der nunmehr die Auffassung über unser jeweiliges empirisches und intelligibles Subjekt hinsichtlich des Freiheitsproblems steht und fällt, wovon das transzendentale Subjekt nur eine abstraktive Vorstellung war. Diese ursprüngliche, zwar radikal subjektive und doch modale Frage, deren negative Beantwortung gleich jede philosophische Untersuchung schon als bloße Möglichkeit zunichte machen würde, hinterläßt also die Idee eines Substrates des transzendentalen Subjektes, welches sowohl bestimmend wie zugleich sich selbst bestimmend gedacht werden soll. Darin ist zuerst nur das zu ersehen, was gesagt worden ist: das transzendentale Subjekt ist als Zielpunkt der transzendentalen Analytik der Erfahrung desselben Subjekts sowohl intelligibel (rein intellektual) wie auch als sinnlich, a fortiori als leiblich zu denken. — Nun steht aber die Intelligibilität der Spontaneität der Intellektualität als Voraussetzung jeder durchgängigen Kritik und Bestimmung als solche zur Diskussion, die, zur Mannigfaltigkeit der Vernunft geworden, nicht den inneren Sinn, sondern sich selbst bestimmt, indem die Intelligibilität rein ist, weil sie sich, sofern sie sich zur rein spekulativen Vernunft bestimmt, zu sich selbst verhält. Indem sie sich zur rein spekulativen Vernunft selbst bestimmt hat, hat sie sich zu einer »idealischen« Vernunft bestimmt, die spekulativ die Totalität zu bestimmen sucht, wie die Intellection der reinen Ideen auch. Indem sie sich aber darin zu sich selbst verhält (wenngleich eben nicht mit sich selbst ident ist), indem
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sie sich selbst weiter bestimmt, versucht die Intellection in der rein spekulativen Vernunft damit auch eine Identität der Bewegung dieser Weiterbestimmung und zugleich die Totalität zu bestimmen. Deshalb kann diese vorgängige »Vernunft« auch idealisch genannt werden (Ideal der reinen Vernunft). Indem die Intelligibilität ihre Intellektualität zur reinen Vernunft in Analogie zu möglichen Grundsätzen der Erfahrung weiterbestimmt, bestimmt sie nicht sich selbst, vielmehr das andere in uns – den inneren Sinn. Wir aber haben im Rückblick (von der abstraktiv vorgehenden transzendentalen Analyse aus gesehen) reine Intelligibilität (für uns zuerst als Intellektualität), inneren Sinn und Leiblichkeit zum zusammengesetzten Substrat; nur als intelligibeles Wesen der rationalen Psychologie sind wir ein einfaches Wesen. Insofern kann die reine Selbstbestimmung des intelligiblen Subjekts mittels dessen Intellektualität auch ein ervernünfteltes Artefakt der transzendentalen Analytik sein, die erst im Begriff ist, über die Grenzen möglicher Bestimmungen des Erfahrungsraumes (als mögliches Ganzes) hinauszugehen. Wenn von einem solchen Wesen, von welchem die genaue Zusammensetzung und der Grad der Verwirklichung seiner Möglichkeit zwar nicht bekannt ist, aber zureichen soll, in der besagten dritten Antinomie der ersten Kritik die Kausalität aus Freiheit in der Kausalität durch Freiheit mit der Kausalitätskategorie zu verbinden, vermag man nicht nur die, vom transzendentalen Subjekt unter eine Klammer gebrachte Substratsmannigfaltigkeit desselben als, letztlich nach der transzendentalen Analytik vorgegebenen Grenzen geordnete, synthetische Metaphysik in den von der transzendentalen Analytik in der transzendentalen Psychologie gezogenen Grenzen aufzufassen. Die Kausalität aus Freiheit garantiert, insofern teils aus reiner Spekulation (wie etwa oben), teils bereits aus architektonischen Gründen, das transzendentale Freiheitsproblem. Das ergibt eine weitere Möglichkeit von synthetischer Metaphysik (metaphysica specialis). Das damit nur unvollständig exponierte Problem der Willensphilosophie reicht aber zu, irgendein Substrat eines handelnden Subjektes abermals aus dem Gegenteil der Unmöglichkeit, das ein mögliches Ganzes ausgeschlossen werden könne, als notwendig zu denken, sodaß insbesondere im Rahmen der dritten Antinomie unabweislich wird, die Totalität der reinen (theoretischen) Vernunft als Übergang zur praktischen Vernunft, und dies
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auch als Übergang vom Konzept des transzendentalen Subjektes der Untersuchung des Verstandesgebrauches gegenüber der Sinnlichkeit und Erfahrung zum intelligiblen Subjekt eines gemäß seiner ganzen (organisierten) Seelenvermögen handelnden Wesens zu verstehen. Das allerdings rechtfertigt überhaupt erst das Ansinnen, hier von einer transzendentalen Differenz zu sprechen: Erstens weil doch immer (auch im transzendentalen Subjekt) das einzelne und idente, aber unbekannte Subjekt gemeint war; und zweitens, weil dieses Konzept vom Subjekt dann anhand des bloß erschlossenen intelligiblen Subjektes in der dritten Antinomie auch noch die rein formale (hier also nicht-sinnlich und nicht-anschaulich zu verstehende) Kontinuität im Wechsel seiner Bestimmungen erhält, bis es zur Vorstellung eines Wesens kommt, das nur vom reinen Willen, das ist das vom Sittengesetz der reinen praktischen Vernunft mit dem Gefühl der Achtung affizierte Gemüt, bestimmt ist. Doch wohl auch um den Unterschied für eine Transzendentalphilosophie gewiß genug zu machen, hat Kant noch ein übriges getan und aus dem Unterschied der Quelle der das Gemüt und sein Streben bestimmenden Affektationen einen Gegensatz zwischen empirischem Subjekt, das pathologisch, und intelligiblem Subjekt gemacht, das die praktischen Vernunftgesetze denkt; von welchem aber das empirische Subjekt, das im transzendentalen Subjekt gedacht wird, ästhetisch-praktisch affiziert werden soll. Die Frage ist, wie ist der Satz: »Der intelligible Charakter ist ohne jeden Einfluß der Sinnlichkeit« (B 569/A 54) zu verstehen ist. Ist der intelligible Charakter nur eine weitere Abstraktion wie das transzendentale Subjekt, welches in der transzendentalen Untersuchung der Erkenntnisvermögen (Verstand und Sinnlichkeit) als Folge der Einklammerung (Husserl: transzendentale Reduktion) erscheint, der nunmehr zum Fluchtpunkt einer unbedingten Norm rektifiziert worden ist? Oder ist der intelligible Charakter nur im Sinne einer intensionallogisch absolut gedachten Einheit von Essenz und Existenz das wirkliche Substrat des transzendentalen Subjektes? Ich folge hier der letzten Auffassung, die Kant nahelegt, wenn er die Kausalität aus Freiheit als solche unzweideutig exponiert. Nur deren sichere Erkennbarkeit als Ursprung einer Naturdetermination wird in den Anmerkungen zur dritten Antinomie letztlich in Zweifel gezogen, wenn die Freiheit durch Kausalität kritisch diskutiert wird.
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Es ist also festzuhalten, daß hier der Übergang von der Totalität der reinen Vernunft zur praktischen Vernunft auf eine Weise vollzogen wird, daß sowohl was den modalen Anspruch betrifft, wie auch was die Kontinuität und Vollständigkeit der Darstellung angeht, die Konstitution der transzendentalen Differenz innerhalb des transzendentalen Subjektes zwischen intelligiblem Subjekt und empirischem Subjekt zunächst außer Frage gestellt werden kann, gerade weil eben über das empirische Subjekt als Erfahrung über sich selbst als erkennendes Subjekt vermittelt. Die bloße Unterscheidung in rationale Psychologie und rationale Physiologie macht nicht die transzendentale Differenz, doch kann sie darin gedacht werden, wenn diese zuerst als philosophischer Begriff exponierte Differenz nicht nur als Direktion, sondern auch als Konzept vorstellig wird, die den Kantschen Kriterien genüge tut. Das erkennende Subjekt ist aber das intelligible Subjekt und das empirische Subjekt im transzendentalen Subjekt, welches als bloßer Zielpunkt der transzendentalen Analytik selbst die Vermittlung aber nicht leisten könnte. Wenn nun das intelligible Subjekt aber womöglich nur das Produkt der über die Grenzen möglicher Erfahrung gehenden transzendentalen Analytik ist, bliebe nur das empirische Subjekt als Instanz und Agent der Vermittlung in einem. Eben das konnte ausgeschlossen werden. Hingegen kann das empirische Subjekt nicht einfach als Pathologisch-Sinnliches regionalontologisch abgetrennt werden und als Ganzes dem transzendentalen Subjekt oder einem auf Normativität depotenzierten intelligiblen Subjekt zum Substrat dienen. Betrachtet man das Individuum in seiner Zusammengesetztheit verschiedener Naturen von Außen als Gegenstand, erst dann stellt sich die Frage nach der transzendentalen Differenz zwischen unserer Vorstellung des Anderen als objektive leibliche Existenz und als Person. Diese Frage aber ist nicht einfach zu beantworten, da einerseits der Leib als Ausdruck der inneren Gestimmtheit letztere nur durch Appräsentation für uns zugänglich macht, aber nicht gleich die ganze Person. Das spricht für die Möglichkeit einer transzendentalen Differenz, andererseits geht Kant vom Gemeinsinn aus, weshalb in der praktischen Vernunft die Ausbildung einer transzendentalen Differenz nicht vorgesehen ist. So bleibt für die Transzendentalphilosophie die transzendentale Differenz im transzendentalem Subjekt, letzteres ist jedoch nur eine Idee des urteilenden empirischen Subjekts, das sich dieser Idee im Urteil zuerst unterwirft; und
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die transzendentale Differenz von empirischen und intelligiblen Subjekt bleibt ohne Erfahrung (Widerlegung des Idealismus) eine Hypothese bzw. das intelligible Subjekt ohne Freiheit aus Kausalität und Freiheit durch Kausalität eine transzendentalanalytisch als notwendig gesetzte Hypostase. Diese Darstellung der Differenz ist nicht die, die der dynamischen Kategorie der Kausalität vorausgesetzt ist (eben als transzendentale Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung ein transzendentales Prinzip); man befindet sich hier bereits am Boden der reinen Vernunft im Übergang zur reinen praktischen Vernunft, und ist, das ist das wichtigste der Argumente, die Quelle unserer möglichen Autonomie und Heautonomie im Urteil und in der geplanten Handlung. Das ist insgesamt die fünfte,2 aber erst die zweite für sich selbst vollständige Fassung einer transzendentalen Differenz, die sowohl vom Ursprung her selbstständig wie auch anhand eines Prinzipes darstellbar ist, worauf sich ein Gebrauch des Begriffes von »Transzendentalität« stützen kann. Es ist nun die Frage, inwieweit aus einem möglich scheinenden zweiten transzendentalen Prinzip ein synthetisches Urteil a priori der reinen Vernunft deduziert (gerechtfertigt) werden kann, was gemäß der Definition eines transzendentalen Prinzips aus der transzendentalen Ästhetik der Probierstein auch des zweiten transzendentalen Prinzips sein sollte.
d) Der Übergang von reiner Vernunft zur reinen Willensphilosophie des intelligiblen Subjekts. Das Reich der Zwecke I. Vorhin habe ich ausgeführt, daß sich das intelligible Subjekt vom transzendentalen Subjekt darin unterscheidet, daß die Spontaneität des intelligiblen Subjekts den Zusammenschluß von Kausalität aus Freiheit und Kausalität durch Freiheit bewerkstellige; schließlich daß im intelligiblen Subjekt selbst der Topos der Zusammenstellung oder Gegenüberstellung 2
Nach der transzendentalen Differenz der Ästhetik, der Kausalitätskategorie, der formalen Analogien zwischen Diskursivität der reinen Vernunft und idealer Kommunikationsgemeinschaften, und der möglichen transzendentalen Differenz zwischen Individuuen (als Personen betrachtet), ist die Sicherung der Verbindbarkeit von Kausalität aus Freiheit und Kausalität durch Freiheit die fünfte Fassung einer transzendentalen Deduktion als bloße intentionale Direktion.
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von intellektueller Spontaneität und intellektueller Rezeptivität das Verhältnis von transzendentaler Apperzeption und innerem Sinn (empirische Apperzeption) wiederholt und erst gegenwendig sich synthetisch-metaphysisch als die ursprüngliche Fassung des Horizonts der transzendentalen Freiheit herausstellen läßt. Dieser wiederum ist erstens als Erweiterung des psychologisch verfaßten Verständnis vom Bewußtsein zur Idee einer zusammengesetzten Welt und deren Hingeordnetheit auf die Natur und zweitens modal vom Ergebnis der einseitigen Kritik der Zufälligkeit (Kontingenz) im Rahmen der bloßen Naturdeterminationen abhängig anzusehen und an sich und für uns Grundlage jeder weiteren Willensphilosophie als wissenschaftliche, d. h. hier vor allem methodischkritische Philosophie. Die notwendige Bindung an die Idee der Wahrheit, um überhaupt das erste Kriterium einer erfolgreichen Willensbetätigung zu erreichen, scheint völlig der Kantschen Auffassung der Willkür vom intelligiblen Subjekt im Rahmen der transzendentalen Idee der Freiheit entsprechen zu können: Kant verzeichnet zwar diesen Moment der Willkür, die nicht an die Ideen der Wahrheit und Gutheit gebunden ist, doch er unterwirft die zugleich unbestimmt-abstrakt vorgestellte Freiheit, anders als Hegel,3 kommentarlos den obersten Prinzipien der Vernunft: der Unbedingtheit und der Totalität (Ganzheit). Das bedeutet am Boden der praktischen Vernunft einerseits die Einschränkung der dialektischen Idee der Freiheit zur Autonomie und andererseits die Einschränkung der selbst nur in Totalität zu denkenden reinen Freiheit zuerst der Streberichtungen nach, dann im Vergleich der Konkretisierbarkeit teleologischer ZweckMittel-Relationen, und schließlich deren abermalige Einschränkung im von der Vernunft regierten Reich der Zwecke. Dieser sich schließende Bogen steht unter der Spannung zwischen der reinen Intelligibilität des Subjekts der praktischen Vernunft einerseits und andererseits der Zusammenfügung der Transzendentalität des Empirischen am höchsten Gut und der Transzendentalität der Idee von der Natur. Diese Zusammensetzung geschieht anhand der Diskussion um die verschiedenen Grundformen des kategorischen Imperatives und deren Gruppierungen (in: Kant-Studien 93, 2002, pp. 374-384, Georg Geismann: Die Formeln der kategorischen Imperativs. Paton, Reich, Ebbinghaus).4 3 4
Rechtsphilosophie, § 13 Die verschiedenen logischen Argumentationsformen der Beispiele für den kategorischen Imperativ (Lügenverbot, Veruntreuungsverbot eines Depositum, Selbstmordverbot) sind damit allerdings nicht vollständig diskutiert worden.
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Aber auch in der Ausarbeitung der Zusammenhänge im Fortgang der systematischen Reflexion von theoretischer Vernunft, Vernunft als oberen Begehrungsvermögen, ästhetische Urteilskraft, teleologischer Urteilskraft technisch-praktische Vernunft und nochmals reiner praktischer Vernunft, die streng gemäß der Einschränkung auf Erkenntnisvermögen (ratio cognoscendi) noch in Frage kommt, ist modal sowohl das transzendentale Subjekt wie das intelligible Subjekt an die Leiblichkeit gebunden, das zeigen schon die Paralogismen in beiden Fassungen. Nun sagt Kant, daß der intelligible Charakter jede Einflußnahme der Sinnlichkeit verbiete; ich habe aber das intelligible Subjekt in den Erörterungen zur dritten Antinomie vorwiegend im Feld des Überganges von der Kausalität aus Freiheit zur Kausalität durch Freiheit betrachtet. — So beansprucht schon die klare und deutliche Gegenüberstellung des Verstandesvermögens und der Sinnlichkeit die Position der transzendentalen Apperzeption für den reinen Verstandesgebrauch, ja selbst für die Konstitution des Verstandes, ohne argumentativ auf ein transzendentales Prinzip der reinen Vernunft selbst angewiesen zu sein. Die Intellection ist nicht der Verstand selbst, aber nichts weniger schon reine Vernunft im Sinne der transzendentalen Dialektik Kants und deren Einschränkungsweisen. Intellection ist in der Fassung des intelligiblen Subjektes als gedachte Essenz und Existenz des transzendentalen Subjektes nichts als die ursprüngliche intellektuelle Rezeptivität; und der Verstand ist zunächst nichts als die ursprüngliche intellektuelle Spontaneität. Der Bedeutungsbereich des intelligiblen Subjekts, welcher aus der Dialektik der bereits auf die Analogie zu den Kategorien eingeschränkten reinen Vernunft entspringt, geht aber einerseits über das Erkenntnisvermögen hinaus, und schließt andererseits die Sinnlichkeit (ein Teil des Erkenntnisvermögens) aus. Daß das »Ich denke« im Übergang der Paralogismen zu den kosmologischen Ideen einen empirischen Aspekt aufgrund der Selbsterfahrung im inneren Sinn notwendig zugesprochen bekommt, dessen Basis noch schmäler ist, und schon mit der bloßen »Wirkung« der intellektuellen Spontaneität des Verstandes auf den inneren Sinn als produktive Einbildungskraft als erfüllt angesehen werden kann, zeigt nur auf dem Gebiet der transzendentalen Psychologie die notorische Schwierigkeit auf, einerseits der Spekulation nicht entraten zu können, weil sie systematische Einheit möglich macht, andererseits die Spekulation auch bei einer mehr oder weniger strengen
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Bindung an die Grenzen des transzendentalen Idealismus eine ebenso systematische Kritik nötig macht. II. Es konnte also herausgestellt werden, daß nur in einem spezifischen »normativen« Sinn die Intelligibilität von der Sinnlichkeit nicht affiziert wird (Vernunft als höheres Begehrungsvermögen), oder die Intelligibilität nur vermittels der Formen des Verstandesgebrauches über die Sinnlichkeit informiert wird (Vernunftprinzipien a parte priori), ansonsten keine Apperzeption stattfinden könnte, was doch die Bedingung für ein bestimmendes Urteil ist. Im nächsten Schritt ist demnach zu diskutieren, in welchem Horizont der Übergang von der Kausalität aus Freiheit zur Kausalität durch Freiheit stattfindet. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß der eigentliche Übergang von intellektueller Spontaneität zur Naturkausalität in jenem Abschnitt geschieht, den Kant mit der Freiheit durch Kausalität bezeichnet hat. Inwiefern der Begriff Ursache sein kann, leuchtet zuerst im kommunikativen Bereich ein, so zum Beispiel, wenn Aufforderungen im Imperativ befolgt werden. Wie ein intellektueller Entschluß durch unsere Körperlichkeit zu einem Beginn einer Naturdetermination werden kann, kann nicht mehr allein nach den methodischen Möglichkeiten des Erfahrungsmachens befragt werden, und wie die daraus gewonnenen Erfahrungen systematisch zum Erfahrung anstellen genutzt werden können, sondern es wird eine qualitative Frage gefragt, die schlicht und ergreifend die ist, wie wir einen Begriff oder einen intellektuell begründbaren Entschluß des Willens als Ursache inmitten von Naturursachen vorstellen sollen. Immerhin wird die Beantwortbarkeit, oder doch eine Auflösung dieser Frage im Übergang von Erfahrung machen zum Erfahrung anstellen vorausgesetzt. Wo ist der Ansatzpunkt? Etwa in den Untiefen der Bestimmungsansätze zwischen rationaler Physiologie des inneren Sinnes und empirischer Psychologie des Gemüts? Wie schon des öfteren angeführt, verfolgt Kant im Opus postumum diesen Gedankengang bis in die »physiologischen Gehirnbewegungen« hinein und kommt zu einem doppelten System beweglicher Kräfte. Es muß Kant also bekannt gewesen sein, daß die Basis der Willensphilosophie gegenüber der Naturphilosophie sehr schmal ist; ich wage sogar noch mehr zu vermuten, nämlich daß die von der Ganzheit der Transzendentalphilosophie geforderte Vollständigkeit der Prinzipien der Naturphilosophie die
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praktische Philosophie beim späten Kant zeitweise an den Rand logisch unbedingt notwendiger Spontaneität eines daseienden verständigen Wesens zurückgedrängt hat. So wird diese Frage vorzeitig mit einem noch später zu erwartenden Problem im Zusammenhang der sittlichen Rigorosität Kants bekannt gemacht, als daß Kant offenbar glaubt, nur mit sittlichen Grundsätzen a priori die transzendentale Idee der Freiheit gegenüber der Naturdetermination in totum auch beweisen zu können; vorläufig geht es aber etwas weniger anspruchsvoll erstens sowohl um die Sicherung der intellektuellen Spontaneität (Verstandesvermögen) wie um die Sicherung der intellektuellen Rezeptivität (Intellection), und zweitens eben um die Frage nach der Ursächlichkeit des Begriffes bzw. auf wie viele Arten man diese Frage stellen kann. Sich aber nur im Rahmen objektiver und subjektiver Zweckmäßigkeit eine Antwort auf die gestellte Frage zu erwarten, verschiebt bereits auch die Grenze der ursprünglichen Frage nach der intellektuellen Rezeptivität und Spontaneität, was das rein intelligible Subjekt ausmachen soll. Daß diese Frage immer schon eingebettet ist in ein System von Fragen nach gesellschaftlicher Organisiertheit, was auf den kommunikativen Aspekt unserer Organisiertheit als Individuum und als Gattungswesen verweist, vermag nicht den physisch-manipulativen Bereich als einer der Quellen des Erkenntnisvermögens zu verdecken. Diese Quelle der systematischen Erfahrung gibt uns zugleich die Sicherheit, daß Freiheit durch Kausalität möglich ist, auch wenn eine unmittelbare Antwort wie in der Widerlegung des Idealismus in dieser Fragerichtung, wie wir denn nun in die Naturdeterminationen eingreifen, wenn wir schon offenbar eingreifen können, a priori nicht zu erwarten ist, auch wenn Kant zunächst zu beweisen vorhat, daß wir Naturdeterminationen beginnen können. Nach einer ersten Eingrenzung des Untersuchungsbereiches, die offenbar wegen des Ausgangspunktes des Unternehmens, nämlich eine Untersuchung der Erkenntnisvermögen zu sein, selbst notgedrungen gegenüber der Ganzheit der Seelenvermögen unvollständig bleiben muß, findet ein Teil des gesuchten Übergangs im inneren Sinn oder im Gemüt statt. Es kann vorsichtiger auch gesagt werden, daß es zwei konkurrierende Hypothesen gibt, wovon die eine näher an die Leib-Seele-Problematik herangeht, dortselbst, zumindest bei Kant, das vermittelnde Medium jedoch in verschiedenen Funktionen des Vergleichens zerfällt, und dennoch als Klammer der inneren Inkohärenz sowohl für die anti- und
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außerakademische Kriterienlehre der Evidenzen, wie für die innere Erfahrung letztlich doch als Basis der unmittelbaren Selbstgewißheit im Akt der Identifikation der Spontaneität mit deren Folgen in der Einheit der transzendentalen Apperzeption unverzichtbar bleibt. Die Übersetzung nahezu notgedrungen unscharfer Definitionsabschnitte des inneren Sinnes zum Medium innerer Erfahrung führen dazu, daß die rationale Physiologie u. a. zuständig zu werden droht für den Vergleich von empirischen Begriffen. Da es eben um Begriffe geht, kann das aber nicht Angelegenheit der rationalen Physiologie sein, sondern es ist im Sinne der Vorstellung vom transzendentalen Schematismus ein Mitwirken der intellektuellen Spontaneität (Verstand) von nöten. Die weitere Verfolgung dieses Stranges der Argumentation führte wieder in ein System der Einbildungskraft als spezifischer Formenkreis der Wirkung der intellektuellen Spontaneität gegenüber dem inneren Sinn. Das hat sicherlich nichts mit dem hier aufgeworfenen Problem zu tun, zumal hier die reine Intellektualität des intelligiblen Subjekts selbst mit der Wirkung auf den inneren Sinn per definitionem schon verlassen worden ist. Diese kleine Beobachtung gewinnt um so eher an systematischer Bedeutung, um so schwieriger die Lösung des ursprünglichen Problems erscheint. Zur Beantwortung der ersten Fassung der Frage ist uns auch nicht wirklich damit gedient, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß wir als Gattung in der Tat in der Lage waren, auf die Umwelt und auch auf uns selbst Einfluß zu nehmen. Architektonisch vermag ich aber daraus auch bei Nichtbeantwortbarkeit der ursprünglichen Frage einen Grund zu ersehen, die Beantwortbarkeit der Frage nach der mittelbaren Ursächlichkeit von Begriffen auf die Natur nicht auszuschließen; vorläufig kann diese Frage als grundsätzliche Frage nach der Möglichkeit pragmatisch sogar als so gut wie beantwortet angesehen werden. Das läge vorneweg in unserer Existenz als Gunst schon immer unbekannt mitbeschlossen. An Stelle von transzendentalsubjektiv immanenter Selbstevidenz reiner Intellection oder als Ergebnis innerer Erfahrung im inneren Sinn selbst schon empirisch gedacht, wie auch immer, aber eben immer jeweils mit dem Gegebenen des Sinnlichen getrennt und koordiniert, beansprucht die Evidenz bei Kant aber schließlich eine universale Position als ihr Kriterium; sichtlich ein Erbe des Wolffianismus. Die Antwort ist nicht die erwartete, die ursprünglich gestellte Frage wird nicht beantwortet, aber die gebbare
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Antwort beantwortet die zuerst abhängig vom Physikalismus des kategorialen Verstandesgebrauches gar nicht gestellte Frage nach Bedeutung und Sinn dazu. Diese über das Individuum wie über die Gattung im jeweiligen Zustand hinausführende architektonische Perspektive der Fragestellung bleibt aber zu unserer Verfügung und kann nicht einer Formalontologie a priori wie im ontologischen Horizont der Fragestellung Christian Wollffs unterworfen werden. Da aber Philosophie nicht aus Weltanschauungen bestehen kann, gibt es für die kritische philosophische Anthropologie die Aufgabe, die ideengeschichtlichen Perspektiven und andere Ursachen unserer Lebenswelt und deren autopoetischen Charakter empirisch-historisch zu katalogisieren und nach Möglichkeit für eine kritische Theorie der Gesellschaft, schließlich für eine allgemeine Theorie der Vergesellschaftung des Menschen als Individuum und als Gattung heuristisch zu nutzen. Das Potential der transzendentalen Idee der Freiheit zur Willkür aber führt weiter zur Kritik an der Dogmatik der reinen praktischen Vernunft. Diese ist sowohl in ihren transzendentalphilosophischen Teilen wie in ihren metaphysischen Teilen als eigentliche Grundlage der Willensphilosophie zu würdigen, die freilich das von mir unbeantwortet gelassene Fünklein des intelligiblen Subjekts voraussetzt, aber nach der Antizipation des Endes des bürgerlichen Nationalstaates anhand der Verderbtheit der öffentlichen Sitten keine Idee oder kein Schema für ein kritisches Verhältnis von philosophischer Anthropologie und Soziologie (als allgemeine Gesellschaftslehre) mehr zustande bringen kann. Andererseits beginnt die kosmologische Idee im gegenwendigen Übergang zu den Paralogismen zwischen der Körperoberfläche als naheliegende Grenze des Ichs und dem Ganzen des Kosmos als eine Vorstellungsart der Welt als Natur zu oszillieren: Der Raum als ein Gefühl der Allgegenwart.
10. Zur dritten relativ selbstständigen und konstitutiven transzendentalen Differenz: Formalontologie, Kultursoziologie, Geschichtsphilosophie? a) Der Übergang von der Formalontologie des Daseins zur Geschichtlichkeit des Daseins
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Unabhängig davon und über das bisher Behandelte hinausgehend ist nach wie vor analog zur Unterscheidung in eine transzendentale Einteilung und in eine mathematische Einteilung des Kontinuums (transzendentalpsychologisch der innere Sinn) zumindest die Möglichkeit einer selbstständigen transzendentalen Differenz zwischen reiner (theoretischer) und praktischer Vernunft als Ergebnis der Kritik an einer Formalontologie in Nachfolge Christian Wolffs zu überlegen und gegebenfalls zu widerlegen. Die Auflösung insbesondere der dritten Antinomie führt aber zur Untersuchung der Verhältnisse von Regressus und Progressus im Rahmen der Zeitordnungen vom empirischen Subjekt seines Kosmos ausgehend. Das Ergebnis sind Zeitbedingungen von ganz anderer Art als aus der Untersuchung des kategorialen Verstandesgebrauches in sinnlicher Erfahrung bekannt, da hier die Sinnlichkeit nicht mehr die Kontinuität der in der Gegenwart verfließenden Zeit garantiert. Also nicht die relative Zeitlosigkeit der intellektuellen Reflexion und des Vergleiches von empirischen und nicht-empirischen Begriffen im Gemüt (innerer Sinn) wird zu einer zur Erkenntnisfrage komplementären synthetischen Metaphysik der Psychologie oder zu einer Fundamentalontologie des Daseins ausgebaut, sondern die Mannigfaltigkeit der Zeitstrukturen werden in die Begrenzung des Horizontes des Daseins zurückgebogen. Kant kann die streng transzendentalsubjektivistische Trennung der cartesianischen Unterscheidung von res cogitans und res extensa insofern aufgeben, weil beides nach der transzendentalen Kritik nur mehr als Ergebnis des Urteilens über Erscheinungen im inneren Sinn (Gemüt oder auch empirische Apperzeption) des transzendentalen Subjekts behandelt werden darf. Die Formalontologie aber kann nicht länger die Sinnlichkeit und deren Abstraktionen heranziehen, um Kontinuität in den Erscheinungen garantieren zu können, sie muß eine in sich selbst erzeugte Gleichzeitigkeit eines Horizontes behaupten, der als Gleichursprünglichkeit die ontologische Charakteristik der Ursprünglichkeit, und als gesetzte Gleichursprünglichkeit die formale Charakteristik erst zu rechtfertigen hat. Deren angebliche Zeitlosigkeit und angebliche Aufheblichkeit und angebliche Überblickbarkeit formaler Konsequenzen wurde schon oftmals kritisiert. Vorallem aber ist der innere Widerspruch von Formalität und Ontologie schon unabhängig vom Unterscheid zwischen bloßer
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widerspruchsfreier Denkmöglichkeit und rein formalwissenschaftlicher Theorie, und erst recht vor der modernen Einsicht in die unumgänglichen konventionalistischen Elemente jeder theoria einsehbar. Bevor der konventionalistische Aspekt jedoch wirklich als Ausdruck der intelligiblen Freiheit verständlich wird, muß schon in der selbst theoretischen Reflexion auf den Unterschied bloßer logischer Denkmöglichkeit und aussagefähiger Theorie in Formal- und Naturwissenschaften zurückgekommen werden. Innerhalb formaler oder rein innermethodologischer Reflexion bleibt der konventionalistische Aspekt gleichberechtigt mit den semantischen Elementen, sodaß hier die Konjunkturalität der Formalwissenschaft entspringt, ganz wie Kant in § 62 der Kritik der Urteilskraft die Mathematik damit charakterisiert, daß sich die einzelnen Aufgaben nach den Konstruktionsprinzipien der reinen Mathematik erst mit einen der Mathematik selbst äußerlichen Zweck auswählen oder überhaupt erst konstruieren lassen. Aber ist es dann doch erst das Prinzip (wie man noch sehen wird letztlich nichts als das »idea est archetypus intellectus«), das in der Konjunkturalität der bloß unbestimmt-abstrakt Affinität ausdrückenden Formalontologie diejenige Einschränkung zustande bringen soll, welche eine geregelte Verbindung systematisch herzustellen erlaubt. Dies kann als Übergang von Bildersprache zu Schriftsprache verstanden werden, indem die bloße Vorstellung von selbst unanschaulichen Elementen des Bildverständnisses, also zum Beispiel Relationen zwischen sinnlichen Elementen, seien sie nun als Ursachen oder als Regelbegriffe zu denken, gerade in ihren Verhältnissen zueinander wiederum eine architektonische Vorstellung einer Gruppierung erzeugen, die trotz der sprachlichen und schriftlichen Linearität der Performation selbst nicht primär zeitlichen Charakter hat. Hingegen muß mit der vergangen gesetzten Zeit auch immer eine durchgehende Reihe von einer hypothetisch in die Vergangenheit gesetzten Gegenwärtigkeiten auf uns zu zu denken möglich sein, doch ist der in der Zeit rückwärts schreitende Regressus gerade nicht durchgängig in Konzepten der sinnlichen Kontinuität darstellbar. Erstens die Objektivsetzung der Zeit als Vergangenheit als solche (nicht sofort deren empirisch-konkreten Ereignisse), wie zweitens auch der Regressus auf das Ding an sich selbst (das Ding an sich selbst als das Substrat der
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Erscheinungen) in der Gegenwart der vergehenden Zeit des Erfahrungmachens bis drittens zur objektiv intendierten Zeitbestimmung des Zugleichseins führt die Zeitvorstellung dreimal über die bekannten Grenzen der transzendentalen Ästhetik von Raum und Zeit als reine Anschauungsform hinaus. Und das, ohne die antizipative Dimension der Apperzeption, die Strebungen von unteren und oberen Begehrungsvermögen in der Einteilung der Seelenvermögen (!) oder die ästhetische und teleologische Urteilkraft zwischen reflektierender und bestimmender Urteilskraft durchgängig berücksichtigt zu haben. Es gibt keinen Grund, den transzendentalästhetischen Ansatz von Raum und Zeit auf sinnliche Anschauung und inneren Sinn zu beschränken, außer den Zweck, die Vorbereitungen für die vom Erkenntnissubjekt ausgehende transzendentale Deduktion der Kategorien zu schaffen. Keineswegs denke ich, die transzendentale Forderung Kants an die Einheit des Bewußtseins sei deshalb in der Geschichtsphilosophie schon hinfällig, weil für den historisch jeweils bedachten Zeitrahmen ein naturwissenschaftlich nachprüfbarer Befund hinsichtlich Reihenfolge und kalendarisch eindeutiger Datierbarkeit für entscheidend in methodischer Hinsicht gehalten wird oder weil die nicht grundsätzlich bestrittene Möglichkeit, aus dem strikten Subjektivismus ein Stück weit mittels wissenschaftlichen Methoden und mit dem Ideal der Diskursivität hinauszukommen, hermeneutisch zur möglichen Ganzheit historischer Sinnfindungshorizonte wird, welche die Einheit des individuellen Bewußtseins übersteigt. Insofern will ich hier nur die transzendentale Subjektivität in der Geschichtsphilosophie, wie sie von so verschiedenen Denkern wie Simmel und Mannheim eingeführt worden ist, dahingehend präzisieren, daß es sich dabei allein um die Formulierung einer letztlich geschichtsphilosophischen Position handeln kann, und keinesfalls, obwohl es den Anschein hat, gleich um die Position von jemand, der im Nachvollzug eines komplexen kultursoziologischen Stratums oder, gemäß der zeitlichen Ausdehnung einer historischen Epoche, im Durchblick von Material auf eine Idee oder eine Gruppe von Ideen zu bringen vor hat, was die Vorstellung von einem System des vinculum substantiales als die Gesellschaftskräfte zu einer, wie auch immer unvollkommenen Bündelung (wie etwa die invisible hand von Adam Smith) in Richtung der empirischen Konkretisierung der gedachten prästabilisierten Harmonie erst in einem
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nächsten Schritt erlauben soll; immerhin eine Vorstellung, worin in der rationalen Metaphysik urprünglich die meisten Denker nach Descartes (mit Hobbes als Grenzfall und Gegenbild) in gewisse Übereinstimmung zu bringen sind. Diese, obgleich philososophische, zugleich selbst aber auch ästhetisch-praktische Vorstellung gewähre jedoch nur stellvertretenden, nicht realen Genuß, weil eben bloße ästhetische Vorstellung; kann aber noch in der radikalen Kritik als Bewältigung komplexer Mannigfaltigkeit genossen werden. Insofern könnte dann im bloß ästhetischen Genusses des gesellschaftlichen Bandes symbolisch von Theophagie und Anthropophagie gesprochen werden. (Vgl. Walter Benjamin, Michael Benedikt)◊ƒ
b) Die Zeitlichkeit der Geschichtlichkeit: Die ästhetische Dimension der transzendentalen Zeitbedingung (Robert Zimmermann). Zur Doppeldeutigkeit von Artefakt und kulturellem Symbol Ich will hier nur eine vorläufige Überlegung zur Grundlegung von Geschichtsphilosophie selbst oder auch nur der Geschichtswissenschaften in Anspruch nehmen; es soll unzweifelhaft sichergestellt werden, daß mit den Untersuchungen des Regressus nicht nur indirekt, als die Zeit der rein intellektuellen Verstandeshandlung im Zuge der Vereinfachung oder Ausdifferenzierung der Ideen, oder in der Bestimmung des Regressus in der Zeit als transzendentale Form einer notwendigen Reihenfolge des Erfahrungmachens die Rede ist, sondern von der Geschichtlichkeit der Zeit selbst. Dazu ist die transzendentale Betrachtung der Vorstellungsart des Geschichtlichen Voraussetzung, bevor gewissermaßen zu metaphysischen Anfangsgründen der Geschichtswissenschaften weiter gegangen werden kann. Die Zeitlichkeit des Geschichtlichen ist verschieden von der Vorstellung einer relativ abgeschlossenen Epoche. Gesucht wird deshalb weiterhin die transzendentale Zeitbedingung der Zeitlichkeit der Geschichtlichkeit. Die Vorstellungsform dieser Zeitlichkeit ist keine der bislang transzendentalästhetischen Anschauungsformen noch selbst teleologisch verfaßt. Das quantitative Maß dieser Zeitlichkeit ist weder die Schnelligkeit oder Langsamkeit ihres Verfließens noch deren Objektivierung in der
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Messung an regelmäßigen Intervallen, auch nicht das Maß der Erwartung, das innerhalb einer Epoche mit einem teleologischen Urteil verbunden sein kann. Allen diesen Zeitformen kann auf verschiedene Weise Kontinuität vorausgesetzt werden, die sowohl in den Horizonten des Gegenwärtigen gültig sind wie auch immer über diese Horizonte hinausgehend als gültig anzunehmen man verschiedene Gründe hat, je nach dem, ob es um die regressive oder um die progressive Perspektive geht. Eben die Kontinuität kann für das Geschichtliche der Zeit nicht vorausgesetzt werden, sondern die Kontinuität ist bereits mit das Ergebnis der Untersuchung der Geschichtlichkeit. — Das zweite Merkmal der Zeitlichkeit der Geschichtlichkeit ist die Gegenüberstellung der Vorstellung von epochenübergreifender »Wirksamkeit« von Ereignissen oder Entscheidungen (offenbar ein Gedankengang aus dem Formenkreis von Ursache und Wirkung) einerseits und dem konjunkturellen Charakter, dem auch die Zeit der Naturgeschichte verfällt, andererseits. Der konjunkturelle Charakter der geschichtlichen Zeit ist der Vorstellung der Determination entgegengesetzt. Es wird eine Wirkung behauptet, doch aber kann keine Ursache ausgemacht werden, die aktuell auf uns einwirken würde. Es ist also so wie im mechanischen Stoß, wo eine vergangene, nicht mehr wirkende Ursache eine träge Bewegung zur Folge hat, die ohne weitere entsprechende Einwirkung endlos andauern würde. In dieser nur bildlichen Redeweise wäre eine strukturelle Fulguration oder ein Entschluß der Anstoß für eine epistemische Veränderung, die gleichermaßen ohne vergleichbare Beeinflussung endlos andauert. Wenn es aber die vorgestellte Kausation »durch die Zeit hindurch« gibt, dann kann die Ursache als vergangene und nicht mehr selbst wirkende nicht die fragliche Ursache der Kausation »durch die Zeit hindurch« sein. Die Schwierigkeit der Überlegung wird noch dadurch erschwert, daß auch diese Art von Dauer durch die nämliche Beharrlichkeit der Erscheinung des Artefakts fundiert wird wie schon in der transzendentalen Ästhetik der Substanzkategorie. Robert Zimmermann hat in seiner kritischen Anthroposophie das Verhältnis zwischen Autor (Künstler, Ingenieur) als historisch einmalige Ursache seines andauernden Werkes, und dem Betrachter (Benützer), der das Artefakt entziffert und so dessen Werkcharakter ins Leben zurückruft,
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folgendermaßen beschrieben: »Zwar ist wie die Beseelung des Bildes überhaupt, so auch seine Geistbeseelung nur Schein [...] Aber dieser Schein ist unwillkürlich und nothwendig, er entspringt [...] aus dem Umstande, dass der Geist für die Veränderung, die mit dem Bilde vor sich geht, indem an die Stelle des Scheinbildes das wahre Bild tritt, eine Ursache sucht, und diese, da er sich genöthigt findet, das Scheinbild zurückzunehmen, in das Nöthigende, d.h. in das Bild selbst verlegt. Die Erhöhung des Eindruckes ist nur die Folge des vorausgegangenen Scheines des Gegentheiles; da aber die Ursache der Aufhebung des Scheines einmal in das Bild verlegt worden ist, so wird nun auch diesen die Folge als beabsichtigter Erfolg, d.i. als Zweck untergeschoben, zu dessen Erreichung der Schein des Gegentheiles hervorgebracht wurde, es wird nicht nur Ursache, sondern zwecksetzende, bewußte Ursache, Geist in das Bild gelegt.«5 Es ist also unsere Reaktion auf das Artefakt, die wir dem Artefakt zuschreiben, womit dem Artefakt der falsche Schein der Ursächlichkeit unterschoben wird. Als Artefakt wirkt es zuerst trivial physikalisch, dann durch die Gestaltung des Materials ästhetisch, schließlich im Kontext einer Geschichte bedeutungsvoll. Gerade die letzte Wirkung des Artefakts wird bestritten, dies sei keine Wirkung des Artefakts, dieses selbst sei nur eine weitere, die Aufmerksamkeit lenkende Bedingung, welche der Betrachter als Mitglied der Kunstverständigen einer Epoché (Einklammerung) selbst mitbringt. Die Bedeutung des Artefakts im Kontext einer Geschichte wird vom Betrachter erzeugt, und dann in das Artefakt verlegt. Die Zeitbedingung der Zeitlichkeit von Geschichtlichkeit kann demnach nicht als Reihenfolge des durchgehenden Wechsels oder als Sukzession beschrieben werden, sondern ist die Dauer von Ideen der Möglichkeit nach, so lange es Menschen gibt, die imstande sind, eine Mannigfaltigkeit der Möglichkeit von Ordnung in den Ideen systematisch zu bedenken. Der Versuch eines Schemas der Interpretation des reinen Verstandesbegriffs gründet auf der Behauptung, daß bestimmte Fragestellungen nach Wahrheit und Gutheit in vergleichbaren Varianten sich entwickeln, gleich wann eine Kultur imstande war, solche Fragegänge systematisch zu einer wissenschaftlich vorgehenden Philosophie zu machen; sie gründet also in der Annahme einer gewissen Konstanz der menschlichen Natur als Kulturwesen im Sinne einer literarischen Kultur. Dies wäre der logische 5
Robert Zimmermann, Anthroposophie, Wien 1882, § 292
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Kern der philosophia perennis. Zur Demonstration der Behauptung der Dauer der Möglichkeit nach ist die Idee von der philosophia perennis ausgezeichnet geeignet; diese Dauer stellt sich nicht ohne Vermittlung ein, aber auch nicht ohne eigene Erfindungskraft. Die Bedingung zur Aktualisierung der Dauer der Möglichkeit nach sind physikalisch, ästhetisch und hermeneutisch, wobei letzteres bekanntlich der selbst schon historische Beitrag des involvierten Betrachters ist, der schließlich dem Artefakt unterschoben wird. Die Bedingungen der Aktualisierung führen zu einem zweiten Schema, das analog zu den Schematen der Einbildungskraft im »Schematismuskapitel« der Kritik der reinen Vernunft gesehen werden kann: Der verdeckte Wechsel der Position der Ursache, welcher in der ästhetischen Vorstellung sich wechselseitig befördernd als lustvoll erlebt wird, wäre formal die nämliche Vertauschung, hielte man das Ereignis oder den Entschluß, welche unzweifelhaft für die historischen und vergangenen Ursachen gehalten werden könnten, für die Ursache jener Wirkung »durch die Zeit hindurch«, die im Grunde im ikonischen und schriftlichen, im weiten Sinn also hermeneutischen Charakter des Artefakts liegt. Insofern erfüllte dieser Positionswechsel abstrakt auch die Negation im reinen Verstandesbegriff, wenn wir auch noch nicht wissen, ob, und wenn, welcher Verstandesbegriff in diesem Fall vorliegen könnte.
c) Täuschung und Entäuschung: Individuum und Gattungswesen Zwar vom Artefakt einsteils vermittelt, aber im Entschluß des Betrachters zur Auslegung unmittelbar den involvierten Betrachter mit der gedachten Dauer der Wirkung des ursprünglichen Ereignisses oder des Entschlusses des Künstlers zum Werk (nicht mit diesem selbst, denn sie sind vergangen) in Verbindung gebracht, aktualisiert andernteils der Entschluß zur Auslegung erst die Wirkung der bloß gedachten Dauer. Diese Dauer hat nichts mit der Beharrlichkeit des Artefaktes in den Erscheinungen durch die historischen Epochen hindurch, oder mit der hypostasierten Dauer in der Substanzmetaphysik noch in der Willensphilosophie zu tun, sondern wurde vorhin schon als Dauer der Möglichkeit nach apostrophiert. Die Dauer der Zeitlichkeit der Geschichtlichkeit selbst wird nicht von der Geschichtswissenschaft oder der Geschichtsphilosophie hergestellt sondern nur wiederhergestellt, und da das Artefakt physisch existiert bzw.
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nachweislich existiert hat, sage ich, diese Dauer wurde durch den Beobachter und Betrachter »aktualisiert«. Insofern die Artefakte unmißverständlich genug sind, wird die Wirkung der Dauer des Artefaktes als nicht alleinstehende symbolische Wirkung des erkennenden Subjekts (Artefakt sinnlich, Hermeneutik vernünftig) als durchgehend aktualisiert zumindest der Möglichkeit nach vorgestellt werden können, wie aber das Beispiel der philosophia perennis zeigt, muß das nicht notwendigerweise wirklich in durchgängigen Traditionen so sein, obgleich die Philosophen sich wie die Wissenschafter, Techniker und Künstler durch die Zeit hindurch erkennen können. Die Aktualisierung ist nun mit einer Charakteristik ihres Schemas der Einbildungskraft leicht als vom Schema der Einbildungskraft in der Deduktion der Kategorien unterschieden festzuhalten: Nunmehr geht es nicht um die Vertauschung aktueller Gegenwart des Entschlusses zur Interpretation des Ereignisses mit der vergangenen Gegenwart als fortgesetzte Täuschung in der Identifikation von (verweisender) Erscheinung und Ursache oder von Erscheinung und Wirkung (wobei ersteres für Kant bekanntlich besonders problematisch ist) in einer zusammenhängenden Reihe. Vielmehr soll die Einsicht in die Vertauschung auch hier nicht einfach bei der Enttäuschung stehen bleiben, denn damit hätte die Kritik einen »Erfolg ohne Absicht« (Robert Zimmermann, Anthroposophie) erzielt, der die Aura des Kunstwerkes vollends vernichten und das Kunstwerk als kulturelles Symbol auf das physische Artefakt (bzw. die Kausalität selbst auf die Erscheinung) reduzieren würde. Das Ziel dieser Reflexion, die immer schon auf das kulturelle Symbol und dessen Mannigfaltigkeit der kontextuellen Einbettbarkeit entlang der bekannten oder auch nur mitwirkenden Überlieferungsstränge ausgerichtet war, erweitert sich gewissermaßen wie von selbst, wie Simmel oder auch Adorno und Mannheim angezeigt haben, eben darüber hinaus zur Reflexion des Verhältnisses zwischen Individuum, Kulturraum und Gattungswesen. Das geschieht, dieser Überlegung weiter folgend, vom Individuum ausgehend, das die Verbindung von unmittelbare sinnliche Wirkung des physischen Artefakts mit dem Kontext, der zwischen der Lebensgeschichte der betrachtenden Person und dem die Kulturgeschichte repräsentierendenden Kunstwerk erst herstellt und damit auch das Artefakt zum Kunstwerk erhebt. Offenbar muß die Kritik, die in der Aufklärung der Vertauschung der Position von Künstler und Betrachter liegt, als Anlaß gesehen werden, die Ähnlichkeit des Kunstwerkes zum
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Mythos (Adorno) zu brechen, indem die Produziertheit des Kunstwerkes, die im Physischen des Artefaktes erkenntlich wird, das Kunstwerk nicht nur was die Deutung, sondern auch was den Ursprung der Bedeutung angeht, in den Bereich menschlicher Kreativität und Vernünftigkeit im weiten Sinn verschiebt, während Mythos und Religion, wenn schon nicht immer auch den Ursprung des Artefaktes, dann doch den Ursprung der Botschaft außerhalb menschlicher Überlegungen sehen. Diese Perspektive der Betrachtung weist die mit der Aufklärung des Kontextuellen der literarischen Potentialität des Kunstwerkes befaßte Überlegung auf diesen Übergang von Mythos, Religion und als vernünftig erkannte Rationalitätstypen mit innerer Notwendigkeit ein (Christoph Jamme, Gott hat ein Gewand. Grenzen und Perspektiven philosophischer MythosTheorien der Gegenwart, Surkamp, Frankfurt/Main 1999, stw 1433), sodaß die vom Individuum sowohl der Spontaneität wie dem ersten Inhalt nach ausgehende Überlegung von dieser Seite her eine gattungsmäßig eingelegte, aber in Freiheit zu unternehmende Reflexion auf das Kulturwesen zu gewärtigen hat; und zwar unabhängig in welcher konkreten Kultur. In wie weit weitergehende Brüche zwischen Rationalitätstypen als den als für städtebauende Kulturen im Übergang vom Mythos zur Religion für verbindlich angenommenen zu vergleichbaren Rationalitätstypen wie der europäischen Aufklärung führen müssen oder sollte, darauf kann hier noch nicht näher eingegangen werden, obgleich diese Frage im Zuge der Globalisierung zu den entscheidenden gehört. Entlang einer dazu querstehenden Achse kann ersichtlich werden, daß die Vertauschung der Perspektive von Künstler und Betrachter (Leonardo da Vinci) durch diese Kritik am Mythos im Kunstwerk zwar keinen Widerspruch erzeugt, der Blick auf das Kunstwerk als Kultursymbol insofern sogar dadurch erst ermöglicht worden ist, jedoch weder die Reihenfolge für die inhaltliche Entwicklung der kontextuellen Potentialität des Kunstwerkes (Methexis) durch die historische Zeit völlig gleichgültig geworden ist, noch entschieden werden kann, inwieweit die Botschaft eines Kunstwerkes, die über das Kunstwerk selbst als Hülle oder künstlerischhandwerkliche Überformung des Artefakts hinausweist, konkret schon als solche, sei es als vollständige oder überhaupt schon vorhandene angenommen werden kann. Damit wird die inhaltliche wie die zeitliche Dimension wechselseitig miteinander verschränkt.
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d) Die Zeitlichkeit der Geschichtlichkeit: Die hermeneutische Dimension der transzendentalen Zeitbedingung (Sören Kierkegaard). Die Epoche in Erzählung und Natur Wie Kierkegaard in den Philosophischen Brocken festgestellt hat, wird der Unterschied von unmittelbarer, das heißt zu Zeiten der Erscheinung des Herrn bestehende Jüngerschaft, und von mittelbarer, also nur durch Bericht und Belehrung in Kenntnis versetzter Jüngerschaft aber zumeist überschätzt. In der Tat darf der Inhalt (die Botschaft) nicht hinter dem historisch Ereignishaften zurücktreten. Die fragliche Aktualisierung der Dauer der Möglichkeit nach zur Unmittelbarkeit geschieht durch die Einbildungskraft, die offenbar unwillkürliche Vertauschung von historischer Ursache und aktualisierender Ursache wird durch die Kritik nicht völlig zurückgenommen, vielmehr erscheint der sinnliche Anteil vom Artefakt, obgleich selbst ein subjektives Datum, als Unterpfand, die Vertauschung gewissermaßen zu entschuldigen, schließlich als unumgänglich anzuerkennen, wenn klar wird, daß die Kritik erst nach der Vertauschung möglich wird, und die historische Kritik die ästhetische Wirkung erst von der kultischen unterscheidet. Mit Kierkegaard wurde aber schon der Standpunkt erörtert, daß zumeist das Eigentliche die Botschaft sei und nicht die historischen Umstände der Erzeugung oder der Wahrnehmung selbst. Insofern reicht das Schema der Vertauschung ohne einen Begriff (Idee) der Botschaft nicht zu, die in Rede stehende Aktualisierung bei aller Konjunkturalität als das Produkt einer wirklichen Vermittlung anzusehen. Die Botschaft gibt die Kontinuität zwischen den Aktualisierungen und entspricht dem Dritten, das gemäß dem vorkritischen Kant die Kontinuität und Teilbarkeit sowohl des logischen (zugleich primituiv des semantischen) wie des ausgedehnten Raumes garantiert. Die Botschaft kann nur in der Einheit eines einzelnen Bewußtseins gedacht werden, doch aber ist sie als Botschaft mehr als das, indem erstens die Botschaft im einzelnen Bewußtsein nur eine Version der Botschaft sein kann; zweitens kann diese Art von historischer Vermittlung einer Botschaft als vollständige Interpretation derselben nicht gleich in die Einheit eines einzelnen Bewußtseins verbracht werden; drittens kann nur vermutet werden, daß es genau nur eine Botschaft überhaupt gibt, die verschieden interpretiert werden kann. — Damit wird eine Eigenschaft des
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Bewußtseins ersichtlich, die nicht von der Primordialität der transzendentalen Subjektivität der sinnlichen Erfahrung erfaßt worden ist, aber aus der Dialektik des intelligiblen Subjektes hervorgeht: nämlich, daß das individuelle Bewußtsein nicht nur sinnliche (also andere Gegenstände als den Leib voraussetzend) sondern auch soziale (also andere Individuen voraussetzend) Eingaben benötigt, um das abstrakte Tableau des selbst immer individuellen Bewußtseins zu errichten (Idee von der möglichen Einheit des Bewußtseins). Uber die Gattungsgemäßheit dieser Bestimmung wird das individuelle Bewußtsein auf eine soziale kommunikative Ebene des innerartlichen Verhaltens gestellt, was ich abstrakt mit der Intermonadologie aus den Cartesianischen Medidationen Husserls in Verbindung bringe, dennoch bleibt es als Bewußtsein immer individuell und an Körperlichkeit gebunden. In dieser Abstraktheit bleibt die Beschreibung des egologischen Horizonts, gleich ob psycologisch oder kommunikationswissenschaftlich formuliert, ohne determinierende Zeitbedingung. Die zeitliche Dimension der Geschichtlichkeit wird mit der Dauer der Möglichkeit nach beschrieben, die Kontinuität jedoch, wie im Übergang vom Wechsel zur Sukzessivität die transzendentale Einheit der anhebenden und vergehenden Erscheinungen eines Objektes durch die logische Regel des Überganges von Non-B zu B ausgedrückt wird, durch die semantische Regel der Einheit der Botschaft repräsentiert. Es bleibt aber nach wie vor offen, welche Art von reiner Verstandesbegriff für die Geschichtsbetrachtung in Frage kommt: Reichte für die transzendentale Zeitbedingung der Geschichtsbetrachtung der Wechsel der Erscheinungen aus, so könnte der semantische Inhalt der Regel als Vertreter des gesuchten Verstandesbegriffes gelten; es würde sich dann um den Begriff der Beharrlichkeit oder Substanz der Botschaft handeln. Oder aber es wird wie eben die transzendentale Zeitbedingung als Sukzession beschrieben, dann ersetzt die semantische Identitätsforderung an die vermittelte Botschaft die logische Regel der Sukzession, und der gesuchte Verstandesbegriff wäre dann der der Kausalität; allerdings mit der anhand von Zimmermann beschriebenen Schwierigkeit behaftet, daß hier nicht der Begriff der Verbindung von Ursache und Wirkung gesucht wird, sondern die vergangene intelligible Ursache eine Wirkung gezeigt hat, die die eine Bedingung dafür ist, daß die gegenwärtige intelligible Ursache eine ähnliche Wirkung besitzt wie die
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vergangene Ursache. Die andere Bedingung ist die Materialität des Artefaktes, deren Charakter die ästhetische Wirkung mitbestimmt. Die Materialität nimmt zuerst die Wirkung der ersten intelligiblen Ursache auf, deren Gruppierung oder Form ist die materiale Seite der Wirkung der ersten intelligiblen Ursache, die ästhetische Wirkung auf den Betrachter die zweite, die kontextuelle und inter-kontextuelle Wirkung auf den Betrachter die dritte Wirkung. Wenn man die Wechselwirkung zwischen Material und Künstler, und dessen sich verändernde Position während der Ausführung vernachlässigt, kann die Wirkung des Kunstwerkes an der Idee vom Künstler selbst überprüft werden. Diese selbst idealisierte Konstellation wird von einem anderen Betrachter teilweise durch Sehgewohnheiten schon im ästhetischen Horizont, jedenfalls im kontextuellen Horizont durch die Konjunkturalität der Geschichtlichkeit gegenüber der Vorstellung von fixierbaren Epochen des Geschmacks durchbrochen: Die Ursache der Wirkung des dritten Aspekts (teilweise auch des zweiten) bringen wir selbst mit, wie auch immer gebrochen durch die selbst mitgebrachten Epoche, gleich ob es sich dabei um verschiedene »Geschmacksgenossenschaften« zu gleicher Zeit oder in verschiedenen Zeiten handelt. Die intelligible Ursache dieser Wirkung (Aktualität) kann aber nicht nach einem universalisierbaren Prinzip, d. h. nicht ein für alle Mal, von Naturursachen unterschieden werden, die im Rahmen der rein ästhetischen Wirkung des Kunstschönen ebenso zu einer Wirkung im Seelenleben kommen wie in der Betrachtung des Naturschönen. Man sieht, daß es sich bei der Suche nach der die Epochen verbindende zweite Bedingung spiegelbildlich um die nämliche Schwierigkeit handelt, die zuvor als Leib-Seele-Problem die Vorstellung intelligibler Ursächlichkeit begleitet hat. Insofern hat sich zumindest zeigen lassen, daß die zweite Auffassung für das behandelte Problem die geeignetere sein dürfte. Die transzendentale Zeitbedingung der Geschichtlichkeit konnte also mit der Formel der Dauer der Möglichkeit nach gefunden und modallogisch durch die Einheit der Botschaft bestimmt werden; diese Definition umreißt auch den Horizont der Geschichtlichkeit: Geschichtlich ist, inhaltlich bestimmt, alles dasjenige zugängliche und aktuell unzugängliche Wissen, was zugänglich gemacht werden kann, und deren historischen Verbindbarkeitsmöglichkeiten. Deren Totalität würde allerdings die Botschaft (das organisierbare Wissen), wenngleich auf spezifische und nicht
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völlig abstrakte Weise, unkenntlich machen. Die Einheit der Botschaft, oder schwächer, die hinreichende Eindeutigkeit der Botschaft, ja selbst, ob es eine mit der erhaltenen Botschaft inhaltlich verbindbare Botschaft überhaupt am Beginn der Interpretationsarbeiten bereits gegeben hat, bleibt zunächst fraglich. Inhaltlich betrachtet, bleibt auch unbestimmt, was alles die Botschaft dieser ursprünglich menschlichen Geschichte sein kann: Neben der analytisch enthaltenen philosophischen Anthropologie handelt es sich offenbar immer auch um eine anthropomorphe Schöpfungsgeschichte und Kosmologie. Eine eigene Naturphilosophie und Naturgeschichte bleibt genetisch betrachtet eine spätere, sekundäre Entwicklung. Doch ist es diese Unterscheidung in die Geschichte des Erzählens und Nacherzählens, das selbst Schwerpunkte setzt, selektioniert und verbindet, und Naturgeschichte, die nochmals den Gang der Reflexion über die Konjunkturalität selbst epistemologischer Entscheidungen in einen Regressus der Objektivierung zwingt. Derart wiederholt sich der Zwang zur Selbstauslegung des Denkens gegenüber dem Bildhaften und im Zeichen als Schrift oder Symbol im Sprachlichen gegenüber dem Bedeuteten selbst wie gegenüber der Sprachgemeinschaft in der Reflexion des genuin Geschichtlichen des reflektierenden Denkens der inhaltlichen Selbstauslegung des Subjekts zwischen Individuum und Gattungswesen, nur um nochmals am Prozess des Werdens in der Natur gemessen zu werden. Dieser Hegelianismus ist nun transzendentalkritisch zu brechen, und von der bloßen Notwendigkeit »reiner« und »nicht-reiner« (angereicherter) Spekulation zur Bestimmbarkeit konkreter Möglichkeiten herunterzubringen, bevor ein historisch konkreter dialektischer Prozess (sei es in der Geschichte, sei es in der Natur) davon überhaupt unterschieden werden kann. Ich möchte nochmals die Aufmerksamkeit darauf lenken, daß hier so oder so die vorwissenschaftliche Kenntnis der Natur immer schon vorausgesetzt wird; mit Kant wird in aller Schärfe ein erstes Mal im Zuge des Regressus des Erfahrungmachens systematisch deutlich, weshalb wissenschaftliche Erkenntnis, bei aller bloß hypothetischen Notwendigkeit, sich sowohl der eigenen Geschichtlichkeit wie letztenendes auch der Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes zu stellen hat. Das historisch Unvordenkliche ist zwar in gewisser Weise auch geschichtlich zu nennen (wie eben auch die Natur-»Geschichte« als enthülltes Vorhandensein von Naturtechnik und Naturteleologie), aber nicht im
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kontextuellen Sinn der Geschichte als ein System aus aufeinander verweisende Geschichten von Verengungen und Erweiterungen der Möglichkeiten der Interpretation der Zeitgenossen und der Nachfahren. Insofern kann schon aus rein formalen Gründen, die mit einer literarischen Epochenlehre verbunden sind, von einer möglichen Konvergenz der verschiedenen in Frage kommenden zirkulären, linearen und endzeitlichen Geschichtsvorstellungen im Umkreis eines Epochenbegriffes gesprochen werden, obgleich der Verdacht, hiebei könnte es sich bloß um ein Artefakt der Spekulation handeln, das vom jeweiligen Motiv bzw. Postulat der Sinnfindungshorizontes bestimmt ist, nicht von der Hand zu weisen ist: Trotzdem bleibt neben der schon angerissenen Zusammenführung der abstrakteren Parallelen in den Charakterisierungen der Zeitvorstellungen in der Vorläufigkeit des Epochenbegriffs das Unvordenkliche sowohl für den transzendentalen wie für den metaphysischen Ansatz der Fundamentierung des Geschichtsbegriffes in Stellung, und zwar in der nämlichen Doppeltheit im Letztbegründungsproblem von Epistemologie und Metaphysik wie in jeder Transzendentalphilosophie der Erfahrung (als Logik und Physik). Insofern Transzendentalphilosophie als die Wissenschaft der Erfahrung zu gelten hat (eben nicht als bloße Begriffsanalyse, was Metaphysik ergäbe), muß es auch zumindest irgend eine transzendentalphilosophische, vielleicht auch die eine eigentlich transzendentale Fragestellung nach der Begründungsstrategie der Geschichtswissenschaften geben. Wenn man auf die verschiedenen überkommenen Geschichtsvorstellungen der Neuzeit zwischen plus ultra (F. Bacon) und ultima ratio (Richelieu) eingeht, gerät man vom Vorfeld metaphysischer Anfangsgründe der theologisch-philosophischen Spekulation bereits in die transzendentale und subjektivistische Betrachtungsart der Geschichtswissenschaft — von da aus aber wieder in den Zwiespalt von technisch-praktischer und ästhetischpraktischer Vernunft konkreter Vergesellschaftungsformen. Diese wiederum verfallen gerade in einer durchorganisierten Massengesellschaft dem Verdacht, nicht ohne — wenn schon nicht ontologischer (rassistischer), dann quasi-transzendentaler (kulturrassistischer oder institutioneller) — Differenzen auch zwischen den vergesellschafteten Individuen auskommen zu können. Der Gemeinsinn Kantens steht noch in der universalitas und universitas vereinigenden Forderung des kategorischen Imperativs der rein logischen Form des Sittengesetzes schroff gegenüber; Husserls
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Appräsentationsfigur des Du’s des anderen wie (hierin doch näher) Kants Ideal des Schönen als Ausdrucksmotivation sowohl der inneren Gestimmtheit wie des Ideals des Gattungswesens aus der dritten Kritik setzen diese Gegenüberstellung thematisch fort. Doch was bedeutet das für das zunehmend als urwüchsig vorzustellende konkrete Individuum, wenn das intelligible Subjekt als Idee vom reinen Ich die Notwendigkeit seines reinen Willens aus der Allgemeinheit des Gattungswesen zu beziehen beginnt? Hingegen wäre die Erkenntnis, ob die Reihe einer Naturdetermination gemäß der Erläuterungen zur dritten Antinomie allein von der Natur gewirkt worden, oder von intelligenter Absicht verursacht worden ist, selbst transzendental, ist aber eben nicht mit Gewißheit a priori zu entscheiden. Ich sehe diese Schwierigkeit, das Ich einer anderen Person als transzendentalen Gegenstand zu denken, doch aber nicht mit Gewißheit einsehen zu können, mit dem Freiheitsproblem verknüpft: Die Spontaneität des Ichs des anderen kann nur abstrakt als Potentialität gedacht werden, also nur als abstrakte Bestimmung über das Gattungswesen als vernünftiges Wesen, aber nicht als konkreter Zustand der intelligiblen Spontaneität individuell und zugleich dogmatisch bestimmt werden. Nur auf diese intensional im Gattungsbegriff des Menschen allgemein vorausgesetzte Vernünftigkeit und Verständigkeit bezieht sich also die reine Intelligibilität als analytische Metaphysik. Im Versuch, die reinen Verstandesbegriffe des kategorialen Verstandesgebrauchs auch für eine nicht selbst dynamisch zusammenhängende Zeitbetrachtung in Stellung zu bringen, entpuppt sich der Substanzbegriff abermals als Ergebnis einer Subreption; hier in der uneinholbaren Vertauschung der historischen Umstände mit der Botschaft: Im Falle Jesus Christus, indem schon die Sohnwerdung Gottes in Menschengestalt als historischer Umstand mit der Liebesbotschaft zusammenfallen könnte, oder in der uneinholbaren Vertauschung der Ursache des Kunstwerks mit der Aktualisierung eines Artefaktes in der Ästhetik des Kunstschönen. Die Aktualisierung der nach Möglichkeit dauernden Wirkung bleibt im doppelten (sowohl materialen wie historisch überlieferten) Bezug zur vergangenen Ursache, aber es bringt das erkennende Subjekt die entscheidende Ursache der Aktualisierung mit sich, um die Botschaft zu erfahren, was eben die Wirkung und ihre historische Eigentlichkeit über dem zeitlich Ereignishaften hinausgehend ausmacht,
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allerdings noch ohne die Vorstellung einer eindeutig zuschreibbaren Ursächlichkeit, was den Ursprung der Botschaft selbst angeht, mit der Kenntnis des Autors und seiner zeitgenössischen Umstände auch schon besitzen zu müssen.
e) Die eigentliche und die uneigentliche transzendentale Differenz der Zeit als Geschichtlichkeit Für das hier auch noch verfolgte methodische Interesse ist aber zunächst ausreichend, daß eine modallogische Definition der zunächst nur hypothetischen transzendentalen Zeitbedingung des Geschichtlichen mit zwei voneinander relativ unabhängigen Erklärungen der Konjunkturalität gesichert werden konnte. Die erste Erklärung der Konjunturalität setzt sich aus dem ästhetisch-psychologischen Ansatz, den ich hier von Robert Zimmermann ausgehend skizzert habe, und dem, hier von Kierkegaard ausgehend angezogenen semantisch-hermeneutischen Ansatz zusammen. Mit Zimmermann wird die Anschauung des Artefakts und die Vertauschbarkeit der Situation von Produktion und Gebrauch als Kunstwerk oder Erfindung als Geschichtlichkeit des Bewußtseins ausgehend vom Kunstschönen, aber doch im Rahmen einer allgemeinen philosophischen Ästhetik, vorgestellt. Dies bleibt bei Zimmermann kein im Individuum abgeschlossener Akt, vielmehr setzt die Fähigkeit des Gebrauchs der Regeln, um aus einem Artefakt ein Kunstwerk (eine Maschine) machen zu können, »Gesinnungsgenossenschaften« bei den Verständigen voraus. Bei Kierkegaard geht es bereits um eine zentrale Botschaft der Zivilisation, in welcher sich das Ensemble der Kulturation zusammenstellen lassen können soll. Beide Perspektiven zusammen geben die individuelle und die gattungsmäßige (binnenkulturelle) Basis der Epistemologie ab, von der wir ursprünglich bei der Untersuchung unserer Erkenntnisvermögen auszugehen haben. Anschließend setzt die Objektivierung des Geschichtlichen unseres Denkens anhand deren Rückübertragung auf die Zeitlichkeit unserer sinnlich gegebenen Erscheinungen ein, was die zweite Erklärungsart der Konjunkturalität der geschichtlichen Zeit darstellt. Es kann sich deshalb in der epistemologischen Fragestellung selbst (der semantisch-hermeneutische Ansatz) auch nicht allein um eine ontologische Differenz der Zeitlichkeit des Geschichtlichen
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handeln, wie es das Merkmal der Konjunkturalität der Zeitlichkeit der Naturgeschichte darin abstrakt-allgemein gegenüber der innerartlichen Vorstellungsweise von Geschichtlichkeit ausdrücken läßt, daß Systeme der Wechselwirkung altern. Es handelt sich also um eine transzendentale Differenz, weil mit der antizipativen Vorstellung von Geschichtlichkeit die Vorstellung von der Zeit selbst betroffen ist und eine jeweils individuelle Einsicht nicht mit den realen und wirklichen Prozess langfristiger Verschiebungen der Ausgangslage in der Natur (grob gesagt Naturkonstante) und in der Gesellschaft (zentrale Episteme), oder in den kurzfristigen »patterns« von Assoziationen in der Psychologie der Einbildungskraft identifiziert werden kann. Die Konjunkturalität der Formalontologie, der Ideengeschichte, der Geschichte selbst ist also verschieden; aber so wie synthetisches Urteil a priori und transzendentales Prinzip von einander unabhängige Quellen besitzen und so ein formales Apriori denkbar ist, ohne daß dessen Prinzip auch transzendental sein muß, ist eine als konjunkturell charakterisierbare Mannigfaltigkeit auch nicht gleich eines Prinzipes fähig, das zu einem synthetischen Urteil a priori fähig ist. Hier bleibt noch zu diskutieren, inwieweit es eine eigene historische transzendentale Differenz gibt, die formal verschieden ist von der transzendentalen Differenz zur Vorstellungsart der Naturgeschichte. Daß die Datierung eine der Voraussetzungen für die Geschichtswissenschaft ist, sehe ich als Indiz für eine grundsätzliche Abhängigkeit der innerartlichen Entwicklungsgeschichte des erkennenden Subjekts von der Naturgeschichte und als die eigentlich historische Differenz. Andererseits ist die Frage nach der Natur des Menschen als Kulturwesen dieser Intentionsrichtung genau entgegengesetzt, was als Analogie zu den entgegengesetzten Intentionsrichtungen von transzendentaler Analytik und transzendentaler Einbildungskraft zu verstehen ist. Dies ist analog zur relativen Abhängigkeit der transzendentalen Differenz im Prinzip der Kausalität (welche konstituiert werden kann) von der transzendentalen Differenz des strikten transzendentalen Idealismus (welche selbst nur begründet behauptet, aber nicht bewiesen werden kann) die sechste transzendentale Differenz; diesmal aus der Rückwendung der Kritik der transzendentalen Dialektik auf die transzendentale Ästhetik gewonnen. Und zwar handelt es sich um eine relativ selbstständige, und weil modallogisch konstituierbar auch um eine eigentliche transzendentale Differenz. Die sechs transzendentalen Differenzen (drei eigentliche: Naturkausalität, intelligible Kausalität,
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Naturgeschichte; drei uneigentliche: transzendentale Ästhetik, Substanzbegriff, Kulturgeschichte) können schon deshalb nicht gleichursprünglich genannt werden, weil die Anschauungsformen die Bedingung der Konstitution der transzendentalen Differenz in der Deduktion der Kategorien sind, und so die transzendentalen Anschauungsformen mit ihrer spezifischen vorgeordneten transzendentalen Differenz zwischen transzendentalem Idealismus und transzendentalem Realismus selbst eine der Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung darstellt. Die transzendentalen Anschauungsformen gelten für die Folgerungen aus der Deduktion der Kategorien genauso wie für die Deduktion der Kategorien, obwohl die Form des inneren Sinnes transzendentalpsychologisch als Produkt von Apprehension und Reproduktion dargestellt wird und die Bestimmbarkeit der Schematen des transzendentalen Schematismus teilweise darauf beruhen. Gerade das verhindert eine eindeutige Rekonstruktionsmöglichkeit einer denkmöglichen Gleichursprünglichkeit von Anschauungsform als transzendentale Ästhetik und transzendentaler Zeitbedingung der Kausalkategorie ein erstes Mal. Da bleibt es bei der Kluft des transzendentalästhetischen Ansatzes der Anschaungsform und den »transzendentalpsychologischen« Ansatz der Apprehension und Reproduktion der Anschauungsform, wobei der psychologische Ansatz sich zunächst auf die Analogie der transzendentalen Anschauungsform der äußeren Sinnlichkeit mit der Form des inneren Sinnes beschränkt, bevor zur Rekognition fortgegangen wird und das was ist und geschieht nach einer Regel gemäß reiner Verstandesbegriffe apperzipiert wird. Insofern erscheint es dann womöglich vielleicht sogar für leicht verständlich, weshalb auch die weiteren konstituierbaren transzendentalen Differenzen nicht ohne weiteres im Rahmen eines genetischen Konzeptes als Gleichursprünglichkeit aller Differenzen gedacht werden können.
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B. ZUR KULTURSOZIOLOGISCHEN BEGRÜNDUNG DER ZEITWAHRNEHMUNG. KULTURSOZIOLOGIE UND GESCHICHTE: ADORNO, BENJAMIN, MANNHEIM 1. Der Schock, die monadische Konzentration (Methexis) und deren Öffnung zu Lebenslauf und Geschichte. Die Wahrheit der Geschichte ist die philosophische Wahrheit Die erste Frage ist, wie gerät die Biographie überhaupt ins Blickfeld des über sich nachdenkenden Menschen? Findet erst der über sich nachdenkende Mensch seinen Lebenslauf, oder muß der Mensch allererst über sich nachdenken, wenn er das Geschichtliche in sich entdeckt hat; zufälligerweise oder aufgezwungenermaßen? Wohl kann beides richtig sein, wenn auch angenommen werden muß, daß typischerweise erst ein Schock und der Zwang im Auf-sich-zurückgeworfensein fulgurativ eine vergangene bedeutsame Szene ins Bewußtsein springen läßt. Diese vergangene Szene muß für sich bedeutsam genug sein, um präzise im Gedächtnis behalten worden zu sein, aber ein neuer Zusammenhang von Ähnlichem oder eine neue Bedeutung im bekannten Zusammenhang kann der Grund sein für die Wiedererinnerung. In einer zentrale Interessen berührenden Situation entsteht eine neue Bedeutung, welche ohne die alte Bedeutung der wiedererinnerten Szene nicht hätte entstehen können, aber nunmehr entsteht ein neues Verständnis der Situation sowohl der alten wie der neuen Szene durch die Möglichkeiten, das spezifisch Allgemeine oder Typische der Situation, die beide Szenen aufeinander beziehen läßt, zu erfassen. Ich sage nicht, daß alle Wechselbeziehungen im System von Retention und Protention in der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins bei Husserl derart ablaufen, ich sage nur, daß hier in diesem speziellen Fall der Miteinbeziehung des Schocks durch den Wechsel zu einer neuen oder umfassenderen Perspektive eine semantische Wurzel (Ursprünglichkeit) des Verständnisses für Geschichtlichkeit liegt; geht man von der transzendentalsubjektivistischen Perspektive aus, handelt es sich dabei um die entscheidende und transzendentale Ursprünglichkeit.
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Die Entdeckung der Geschichtlichkeit durch oder in einem Schock steht im Feld zahlreicher analoger Aufgänge, so etwa zur Entdeckung des anderen durch Blickkontakt im Existenzialismus Satres, welche das monadische der Weltwahrnehmung aufbricht. Da wie dort entsteht ein Momentum in einer Krise der gewaltsamen Perspektivenverschiebung, das die Möglichkeit in sich trägt, sich in Richtung Wahrheit und Objektivität zu entwickeln, die nicht einfach in der besseren Einsicht in den schon bekannten Horizont bestehen kann, sondern gerade in deren Erweiterung besteht. Im gewählten speziellen Fall, von dem ausgegangen wurde, ist diese Erweiterung noch damit zu verknüpfen, daß erst durch diese Erweiterung ein sinnermöglichender Horizont überhaupt erst entstehen (desweiteren wiedererstehen) kann, bzw. das bisherige Selbstverständnis entwertet wird. Das muß nicht bei jeder Horizonterweiterung geschehen, aber der im Zusammenhang genannte Schock wird nur dann eintreten, wenn die neue Einsicht, mit welcher die Horizonterweiterung einhergeht, die bisherigen Überzeugungen erschüttert und wie ich in diesem Zusammenhang sagen will, die »Perspektive« verändert. Dabei ist nicht unbedingt zu erwarten, daß die erste Perspektive, falls es möglich war, von einer solchen zu sprechen, völlig verschwinden muß, als wäre sie zu falsifizieren, sondern in anderer Gestalt aufgehoben wird und nach einer neuen Interpretation verlangt. Der Zusammenhang der Monade bekommt bei Walter Benjamin ebenfalls eine zentrale Stellung zugewiesen: »Wo das Denken in einer von Spannung gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chock, durch den es sich als Monade kristallisiert. Der historische Materialist geht an einen geschichtlichen Gegenstand einzig und allein da heran, wo er ihm als Monade entgegentritt. (702 f.)« (Rolf Tiedemann, Dialektik im Stillstand. Versuche zum Spätwerk Walter Benjamins, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1983, stw 445, S. 111) Verleiche dazu auch das Erwachen aus den Mythos als »Aufblitzen«( S. 35); — ob als historischer Materialist, der als Herold der unterdrückten Klassen den Messianismus der religiösen Heilslehren nunmehr zu ersetzen hat, oder als Kultursoziologe, der zunächst auch die verschiedenen Instrumente der Analyse (Kritik) und Synthese (Produktion) sowohl ideell-formal als Methode wie auch soziologisch als Institution selbst zum Gegenstand seiner Überlegungen hat. Wie ich unter anderem zu zeigen vorhabe, ist dazu die
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Transzendentalphilosophie und der ihr immanenter Ausgangspunkt des cartesianischen Subjektivismus das einzig noch verbleibende Feld, um die Thematisierung und Vergegenständlichung der Methoden und Instrumente der Kultursoziologie nochmals einer kritischen Distanzierung zu unterwerfen. Ich will mich ausdrücklich nur hierin in Gegensatz zu Walter Benjamin stellen; wenn man will, kann man sagen, ich sorgte mich ein wenig um das theoretische Rüstzeug des Herolds. Die angesprochene monadische Struktur der Reflexion oder Reflexionsvoraussetzung geht über die Gegenwart der sinnlichen Kontinuität hinaus, besitzt aber in einer ausgezeichneten Einstellung empirisches Konkretisierungspotential in eben der Gegenwart sinnlicher Kontinuität; und zwar in der Kombination der Formen der inhaltlichen und formalen Ästhetik, angewandt auf ein konkret existierendes Artefakt, welches geeignet sein muß, zum Schlüssel einer eine Epoche umspannenden Mannigfaltigkeit von miteinander verknüpfbarer Vorstellungsreihen zu werden. Entscheidend bleibt aber wie Benjamin den »Stillstand der Dialektik« mit dem Problem der Abgeschlossenheit und Unabgeschlossenheit der Geschichte in Verbindung bringt. Eine Möglichkeit wäre, in der Abgeschlossenheit der Monade das Unvollendete, und darin sowohl dasjenige, das zu vollenden wert, wie auch das, was als Schuld an der Idee vom frei geborenen Menschen zu tilgen wäre, zu erkennen. Geht man von der Auffassung Karl Mannheims aus, die zwischen »flächiger«, bloß klassifizierender und typologisierender Soziologie und Kultursoziologie unterscheidet, welche die dynamischen Gründe der Veränderungen der Gesellschaft behandelt, setzt Benjamin der Konzeption Mannheims das Auge des Gewissens ein, ohne auf einen (transzendentalen) Subjektivismus der Geschichtsbetrachtung und Bewertung methodisch und systematisch zurückkommen, nur um dann ausschließlich vom vereinzelnden Individuum ausgehen zu müssen. Die Perspektivik in Benjamins Passagen ergibt sich zuerst eher aus dem archeologischen Zugang zu den Formen der Umgestaltung von Paris zur modernen Stadt im Neunzehnten Jahrhundert. Dieser nicht deutlich als theoretische Voraussetzung weiters konstituierte Subjektivismus erlaubt nicht nur, ohne Abarbeitung von subjektiven Konstitutionsschichten unmittelbar auf das eigentliche, spontane Individuum in seinem ganzen Erleben gewissermaßen
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umstandslos eine Beziehung zur Geschichte herzustellen, sondern erlaubt, wie Benjamin der Überzeugung ist, allererst gesamthistorisch von einem Telos zu reden. Auch Mannheim findet die Bedeutung der Geschichte erst im Subjektiven und dürfte hier Simmels transzendentalen Subjektivismus weiter folgen, aber ohne der Konkretisierung des Telos als affirmative und dialektische Aufhebung der Ansprüche der vorangehenden Generationen an die folgenden als Bedingung des Heilwerdens von Geschichte überhaupt, wie es Benjamin anhand seiner Interpretation des historischen Materialismus den Geschichtswissenschaften des subjektiven Idealismus vorhält. Offensichtlich hat man es hier in der Vorstellung des Flanierens als typische Haltung des Stadtbewohners zu seiner Umgebung (Stadtarchitektur als Innenarchitektur) mit einer radikalen Erweiterung des Begriffs vom Lebenslauf oder einer Biographie zu tun. Zweifellos tritt das Historische der Zeit in der eingangs geschilderten Weise auch durch die Beschleunigung der Zeitwahrnehmung, etwa durch Verbreitung einheitlicher Zeitzonen (in den USA zunächst entlang von Bahnlinien), oder der Mechanisierung der Arbeitswelt (Taylorismus) im individuellen Lebenslauf auf, sei es private Geschichte oder das Eingreifen von gesellschaftlichen Umwälzungen in die individuelle Biographie. Nunmehr wird aber mehr gefordert, nämlich nichts weniger als die Einsicht in den Motor der Geschichte und damit in die Schuldfrage. Ohne diesen Forderung selbst etwas wegnehmen zu wollen, will ich die Untersuchung des »Motors« der Geschichte von der Untersuchung der Verpflichtung der späteren Generation nicht nur gegenüber der unmittelbar vorangegangenen, sondern zumindest aller Generationen der vorangegangenen Epoche gegenüber, letztlich allen Generationen, also der Gattung gegenüber, zunächst so lange wie möglich getrennt führen, weil diese Einsicht erst nach dem Verständnis der Geschichte wirklich möglich ist, und als solche dasselbe nicht zuvor begründen kann. Daraus ergibt sich als erstes Teilergebnis, daß der Telos nicht vollständig durch heilsgeschichtliche Formationen des Phantasmas der geheilten Geschichte interpretiert werden kann. Vielmehr ist dies zunächst nur eine Phantasmagorie unter anderen, wie z. B eben die Selbstdarstellung der
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kapitalistischen Gesellschaft als sich selbst perpetuierende Erfolgsgeschichte auch. Theodor Adorno entwirft in seiner Theorie der Ästhetik einen notwendigen Bezug zur Wahrheit im Kunstschönen von völlig anderer, ästhetischer, Seite (S. 193). Zuvor zeigt er, an Kierkegaards unglücklichen Verstand gemahnend, wie der Geist erst am Rätselhaften des Kunstwerkes tätig wird. Der Verstand vermeint im Artefakt der Kunst etwas wiederzuerkennen, was er selbst nicht zu sagen vermag; dies sei die eigentliche und prinzipielle Rätselhaftigkeit der Kunst. Gleichwohl wendet sich der Künstler mit dem Kunstwerk an die deutende Vernunft, weshalb Adorno hier grundsätzlich und ganz richtig den Wahrheitsanspruch auch in der Hermeneutik der Interpretationsversuche der kontextuellen Zusammenhänge des künstlerischen Artefakts einfordert. — Offenbar ist Adorno an dieser Stelle über den Standpunkt, den er gegenüber Husserl in der Arbeit »Metakritik der Erkenntnistheorie« eingenommen hat, einen Schritt weiter gegangen, denn zweifellos ist das als eine Rückbindung der philosophischen Ästhetik an die Idee der Logik zu verstehen. Grundsätzlich steht nichts dagegen, der Untersuchung der Phantasmagorie Benjamins und der Untersuchung des Kunstwerks selbst schon als Artefakt der Interpretation kontextueller Zusammenhänge eine vergleichbare Potentialität zur Erschließung der kultursoziologischen Strata gesellschaftlicher Zusammenhänge anzunehmen, allerdings ist die Stellung des Kunstwerkes innerhalb der Kunst (bei Benjamin eben auch das, was man »städtebauliche Innenarchitektur« nennen könnte), wie auch die Stellung der Artefakte zur philosophischen Reflexion selbst zu berücksichtigen. Adorno bündelt zuerst von Seiten der philosophischen Ästhetik den Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft ausgehend von der Rätselhaftigkeit a priori, die dem künstlerischen Artefakt notwendigerweise anhaftet, auf den Unterschied von Mimesis und Rationalität, der allererst in der philosophischen Reflexion auffällt. Mit der magischen oder der kultischen Funktion der Kunst ist aber auch eine archaische Rationalität verloren gegangen, die Adorno gleich darauf in Rechnung stellt (S. 192). Offenbar geht Adorno von einer vorrationalen Idee an sich aus, die er eben nunmehr, diese seinerseits in der philosophischen Reflexion unbekannterweise nachahmend, mit der Rätselhaftigkeit identifiziert. Aus
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dieser Rätselhaftigkeit erklärt sich Adorno den immanenten Drang zur Selbstartikulation in der (bürgerlichen?) Kunst. Abgesehen davon, daß Benjamin einen breiteren Ansatz versucht ausfindig zu machen, versucht er immer wieder ausdrücklich hinter dem Material zurückzutreten und es selbst sprechen zu lassen; schließlich läßt er den drohenden Kulturpessimismus des historischen Materalisten mit der depotenzierten heilsgeschichtlichen Charakteristik der Geschichtsphilosophie kollidieren. Adorno hält diejenige Geschichtsauffassung für übereinstimmbar mit einem wissenschaftlichen historischen Materialismus, welche die Geschichte ab einem gewissen Punkt für abgeschlossen hält, während Benjamin an der Vorstellung festhält, wir hätten, wenn auch kritisch, sich gewissen Erwartungen der vergangenen Geschlechter zu stellen, die sich unter Umständen nicht alle restlos transformieren, oder als uninterpretierbarer Rest allgemein menschlicher Fulguration darstellen lassen. Von hier aus scheint mir eine geeignete Stelle gefunden zu sein, die erlaubt, den Unterschied in der Herangehensweise von Andorno und Benjamin möglichst deutlich herauszustellen. Wohl kann man Adorno nicht vorwerfen, die Kultursoziologie mit dieser Fassung der philosophischen Ästhetik auf dem Gebiet der schönen Künste und ihren Relevanzen schon verlassen zu haben, doch aber wird diese Position nur als Gegengewicht zum Ansatz des historischen Materialismus zu verstehen sein können. Die Idee, der Versuch der Selbsterklärung der Kunst sei als Motor der künstlerischen Produktion und vor allem Stilentwicklung zu verstehen, bringt erstens nicht deutlich genug zum Ausdruck, daß ursprünglich die Kunst selbst schon deutend sein muß, und erst damit auch verständlich werden kann, weshalb die Kunst ein derart ausgezeichnetes Medium für die Kultursoziologie ist, und bringt zweitens zu wenig Instrumentarium mit, um diesen Hegelianismus, der vor dem vermeintlichen Ende der Geschichte in der Zusammenziehung der Geschichte in einem Jetzt der Monade auftritt, (etwa auf Umweg über einen Vergleich mit Alois Riegel in der Sezession im Wien der Jahrhundertwende vom Neunzehnten zum Zwanzigsten Jahrhundert) selbst kultursoziologisch aufzuklären. — Habermas hingegen wechselt zur Sprachphilosophie als erste Basiswissenschaft und macht die Distanz zum historischen Materialismus perfekt.
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2. Der Widerschein der Politik zwischen Künstler, Publikum und Kunstkritik und die Ersetzung der politischen Kritik durch Kunstkritik. Die Wiederentdeckung der philosophischen Wahrheit in der Kunst als Brechung des Mythos Inzwischen ist auch aufgefallen, daß die Rolle der Kunstkritik und insbesondere der Kunstgeschichte auf die Produktivität und Stilentwicklung in den Künsten selbst von diesem obersten Prinzip der Wahrheit ausgehend noch nicht vollständig ins Blickfeld gelangt. Im Anschluß an diesem Teil innerhalb des Abschnittes »Zum Wahrheitsgehalt des Kunstwerkes« geht Adorno gezielt ins Empirisch-opake der künstlerischen Erfahrung überhaupt zurück: »Wohl entragt einer solchen Idee [des Wahrheitsgehaltes in der Idee], in ihrer philosophischen Konstruktion, dem bloß subjektiv Gemeinten« (S. 194). Aber: »Der Gehalt ist nicht in die Idee auflöslich sondern Extrapolation des Unauflöslichen; von den akademischen Ästhetikern dürfte Friedrich Theodor Vischer allein das gespürt haben.« Adorno demonstriert diesen Unterschied anhand der offensichtlichen Divergenz zwischen den Ideen des Künstlers und den Ideen des (sachverständigen) Publikums. Die Wahrheit beginnt so auch für Adorno in der verständigen Ausübung des Künstlers zu liegen, der aber selbst nicht verstehen kann, was es genau bedeutet. Adorno läßt hier einen Überschuß im Halbdunkel zwischen den Intentionen des Künstlers und den Intentionen des Publikums liegen, von welchem er hofft, ihn als Kunst- und Kultursoziologe zu erben. — Immerhin sieht Adorno ein, daß insofern die Kultursoziologie ein Teil der Philosophie wird bleiben müssen; vermutlich mehr noch: die traditionelle Philosophie wie die »positivistische«, den Konventionalismus reflektierende Wissenschaftstheorie wird als Gegenstand der Kultursoziologie wieder zu einer authentischen Philosophie gemäß der Idee der Wissenschaftlichkeit und Wahrheit transformiert werden müssen. Bei Benjamin, aber auch bei Adorno sind also Instanzen zu erkennen, die den selbst von Friedrich Engels eingeräumten Freiraum zwischen kulturellen Überbau und ökonomischen Unterbau zur relativ selbstständigen Interpretation und Umgestaltung des historischen Materialismus nutzen. Die Kultursoziologie gerät dabei zunehmend von der
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Position einer Hilfswissenschaft, die den Mangel des historischen Materalismus, mit Hilfe des Unterbaus den Überbau einer Erklärung zuführen zu können, ausgleichen helfen soll, in die Rolle einer Leitwissenschaft, die aus verschiedenen Blickwinkel die verschiedenen Ursachenklassen der Gesellschaftswissenschaften festzustellen, und auch (den Lebensmächten Max Schelers an diesem Ende vergleichbar) die Stränge ihrer zu erwartenden Verknüpfungen festzustellen hätte, was die Sinn- und Bewertungsfrage notwendigerweise, womöglich als nächste Reflexionsstufe, nach sich zieht. Man darf durchaus behaupten, die Distanzgewinnung gegenüber dem historischen Materialismus sei bei Adorno wie bei Benjamin unter dem Eindruck der Einsicht in das kultursoziologische Potential der Kunst entstanden. Einerseits möchte ich aus systematischen Gründen diese Distanzgewinnung noch durch einen Brückenschlag zu Karl Mannheim verstärken, der noch deutlicher die Verflechtungen und epocheweisen Zopfbildungen verschiedener ideengeschichtlicher Stränge, die bildungssoziologisch, durch Briefwechsel, Rezensionen, institutssoziologischen Untersuchungen, bibliographisch in verschiedenen Graden eindeutig feststellbare Verweise, schlußendlich die verständige Synopsys all dieser methodischen Ansätze, als eigentliches Darstellungsproblem vor jeder Theoriebildung in der Kultursoziologie angesehen hat (Moretti und Wickhoff in der Wiener kunsthistorischen Schule vergleichbar). Hier kann die Materialgewinnung und Klassifikation noch weniger von der Theoriebildung getrennt werden (wenn auch nach wie vor diese Unterscheidung systematisch von Nutzen bleibt) als in der Geschichte der Naturwissenschaften, wo die Selbstständigkeit der Gegenstände und deren Verhältnisse untereinander definitiv über die Sprachspiele der Lebenswelt und deren Artefakte hinausragen. Andererseits aber wird die zunehmende Distanz zu den Thesen des historischen Materialismus zum Problem; und zwar nicht wegen etwaiger Verschiebungen im Rahmen einer Landkarte der Weltanschauungsphilosophien, sondern wegen der zunehmenden Distanz zur Ökonomie als lebensprägende Institution. Über dem Zweck der existentiellen Beschreibung der gesellschaftlichen Umstände hinaus, in welchen sich die Gesetze des Kapitalismus in der Lebenswelt widerspiegeln sollen, hätte die Kultursoziologie eben noch die Aufgabe, das Instrumentarium zur Verfügung zu stellen, die gesellschaftlichen Prozesse zu analysieren, was eben wiederum nur unter der Bedachtnahme auf
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Methoden zur Objektivierung überhaupt denkbar ist, soll neben den subjektiven Entscheidungshandlungen (vgl. etwa Carl Mengers Wirtschafter) auch Strukturen und Institutionen behandelt werden, die man allerdings selbst zwischen Lebenswelt und Institutionen derselben in der öffentlichen Kommunikation erzeugt hat. Ich werde an geeigneter Stelle den Gedanken wieder aufgreifen, daß die der Mengerschen Marktheorie zugrundeliegenden Urteilstheorie gerade entlang der rudimentären Gruppensoziologie Mengers auf komplementäre Weise nach der Berücksichtigung der Ästhetik der Ware verlangt, wie sie schon von Marx vorausgedacht worden ist. Andererseits Verbindung zur außenpolitischen Kategorie Carl Schmitts. Mag diese Forderung nach immanenter Selbstkritik auch nur ein kontrafaktisch aufgestelltes Ideal sein, hat eine nachhaltige Politik eben immer das Bestreben zu haben, in den Grundlagen der Einschätzung des politischen Spielraumes, sowohl was die Beurteilung der Sachfragen, wie auch was die Beurteilung der politischen Durchsetzbarkeit angeht, dem Ideal der Objektivität zu folgen. Hier kann der erkenntnistheoretisch unverzichtbare Subjektivismus zu viel zu weitreichenden Zugeständnissen gegenüber jenen Interessensgruppen führen, welche die ersten Gewinner des kapitalistischen Wirtschaftsprozesses sind. Hier findet auch die von Max Weber herausgestrichene calvinistische Wirtschaftsgesinnung ihre Wirkgeschichte, wenn Hayek theoretisch vor den »Selbstorganisationskräften« der Gesellschaft kapituliert; allem Anschein nach, ohne zu bemerken, daß damit die historische Perspektive der Beurteilung der Institutionsentwicklungen (regional, national, international, global), weitgehend unbemerkt, wieder ihren Vorrang zurück erhält. Der positivistisch gefärbte Fortschrittsoptimismus wird — derart indirekt eingestandermaßen — nach dem ursprünglich eigenen Anspruch gemessen, ins Irrationale der Geschichte entlassen. Das ist nunmehr das Selbsttätige in der kapitalistischen Wirtschaftsform und die Fähigkeit der modernen Gesellschaft zur Selbstorganisation; irrational im Sinne von Verdrängung wird es erst dann, wenn beide Organisationsleistungen miteinander verwechselt oder gar ident gesetzt werden.
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Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt die Beschäftigung mit der Kultursoziologie über die Erwartung, dergleichen könnte eine Ordnung der kulturellen Relevanzen entstehen, in welchen die verschiedenen Humanund Gesellschaftswissenschaften zueinander orientiert werden, eine eigene Dignität, indem die Eingrenzung auf das Kunstschöne, die Adorno gegenüber Benjamin vornimmt, das Kollektive eben nicht (wie in extremer Weise Alois Riegl auch) im Ensemble sucht, aber, obgleich die nämliche Methexis, die in verschiedenen Fassungen der Kultursoziologie und Ideengeschichtsentwürfen eine Schlüsselrolle einnimmt, gleichermaßen zum Ausgangspunkt der Untersuchung des individuellen Verhältnisses zum Artefakt genommen wird. Die Einbettung in die historische Methexis erfolgt von Adorno selbst mit einer idealistischen Distanz zum Verhältnis Publikum und Kunstkritiker. Die Einschränkung auf das individuelle Verhältnis zur Kunst und ihrem Artefakt macht das Kollektive auf eine eigentümliche Art und Weise in seiner Doppelgesichtigkeit kenntlich: An der Oberfläche bleibt der Kunstbetrieb, wie die Börse in der Ökonomie wohl auch, Ausdruck einer selbst teilweise begründeten, teilweise unbegründeten subjektiven Entscheidung, die weniger das Kollektive, als die Deutung des Individuellen im Verhältnis zum (wenn auch nur teilweise bewußten) Kollektiven zum Gegenstand hat. Jedoch gerät auch hier (vgl. die Wandlung Robert Zimmermanns) damit zunehmend das Irrationale nicht nur an der Geschichte und deren nicht vollständig einsehbaren Motive schon in der einfachen Nachverzählung, vielmehr gleich das Irrationale, das wir im Individuum selbst als dem Kulturwesen gegenüberstehende Natur entdecken, in Stellung. Insofern kommt in der nämlichen Ununterscheidbarkeit zwischen kultureller Tradition (Überich) und Natur (jetzt zuerst als phylogentisches Erbe im Phänotypus zu charakterisieren — Es) ein Stück österreichischer Philosophiegeschichte als Platzhalter des deutschen Idealismus zu stehen, obwohl es doch zweimal die prostestantische Philosophie war, die in der Neuzeit zuerst die Frage nach Unvernunft, Vernunft und Übervernunft systematisch gestellt hat. Für den aufgeklärten Absolutismus in Deutschland war das zweifelsohne Leibniz. Für der »Situation« der Moderne (bis hin zum Syndrom der Postmoderne) trifft jedoch Hegel mehrfach den Nerv der bürgerlichen Philosophie; so auch in der Frage nach den Ursprüngen der Irrationalität im Kunstschönen. Daß im Kunstschönen über die bloße Verzierung und einfache Formgestaltung hinausgegangen wird, wird eben dann deutlich, wenn vom Individuum
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ausgegangen wird, in welchem schlußendlich die Gesamtwirkung erzielt wird. Seit Aristoteles, oder seit Descartes, oder spätestens ab Kant muß die Urteilslehre den in ihrem Fortschreiten erkenntlich gewordenen Logozentrismus komplementär mit abweichenden Urteilsformen ergänzen, die freilich von Anbeginn jeweils auch von diesen Denkern dem menschlichen Urteilsvermögen abverlangt worden sind, ohne diese komplementären Urteilsformen, weil logisch als unvollständige Schlußformen zu apostrophieren, abtun zu können. Trotz der fortschreitenden Verwissenschaftlichung selbst der pilosophischen Spekulation, oder gerade als Folge dieser Rationalisierung, tritt die Frage nach verschiedenen, zueinander in Beziehung stehender Rationalitätstypen im Zuge des sich erweiterenden Zusammenhanges der Themenkreise von selbst ins Blickfeld der Erörterung. Hegels dialektische Überschreitungen (ohne auf dessen Phänomenologie oder gar auf die Erfindung der Dialektik als philosophische wie praktische Methode der Spekulation näher eingehen zu wollen) bringen das Kollektive letztlich in drei verschiedenen kontroversiell bleibenden Übergängen oder Brüchen vor die Gemeinde der Kulturkritiker, gehen sie nun eher individuell oder eher historisch vor. Die drei Brüche oder Übergänge finden jeweils im Verhältnis zur Kunst statt, obwohl historisch verschiedene Epochen gemeint sind; es handelt sich um die Übergänge von (i) Mythos und Kunst, (ii) Religion und Kunst, (iii) Vernunft und Kunst. Offenbar hat hier die Kunst die Rolle des Mittelbegriffes eines unvollständigen Schlusses zu übernehmen; und zwar zuerst jeweils, dann aber auch zwischen Mythos, Religion und Vernunft. Trotz des aufrecht bleibenden individuellen, ja individualpsychologischen Bezuges, ist hier zuerst in weiten Zeiträumen zu denken, die sich spätestens seit August Comte dank der Verwissenschaftlichung der Weltanschauungsphilosophien soweit verbreitert haben, daß die Rede von verschiedenen Rationalitätstypen auch in Verbindung mit groben historischen Epochenbegriffen allgemein verständlich geworden ist (common sense). Gleichwohl kann es bei einer einfachen Rektifizierung nach Rationalitätstypus und Epoche nicht bleiben, denn zwar übernimmt die Kunst als Verdrängung des Mythos zugleich die Verständigungsmachung des Mythos gegenüber den neuzeitlichen Rationalitätstypen (Jamme, Gott
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hat ein Gewand, S. 270), aber zuvor ist auch zu bedenken: Religion ist gegenüber dem Mythos auch als Rationalitätstypus zu verstehen (Entgötterung der Welt gegenüber dem einzigen Gott, vgl. Picht). Dazu steht einerseits das Bilderverbot des Monotheismus gegenüber der Kunst in Konkurrenz, andererseits soll der durch die Religion ein erstes Mal depotenzierte Mythos eben diese als erste Vorform von Theorie das historische Verhalten Gottes auslegen lassen. — Ist der Mythos durch Kunst ersetzbar? Dazu Hegel: Kunst übernimmt schließlich noch die Aufgabe der Metaphysik (Jamme, S. 271). — Hegel zur Religion: Die Trinität ist nur im Begriff, nicht im Bild (Kunst) bewahrbar. Hegel schränkt die Intelligenz überhaupt (insofern noch Kants intelligible Ursächlichkeit) aber auf die Grenzproblematik des bloßen Verstandes zur Vernunft ein (die »dialektische« Vernunft in der Selbstbewegung des Begriffes will Logik bleiben).
3. Die Verwandlung von Kunst in Metaphysik und deren Zerstörung als Lichtung gegenüber der kollektiven Auflösung der Weltanschauungsphilosophien ins Mimetische Adorno bedenkt die philosophische Ästhetik anhand einer vereinfachenden Umkehrung einer Schelling-Paraphrase als den eigentlichen Kern des Idealismus: »Die hervortretende Unwahrheit des Idealismus kompromittiert indessen retrospektiv die Kunstwerke. [...] Die Zerüttung seiner Autonomie ist kein schicksalshafter Niedergang. Sie wird zur Verpflichtung nach dem Verdikt über das, worin Philosophie der Kunst allzusehr glich.« (Theorie der Ästhetik, S. 197) Allerdings beansprucht Adorno offenbar die idealistische Position auch für seine Fassung der philosophischen Ästhetik: »Dem gegenwärtigen Bewußtsein, fixiert ans Handfeste und Unvermittelte, fällt es offensichtlich am schwersten, dies Verhältnis zur Kunst zu gewinnen, während ohne es ihr Wahrheitsgehalt nicht sich eröffnet: genuine ästhetische Erfahrung muß Philosophie werden oder sie ist überhaupt nicht.« (S. 197) Es bleibt einstweilen die begründete Vermutung, die Kultursoziologie sei nunmehr das Medium, in welchem die Verwandlung der Ästhetik des Kunstschönen zur Philosophie sich ereignet. Adorno bezeichnet den
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»Moment von Allgemeinheit«, das die Konvergenz von Kunst und Philosophie in der Sprache (oder im allgemeineren sprachlichen Charakter des mittelbaren oder unmittelbaren Ausdrucks der Deutung) besitzt, als die »Bedingung der Möglichkeit der Konvergenz von Philosophie und Kunst«. Diese selbst sprachliche, aber über die Sprache abermals hinausweisende Allgemeinheit sei kollektiv, »so wie die philosophische Allgemeinheit« (S. 198) »Die Metaphysik von Kunst heute ordnet sich um die Frage, wie ein Geistiges, das gemacht, nach der Sprache der Philosophie, ›bloß gesetzt‹ ist, wahr sein könne. In Rede steht dabei nicht das vorhandene Kunstwerk unmittelbar, sondern sein Gehalt. Die Frage nach der Wahrheit eines Gemachten ist aber keine andere als die nach dem Schein und nach seiner Errettung als des Scheins von Wahrem. Der Wahrheitsgehalt kann kein Gemachtes sein. Alles Machen der Kunst ist eine einzige Anstrengung zu sagen, was nicht das Gemachte selbst wäre und was sie nicht weiß: eben das ist ihr Geist.« (S. 198) Ist es nun dieser Geist, der das kultursoziologische Auge eingesetzt bekommen hat, oder uns erst einsetzt, wie Hegels objektiver Geist das je individuelle Bewußtsein zum wahrhaften Dasein überwältigt? Offenbar nicht, die Dynamik des Geistesleben liegt im Widerstreit zwischen dem Gemachten der Kunst (bis hin zur gezielt verwendeten Fraktur) und dem Wahrheitsgehalt: Zu ihrem Wahrheitsgehalt stehen die Kunstwerke in äußerster Spannung. Während er [der Wahrheitsgehalt essentiell als Geist, W. C.], begriffslos, nicht anders als im Gemachten erscheint, negiert er das Gemachte. Ein jedes Kunstwerk geht als Gebilde in seinem Wahrheitsgehalt unter; durch ihn sinkt das Kunstwerk zur Irrelevanz hinab, und das ist allein den größten Kunstwerken vergönnt.« (S. 199) Man beachte die Parallele zu Robert Zimmermanns Auffassung vom schönen Schein, der, wenn durch eine korrekte Vorstellung erzeugt, die eine nicht-schöne Vorstellung ersetzt, wegen dieser Falschheit neuerlich nicht gefällt, wodurch die Bewegung des Geisteslebens in der Allgemeinen Ästhetik als Formalwissenschaften erklärt wird. Das Fortschreiten vom Mißfallen zum falschen (gemachten) schönen Schein, und von da zum Mißfallen an der Falschheit des Scheines wird von Zimmermann aber eben
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nicht zur Beurteilung des Kunstschönen angewandt, sondern, obzwar formal ästhetisch vorgehend, eben nur auf allgemeine soziale Regeln, die unter anderen auch Regeln der Kunstproduktion betreffen können. — Für Adorno wird die notwendige Falschheit des Gemachten schließlich doch zum Untergang des Kunstwerks im Artefakt selbst, aber nicht nur weil als Kunst nicht selbst philosophisch sondern mythisch — und weil Kunst doch nicht nur Mythos; der letztlich philosophische Wahrheitsgehalt des Kunstwerkes läßt die Falschheit des bloßen Gemachtseins in der vermeintlichen Irrelevanz wie den glücklichen Verstand Kierkegaards in die Absurdität des Daseins Gottes untergehen: Die industrielle Fertigung von Symbolen (Ornamente) ist jedoch schon in der Ouvertüre der Kontrapunkt zum »Geist« des äshetischen Idealismus. Adorno hat neben der Argumentationslinie der philosophischen Wahrheit, die durch die philosophische Fragestellung an das Kunstschöne erreicht werden soll, eine zweite, eher kultursoziologisch zu nennende Argumentationslinie nebenher laufen: »Aber an den ästhetischen Bildern ist gerade, was dem Ich sich entzieht, ihr Kollektives: damit wohnt Gesellschaft dem Wahrheitsgehalt inne. Das Erscheinende, wodurch das Kunstwerk das bloße Subjekt hoch überragt, ist der Durchbruch seines kollektiven Wesens. Die Erinnerungsspur der Mimesis, die jedes Kunstwerk sucht, ist stets auch Antezipation eines Zustandes jenseits der Spaltung zwischen dem einzelnen und dem anderen. [...] in seiner idiosynkratischen Regung zeigt die kollektive Relationsform sich an. Nicht zuletzt darum muß die philosophische Interpretation des Wahrheitsgehaltes ihn unverbrüchlich im Besonderen konstruieren. Kraft ihres subjektiv mimetischen, ausdruckshaften Moments münden die Kunstwerke in ihre Objektivität; weder sind sie pure Regung noch deren Form sondern der geronnene Prozeß zwischen beiden, und er ist gesellschaftlich.« (S. 198) Das Kollektive ist naturgemäß für sich eine amorphe Vorstellung, die zwischen historisch Gewordenem und demnach wieder Veränderbaren und einer besonderen Art anthropologischer Konstanz, die im Kollektiven zwischen Kultur- und Naturwesen in der Varianz der kulturellen Entwicklung als auffindbar betrachtet werden kann, wiederum unentschieden bleibt. Geht es nur um das Kunstwerk, kann sich das sogenannte »Kollektive« auf eine subkulturelle Strömung beziehen, deren
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Code außerhalb der »in-groups« nicht mehr verstanden wird. Wohl ist das ein extremes Beispiel, und auch da wird ein Teil ungeordnet für einen aufgeschlossenen, aber unverständigen Betrachter ahnend nachvollziehbar, aber eben nicht artikulierbar bzw. von einer Aussage noch weiter entfernt sein als die philosophische Wahrheit in der schon bekannten Kunst. Die Rezeption der archaischen Kunst Schwarzafrikas in der klassischen Moderne ist wiederum ein beredtes Beispiel für transkulturelle Transformationen, die eine Fassung des sogenannten »Kollektiven« auch dann als Vermutung vorstellig machen, wenn der außerkulturelle Einfluß auf die Stilentwicklung historisch nur als Anregung für den Symbolisierungsprozess des Archaischen, nicht wirklich primär als nachvollziehende Verständnissuche intendiert war. — Die Idiosynkratie der Assoziationsstränge macht diese allein noch nicht zu einer kollektiven Vorstellung im Sinne einer kulturell allgemeinen Konvention mit Tabucharakter oder gar zu einer transkulturellen Vorstellungsformation, die aus sich selbst freilich gar keinen Anspruch darauf hat, jeweils selbst historisch im kollektiven Feld der Assoziationen vorzukommen, sondern zuerst zur Subjektivität der Methode zuzurechnen ist. Auf diesem Wege kann die Möglichkeit der Verbindbarkeit divergenter Argumente, auch auf Grund vertauschter Analogien, oder auf Grund kohärenter Argumente wie im regelmäßig eingerichtetem Handel oder militärischen Strategien als Versuch der Beeinflußung der eigenen Zukunft verstanden werden, welche eine solche transkulturelle Vorstellungsformation eben erst schafft. Es geht offenbar nicht nur um das Archaische an (und in der Moderne in) der Kunst sondern komplementär letztlich auch um die Plastizität des politischen Handlungsspielraumes, der etwa anhand der Konfrontation des Publikums mit Absurdität logischer oder epistemologischer Natur für sich selbst Bedeutung gewinnen kann (Fulguration). Adorno streift das Freiheitsproblem, wenn er fordert, die philosophische Wahrheit müsse ihren Gehalt im Besonderen konstruieren, meint aber gleich: »Kraft ihres subjektiv mimetischen, ausdruckshaften Moments münden die Kunstwerke in ihre Objektivität«, und das kann ich nur als das Rätselhafte der Kunst verstehen, aber eben nicht als die philosophische Wahrheit eines Kunstwerkes. Diese Art von Objektivität steht ihrerseits unter Verdacht eine des »bloß Gemachten«, also gerade nicht die Objektivität der philosophischen Wahrheit des Kunstwerks zu sein.
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Vielmehr besteht die Objektivität der Mimetik gerade in der Form der Regung, darin besteht aber nicht selbst ihre philosophische Wahrheit; hierin muß ich Adorno widersprechen. Es steht allerdings jeweils erst zur Diskussion, auf welche Weise man dem mimetischen Vorgehen des Ausdruck suchenden Bewußtseins (Geistes?) einen haltbaren Formbegriff zumuten kann. Eben dieser wird von der Kultursoziologie häufig in der Kunst gesucht. Insofern muß die Schlußaussage auch als die eigentliche kultursoziologische Ergänzung aufgefaßt werden, als daß zwischen Regung und Form der Regung gerade individualpsychologisch ein gesellschaftlicher Aspekt selbstverständlich berücksichtigt wird. Was Adorno nun als »geronnenen Prozeß« zwischen der puren Regung und deren Form bezeichnet, wäre also der gesellschaftliche Prozeß auch in der wahren Idee vom Kunstwerk, und diese Idee wird abermals wie im Idealismus zur Objektivität — diesmal aber schon mit einigen Anschlußstellen zu einer kultursoziologischen Betrachtung der Kunst versehen. Adornos Versuch zur Umstülpung der Metaphysik des Kunstschönen und deren vermutliche Auflösung in die Kultursoziologie, um dem philosophischen Begriff der Wahrheit des Kunstwerkes nachfolgen zu können (entlang der Anlagerungen, die vom Gebotenen und Assozierten produziert werden — das wäre das mimetische Moment), gelingt nur zum Teil. Die philosophische Konstruktion bleibt dem mimetischen Moment unvermittelbar, denn letzteres gehört ja zum Machen des Gemachten und eben noch nicht unmittelbar zum Gewußten. Das Machen ist offenbar auch deshalb unbewußt, weil das historisch Konkrete (das als geschichtlich Seiende) als der Interpretation Bedürftiges »seine Ergänzung und Änderung herbeizieht.« (S. 199) Das aber ist dann für Adorno immer nur gerade »soviel an objektiver Wahrheit«, wie eben dem geschichtlich Seienden als Figur des (der Interpretation) Bedürftig-seins gelingt, auch die geeignete »Ergänzung und Änderung« herbeizuziehen. Mir fehlt die zureichende Unterscheidung in Beschreibungen, wie man sich vorstellt, daß dergleichen Anlagerungen und assoziativen Verknüpfungen entstehen, und in Methoden, solche insgesamt klumpig-amorphe Vorstellungsmassen überhaupt in ein Feld für die systematisch vorgehende Hermeneutik zu verwandeln. Auch wenn der Ausdruck des Kunstwerkes selbst eingangs von Adorno als das Nicht-sagbare per se festgehalten wurde, so meint die Überschreitung in der Interpretation des Artefakts in die kontextuellen
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Zusammenhänge doch noch nicht gleich die philosophische Wahrheit des Kunstwerkes, und ist nur die — bei Adorno nur manchmal als Hilfswissenschaft auftauchende — Kultursoziologie in ihrer »flächig« vorgehenden Phänomenologie (nach Mannheim). Es fehlt die Erörterung dieser weiteren Reflexionsaufstufung bislang völlig; Adorno beschränkt sich hier auf eine formale Betrachtung der historischen Entstehung von kulturellen Assoziationsfeldern, die für die eigentliche kultursoziologische und philosophische Betrachtung nur das Material sein können.
4. Freiheit als historische Möglichkeit und Utopie? Zur Kompexität und Spontaneität (Fulguration) der Methexis Adorno macht eine interessante Wendung, um den Konsequenzen zu entgehen, die sich aus der Unfaßbarkeit der philosophischen Wahrheit des Kunstwerkes zwischen Mimesis und Kultursoziologie ergibt: Die Figur der ins geschichtlich Seiende eingeschriebene Bedürftigkeit verlangt nun nach Ergänzung und Änderung; dieses Andere wird in seiner Stellung zum Kunstwerk näher bestimmt: »Die Elemente jenes Anderen sind in der Realität versammelt, sie müßten nur, um ein Geringes versetzt, in neue Konstellationen treten, um ihre rechte Stelle zu finden. Weniger als daß sie imitierten, machen die Kunstwerke der Realität diese Versetzung vor. Umzukehren wäre am Ende die Nachahmungslehre; in einem sublimierten Sinn soll die Realität die Kunstwerke nachahmen. Daß aber die Kunstwerke da sind, deutet darauf, daß das Nichtseiende sein könnte. Die Wirklichkeit der Kunstwerke zeugt für die Möglichkeit des Möglichen.« (S. 199 f.) Die letzten zwei Sätze lassen sich wieder auf das Freiheitsproblem beziehen, das spezifisch in der Geschichte und in den Geschichtswissenschaften eine Rolle spielt. Daß aber daraus abzuleiten wäre, daß die Wahrheit in der Kunst notwendigerweise eine bessere Anordnung der Elemente des Anderen beinhalten würde, und auf diese Weise uns von der Utopie der Gesellschaft Nachricht geben könnte, vermag ich nur als idealistischen Rest zu bezeichnen, den Adorno implizite als einen Mythos der Vernunft selbst von der deutenden Vernunft nicht mehr recht zu unterscheiden weiß. An dieser Stelle geht Benjamin deutlich weiter im Versuch der Rückgewinnung des Irrationalen zum Ganzen der Geschichte.
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Ardono eignet sich diese Schwierigkeit schrittweise anders an: »Worauf die Sehnsucht an den Kunstwerken geht — die Wirklichkeit dessen, was nicht ist — , das verwandelt sich ihr in Erinnerung. In ihr vermählt sich was ist, als Gewesenes, dem Nichtseienden, weil das Gewesene nicht mehr ist.« (S. 200) Adorno stellt hier nochmals mit einer an Heidegger gemahnenden Wendung die Historizität eines jeden, grundsätzlich auch eines zeitgenössischen, Kunstwerkes heraus. Zwar wird die Bedeutsamkeit eines Kunstwerkes wegen der sich durch die verschiedenen Rezeptionsansätze verschiedener Epochen steigernde Lesbarkeit der kultursoziologisch relevanten Zusammenhänge erst im Geschichtlichwerden der vergehenden Gegenwart erkennbar, doch aber ist nach der Grundüberzeugung der Kultursoziologie das Kunstwerk schon für die Zeitgenossen in einer ähnlichen Funktion gestellt. Der Index, nach welchem ein kundiger Sammler als Kunstliebhaber vorgeht, wird nur zum Teil dem Index eines Kultursoziologen gleichen; abgesehen davon, daß das kultursoziologische Interesse nicht nur Produkte der Hochkunst oder der Avantgarde einer Epoche gelten darf, sondern mit guten Gründen auch daraufhin verpflichtet werden muß, die Produkte der sogenannten Massenkultur bis in die Naivitäten, Trivialitäten und den Kitsch deutend zu folgen, soll wirklich eine Gesamtaufnahme eines Zeitausschnittes (»Epoche«) angestrebt werden. Gerade da scheint das Verdikt gegen die bildende Kunst von Alois Riegl gegenstandslos zu werden, der das Ornament und die Architektur der bildenden Kunst und Plastik zur kunsthistorischen Epocheninterpretation vorzog, weil er letzteres für zu individuell hielt, um daraus brauchbare Rückschlüsse auf die epochemachende Idee der Kunst ziehen zu können. Denn zweifellos ist die Trivialkunst reich an Stereotypen, die stereotyp verknüpft werden, sodaß eine individuelle Handschrift eines Künstlers kaum einer kunsthistorischen Interpretation des im Riegelschen Sinne »Archetypischen« einer Epoche im Wege stehen wird. Überhaupt kann dem Argument Alois Riegls, das zweifellos einiges für sich hat, entgegengehalten werden, daß es auf den Bekanntheitsgrad und auf die Breite (oder Tiefe, wie man will) der Rezeption ankommt (wie gut haben die an der Idee Anteilhabenden diese verstanden, wie divergent kann die Idee aufgefaßt werden, wie nachhaltig hat diese Idee die Phantasie und den Ausdruck eines Genres bestimmt?), ob das »Kunstwerk« geeignet ist, das Artefakt
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einer relevanten Methexis zu sein. Allerdings kann die Aufgabenstellung der Kunstgeschichte bei aller methodischen Ähnlichkeit gerade der Wiener Kunsthistorischen Schule zu einer philosophischen Ästhetik des Kunstschönen im Dienste der Kultursoziologie nicht dieselbe sein: Sowohl Benjamin wie Adorno nimmt im Wesentlichen die Moderne ins Zentrum der Untersuchungen, die mehrere Epochen bis in die Gegenwart besitzt, und ein Betrag zum Verständnis der modernen Kultur überhaupt leisten soll, während Riegl vorwiegend mit historischen Epochen zu tun gehabt hat, deren Quellenlage ganz andere Schwierigkeiten bieten. Vor allem kann die Erfahrungsbasis etwa eines römischen Zeitgenossen Julius Caesars mit der Erfahrungsbasis eines römischen Zeitgenossen von Mussolini weniger gut von vorneherein als vergleichbar angesehen werden, wie etwa die kulturelle Perspektive einer Figur aus den Les Miserables mit der Perspektive einer Figur aus dem Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. — Noch ein weiteres Argument wird die Analyse der Trivialkunst in ihrer Brauchbarkeit auf ein jeweils erst zu ermittelnde konkrete Fragestellung einschränken: So wird zum Beispiel die Methexis des Dienstbotenromans des anbrechenden Neunzehnten Jahrhunderts zwar weit verbreitet sein, sodaß über die Vorstellungen der Massen wie über die Lebensgewohnheiten der Dienstgeber Aussagen getroffen werden können, aber nur in einzelnen Fällen etwas über die weiterführende Dynamik der Gesellschaft herausfinden lassen. Ein Inhalt, der zu der sich herauskristallisierenden kontextuellen Ebene einander zuordenbarer Inhalte gehört (etwa in den Passagen: von Architektur über Baudelaire zur Dichtkunst — als Ausdruck der Kultur des nachrevolutionären Frankreichs des Neunzehnten Jahrhunderts bei Benjamin) kann man nach Adorno einen »kollektiven« Inhalt nennen, der zunächst aber nur wegen des besonderen Modus, allgemein verfügbar, aber nicht verstandesgemäß im Zusammenhang faßbar zu sein, seine formale Ähnlichkeit mit einem Mythos besitzt. Zwar mag der Abgrund des Erschreckens, blickt man der konkret gewordenen Geschichte, und ihrem Ausdruck durch die Kultur der Menschen hindurch ins Gesicht, ans Archaische gemahnen, aber es ist nicht die Primitivität einer ersten menschlichen Archaik gegenüber der Natur — der Schrecken der Moderne ist größer, weil inmitten der Gattung geschehend. Bleibt die Frage: ist die angesprochene kontextuelle Ebene nur als kunstspezifisches Archiv der
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Assoziationen aufzufassen, deren Gesamtumfang die wichtigsten Geschichten, aus welche »die« Geschichte einer »Epoche« zusammengesetzt ist, erst ablesbar macht, oder gehören doch die Stränge anderer Wissenstraditionen und deren spezifischer Kultursoziologien miteinbezogen, um die Aufgabenstellungen der Kultursoziologie erfüllen zu können? Das Ziel muß selbstverständlich letzteres sein, doch besteht die nicht unbedeutende Gefahr, den Vollsinn des Unvollständigen des Kunstwerkes in der Zeit zu verfehlen, indem nur zu leicht übersehen werden kann, daß der Ausdruck der Gesellschaft in der Kunst als Totalität des Ausdrucks betrachtet wird. Diese angestrebte Totalität hat zwar auch das Ornament und die Architektur bei Alois Riegl, aber in der Regel nicht die massenhafte Trivialkunst: deren Totalität liege nur in der quantitativen Verbreitung, dem Bekanntheitsgrad, und sonst nichts. Die ausdrückliche Beachtung des Nicht-Qualitätsvollen in der Kunst wird so von Adorno zurückgewiesen. Insofern bleibt die Beschränkung auf das Kunstschöne schon gegenüber Benjamin problematisch, weil nur ein Teil des Kulturausdrucks herangezogen wird. Überhaupt aber bleibt problematisch, daß nicht klar wird, was von der Methexis an Verbindungsmöglichkeiten fulgurativ dem deutenden Bewußtsein letztenendes an Bestand mit der historisch gegebenen Perspektive aufgezwungen wird, und was vom deutenden Bewußtsein an Urteil, zumindest an sich selbst zu verdankender Entscheidung des Vorziehens und des Verwerfens, im spontanen Prozess des Deutens und Sich-Einstellens auf das Artefakt und seiner Spurenlage wiederzufinden ist. Zurück zur Ästhetischen Theorie Adornos: Man erinnert sich, es war die Rede, daß die Wirklichkeit der Kunstwerke für die Möglichkeit des Möglichen zeuge, und daß das Nichtsein des Absoluten im und um das Kunstwerk in der Methexis sich zuerst als das Gewesene zeigt. Doch bedenkt Adorno auch das Nichtsein der Zukunft: »Seit der Platonischen Anamnesis ist vom noch nicht Seienden im Eingedenken geträumt worden, das allein Utopie konkretisiert, ohne sie an ein Dasein zu verraten. Dem bleibt der Schein gesellt: auch damals ist es nie gewesen. Der Bildcharakter der Kunst aber, ihre imago, ist eben das, was unwillkürliche Erinnerung nach der These von Bergson und Proust an der Empirie zu erwecken trachtet, und darin freilich erweisen sie sich als genuine Idealisten. Sie schreiben der Realität das zu, was sie erretten wollen, und was nur in der
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Kunst um den Preis der Realität ist. Sie suchen, dem Fluch des ästhetischen Scheins zu entgehen, indem sie dessen Qualität in die Wirklichkeit versetzen.« (S. 200) In Frage steht aber doch auch nach Nietzsche noch immer, was unter Realität der Gesellsellschaft nun zu verstehen sei: Eine der Aufgaben der Kultursoziologie sehe ich darin, die Bedingungen der Epoche ausfindig zu machen, in welcher die transzendentale Ursprünglichkeit der Grundfragen des Zusammenhanges von Vergesellschaftungsform und Urteilsvermögen mit philosophischer und gesellschaftlicher (überindividueller) Relevanz auch über unser fragliches Gattungswesen hinaus entdeckt werden kann. Aber es ist natürlich auch nicht die eigentliche Aufgabe einer Kultursoziologie, den soziologischen Einsatz der Transzendentalphilosophie ausfindig zu machen. Die Aussage des zuletzt gegebenen Zitates von Adorno zielt auf etwas anderes: Der Idealismus vertauscht die Ideenwelt der Kunst mit der Realität und zitiert damit die barocke Idee des Gesamtkunstwerks inmitten der offensichtlichen Umwandlung des gesellschaftlichen Paradigmas einer ereichbaren Konkretisierung der prästabilierten Harmonie zur Beschleunigung zwischen Fortschrittsoptimismus und Endzeiterwartung. Hierin kann man auch eine Portion Selbstkritik an einen kultursoziologischen Ansatz ersehen: Wenn man nicht die lebensweltliche Dimension des Daseins als Adressat des Ideals der Kunst ansieht, sonderen eben — kultursoziologisch — das jeweilige Ideal der Kunst zum Beispiel als Charakteristikum einer bestimmten Epoche, dann kann man auch gerade von der Kultursoziologie des Kunstschönen verlangen, sich einer Befragung nach ihren Idealismus zu stellen. Von hier aus dürfte sich gegenwendig, zumindest der Auffassung Adornos nach, die Kultursoziologie von Proust und Bergson unterscheiden, indem bei diesen Autoren der Adressat des Idealismus das Lebensweltliche, letztlich sie selbst, und, wie Michael Benedikt dies einmal genannt hat, in aller Behaglichkeit der Theophagie hingegeben sind. Der Idealismus ist so oder so sowohl Quelle der Darstellung der Reflexion wie auch fortwährend Anlass zur Kritik des transzendentalen Scheines. Doch aber bleibt ein Rest inhaltlicher Kritik: Selbstredend ist auch eine Kultursoziologie jederzeit zu verdächtigen, sich im vergleichbaren Sinn »idealistisch« gegenüber der Mannigfaltigkeit der kultursoziologisch feststellbaren Strata zu verhalten, indem (abgesehen vom formalwissenschaftlichen Idealismus gegenüber den
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eigenen Abstraktionstableaus) der eine oder der andere Strang der Ideengeschichte z. B. aus ideologischen oder religiösen Motiven als eigentliche oder wesentliche Ursächlichkeit der gesellschaftlichen Entwicklung angegeben wird. Andere Partien der gesellschaftlichen Entwicklung wären dann nur als Ausdruck eines Hauptgrundes zu betrachten. Natürlich kann es es sein (und es ist bekanntlich so), daß eine der Grundmotive unserer gesellschaftlichen Entwicklung sich vor andere schiebt, wie es mit zunehmender Beschleunigung, nun auch von der politischen Ökonomie unterstützt, die eben nicht mehr nur von Staaten bestimmt wird, geschieht. Deshalb andere gesellschaftsbildende Kräfte womöglich vollends in die Ästhetik oder als bereits falsifzierte Konzepte ins politische Abseits schieben zu wollen, wird zur übertriebenen Kritik am philosophischen »Idealismus«, und, zumal wenn der eigene formalwissenschaftliche Idealismus der verstandesgemäßen Methodengewißheit unkritisiert bleibt, zur unvernünftigen Anmaßung. Adornos Idealismus findet gerade noch in der Negativität der Kunst, in der Behandlung des ästhetischen Scheins, Platz: »Auf dieser Höhe der Kunst, wo ihre Wahrheit den Schein transzendentiert, exponiert sie sich am tödlichsten. Indem sie wie nichts Menschliches sonst ausdrückt, muß sie lügen. Über die Möglichkeit, daß am Ende doch alles nur nichts sei, hat sie keine Gewalt und ihr Fiktives daran, daß sie durch ihre Existenz setzt, [ist:] die Grenze sei überschritten. Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke, als Negation ihres Daseins, ist durch sie vermittelt, aber sie teilen ihn nicht wie immer auch mit. Wodurch er mehr ist als von ihnen gesetzt, ist ihre Methexis an der Geschichte und die bestimmte Kritik, die sie durch ihre Gestalt daran üben. Was Geschichte ist an den Werken, ist nicht gemacht, und Geschichte erst befreit es von bloßer Setzung oder Herstellung: der Wahrheitsgehalt ist nicht außer der Geschichte sondern deren Kristallisation in den Werken. Ihr nicht gesetzter Wahrheitsgehalt darf ihr Name heißen.« (S. 200) Die Negativität bleibt hier im ästhetischen Schein; dessen Negation führt in die Methexis der Geschichte, in welcher sich subjektive Spontaneität und Fulgurationen der kulturell vorgezeichneten Anlagerunggsstellen der in der Interpretationsbedürftigkeit sich anbietenden Ergänzungen überlagern und vermengen. Das aber bringt eine Zweiteilung der Untersuchung mit sich:
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Einerseits die Untersuchung des Künstlers als Prediger und Prophet seiner eigenen Epoche (vgl. den mit den Rücken in die Zukunft stürzenden Engel Benjamins), andererseits aber auch die Untersuchung der Rezeptionsgeschichte, die sich bekanntlich nicht unbedingt mit den Intentionen des Künstlers decken muß. Zwar wird die Reaktion des zeitgenössischen Publikums eine Auswirkung auf die Orientierung des Künstlers haben, sodaß Zimmermanns geistesgenossenschaftliches Modell auch in dieser Frage anwendbar wird. Zimmermann behandelt den Rapport zwischen den bürgerlich-romantischen Künstler und seinen Schülern und seinem Publikum, der für ihn vorbildhaft für alle Gesinnungsgenossenschaften ist. Allerdings sind nicht nur in der Kunst und Kunstgeschichte die Abweichungen gerade bei längerer Wirkgeschichte oft beträchtlich. Letztenendes kann sowohl von Wissenschaftsgeschichte, Philosophiegeschichte wie auch von der Literatur- und Kunstgeschichte gleichermaßen gesagt werden, daß ein nicht unwesentlicher Teil des sogenannten Wissenschafts- und Kulturfortschritts, nicht nur durch kritische Brüche oder gar dialektische Umstülpungen, auch nicht allein durch versehentliche und unwissentliche Fehldeutungen, sondern durch relativ freihändige Wiederaufnahme neu positionierter Formationen, die nur eventuell und erst allmählich die dem Historiker schon von früher bekannten Bruchlinien mit sich bringen, geschieht. Popper hat auf dieses Potential mit seiner Methode der Verfremdung hingewiesen, die allerdings den einen Nachteil hat, daß die Kriterien, ob und inwieweit die jeweiligen Verfremdungen auch auf das neue Anwendungsgebiet passen (fit sind), weitgehend ausblendet. Daß philologisch und hermeneutisch die Interpretation zumindest in wesentlichen Partien falsch sein könnte, spielt keine Rolle mehr, wenn die Umprägung die neue Situation zu charakterisieren hilft: Die Geschichte scheint dann die historische Wahrheit überholt zu haben. Eben diese Eigenschaft des Geschichtlichwerdens ist eigentümlich für die Moderne: Die Umwertung der Vorlage geschieht nicht mehr nur unwissentlich oder aus ideologischen Gründen allein, wie noch der Aristotelismus des Mittelalters aus theologischen Gründen relativ gezielt umgestaltet worden ist. Die Moderne hat vielmehr als eigentümliche Charakteristik den Historismus als Vorankündigung des Ende des Wechsel der Zeitalter, so wie er in der Vorrede zur Ästhetik von Hegel dargestellt
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und zugleich kritisiert worden ist, zu bewältigen. Mit dieser vermeintlichen Rückwendung wird die Geschichte der Kulturepochen umspannenden Moden und der Monopolstellung der Stile aber beendet und im musealen Archiv zum bloßen Material der freien Gestaltung — aus kultursoziologischer Sicht — herabgewürdigt. Doch aber ist auch die Kultursoziologie, wie es Mannheim deutlich gemacht hat, eine Form der Gesellschaftswissenschaft, die deshab erst in der fortgeschrittenen Moderne überhaupt möglich geworden ist; das wird ebenso für einen kultursoziologischen Ansatz gelten, der sich auf die Symbolik des Kunstschönen spezialisiert hat. Insofern steht eine solche Kultursoziologie des Kunstschönen unter der gleichen kultursoziologischen Kritik wie die sich von den Zwängen einer einheitlichen Epochenkunst befreienden Kunstkritik. Dazu wäre von Seiten des Mannheimschen Ansatzes von Kultursoziologie gegenüber Adorno noch zu bemerken, daß gerade diese Aufspiltterung in eine diachrone Existenz verschiedener Stile, die sich durchaus kultursoziologisch bedeutsam bemerkbar macht, die implizite behauptete Einheit des Kunstausdruckes in der Kultursoziologie des Kunstschönen untergräbt. Dieses Moment muß festgehalten werden, auch wenn glaubhaft gemacht werden kann, daß die Kultursoziologie des Kunstschönen gerade wegen dieser Aufsplitterung von Stilen imstand ist, die verschiedenen Motivreihen, die eben nicht nur in der Kunst ihren Ausdruck finden, zusammenzufassen. Dies kann grundsätzlich auf zwei Weisen geschehen: Entweder durch Auswahl von besonders geeignet erscheinenden Ereignisssen und Schulbildungen im historisch verzeichneten Prozess der Kunstproduktion, oder durch flächendeckende Aufzeichnung der verschiedenen Ideenströmungen und dem anschließenden Versuch der Koordinierung der verschiedenen Ausdrucksarten in einem doppelten Verfahren der Ausmittelung auf zu erwartende Gemeinsamkeiten einerseits und auf die antizipative Synthesis von Antagonismen, bzw. deren allmähliche Umbildung in Richtung synergetischer Kooperationsformen andererseits, wobei letztere nicht einmal ein gemeinsames Zielbewußtsein haben müssen sondern nur ein überlappendes Strukturbewußtsein und ein zumindest mittelfristiges Strategiebewußtsein, das erst erlaubt, solche synergetischen Momente zwischen eigentlich antgagonistischen Interessenslagen wechselseitig wahrzunehmen.
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Adorno hat offenbar den ersten Weg gewählt, und so den bürgerlichen Mythos der Hochkunst, man muß sagen, auch mit einigen guten Gründen, letztendlich perpetuiert. Immerhin hatte es Adorno mit der klassischen Moderne in der Kunst zu tun, während wir uns bereits, wenn auch noch kaum im Zusammenhang verstanden, doch schon in der Postmoderne befinden. Adorno macht das spezifische Charakteristikum der klassischen Moderne deutlich; ja noch mehr: daß trotz der weiteren Umwandlungen seiner Perspektive, die, obwohl ihr Augenmerk auf die geschichtliche Methexis gerichtet ist, und bei Adorno ihre intentionale Erfüllung — unvollkommen genug — nach wie vor im einzelnen Artefakt einfach vorausgesetzt hat, die Methexis der kunsthistorisch erkundeten Stilepochen zu der postmodernen Perspektive der Entwertung des Artefakts zugunsten der Serie ein letztlich unaufgelöstes Verhältnis besitzt.
5. Die Negationen des Scheins und die Geschichtlichkeit als Negat der Zeitform des Seienden. Der Übergang von philosophischer Ästhetik zu Kultursoziologie zu Kulturphilosophie als Bearbeitungsstufen der Kollektivität der Methexis Das letzte Wort über Adorno ist noch nicht gesprochen; von verschiedenen Seiten kann Adorno bereits kritisiert werden: So von Mannheim, von Benjamin, nicht zuletzt von Seiten des historischen Materialismus wegen der zunehmenden Distanz zur konkreten Kritik ökonomischer Verhältnisse, obgleich schon Engels zugestanden hat, das der ökonomische »Unterbau« nicht alle Angelegenheiten des kulturellen »Überbaus« erklären wird können. Doch selbst in eine historisch-transitorische Gestalt verbracht, vermag Adorno, zwar abermals kritisierbar, aber doch, ein wesentliches Charakteristikum der Moderne wie der Postmoderne auszumachen. Das zu näher zeigen will ich im nächsten Abschnitt der kommentierenden Lektüre unternehmen. »Die Kunstwerke sagen, was mehr ist als das Seiende, einzig, indem sie zur Konstellation bringen wie es ist, „Comment c’est“.« (S. 200 f.) Das scheint mir aus verschiedener Hinsicht eine maximal zur Widerlegung exponierte Aussage zu sein. Unbedingt richtig nach der bisherigen Analyse
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auch gerade Adornos ist die erste Teilaussage: »Die Kunstwerke sagen, was mehr ist als das Seiende.« Dies ist schon aus der besagten Differenz zwischen Artefakt und deren geschichtlichen, wenngleich auch letztlich immer wieder von selbst innerepochalen Methexis klar. Doch wird damit zugleich in der rückwärts gewandten Methexis das Utopische am Kunstwerk degradiert und die geschichtliche Dimension — so weit wie auch immer rekonstruierbar — allein zur Erklärung der jeweiligen Gegenwart benutzt. Adorno greift hier ergänzend einen topos seiner Überlegungen auf, nämlich, daß die Kunstwerke das bislang dem kulturellen Selbstverständnis Ferne näher bringen könnten (vgl. Aura Benjamins). Das »In-Konstellationbringen« ist aber wiederum kein spezifisches Merkmal der modernen Kunst. Wie schon ersichtlich geworden, bleibt Adorno dabei auch nicht stehen: »Metaphysik der Kunst erheischt ihre schroffe Scheidung von der Religion, in der sie entsprang. Weder sind die Kunstwerke selbst ein Absolutes, noch ist es ihnen unmittelbar gegenwärtig. Für ihre Methexis werden sie geschlagen mit einer Blindheit, die ihre Sprache, eine von Wahrheit, sogleich verdunkelt: sie haben es und sie haben es nicht. In ihrer Bewegung auf Wahrheit hin bedürfen die Kunstwerke eben des Begriffs, den sie um ihrer Wahrheit willen von sich fernhalten.« (S. 201) Daraus ist abermals zweierlei zu ersehen: Erstens wird hier die Kunstproduktion mit der Kunstkritik, nicht zuletzt mit den kunsthistorischen Theorien, abermals antagonistisch zusammengespannt. Zweitens gewinnt der originale, authentische Künstler durch die Selbstkritik der Kunst in der Moderne (Duchamp) einige Themenkreise hinzu (manchmal werden einige dieser Themenkreise bei Brauchbarkeit auch das Medium thematisieren). Es bleibt zu vermuten, daß Adorno doch noch, wie es in der klassischen Moderne auch noch möglich war, auf die dialektisch genannte Anspannung zwischen Kunst und Kunstkritik aus war, wenngleich auch schon in der nochmals übersteigerten Fassung des Kunstkritikers, der allein die Theorien der Kunstgeschichte zum Maßstab nimmt, nämlich als Kultursoziologe des Kunstschönen. Ich folge weiterhin der Überlegung Adornos: »Ob Negativität die Schranke von Kunst ist oder ihrerseits die Wahrheit, steht nicht bei der Kunst. Negativ sind die Kunstwerke a priori durchs
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Gesetz ihrer Objektivation: sie töten was sie objektivieren, indem sie es der Unmittelbarkeit des Lebens entreißen. Ihr eigenes Leben zehrt vom Tod. Das definiert die qualitative Schwelle zur Moderne.« (S. 201) Hier hat Adorno Nietzsche und Heidegger versammelt. Baudrillard hat den Akt der Tötung sowohl auf die musealen Sammlungen von Kunstwerken wie auf die archeologischen Sammlungen außereuropäischer (außer U.S.amerikanischer, etc.) Museen auf die gesamte Soziologie und Ethnologie angewandt. In dieser Tiefe betrachtet, ist diese Art von symbolischer Tötung nicht mehr allein ein Kennzeichen der Moderne sondern vielmehr ein Charakteristikum der ganzen Neuzeit, das im Übergang von der Aufklärung zur Moderne bereits die Episteme der Postmoderne grundgelegt hat. Diese vermeintliche Diskrepanz löst sich auf, wenn man bedenkt, daß Baudrillards vorrangig die Ethnologie als soziologische Leitwissenschaft im Auge hat, während Adorno bereits als Kultursoziologe des Kunstschönen hinreichend charakterisiert werden konnte. Adorno behauptet auch, daß diese Beziehung zum Tod dem künstlerischen Prozess (zumindest der klassischen Moderne) innewohnt, und erstellt keine Theorien über das Museale als Charakteristikum der systematisierenden Aufklärung. Diese Beziehung zur Vergänglichkeit und deren Stationen von (i) relativer weltlicher »Unsterblichkeit« des Künstler, Autors, Erfinders, (ii) der Zerstörbarkeit des Objekts: zumal die Materialität selbst auch zur Qualität des Kunstwerkes, nicht nur des Artefakts zählt, ist das Kunstwerk schließlich selbst bedroht, den Tod der Degradierung zur Dinglichkeit des Artefakts vor dessen Zerstörung zu erleiden, und (iii) die Doppelgesichtigkeit der Wirklichkeit im aristotelischen Wechselspiel von wirklicher Realität und möglicher Realität im modallogisch gefaßten Existenzbegriff, welche sich im Schein des Kunstwerkes widerspiegelt, bezieht sich abermals nicht völlig auf den individuellen Existenzialismus. Das Mimetische verführt die Idee ebenso ins Materiale, wie es das Material dazu bringt, Ausdruck von etwas anderem zu werden: Das Mimetische ist deshalb die erste notwendige Illusion. Die Konkretisierung der Methexis im Kunstwerk als Fortsetzung der Mimesis ist dann schon die zweite unverzichtbare Illusion; die Vertauschung von Schein und Realität, sowohl was das Gewesene wie was das Utopische der Ergänzungsbedürftigkeit des Kunstwerkes angeht, also bereits im Schein des Kunstwerkes, ist die dritte und individuell-konkretisierende Illusion, die den Kern der philosophischen Ästhetik wie auch der Kultursoziologie ausmacht.
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Das Kunstsoziologische daran ist die Durchleuchtung der Methexis in ihrem Gesamt (auch eine Art von Totalität), was sich im Destruktiven der Moderne, insbesondere in der Postmoderne bereits in den Kunstwerken selbst zu zeigen beginnt, weil sie den Schein der Totalität der Methexis selbst kritisch zu kommentieren beginnen, und über die vorauszusetzende subjektive Auswahl aus dem Bildungsangebot hinausgehend die inhärente »Zerfranstheit« des kollektiven Gedächtnisses wieder auf die Partikularität der Restvernunft zurückverweist. Über diese kunstsoziologischen und kultursoziologischen Aspekte der Betrachtung des sich Verständig-machens eines Kunstwerkes, und was überhaupt ein »Kunstwerk« ist, gerät die philosophische Ästhetik geradewegs in die philosophische Betrachtung der Kultur als Ausdruck der Gesellschaft, und wird so zu Kulturphilosophie. Damit verläßt Adorno zugleich endgültig das Mehrdeutige des Überganges von »flächig« vorgehender Soziologie zur eigentlichen Kultursoziologie im Sinne der ersten Konzeptionen Karl Mannheims, dessen Unbestimmtheit den Überlegungen zur Methexis notwendigerweise anhaftet. Das Schlußwort gebührt hier Adorno: »Ihre Gebilde überlassen sich mimetisch der Verdinglichung, ihrem Todesprinzip. Ihm zu entfliehen, ist das illusorische Element an der Kunst, das sie, seit Baudelaire, abzuwerfen trachtet, ohne doch resignativ Dinge unter Dinge zu werfen. Die Herolde der Moderne, Baudelaire, Poe, waren als Artisten die ersten Technokraten der Kunst. [...] Absorbierte seit dem Beginn der Moderne Kunst kunstfremde Gegenstände, die in ihr Formgesetz nicht gänzlich verwandelt eingehen, so zediert sich darin, bis zur Montage, die Mimesis der Kunst an ihr Widerspiel. Während sie der Gesellschaft opponiert, vermag sie doch keinen ihr jenseitigen Standpunkt beziehen; Opposition gelingt ihr einzig durch Identifikation mit dem, wogegen sie aufbegehrt. Das war bereits der Gehalt des Baudelairschen Satanismus, weit über die Kritik an an der bürgerlichen Moral an Ort und Stelle hinaus, die, von der Realität überboten, kindisch albern wurde. Wollte Kunst unmittelbar Einspruch erheben gegen das lückenlose Netz, so verfinge sich erst recht: darum muß sie, wie es exemplarisch in Becketts Endspiel geschieht, die Natur, der sie gilt, aus sich eliminieren oder sie angreifen. Ihr allein noch möglicher parti pris ist der für den Tod, ist kritisch und metaphysisch in eins. Kunstwerke stammen aus der Dingwelt durch ihr
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präformiertes Material wie durch ihre Verfahrensweisen; nichts in ihnen, was ihr nicht auch angehörte, und nichts, was nicht um den Preis seines Todes der Dingwelt entrissen würde. Nur Kraft ihres Tödlichen haben sie Teil an der Versöhnung. Aber sie bleiben darin zugleich dem Mythos hörig. Das ist das Ägyptische an einem jeden.« (S. 201 f.)
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C. FREIHEIT UND POLITIK 1. Das Allgemeine an der Aufklärung und das emprische Individuum als Wurzel der kritischen Vernunft. Der endgültige Positionswechsel des Realismus und dessen Bedrohung durch die daraus entstehende Indifferenz von Totalitarismus und absolutem Individualismus a) Der transzendentale Mangel in der Unerkennbarkeit der ratio essendi des Gattungswesens: Freiheit als Grund von Sittlichkeit. Demgegenüber die empirische Bestimmbarkeit des Gattungswesens in der ratio cognoscendi: Sittlichkeit als Grund der Freiheit Die angesprochene Verschiebung liegt auf der Hand und ist auch schon vielfach aus verschiedensten Perspektiven dargestellt worden. Ich habe bereits andernorts versucht, diesen Paradigmenwechsel anhand der verschiedenen Lösungsansätze des Verhältnisses von Allgemeinwohl und Eigeninteresse in der Ökonomie und einer über eine bloß »flächig« vorgehenden Soziologie hinausreichende Gesellschaftslehre, oder anhand einer Änderung im Verhältnis von Logik und Psychologie in der Urteilstheorie; schließlich anhand der Änderung der Stellung des Individuellen zum Allgemeinen überhaupt vorzustellen. — Das Messer der Denkökonomie Ockhams setzt sich sowohl gegen das Allgemeine wie gegen das Individuelle in Schwung. — Die Beachtung denkökonomischer Grundsätze (gewissermaßen eine Wiederentdeckung Machs) bleibt nicht die einzige Bezugnahme auf Ockham. Wie schon Zimmermann in dieser Hinsicht Leibniz ganz recht verstanden hat, als er ihn als Logiker zu den gemäßigten Konzeptualisten (Boethius) gerechnet hat, der zwischen den Realisten (Anselm von Canterbury, Albert Magnus) und Nominalisten (Ockham) zu stehen kommt, ist eben die Art und Weise wie Ockham Existenz nur als Individuelles und Konkretes auffaßt zu unterscheiden vom Konzept des Individuellen und Konkreten der Existenz der Leibnizianischen Monade, sofern diese bereits mit dem Totum, oder dem Ganzen in Beziehung gesetzt ist. Weit entfernt davon, darin einen Schlüssel erblicken zu wollen, der alle Fragen der Abstraktions- und Informationstheorie, wie der Ideengeschichte und Wissenschaftsgeschichte aufschließt, sondern allein als Charakteristik des angesprochenen Paradigmenwechsels aufgefaßt, erwarte ich von hier
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aus Aufschlüsse zur Stellung des Allgemeinen zum Individuellen überhaupt. Einerseits ist es ein Kennzeichen der Moderne, daß das Individuelle vor der bloß abstrakt bleibenden Allgemeinheit in Stellung gehalten wird, andererseits wird schon seit Saussure und Hegel das Individuum abstrakt nur mehr als Form der Konkretisierung des Allgemeinen behandelt. Der Utilitarismus, den Brentano in der Frage der Sittlichkeit nicht verwirft, sondern nur alleinstehend als ungenügend kritisiert, hat auch im Menschenbild der englischen Nationalökonomie des Achtzehnten Jahrhunderts schon traditionell (von physiokratischer wie von merkantilistischer Seite) eine wenn auch von verschiedenen Seiten eingeschränkte Harmonievorstellung gepflogen (Bentham, A. Smith — komplementär dazu Ricardo und Malthus als Vorläufer der sogenannten Biopolitik). Hier wäre auf die Illusion des Humanismus des Achzehnten Jahrhunderts im deutschen Sprachraum zurückzukommen, der für den einen oder anderen Moment die Individualisierung (als Programm der Aufklärung von oben nach unten) im Rahmen einander wechselseitig steigernde Strebungen als grundsätzlich vereinbar mit der Effizienzsteigerung des Staates angesehen hat. Während Leibniz den Versuch unternimmt, die universielle Harmonie (ein gemeinsames europäisches Erbe aus der Frühneuzeit) anhand eines Systems von verschiedenen Modi des vinculums substantiales als Konkretisierbares überhaupt zu denken, rechnet Adam Smith mit der »invisiblen hand«, die er anhand der Naturgesetze der Ökonomie zumindest für eine größtmögliche Zahl für optimierbar hält (hierin in Nachfolge Bethams). Eine zumindest äußerliche Ähnlichkeit der »invisible hand« mit der List der Vernunft bei Kant und Hegel halte ich für unübersehbar. Insofern glaubt auch Adam Smith mit seiner wissenschaftlichen Ökonomie zur Konkretisierung der universiellen Harmonie beigetragen zu haben; befleißigt sich aber in den Untersuchungen zur Ökonomie über die menschliche Natur einer ähnlichen Zurückhaltung wie Newton (vgl. das angebliche Adam Smith-Problem zwischen der Theorie der moralischen Gefühle der Bewertung und der Theorie der Ökonomie der Interessen). Die ausgemachte Verschiebung in der Differenz von Individuum und Allgemeinen, welche entlang der Linie von Naturwissenschaft zu Technik zu Industrie zu Finanzkapitalismus das Allgemeine und die Zweckrationalität die Auslegung der bürgerlichen Individualität politisch zuerst erweitert und anschließend verengt hat, erzeugt einen realen
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Widerspruch zwischen freien Bürger in der Idealvorstellung der politischen (publizistischen) Öffentlichkeit einerseits und freien Wirtschafter (Carl Menger) und der Idealvorstellung vom freien Markt andererseits durch die Überwältigung der politischen Interessen durch die wirtschaftlichen Interessen. Die einseitigen Wertsetzungen politischer Interessen ist der auf Wirtschaftlichkeit beschränkten Zweckrationalität gewichen, was zwar die Rationalität der Organisation von Naturwissenschaft, Technik, Industrie und Volkswirtschaft folgt, aber damit schließlich alle anderen Rationalitätstypen der Vermarktung des öffentlichen Raumes unterworfen hat; eben auch jene Rationalitätsformen der Wertsetzung durch Interessen, die nicht auf das Spiel des freien Marktes zielen. Nach diesem Paradigmawechsel in Philosophie und Wissenschaft und nach deren Positionswechsel hinsichtlich ihrer Stellung in der Vorstellung der Organisation von Gesellschaft zwischen Neuzeit und Moderne, was allgemein zu einer Zurückdrängung der Politik im Sinne eines an Entscheidungsprozessen partizipierenden Staatswesens geführt hat, kann eine allgemeine Moral nicht mehr von einer politologisch, soziologisch und organisatorisch nach wie vor als notwendig erachteten Zentralgewalt durchgesetzt werden, zumal jede soziologische Theorie mit einem gewissen Grad der Selbstorganisation ihrer Gegenstände zu rechnen hat (Menger, Hayek, ev. auch Kelsen), bevor ein Prinzip einer Theorie (Idee) überhaupt angewandt werden kann. Diese materiale Vorausgesetztheit kann nun eine Gesellschaft mit den utilitaristischen Normen einer »morale par provision« (Descartes) sein. Ich halte nun ausgerechnet den kategorischen Imperativ von Kant für einen geeigneten Ausgangspunkt, dem Schema der communio mei et tui originara eine communio primavea in wissenschaftlicher Fassung zu geben — daß heißt eben grosso modo nichts anderes als die Durchführung von zwei Schritten: 1. Kann der Grundsatz meines Handelns ein allgemeiner Grundsatz sein (historische Möglichkeit) 2. Kann ich wollen können, daß dieser Grundsatz ein allgemeiner Grundsatz sei (ethische Möglichkeit) Die erste Frage kann durchaus auch so verstanden werden, daß wir unser Naturwesen und unser Kulturwesen befragen, ob wir durchschnittlich alle dazu fähig sind, das subjektiv-individuelle Interesse zu sublimieren, wie in der zweiten Frage verlangt wird. Aber erst das Wollen-können macht einen Grundsatz, der im Sinne der ersten Frage allgemein möglich ist, zum
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kategorischen Imperativ. In diesen Wollen-können liegt aber nicht mehr die bloße technische und psychische Fähigkeit, sondern die Gewissensfrage, ob der Grundsatz meines Handelns, als Grundsatz für alle genommen, die Menschheit verbessert und ihre Glückseligkeit vermehrt. — Diese Frage ist aber immer nur beschränkt zu beantworten. Ich halte insofern das Prinzip des Bestmöglichen bei Brentano für eine modale Ergänzung des Kantschen Imperativs und nicht für seine Widerlegung, wie Brentano angenommen hat. Das ist m. E. aus der ausweichenden Behandlung des Gewissens bei Kant deutlich zu ersehen. Die Beantwortung der zweiten Frage führt also in eine Betrachtung der Konsequenzen zurück, die Kant freilich vermeiden wollte, indem er seine Ableitung darin gerechtfertigt sieht, als daß sie sich in ihrem Anspruch auf Notwenigkeit (»Apriorität«) auf das Feld der Deduktion der Kategorien der Freiheit zu beschränken hat. In der rechtsphilosophischen Interpretation des kategorischen Imperativs handelt es sich noch um die eigene, angeblich ursprüngliche, Vollkommenheit, die durch die Verbotsform dieser Interpretationen gewährleistet werden soll. Kant hält seinen Entwurf des kategorischen Imperativs für unfehlbar, weil er die Selbsterkenntnis des Individuums mit der Erkenntnis des Gattungswesens in der Erkenntnis unseres intelligiblen Subjekts zusammenfallen läßt. Unter welchen Voraussetzungen diese Beschränkung das gewünschte leistet (nämlich die historische Vernunft), soll hier nicht näher behandelt werden, entscheidend für die vorliegenden Überlegungen bleibt, daß im Zuge der Untersuchung des Kantschen Überganges im kategorischen Imperativ mehr zu leisten ist als der bloß logische Übergang vom bedingten Imperativ zum unbedingten Imperativ. Zwischen Rigorismus unbedingter Geltung des Obersten Sittengesetzes (eigene Vollkommenheit) und unbedingter Geltung der Fassung des kategorischen Imperatives in der Tugendlehre (empirische Glückseligkeit des anderen als oberster Handlungsgrundsatz) ist in der Ethik ein Mittleres zu suchen, worin das Gattungswesen aus dem Verhältnis des handelnden Individuum zu allen anderen handelnden Individuen bestimmt werden soll und nicht umgekehrt. In jedem Fall wird die empirische Frage nach dem Wesen des Menschen gestellt: wenn schon nicht unbedingt teleologisch (weil die zweite Frage ohne jede Einschränkung auf allgemeine Grundsätze der communio mei et tui originaria auf einen höchsten Endzweck hin als die dem zum Narzissmus gesteigerten Egoismus
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verfallene communio primavea bedacht werden kann, was durchschnittlich Ideologie ergibt), dann empirisch-phänomenologisch in der ersten Frage. Die empirisch gefasste Frage nach dem Wesen des Menschen bezieht sich nun nicht nur auf die jeweils aktuelle Situation des gesellschaftlichen Umgangs untereinander, sondern auf Geschichte und Zukunft; was nun die Geschichte angeht — so hier meine These —, sowohl auf die Geschichte der familiären und gesellschhaftlichen Traditionen wie auf die Naturgeschichte (Evolutionstheorie). Betrachtet man zunächst die historische Dimension im engeren Sinne (wie eben die klassische Soziologie ihren Gegenstand historisch im Gegensatz zur positivistisch-konventionalistischen Haltung gegenüber dem Historischen als empirisch Gegebenes, oder im Gegensatz zur technischen Produzierbarkeit und Planbarkeit des Konstruktivismus begreift), hebt Kant mit dem kategorischen Imperativ vom Utilitarismus der je historisch-empirischen »morale par provision« ganz bewußt ab. — Der vorgeschlagene Ausweg aus Kants Rigorismus (ein Erbe Spinozas) folgt also der von mir formulierten allgemeinen Charakteristik des Paradigmenwechsels insofern, als daß nicht das Allgemeine (der von vorneherein zur Vernunft bestimmte Wesensbegriff des Menschen im intensionalen Gattungsbegriff) das Individuum der Freiheit bestimmt, sondern im abstrakten Verhältnis freier Individuen untereinander, aber in Hinblick auf die Bestimmbarkeit des Gattungswesens (als transzendentaler Mangel des Begriffes) erst ein Grundsatz des Sollens gefunden wird. {Vgl. Abschnitt von Kant bei K.Cramer, stw.1223; Bedingung dieser Möglichkeit allerdings erst in der reinen Moralphilosophie: Sittengesetz. Ist die Freiheit Bedingung des Sittengesetzes (ratio essendi) oder ist das Sittengesetz Bedingung der Freiheit (ratio cognoscendi). Ersteres sei für uns unerkenntlich}
b) Das unvollständige Kalkül des Projekts der Aufkärung: Prästabilierte Harmonie, »invisible hand«, List der Vernunft, Fulguration Der transzendentale Mangel liegt in der Unerkennbarkeit der ratio essendi des Gattungswesens: Freiheit als Grund von Sittlichkeit setzt mehr voraus als bloß partiküläre Vernunft. Die (historisch-)empirische Bestimmbarkeit als ratio cognoscendi des Gattungswesens ergibt für Kant hingegen: Sittlichkeit als Grund der Freiheit. Adam Smith mutet nun dem einzelnen
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freien Individuum Vergleichbares zu (bürgerliche Privilegien und Verrechtlichung des Staatswesens), und rechnet noch (hierin Leibniz ähnlich) wie seine Vorgänger mit dem Vorbild der Natur und mit deren göttlichen Harmonie auch für die Gesetzmäßigkeit der Ökonomie, die von den Entscheidungen der Individuuen relativ unabhängig sein sollte. Smith sozialisiert gewissermaßen die Kosten der sittlichen Verbesserungsmöglichkeit des Menschen, indem er diese (insofern wie Kant auch in der Bestimmung des Menschen als ein der Vernünft fähiges Wesen einen eigenen analytisch-metaphysischen Grund im Auge behält) als relativ unabhängig vom einzelnen guten Willen der Menschen ansieht. Freilich hat Smith dabei nicht vorwiegend die Sittlichkeit im Auge, auch nicht unmittelbar die sittliche Verbesserung des Menschen überhaupt, sondern die Verbesserung der materiellen Lebensumstände für die größtmögliche Anzahl der Menschen einer Nation. Die »invisible hand«, die im Rücken des individuellen Eigennutzes aller nach der Verbesserung materieller Lebensumstände schließlich auch sekundär zur sittlichen Verbesserung der proletarischen Massen in den Städten führen soll (allerdings unter der Bedingung der Einhaltung ziviler Gesetze, die nicht allein aus der Ökonomie abgeleitet werden, sondern eine naturechtliche Begründungstrategie besitzen), entspricht meiner Auffassung nach der »List der Vernunft« bei Kant und Hegel, auch wenn diese deutschen Denker ihre Hoffnung auf den Geschichtsprozess nicht primär aus den Vorstellungen zur Umgestaltung der Ökonomie heraus schöpfen. Man kann von verschiedenen Vorstellungen selbstregelnder Kalküle ausgehen. Ohne Vollständigkeit und in aller Vorläufigkeit wähle ich ohne Angabe von Gründen folgende Gegenüberstellung: 1) Leibniz: Monade und vinculum substantiale als Gleichgewichtssystem (nach Herbart) und deren evolutionstheoretisches Gegenstück in den Megatropen, die durch die innerartliche und zwischenartliche Evolution hindurch die Verständigeren bevorzugt (Verständiger ist der, der weniger bei der Aneignung der Umwelt vernichtet). 2) Smith: Der Markt als die Produktionskräfte einschließendes Gleichgewichtssystem unter bürgerlich-rechtlichen Bedingungen des Wirtschaftens unter dem Gesichtspunkt (naturwissenschaftlich= wirtschaftlich) rationaler
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komplementärer Organisation der sozialen nach Innen und zwischenstaatlichen Unterschiede nach Außen. Wirtschaft wird so auch eine gezielt gesellschaftlich und epistemisch gestaltende Kraft. 3) Kant: a) Das reine Schema des kategorischen Imperativ (vom Individuellen zur Gattungsbestimmung) — ahistorisch und transzendental {Hingegen Cramers Darstellung des Verhältnisses von reiner Moralphilosophie zum Pflichtbegriff in der Metaphysik: ahistorisch und analytisch-metaphysisch} b) Das Reich der Zwecke und das (empirische) höchste Gut als teleologisches System (vom System der Individuuen zur Gattungsbestimmung oder vom Gattungswesen zum System der Individuen) — historisch und synthetisch-metaphysisch oder analytischmetaphysisch c) »List der Vernunft« — historisch und soziologisch Ich versuche einen Horizont in das Blickfeld der Diskussion zu bekommen, in welchem die Fulguration (Verhaltenstheorie und Evolutionstheorie), invisible hand (Nationalökonomie), List der Vernunft (Politik) und die Entwürfe zur Konkretisierung der universiellen Harmonie bei Leibniz (rationale Metaphysik) Bausteine oder Elemente einer objektiven Bestimmung des Begriffs von der realen Geschichte hergeben könnten (während Heidegger nur subjektive Begriffe von der Geschichte zustandebringt). Ein solcher Entwurf hätte in Konkurrenz zu den Geschichtsmodellen des Historischen Materialismus einerseits und der Abfolge von Rassen und Kulturen (etwa Gumplowic, Frobenius, tlw. auch Dempf, letztlich auch Weber) andererseits zu treten, wobei zwischen Soziologie und Verhaltensforschung Gehlen eine Sonderstellung einnimmt. Doch bleibt die Soziologie (Schütz und die klassischen Soziologen Durkheim, Weber, Simmel, Tönnies), die Ökonomie, Verhaltenforschung und die Evolutionstheorie in ihren jeweiligen Bezug auf ein gemeinsames Substrat in sich widersprüchlich genug, während die Soziobiologen, welche die philosophische Anthropologie angeblich schon auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt haben, die Soziologie, Ökonomie und Geschichte aus einer Wurzel zu erklären können glauben: Ich halte allein schon aus wissenschaftstheoretischen und erkenntnistheoretischen Gründen eine kritische philosophische Anthropologie für unabdingbar. Der Verzicht auf Regionalontologien aus daseinsanalytischen oder
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wissenschaftstheoretischen Günden (dortselbst im Streit zwischen mathematischer und semantischer Logik noch nicht entschieden) — methodisch womöglich jeweils lokal begründbar — kann nicht bedeuten, diese Relevanzen zu vernachlässigen, wenn auch einstweilen unterbestimmt bleibt, wer oder was im Hin und Her zwischen Individuum und Gattungswesen empirisch zu supponieren vermag. Einen strikten methodischen Monismus halte ich ebenso unangebracht wie einen strikten ontologischen Monismus.
c) Aufklärung und Humanismus: Wechselseitige Entwertung von Allgemeinheit und Individuum und die Wiederkehr der Gespenster oder das Studium der Werte und Relevanzen Die Verwissenschaftlichung des Blicks wie auch der Arbeits- und Lebenswelt selbst, und vor allem die Betrachtung des historischen Gesellschaftsprozesses unter dem Gesichtspunkt der mathematischen Naturwissenschaften in der Ökonomie im Zuge der Theorieentwicklung, die mit den Physiokraten einsetzte, entsprechen einander hinsichtlich der Methodenfrage in der Entwicklung der Naturwissenschaften und des naturwissenschaftlichen Denkens. Die Alltagserfahrung kann nicht mehr als Regulativ der Ergebnisse wissenschaftlich abgesicherter Verfahren angesehen werden, dies gilt zuletzt für die Human- und Gesellschaftswissenschaften ebenso wie für Naturwissenschaft. Täuschungen nicht nur der Sinne, auch Irrtümer in den Interpretationsregeln betreffs der Vorstellungen über das wirkliche Geschehen sollen nicht nur in der empirischen Naturwissenschaft (phänomenologisch oder klassifizierend) durch mathematische Prinzipien der quantitativen Schematisierung ausgeschlossen werden; Täuschungen und Irrtümer sollen gleichfalls in den Sozialwissenschaften durch eine phänomenologische Beschränkung auf die Verhaltensformen (Behaviourismus) ausgeschlossen werden, um Verwechslungen von Beobachtung und Vermutung über unzugängliche Motive zu verhindern. Die Dialektik in der Einsicht der zunehmenden Selbstproduziertheit der Gesellschaftsform wird von der einseitigen Abstraktionstheorie reiner (verstandesgemäßer) Bewußtseinslehre in die Selbstreferentialität der Formalität der Abstraktionstableaus der verschiedenen
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Wissenschaftsbereiche übertragen. Doch gerade die vernünftige Organisierung nicht nur der einzelnen Wissenschaftsbereiche (z. B. Physik und Chemie oder relativistische Astrophysik und Teilchenphysik) oder z. B. Pareto im Entwurf einer Allgemeinen Soziologie als offenes System von gesellschaftlichen Hilfswissenschaften, sondern auch der Zusammenwirkung der verschiedenen Zwecke der Vergesellschaftung ist eine der erkannten Aufgaben kritischer Philosophie. Das bedarf der Interdisziplinarität nicht nur in wissenschaftsübergreifenden Großprojekten, sondern auch in denjenigen Vorstellungen, die jeweils sowohl zur zusammenfassenden Abrundung wie als Ausgangslage erster Heuristik dienen, was in weiterer Folge zu einer mehrfachen Polarität eines Horizontes möglicher gattungsrelevanter Positionen und eben nicht zu einem methodologisch motivierten restontologischen Monismus führt. Das ändert freilich nichts an der Bedeutung der primären Intentionalität auf die Materialität der Erscheinungen, jedoch vermag eine daraus resultierende Schichtenontologie nicht die gesamte Zusammenwirkung im Sinne der entschränkten Kategorie der Wechselwirkung (Commercium), nur die aneinanderliegenden Grenzen vorzustellen. — Auf die vernünftige Organisation und zunächst wechselseitige Rangreihung gattungsrelevanter Positionen einzuweisen, wäre eine würdige Aufgabe der Philosophie. Vor allem anderen wird die Reflexion der Zwecke von Gesellschaftswissenschaften außer Acht gelassen; rein formal betrachtet muß auffallen, daß die Komplexitätsreduktion bei Problemen, die komplexe Randbedingungen aufweisen, intern zu Redundanz und extern zur Irrelevanz neigen. Erst wenn die theoretischen Fragen betreffs der beabsichtigten systematischen Reflexion der Naturerkenntnis deutlich genug gemacht worden sind, kann die schwierigere Frage nach der Sittlichkeit und nach dem ganzen Wesen des Menschen auch mit der nötigen Klarheit und Nachhaltigkeit gestellt werden. Bemerkenswert ist, daß durchwegs das Wesen nicht mehr analytisch das Einzelne bestimmt, sondern das Ganze als in Raum und Zeit zusammengesetzt und als Produkt erscheint. Das Allgemeine des Gattungswesens tritt so als Produktionsgesetz desselben auf. Hegel und Marx haben dies jeweils primär gesellschaftlich (Staat und Ökonomie) aufgefaßt, Lorenz und sein Kreis faßt dies (hierin eine Köpfung der Naturphilosophie Schellings) allein als Produkt der natürlichen
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Evolution auf. Das Individuum und sein Allgemeines wird aber da wie dort zwischen Individuum, Mitwelt und Umwelt vermittelt. Die Aufklärung der Aufklärung führt also nicht durchwegs von der Frage nach der Natur des Menschen weg, sondern relativiert diese Frage historisch, soziologisch und evolutionstheoretisch. Der klassische Humanismus als Emanzipation des Menschen vom verfälschten Dogma einer äußerlich gewordenen Kirche läuft in Gefahr, nach den Kritiken am Subjekt der rationalen Metaphysik der Aufklärung letztlich jeweils bloß den einen Zwangscharakter gegen den anderen getauscht zu haben. Nunmehr droht die unkritische Vorbildhaftigkeit der mathematischen Naturwissenschaft in erkenntnistheoretischer Hinsicht bei allen Verdiensten dieser Entwicklung in Hinblick auf Methodengewißheit das Zentrum der philosophischen Anthropologie aus dem Auge zu verlieren — der Mensch selbst als vernünftiges (der Vernunft fähiges) Individuum wird derart nur abermals zu einer bloßen Illusion der Metaphysik erklärt. Was fehlt, um dieser Falle zu entgehen, ist in der erkenntnistheoretischen Fragestellung zuerst die Bestimmung des Horizontes des jeweils als Grundlage der Epistemologie angegebenen Zeitmodus (vgl. das Ungenügen der Darstellung des Regressus durch Kant hinsichtlich Kosmologie, Phylogenetik und Ontogenetik in den Diskussionen der Antinomien der theoretischen Vernunft) und zweitens die Bestimmung des Verhältnisses der Stellung des Menschen einmal als Voraussetzung von Wissenschaft und einmal als Produkt der Gegenstandsbereiche dieser Wissenschaften. Allerdings führt die Stärkung der Stellung des Individuellen gegenüber dem Allgemeinen einer von wo anders als aus der historisch-empirischen Erfahrung als Individuen hergenommenen Idee vom Gattungswesen mitnichten von selbst zu einer dem Menschen zuträglichen Vorstellung der Gesellschaftlehre; hierin den Konzepten einer substantialen Sittlichkeit ähnlich, die in den Verallgemeinerungen des Gattungswesens als Sozialwesen ihrerseits nur allzu leicht einer Tendenz zur Ideologisierung in der Tradition der politischen Theologie oder des Bewegungsgedankens der pietistischen Gemeinde aufsitzen, die dem Individuum die Norm zum Individuum-sein positiv vorschreibt. Vielmehr hat diese Verrückung des Menschen ins Zentrum der Aufmerksamkeit zur Vergegenständlichbarkeit im systematischen Mittelsein sowohl der politischen wie der ökonomischen Zweckrationalität geführt und erst seine Natur fraglich werden lassen.
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Insofern ist auch für eine gelungene geschichtsphilosphische Analyse Voraussetzung, die jeweilige Defizienz gegenüber den Ansprüchen einer philosophischen Anthropologie relativ und universiell verschieden bestimmen zu können. Die eigentliche Schwierigkeit bleibt allerdings auch dann noch die Antwort auf die Frage nach der die Norm vorschreibende Natur des Menschen vor dem Hintergrund der dem Menschen zunehmend äußerlich bleibenden Bedingungen der Vergesellschaftung als Gattung — zweimal gefragt: als Individuum (Mitwelt) und als Gattung (Umwelt) — zu finden, bevor der Kreisgang mit der angemessenen Fragestellung nach der Stellung des Menschen geschlossen werden kann: eben nicht allein als kosmologische Frage nach dem Naturwesen sondern zuerst als historische, dann als politische Frage. Erst diese letze Frage vermag den Horizont des Menschen als freies Individuum innerhalb seiner eigenen Gattung angemessen zu umreißen. — Die Hauptgründe der Dynamik der überblickbaren Geschichte des Menschen sind nun in Politik und Religion, Organisation der Verwaltung und der Ökonomie zu finden. Erst in dieser vollständig äußerlichen Geschichte findet der Mensch seine ihm eigentümliche Äußerlichkeit als Verhaltensform(=Soziologie); somit auch erst die Bedingung der Möglichkeit einer konkreten Fragestellung nach seiner und nur ihm eigentümlichen Natur gemäß des fortwährend näher zu bestimmenden Gattungswesen zwischen Natur- und Kulturwesen, die in seiner innerartlichen historischen Dimension jedoch nicht zwischen Ontogenetik und Phylogenetik und deren ersten Verklammerungsformen in der Entwicklungspsychologie oder gar Evolutionstheorie (trotz eines gewissen Verfremdungspotentiales) aufgehen kann. Bevor man bei der Einzigkeit des eigenen Individuums oder der eigenen Art angekommen ist, müßte noch die historisch-verallgemeinbare Eigentümlichkeit des je individuellen Verständnisses von Gesellschaft und der eigenen Vergesellschaftung kultursoziologisch in den Blick genommen werden.
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2. PHILOSOPHISCHE POLITIK ? Kommentar zum Aufsatz
»Vom Gattungswesen zum Geist. Metamorphose beim frühen Hegel und beim jungen Marx« M. Benedikt, Wien 1992
Das erste Kapitel ist eigentlich keine Einleitung oder Einführung zur Lektüre des Aufsatzes von Professor Michael Benedikt, sondern bloß das Verzeichnis meiner erst allmählich einsteigenden Lektüre einerseits und der dazu ergänzend gemeinten Kommentare und aus meiner Sicht weiterführenden Überlegungen andererseits. Da ich bislang nicht imstand war, eine wirklich bessere Hinführung zu der m. E. zentralen Problemstellung zu verfassen, die hier erst ab dem zweiten Kapitel (das Gattungswesen als Garant des vinculum substantiale) zur Diskussion gestellt wird, auf eine Hinführung aber nicht verzichtet werden kann, habe ich es dabei belassen.
a) Die Ideen von Gesellschaft und Gattungswesen: Polis und communio primavea »Der Verlust des vinculum substantiale im Sinne des Bandes achtungsvoller Liebe wird durch die Dialektik der Anerkenntnis suppliert.« (S. 99) — Meint Benedikt mit der Dialektik allein die Wechselseitigkeit der Anerkenntnis zwischen wir und sie an Stelle der gemeinsamen, aber einfachen Anerkenntnis eines uns, die auch bei aller Gemeinsamkeit subjektiv bleibt? Oder ist die Dialektik doch schon zugleich der Titel der Überwindung der objektiven Demütigung des einen, welcher der subjektiven Erhabenheit des anderen schon in der achtungsvollen Liebe vorauszugehen habe und erst in der Wechselseitigkeit wirklich zur Anerkenntnis des uns wird? Wohl nicht: Die flüchtige Anerkenntnis der Liebe kann sich komischsatirisch auflösen (S. 100); nicht aber die Übernahme des Familiengutes in den Populationsverband. Hier noch auf der Stufe des Clans vorgeführt als Zwischenstufe vom Frieden auf den Krieg zu; also als Einsatz des privilegierten Wohlstandes im Krieg (zuvor eben immer als Einsatz der Mittel in den Kriegsvorbereitungen). — Demnach ließe sich Demütigung wie Erhabenheit nur in der Liebe komisch-satirisch auflösen. Hingegen wird die negative Anerkenntnis zum
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Ausgangspunkt aller gesellschaftlichen Dynamik (Hegel). (Bd. 67 PhilBibl,. 246) Hegel scheint hier romantisch das Hobbesche Diktum mit — der nunmehr bürgerlichen — Ritterlichkeit (die verbleibende Erinnerung der bleibenden Demütigung durch den Adel) auszuschmücken und positiv auffassen zu wollen. Ein politisch-pragmatisches Prinzip der Staatenlehre — die Anerkenntnis zwischen Souveränen — wird so zugleich zum Prinzip der transzendentalen Anthropologie erhoben. (S. 101) Vgl. den Hinweis auf M. Riedel: Eher Hobbes als Rousseau. Benedikt: Gleichwohl bricht die Rousseausche Konzeption einer — von Kant bis in den Charakter der Gattung weitergeführten — communio primavea als Voraussetzung aller communio mei et tui originare vehement durch. — Deshalb halte ich zunächst die communio primavea zwar als eben diese ursprünglich bleibende Voraussetzung der Anthropologie, doch bleibt ja die Grenzbestimmung derselben mit vielen Fragen behaftet. Zwei davon vermag ich anzureissen: Erstens, die reine Selbstbezüglichkeit setzt sich selbst als Identität und ihre Positionen von Ich und Nicht-ich als innerpersonales Ich und Du nicht als wirklich voneinander unterschieden, zweitens bleibt so die communio mei et tui originaria als Form einer jeweils erlebbaren Innerlichkeit neuerlich abstrakt und — allerdings nur vermeintlich — der Schlüssel zu jener Hintertür, durch welche sich die Autarkie (wenn schon nicht individuell, dann als personalisiertes Staatswesen) als Illusion wieder einstellt. Es wird noch zu entscheiden sein, ob der Begriff vom Gattungswesen mehr umfaßt als die jeweils erreichbare empirische Faktizität. Vermutlich ist auch die Natur des Gattungswesens als urwüchsiges Substrat nicht bloß die ursprüngliche Unzivilisiertheit des Neugeborenen, sondern gerade das, was Natur und Geschichte aus uns gemacht hat. Nur fällt demnach nicht nur das ewig gattungsmäßig Gleiche, welches die jeweiligen historischen Formen der Konstitution anerkannt hat und mitzutragen imstand ist, sondern auch jene jeweiligen Konstitutionsformen, die nicht nur in der Generationsfolge, sondern auch quer zu dieser in der Einseitigkeit verharren, nichts destotrotz aber aktuell mit konstituierend sind, unter das empirisch Allgemeine des
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jeweiligen Begriffes vom Gattungswesen, muß aber gerade deshalb nicht unbedingt schon unter dem Begriff natürlicher Vergesellschaftung fallen. (S. 101 u.) Hegel: Eine polis, das Volk, repräsentiere das Ganze vor den Teilen (vgl. hingegen die obige Skizze des Verhältnisses von communio primavea und communio mei et tui originare). — Dazu denke ich, daß das Ganze, wenn es das Volk sein soll, nicht Individuen als Teile hat, sondern Volksteile oder zumindest Familien. Überhaupt ist zu zweierlei zu fragen: erstens inwieweit hier der Begriff des Volkes, zumal unter der Idee der polis stehend, von der Staatsidee und der territorialen Integrität abgetrennt werden kann, und zweitens, ob die ideal zu erwartende Unabtrennbarbeit bedeuten muß, daß die empirische Aquipollenz dieser Begriffe als bonum zu fordern ist. (S. 102) Castoriadis: Nach Hegel sei es (historisch) konsequenter, darüber hinaus den gezähmten universiellen Gemeinsinn im Sinne Tocquevilles zu bedenken. Das führe aber nur zur Anerkenntnis des Gattungswesens in der »Konstitution« als Herrschaft der Gewalt. Benedikt: Das ist aber unter Umständen weniger als die Anerkennung des Gattungswesen im Übergang in den manifesten Gesellschaftsvertrag. — Damit hat Benedikt wohl recht, doch: was bedeutet das? Zweifellos wird hier mit Tocqueville der Unterscheidung in Gesellschaft und Staat ein Anlaß gegeben. Doch soll der gezähmte universielle Gemeinsinn zumindest historisch die »Konstitution«, also, im weiteren Sinne Hobbes verstanden, die Unterwerfung voraussetzen. Und zwar nicht nur, um das Bewußtsein von lokalen Gewohnheiten zum Bewußtsein von regionalen Gewohnheiten zu erweitern, sondern um erst aus lokalen Gewohnheiten regionale Gewohnheiten (Charaktere) zu machen. Dieser eher historischen Betrachtungsweise wird nun das Prinzip der künstlichen Konstruktion einer Zentralgewalt gegenübergestellt, die einerseits der natürlichen »Konstitution« eine Möglichkeit der Rechtfertigung als Naturprozess, der als solcher in seiner Notwendigkeit eingesehen werden kann, gibt, und andererseits aus dem natürlichen Sinn, der der bloß empirischen »Konstitution« im Nachhinein abgewonnen werden kann, der politischen Gewalt mit dem Prinzip ihrer Rechtfertigung zugleich das Prinzip ihrer Beschränkung auf eben ihre überindividuelle Bedeutung als sittlichen Maßstab vorhält. Dabei geht es auch um die allmähliche Ersetzung der theologischen Legimitation durch rationale
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Legitimation unter dem Mantel des äußerlich aufrechterhaltenen Gottesgnadentums. Auch die Vertragstheorie als nächster Schritt dieser Rationalisierung der Gewalt der Vergesellschaftung wurde zunächst nicht konkret als historisch-empirische Faktizität aufgefaßt, sondern von Pufendorf ganz bewußt als Konstrukt historischer Möglichkeit, um Prinzipien der Staatswerdung zu demonstrieren. Pufendorf ist insofern ein Vertreter der Vertragstheorie, als er die Väter der Familien und ihren Zusammenschluß in moderater Form der Hobbschen Idee für die Legalität der zentralen Staatsgewalt voraussetzt. Damit erst ergibt sich die Möglichkeit einer allgemeinen Rechtssphäre, die dann auch das Individium aus dem Familienverband verteidigt (zunächst gegen andere Familien, dann auch gegen Übergriffe in der Familie). Ob dies historisch so gewesen ist oder nicht, berührt die Vertragstheorie selbst nicht. Worauf ich damit hinweisen will, ist, daß auch von der Rechtsphilosophie aus der Engpass einer zentralen Gewalt, die selbst in ihren Entscheidung unabhängig von den Familien (unparteiisch) sein können muß, bewältigt werden muß. Ohne Souveränität nach innen nicht nur bedrohte Souveränität nach außen, sondern auch eine bedrohte Rechtslage im inneren. Die Vertragstheorie hat aber dazu noch die Schwierigkeit an sich, den Grund einsichtig zu machen, weshalb die Söhne und Enkel der Zustimmung ihrer Väter folgen sollten. Das ist aber nicht wenig paradox: zuerst wurde die Vertragstheorie dazu benutzt, um den gefährdeten Frieden zwischen zentraler Staatsgewalt und dem Volk durch die rationale Einsicht gegenseitiger Abhängigkeit zu sichern, nunmehr wird die so oder so historisch gewordene Vertragstheorie zur Absprungsbasis der Enkel, den Gesellschafts- und Generationenvertrag zu bezweifeln. Das hat zwei gegenläufige Gründe: Erstens ist die Stelle der »Väter« innerhalb der »Familien« durch die Rationalisierung der zentralen Staatsautorität inzwischen dem gleichen Rationalisierungsprozess ausgesetzt worden und zweitens gehören die »Väter« nunmehr nicht länger allein zur »Familie« sondern geraten, zumindest im Modell des Gesellschaftsvertrages, in die Nähe zum Kabinett der Staatsautorität. D.h., die Interessen der »Väter« decken sich nicht mehr (oder nicht mehr primär) mit den Interessen der »Familien«, sondern sind selbst schon dem Allgemeininteresse unterworfen.
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Soviel zur immanenten Schwierigkeit der Vertragstheorie, die bis in die Familie reicht. Unbestritten bleibt aber der Fortschritt, der von Pufendorf gegenüber Hobbes gemacht worden ist. Offensichtlich reicht die Kontrolle der Staatsautorität durch die Vernunft aller Entscheidungsträger alleine nicht aus; es muß noch der Mechanismus der Gesellschaft selbst entschlüsselt und unter die Kontrolle der Vernunft gebracht werden: (S. 103) Kojève: Die Fixierung auf die abstrakte Tauschform abstrahiert von den partikularen sozialen Figurationen. Benedikt fordert eine Gleichbehandlung von Technik, Arbeitsteilung, Institutionen (etc.), um alle Relationen des erweiterten Gattungswesen zu entwickeln und so auch das urwüchsige Substrat des Gattungswesens zu zähmen. — Zwischenresumée: Die Kantsche »anthropologia transcendentalis« als relationale Struktur von abstrakter Technik, abstrakter Arbeitsteilung und abstrakter Tausch (S. 96) wäre so nicht als Zusammenfassung der Teile des Volkes (des Staates) zu verstehen möglich (S. 101; eine polis, das Volk, repräsentiere das Ganze vor den Teilen). Geht man nun nicht von einem bereits durch ein überwertiges Individuum ursurpierten Ganzen der Gesellschaft (der König als Mittler zwischen Gott und Volk), sondern von der Normalidee eines Individuums aus (vor Gott sind alle Menschen gleich), dann müßte zuerst ein als Konkretes denkbares allgemeines Gefüge des Tausches, der Produktion und des technisch-praktischen Wissens im Verhältnis zu allen anderen Wissensformen grundgelegt sein, was die abstrakte Struktur des mit dem Menschen je mitzudenkenden Relationsgerüstes bereits allgemein im Rahmen einer scientia generalis bestimmen lassen würde. Ein solcher abstrakter Gedanke vom Universum als Vermögen des Menschen wäre aber kein Begriff mehr, der im Rahmen einer transzendentalen Anthropologie auf distributive Allgemeinheit Anspruch erheben könnte. Wie dem aber auch immer sei, daß Kant mit den die konkreten Beziehungen abstrahierenden Relationsarten gleich alle Bedingungen der Möglichkeit ihrer institutionalisierten Form in die transzendentale Anthropologie aufgenommen habe, muß ausgeschlossen werden. Sicherlich sollte wohl gerade die transzendentale Anthropologie nicht dafür geeignet sein, daß aus ihr, je nach empirisch feststellbarer Defizienz, alle Gesellschafts- und Staatsformen deduziert werden könnten.
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Insofern wäre gewissermaßen (frei nach Luhmann) die philosophische Anthropologie nur die Umwelt aller möglichen komplexen sozialen Systeme. Dies ist der erste Punkt, den ich festhalten möchte, bevor man zum entscheidenden Argument (das Gattungswesen als Fundament des vinculum substantiale) weitergeht.
b) Der Übergang von communio primavea zur communio mei et tui originare reicht nicht zur Konstitution der Produktions- und Tauschrelationen Entscheidend ist also, daß nunmehr die Verfassung politischer Machtverhältnisse nicht mehr allein zureicht, die Gesellschaft vernünftig zu organisieren, sondern im Übergang von familiärer Struktur zu öffentlichrechtlicher Struktur befindlich, im Rahmen einer öffentlich und manifest als arbeitsteilig organisierten Gesellschaft auch das Verhältnis der politisch ursprünglich gegenüber der Staatsautorität gleich bedeutsamen Teile der Gesellschaft untereinander in Betracht zu ziehen ist. Damit wird das Verhältnis von communio primavea und communio mei et tui originare selbst zwar nicht umgedreht, aber doch das Verhältnis des Individuums zur Staatsautorität in den Hintergrund gedrängt. Nunmehr beginnt die communio mei et tui originare über die Qualität der communio primavea zu entscheiden, auch wenn dieser, sei sie zustandegekommen wie auch immer, der ontologische Vorrang genetisch unbestritten bleibt.
(S. 114) »Der Motor dieses Gattungswesens, als reale Begierde vom Marx der Jahre 1843-1845 mehrfach ambigue mit Genuß oder Geist angesprochen, gerät allerdings in den logisch-strukturellen Alternativen der Entfremdung in eine mißliche Lage: Die Strukturdifferenz im Sinne des Eigennutzes (Wir haben jeder nur für uns produziert) und der Entschlüsselung und Überwindung der Entfremdung (Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert) gerät zwischen Extremen nochmals in die Fänge der real abgeleiteten naturalistischen Logik und Dynamik des sich verkehrenden gesellschaftlichen Genusses (Geistes). Marx dreht also Hegels redupliziertes »Im-anderen-bei-sich-Sein« als Selbstgenuß des Geistes, Hegels Prinzip
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naturalistischer Logik, selbst dann nicht um, wenn er das individuierende geschichtsträchtige Ensemble des Gattungswesens aus der Dialektik des Geistes herauslöst, um ihm seine praktische reale Dialektik zuzumuten und zu retournieren. Das neue, von Hegel nur mehr geahnte, weil verratene und von Marx neu statuierte Wechselverhältnis der logischen Strukturen von gesellschaftlicher Selbstbezogenheit und gesellschaftlicher Fremdbezogenheit bleibt ein Rollenspiel und verliert aus seiner Mitte sogar die anthropologische Dimension, was Natur, auch Geschichte aus uns gemacht hat. Das Schlußwort der gelungenen realen Mitte gegenüber den beiden in sich differenzierten Potenzen des systematisch-dynamischen Eigennutzes (...) hier und der universiellen menschlichen, weil überall freigiebig im Tausch oder individuierenden Variationen des Gemeinnutzes da, manifestiert und fixiert sich in der Spiegelmetaphorik gesellschaftlicher Selbstbezogenheit: „In deinem Genuß hätte ich unmittelbar den Genuß (...) Mittler zwischen Dir und der Gattung gewesen zu sein (...) Unsere Produktion wären ebensoviel Spiegel, worin unser Leben sich entgegenleuchtet“ (Pariser Manuskripte, S. 180).« »Es fehlte ihm also Methode und Konzept, die Differenz zwischen der Darstellung gesellschaftlich-realer Verhältnisse, also den wirklichen Verhältnissen (eben auch der sich der Darstellung des Ideals entziehenden historischen Situation) einerseits und den Strukturen anthropologischer Relevanz andererseits zur befreienden Gestaltung des Gattungswesens zu exponieren.« (vgl. S. 115, 3. Abs.) — Benedikt scheint also auf die vorhin meinerseits angebrachten Bedenken insofern Rücksicht zu nehmen, indem mit der letzten Unterscheidung zumindest die Unterscheidung von transzendentaler Anthropologie und Gesellschaftslehre auf ähnliche Weise wie vorhin von mir bedacht worden ist, als daß die transzendentale Anthropologie nicht alle möglichen Gesellschaftsformen (Institutionen, institutionalisierte Relationen) analytisch enthalten kann. Allein damit ist aber eben nur abstrakt zwischen Ideal und Wirklichkeit zu unterscheiden, vielmehr sollte im Fortgang deutlich werden, wie jeweils die Bedingungen zur Darstellung des Ideals die wirklichen Verhältnisse (ansonsten keine Möglichkeit der Beschreibung des Ideals gegeben wären) und die Bedingungen zur Darstellung der wirklichen Verhältnisse ein Ideal (ansonsten keine normierenden Vorschriften zur
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Darstellung gegeben wären) voraussetzen. Das allerdings erfüllt noch nicht das transzendentale Ideal, das die empirische Möglichkeit des bonum behaupten kann. Wie das Gattungswesen als vinculum substantiale zu denken sei, wird im Schlußsatz des obigen Zitats von Benedikt angegeben, allerdings handelt sich dies hier nicht um die gelungene »reale Mitte« gegenüber der beiden sich differenzierenden Potenzen des Eigennutzes hier und des Gemeinnutzes da, sondern um die selbst »formal« ideal bleibende Idee des Substrates des individuierenden Gemeinnutzes (Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert). Das vinculum substantiale des Gattungswesens wäre demnach zwar abermals auf den vorausgesetzten Eigennutz gegründet (vgl. Pariser Manuskript, S. 180, 1, MB, S. 111), doch dieser Eigennutz ist ein anderer als jener, für den gilt, wir haben nur für uns produziert, denn nunmehr bedeutet Befriedigung erst gesellschaftlichen (geistigen) Genuß und nicht den unmittelbaren materiellen (eventuell privilegierten gemeinschaftlichen) Genuß des Produktes. Die Denunzierung des geistigen Genusses, nicht nur die nicht geleistete Umkehrung der Verhältnisse des Selbstgenusses bei Hegel ist Teil des Problems; die Frage nach den konkreten Formen der Relationen und Institutionen wird damit aber so oder so noch nicht gelöst. Damit ist wohl nicht selbst die »reale Mitte« gelungen, doch aber die erste Vorbedingung erreicht, diese zumindest denken zu können: Das heißt aber nur, daß damit überhaupt erst ein Beginn gesetzt worden ist, der vorauszusetzten ist, auch die Wechselseitigkeit dieser Beziehung im Selbstgenuß als Mittler zu bedenken, die erst in der realen Auseinandersetzung der Klassen — also im Wechsel von Demütigung und Erhabenheit — zum kollektiven Erfahrungsgegenstand wird. Trotzdem halte ich den vom »philosophischen« Marx vorgestellte Selbstgenuß im Geiste als eine gültige Interpretation des vinculum substantiale. Aber während als vinculum substantiale ideale des Gattungswesens der Produzent in den Genuß kommt, mittels seines Produktes selbst am Mittler-sein zwischen Sich und den anderen, der das Produkt genießt, einerseits und am Mittler-sein zwischen den anderen und dem Gattungswesens andererseits, schließlich zwischen sich und dem Gattungswesen eben dadurch Anteil zu haben (also alle Glieder selbst Teile des vinculum substantiale sind; dieses also nichts anderes als die reale
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Ganzheit des Gattungswesens in monadologischer Perspektive), ist das vinculum substantiale ideale des reinen Marktes nichts als die Bestimmung des für sich abstrakten Tauschwerts über die Summe der Abstimmungen, die selbst jeweils über den subjektiven empirischen Gebrauchswert stattfinden. Insofern ist die Existenz des Marktes eine reduzierte Fassung des vinculum substantiale, weil der abstrakte Tauschwert am Markt ebenfalls als Spiegel dient, allerdings nicht des Gattungswesens, sondern des abstrakten Tauschwertes als abstraktes Wesen des Wertes (pretium) einer strikt als produzierend und tauschend organisiert gedachten Gesellschaft. Diese Perspektive kann nicht wegen der an sich zu recht bestehenden Kritik an den Beschränktheiten dieser Perspektive aus dem Modell der Gesellschaft eliminiert werden; und das nicht nur, weil die realen politischen Machtverhältnisse dies nicht erlauben würden (bzw. auch nach einer Revolution nicht vollständig zerschlagen werden könnte), sondern weil die Ökonomie ein wesentlicher Bestandteil des gesellschaftlichen Prozesses ist. Daß diese selbst im wesentlichen eine kapitalistische Ökonomie ist, halte ich für großflächige und komplexe urbane Gesellschaften noch für einige Zeit nicht für veränderbar, wobei noch zu bedenken ist, daß die Modelle nichtkapitalistischer Ökonomie nicht nur kleinregional und nur mit geringem Außenhandel denkbar sind, sondern auch die Tendenz besitzen werden, die allgemeinen öffentlich-rechtlichen Strukturen über den ökonomischen Bereich hinaus zu verengen. Allerdings bedeutet diese reduzierte Fassung auch nicht mehr jenes »Wir haben nur für uns produziert«, aber auch nicht das Ganze irgendeiner Gesellschaft, sondern nichts anderes als nur das Ganze des Marktes. Die Metaphorik Marxens beruht hier jedoch nicht auf Verhältnisse einer entwickelten Industriegesellschaft, in der die Wahl zwischen verschiedenen Produkten gleicher Gattung flächendeckend gewährleistet ist, sondern geht von einem nur gedachten Modell, wo die produzierende Gemeinschaft ihr Produkt im wesentlichen selbst konsumiert, aus. Die moderne Gesellschaft scheint aber nicht als Gemeinschaft zu produzieren (»Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert«). Es ist also die Frage zu stellen, wie der Umstand beurteilt werden kann, daß zwar diese Gesellschaft ökonomisch schon längst nicht mehr nach dem Grundsatz »Wir haben nur für uns produziert«
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funktioniert, aber gerade nicht nach dem Grundsatz »Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert« sondern nach den Prinzipien bloßer Marktgesetze. Der bloß erweiterte Egoismus des Eigennutzes einer abgeschlossenen Gemeinschaft wurde zunehmend vom vinculum substantiale ideale des Marktes verdrängt, anstatt zur »moralischen Verbesserung« der Gesellschaft zu führen. Zur Verwendung dieser leibnizianischen Idee eines Relationgefüges muß ich nachtragen, daß ich das vinculum substantiale hier als das Konzept von Kalkülen des Optimums im Sinne der Berücksichtigung aller Teile gemäß ihres Beitrags zum Ganzen betrachte. Wegen der Abstraktheit dieses Konzeptes ist es aber auch möglich, den Markt formal als Ganzes zu betrachten und dem vinculum substantiale aufgrund des formalen Modellcharakters das »ideale« zuzusprechen. Wird die Unterscheidung anhand des »ideale« zum vinculum substantiale reale aber dahingehend verstanden, daß das Ganze als qualitative Totalität aufzufassen ist, rückt die Konstruktion eines Kalküls wegen der Schwierigkeiten der Bewertung und Messung in weite Ferne. Noch dazu führt die Beanspruchung qualitativer Totalität des Ganzen zu einer weiteren Schwierigkeit: Der Beitrag eines Teiles zum Ganzen ist dann auch in der idealen Betrachtungsweise real zu nehmen und nicht ideal wie im Rahmen eines formal eindeutigen Modelles. D.h., die Qualität des Ganzen wird auch durch jene Qualitäten der Teile bestimmt, die nicht das Optimum des Ganzen befördern. Auch hier ist es einfacher, sich diese Verhältnisse anhand eines formalisierbaren Beispieles klar zu machen: so kann eine für die Aufrechterhaltung des Systemgleichgewichts des Ganzen störende Eigenschaft eines Teiles real durchaus dazu führen, daß dieses Ganze des Systems in Teilsysteme auseinanderfällt. Demgemäß kann die Tatsache, daß die Prinzipien des Marktes den als Prinzip des erweiterten Eigennutzes interpretierten Grundsatz »Wir haben nur für uns produziert« in der Ökonomie weitgehend verdrängt haben, auch dahingehend interpretiert werden, daß es das dem realen Gesellschaftsprozess angepaßtere Prinzip zur Organisation von Gesellschaft ist. Darüber hinaus ist weder das vinculum substantiale ideale als Relationsgefüge qualitativer Totalität widerlegt worden, noch endgültig bewiesen, daß die Prinzipien des Marktes — als vinculum substantiale
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ideale das Relationsgefüge formaler Totalität — nichts anderes als eine Verfallsform der qualitativen Totalität sind. Die Einseitigkeit der Marktprinzipien als Grundsätze der Organisation der Gesellschaft bleibt zwar unbestritten, doch kann allein daraus die Möglichkeit zur weiteren Entwicklung der Gesellschaft nicht beurteilt, sondern eben nur ein Istzustand bewertet werden: womöglich ist die Abfolge Reichsbildung, Imperialismus und Kapitalismus notwendig, um diejenigen Institutionen zu entwickeln, die erst erlauben, vom Ganzen der Menschen nicht nur ideell sondern überhaupt einmal reell zu denken. Das oben formulierte Problem besteht doch auch darin, daß mit dem Gattungswesen im »Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert« nur das Ganze aller Menschen und nicht nur eine Nation oder ein Kulturkreis gemeint sein kann. Als erstes Indiz für die Annahme, die Prinzipien des Marktes würden bei aller Einseitigkeit unter anderem doch auch im Sinne der Optimierung des Ganzen wirksam, wird traditionell der Zusammenhang von Öffentlichkeit und Handel und von Öffentlichkeit und den künstlichen Formen politischer Willensbildung genannt. Ob allerdings bloß das — selbst nur ideal zu denkende — Verhältnis von Recht und Politik einerseits und von Markt und Politik andererseits ausreicht, selbst schon das Konzept des vinculum substantiale ideale im Sinne des Anspruches auf Optimum der qualitativen Totalität zu einem Handlungskalkül zu entwickeln, muß bezweifelt werden. Im Zusammenfallen von qualitativer Totalität und Optimum (ideal als quantitas perfectionis) wird der ontologische Gottesbeweis im Hintergrund sichtbar. Im Auseinanderfallen bleibt allerdings die unbeantwortete Frage nach der Bestimmbarkeit eines Handlungskalküles selbst ohne antwortendem Glauben, welcher über die bloß private Gelingbarkeit eines Tausches, mit welchem der Produzent sich im Produkt als Mittler des Gebrauchers mit dem Gattungswesen wiedererkennt, hinausreicht. Diese private Gelungenheit aber war eben auch in der familiären Organisiertheit einer Gemeinschaft — also nicht einmal innerhalb der Grenzen des erweiterten Eigennutzes — durchaus nicht zu garantieren, sondern wurde zur Angelegenheit einer selbst noch privat bleibenden Tugendlehre.
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c) Der Mangel der Idee der Politik als gemeinschaftlicher Willensausdruck und die Künstlichkeit der Relationen Wie Benedikt also deutlich macht (und Castoriadis gezeigt hat) umfaßt das vom philosophischen Marx umrissene vinculum substantiale des Gattungswesens Produktion und Tausch, aber nicht die Bedingungen gesellschaftlicher Institutionen überhaupt. Will man sich noch bei der idealen Darstellung der anthropologischen Prinzipien Marxens aufhalten, die das Ich des Formulierers als Lehrer, den Gebraucher des Produktes als Schüler in Hinblick auf die Hinführung zum Ausblick auf das Gattungswesen vorstellen lassen, so hätte sich Marx doch anthropologisch nicht über Hegel hinausbewegt; also zwischen der Analyse nicht nur der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern auch der ökonomischen Gesetze, welche die lebensweltliche Wirklichkeit immer schon bestimmt haben, einerseits und anthropologischen Anspruch andererseits nur die Kluft sichtbar gemacht, nicht aber für dieses Dilemma einen grundsätzlichen Lösungsansatz vorgeschlagen. Vielmehr geht Marx desweiteren in die Analyse der Besitzverhältnisse der Produktionsmittel, die zu einem System verschiedener Märkte führt. Für die Ökonomie — auch als Gesellschaftswissenschaft — wird die Analyse deren Wechselbeziehungen entscheidend; Marx dürfte anfangs die Bedeutung des Marktes von Unternehmen (bereits als Einheit von Produktion und Marktbearbeitung) und des Finanzmarktes unterschätzt haben, obgleich gerade die Analyse der Entwicklung des Finanzmarktes später zu seinen bleibenden Arbeiten zum Kapitalismus gebleiben sind. Benedikt setzt die Untersuchung hier noch ein Stück weit fort und skizziert die aufsteigende Reihe von individuellem Eigennutz und Gruppenegoismus zum Gattungswesen: Sofern in Hegels Entwürfe von 1803-04 (den zum Staat konservierten Volksgeist) »noch die Dynamik des Gattungswesens mit im Spiele ist, handelt es sich für unsere Interpretation aber ein mehrfaches Durchbrechen des Geistes als Selbstgenuß und dessen „wiederholte Spiegelung“ in gesellschaftliche Bande der Geschlechterverbindung, der Gemeinsamkeit eines Volkes in Territorialbesitz, Sprache, Arbeit und Stammesgemeinschaft, sowie mit Bezug auf die Divergenzen und Assoziationen der Rassen und Völker im Wettlauf wie immer gebrochen
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durch die künstlichen Relationen von Arbeit, Tausch und Anerkenntnisses des Besitzes. Während sich darin „Gattungswesen“ in „wirklichen Geist“ auflöst, bleibt das Substrat, die in Arbeits- und Geschlechtslust zu befriedigende Begierde nun der Dialektik des bloß einseitigen Werdens zu sich (ohne Logik des Von-sich-Absehens) ausgeliefert.« (Benedikt, S. 113, Hvh. v. GWC) Abermals bezeichnet Benedikt die Schwierigkeit genau: Die Schwierigkeit ist nicht länger, die seit Leibniz standartisierte Aufstufung der Gemeinschaften zum Optimum des Verhältnisses von felicitas publicas und beatitudino zu führen (worauf sich wohl selbst der arkane Leibniz beschränkt haben dürfte), sondern daß diese zuerst innerhalb der Nationen, schließlich auch zwischen den Nationen, durch die »künstlichen Relationen von Arbeit, Tausch und Anerkenntnis des Besitzes« gebrochen sind. Hier scheint sich aber auch ein traditionelles Mißverständnis bemerkbar zu machen, indem die »Künstlichkeit« der Relationen vielleicht zu sehr unter dem Aspekt der Gegenüberstellung von Effizienzsteigerung des Staates des aufgeklärten Absolutismus und Aufklärung als Emanzipation des Individuums in den Blick genommen wird, während der Beitrag dieser (künstlichen) Umgestaltung des Familiären zum Öffentlichen für die Verrechtlichung unterbewertet scheint. Zwar ist die pädagogische Idee, daß die Umgestaltung des veralteten Ständestaates im Zuge der Effizienzsteigerung von Verwaltung und Wirtschaft zugleich die geistige Entwicklung des Menschen als Teil des neuen Staates des aufgeklärten Absolutismus befördere (während zuvor nur Familien Teile des Volkes sein konnten), selbst von den Zeitgenossen nicht lang ernsthaft in Betracht gezogen worden, aber ohne der Auflösung der ständischen Rechtsstruktur ist nicht nur eine zentrale Verwaltung unmöglich (deren organisatorische Vorteile für überregionale Wirtschaftsräume hier nicht nochmals eigens diskutiert werden können), sondern auch die Errichtung einer republikanischen Verfassung. Auch das Prinzip der Gewaltentrennung kann erst nach einer Zentralisierung, zumindest aber Vereinheitlichung der Verwaltung allgemein auf gleiche Weise für alle Bürger wirksam werden. Allerdings enthält zumindest Marxens Darstellung des Geistes als gesellschaftlicher Selbstgenuß doch, wenn auch nicht ausdrücklich, das Moment des Von-sich-absehen-könnens, gerade indem er darauf verzichtet,
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der Idee der »realen Mitte« ein Kalkül der wechselseitigen Verbindlichkeit zu geben: jeder nach seinen Fähigkeiten und jeder nach seinen Bedürfnissen. Daß diese ideale Forderung von einer konkreten und strikten Verbindlichkeit der Wechselseitigkeit absieht, muß doch heißen, daß diejenigen, die geringe Bedürfnisse und große Fähigkeiten haben, von der konkreten Erfüllung der Wechselseitigkeit, also von ihrem konkreten Eigennutz, absehen. Freilich sehen sie nicht vom geistigen Genuß, für einen anderen produziert zu haben, ab. Jedoch ist in der Tat abermals zu fragen, ob die philosophische Kritik nicht die fatale Neigung hat, das individuelle Tugendideal als eben bloß individuell bleibende Norm gelungener Vergesellschaftung vorzustellen. Oder philosophiehistorisch gleich kritisch formuliert: Zeigt nicht gerade die Interpretation des jungen Marx des vinculum substantiale ideale als Gattungswesen jene Schwäche Leibnizens auf, womöglich nicht verhindern zu können, daß eben das Optimum zwischen felicitas publica und beatitudine erstens bloß bürgerlich im objizierten Selbstgenuß der Erhabenheit seiner selbst als Verleiblichung des ideal gesetzten Gattungswesens aufgeht, und zweitens nochmals andauernd gefährdet ist, zum bloßen nationalen, regionalen, stammesgeschichtlichen Gruppenegoismus zu degenerieren? Die Schwierigkeit, die Benedikt im letzten Satz des obigen Zitats skizziert, dürfte aber unhintergehbar sein: »Während sich darin „Gattungswesen“ in „wirklichen Geist“ auflöst, bleibt das Substrat, die in Arbeits- und Geschlechtslust zu befriedigende Begierde nun der Dialektik des bloß einseitigen Werdens zu sich (ohne Logik des Von-sich-Absehens) ausgeliefert.« (S. 13) Das heißt, daß das Individuum seine öffentlichen und familiären Rollen nicht (mehr?) mit der Intimität der Vollzugsakte zusammenbringt. Konnte aber jemals ohne Symbole die glückliche Übereinstimmung von Tätigkeit und Betrachtung garantiert werden? Vielmehr hat die Vereinzelung des durchschnittlichen Individuums, eingeleitet durch sein nunmehr öffentliches Verhältnis als Bürger zum Staat, nur ein immer bestehendes und auch immer bestehen bleibendes, also existentielles Problem allgemein (kollektiv) zu Bewußtsein gebracht. Nur in der Betrachtung greift der »wirkliche Geist« über das Individuelle in die Gesellschaft hinaus, in der Tätigkeit bleibt das Individuum bei sich und seinem Gegenstand; gleichgültig wie das Verhältnis zum Gebraucher des Produkts reell auch immer hergestellt wird.
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Nun ist bemerkenswert, daß Benedikt von den künstlichen Relationen von Arbeit, Tausch und Anerkenntnis des Besitzes spricht (S. 112), die transzendentalanthropologische Relationen aber mit abstrakter Arbeit, abstraktem Tausch und abstrakter Technik bezeichnet worden sind (S. 96). Abgesehen davon, daß einmal von Anerkenntnis des Besitzes und andermal von abstrakter Technik (immerhin der Besitz von Vermögen, vgl. auch Lockes Übergang vom Kollektivbesitz zum Privatbesitz durch Bearbeitung) die Rede ist, ist der erste entscheidende Punkt die Ursprünglichkeit der transzendentalanthropologischen Relationen gerade im Gegenverhältnis zu der nunmehrigen Künstlichkeit (Allgemeinheit) der Relationen der aufgestuften Formen sozialer Konfigurationen. Der zweite entscheidende Punkt ist die Beobachtung, daß allem Anschein nach gerade mit der Ablösung der einfachen Aufstufung der Gemeinschaftsformen in der Reichsidee durch das künstliche Relationsgefüge in der Staatsidee das letztere immer nur die jeweiligen Grenzen der Anwendung der abstrakten Relationen der Transzendentalanthropologie im Rahmen der im Zuge der künstlichen und damit auch der je historisch-empirisch verallgemeinbaren Relationen ist. Drittens aber setzt das als das vinculum substantiale fundierende Gattungswesen heute bereits einen globalen gesamtgesellschaftlichen Willen voraus (Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert) während a) gerade die Aufstufung in soziale Gemeinschaftsformen die bloß symbolische Organisation von Willensverhältnissen mit einschließt, b) es auch in der absolutistischen Fassung der Staatsidee dann nur mehr um die Willensverhältnisse zwischen Familien geht (Pufendorf), die um der Idee der Objektivität des Rechtes willen sich einer zentralen Gewalt unterwerfen, und c) schließlich erst eine demokratische verfaßte Republik die Organisation des politischen Willens aller Individuuen in die Wege leitet; das allerdings eben auch nur formal. Die Idee eines gemeinschaftlichen Willens bleibt also selbst schon nichts als Idee, welche die Brücke zwischen Gesellschaft und Gattungswesen mit der anthropomorphen Vorstellung eines real existierenden gemeinschaftlichen Willens herstellen soll, die aus den Verhältnissen der Familie, Gruppe, oder bestenfalls Gemeinde entsprungren ist.
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Nach alledem, was über die Natur in der fortgeschrittenen Vergesellschaftung des Menschen gesagt worden ist, wird deutlich, daß es sich um eine künstliche Natur handelt; insofern das Substrat eines immer nur politisch imaginierten Willensausdruckes. — Benedikt (S. 212): »Was fehlt, ist offenbar [...] die [...] gesuchte Strukturontologie der Übereinkunft, des xynon symbolischer Vermittlung (das vinculum substantiale Leibnizens).« Der Gegenstand der Politikwissenschaft (vgl. hier Anmk. 14), bei Aristoteles noch die Struktur der verschiedenen Arten von politischer Übereinkunft, fehlt offenbar genau im Sinne Aristoteles, doch gilt es hier festzuhalten, daß durch das Solonsche Ideal der griechischen polis die künstliche Natur der Gesellschaft überhaupt nach wie vor verdeckt wird. Denn für die Soziologie dürfte die künstliche Natur der Verwaltungsstrukturen (insbesondere im Steuerwesen und in der Ökonomie) der eigentliche Gegenstand der Reflexion sein. Die Frage nach den Formen der Übereinkunft als rethorische Problemstellung wären demnach erst die Propädeutik der Politikwissenschaft, welche die Rechtmäßigkeit von Gewalt wie die Rechtmäßigkeit von Widerstand, hier also insgesamt als die Rechtmäßigkeit der Normen der Handlungen der politischen Parteien untereinander, zu klären hat. Die Politikwissenschaft hat aber auch die Fragen der Institutionsformen zu regeln. Die Frage nach der gesetzgebenden Gewalt hat naturgemäß hier das erste Interesse der Philosophie. Meiner Auffassung nach zeigt sich gerade im Übersprung von Naturontologie zu einer Gesellschaftsontologie, die an Stelle der Vorstellung der Aufstufung in der »natürlichen« Vergesellschaftung nach deren rationalen Umgestaltung nunmehr die Prinzipien des Marktes als ihre Episteme ansieht, also selbst im Wechsel von einer biologischen zu einer physikalischen Metaphorik stehen bleibt, wieder der Schattenriss des Bandes zwischen Natur und Natur, wenn freilich auch die Innendifferenzierung zumindest der Gesellschaftsontologie als Band zwischen Individuen, welche ihr Substrat — das Gattungswesen — gemeinsam frei produzieren können, mit der bloßen Auflösung familiärer (patriachalischer) Strukturen nicht geleistet worden ist. Das aufdringlich bleibende Problem hat so zwei Komponenten: erstens die bedenkliche Vorherrschaft der Prinzipien des Marktes im Rahmen der epochal
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vorherrschenden Episteme der politischen Ökonomie und zweitens die Überforderung des aus seinen politisch irrelevant gewordenen privaten und individuellen sozialen Verhältnissen herausgelösten Individuums, das so seiner eigenen Symbolssprache bei der politischen Artikulation seiner unmittelbaren Interessen weitgehend beraubt worden ist.
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3. Metaphysische Anfangsgründe der Gesellschaftswissenschaften zwischen zwei Ursprünge der Beurteilungsprinzipien: Psychologie und Soziologie im Rahmen der philosophischen Anthropologie I. Zu den Erfahrungsgrundlagen Die Überlegungen gehen von zwei Ausgangslagen aus: Die erste ist charakterisiert durch das Interesse an der Bewußtseinstheorie im Übergang von Perzeption, Apperzeption und der Evidenz des Moralischen und Sittlichen zwischen Empfindung und Urteil. Die zweite Ausgangslage ist charakterisiert durch das Interesse an der Gesellschaftstheorie im Übergang von Soziologie, Ökonomie und Politik. Beide Horizonte zeigen einen Übergang in den Topoi der Werte, von welchen die genannten Systeme bestimmt werden; insbesondere die jeweils letzte Ebene, Moral und Politik, eröffnet einen Horizont der Diskussion jenseits der bloßen Nützlichkeitserwägungen im Horizont des Rückflusses von Investitionen. Schließlich ist der Wandel in der Auffassung Kantens bezeichnend, der sich schließlich in den Neunzigern zumindest die Umsetzung des sittlich als richtig Eingesehenen in der Gesellschaft ohne Gottes Hilfe nicht mehr vorstellen konnte. Derart stellt sich mir die traditionelle Aufgabe, aus der Psychologie der Vermögenslehre die Prinzipien der Logik, Physik und Ethik abzuleiten, aber auch die postidealistische Aufgabe, aus der Soziologie die Prinzipien der Logik, Ökonomie und Politik abzuleiten. Die Moral ist individuell und familiär, die Ethik ist sozial und gattungsmäßig; diese Einteilung hat die Schwäche, daß die Ethik aus der Psychologie stammt. Dort wurde die Moral idealistisch auf den Gattungsbegriff hin abstrahiert; nunmehr muß der Regelbegriff des Verhaltens nicht allein aus dem Verhältnis einerseits der Individuuen im Rahmen der Generationenabfolge und andererseits untereinander als »Peers« oder als Geschlechtergemeinschaft und potentielle soziale Keimzelle einer Familie (noch zu ergänzen um die Frage der Erbfolge) zu einer systematischen Erörterung gebracht werden, sondern es ist nun zu allererst der Horizont der Soziologie in den Blick zu nehmen, der über eine
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Protosoziologie des Familiären und dessen unmittelbaren Umkreis hinausgeht. Aber nicht die erste militärische Kategorie eines seßhaften Gemeinwesens, im eigenen Territorium keine andere Machtentfaltung zuzulassen, vielmehr die Bildung des Horizontes der Öffentlichkeit, wie zuvor noch der Horizont der Variabilität der historischen Mannigfaltigkeit der Organisation von politischer Macht, die jeweils selbst ihr eigenes Interesse an Öffentlichkeit hat, ist nunmehr zu untersuchen. Hobbes interfamilare Gesellschaftsform bleibt in der Negation des Bürgerkrieges befangen, zeigt aber die angerissene Grenze an, wenngleich eben nur tyrannisch als Wiederholung des familaren Patriachats, in der die Öffentlichkeit im wesentlichen in der potentiellen Allgegenwart des Patriarchen liegt, indem er grundsätzlich überall in seiner Familie das Durchgriffsrecht hat. Das Verhältnis zwischen den Famillien ist die erste Form von unstrukturierter und nicht einseitig beherrschter Öffentlichkeit, die nur einfache, fraktal bleibende Regeln besitzt und von den Familien selbst in die Hand genommen werden; eine zentrale Macht fehlt. Das griechische Theater und andere Vorgeschichten der griechischen Aufklärung verweisen auf eine kultische Form der Öffentlichkeit, die einer präpolitischen Öffentlichkeit gegenübersteht. Vgl. dazu: (a) Häuptling und Medizinmann, (b) eine Version der Doppelmasse Canettis, nur mit weitgehend den selben Mitgliedern. Die eine Frage an den Gesellschaftswandel ist: Was unterscheidet eine politisch relevante Struktur der Öffentlichkeit von der unbeherrschten Öffentlichkeit zwischen den Familien? Was von der einseitigen Durchherrschtheit der Familie durch den Patriarchen? Die politische Struktur der Öffentlichkeit des feudalen Reiches in den Bestätigungsakten von Unterwerfung und Gegenverpflichtung kann als historische Bedingung der Aufklärung, oder aber die Aufklärung als historische Bedingung der politisch relevanten Öffentlichkeit des bürgerlichen Staates angesehen werden. Die andere Frage ist: Was ist die Ursache der Entwicklung der feudalen Reiche nach deren kriegerischen Gründung? Welche Entscheidungen tragen zum Erfolg der Gesellschaftsentwicklung bei? Wirtschaft und Handel sind jedenfalls im Zuge der Effizenzsteigerungsprogramme bis zum aufgeklärten
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Absolutismus als Strukturgeber öffentlichkeitsbildender Situationen maßgeblich beteiligt, die zunächst vorwiegend nicht als bürgerliche Öffentlichkeit, sondern als innerständische Öffentlichkeit im Rahmen der ständischen Selbstorganisation analog zur feudalen Gesellschaftsordnung stattfindet.
II. Ökonomie als Dynamik Ich will hier zu Beginn ein Beispiel aus meiner Lektüre von Benedikts »Kein Ende der Zukunft« einspielen: Bei aller berechtigten Kritik an Hegel und dem parasitären objektiven Geist erscheint mir doch — über die vermutliche Fehlinterpretation Hegels durch Dempf (S. 136) hinaus —, daß Dempf in seinem Interpretationsentwurf ganz richtig die Bedeutung der Verwaltungssoziologie herausstreicht, die letztlich bis in das Problem der Gewaltentrennung im Rahmen einer republikanischen Verfassung hineinreicht. Die technisch-merkantilen bzw. politisch-institutionellen Rahmengerüste nur als Ergebnis des nackten Überlebenwollens unter Vernachlässigung des dezenten Überlebens und des Lebens in Wahrheit zu sehen, wie Benedikt es hier ausdrückt, scheint mir trotz der Beteiligung der »unteren« Lebensmächte zur Bildung der gesellschaftlichen Umstände, die (bürgerliche) Aufklärung erst ermöglicht hat, eine zu starke Behauptung zu sein. Ich glaube, daß die gesellschaftlichen Institutionen zwar von uns erzeugt und erhalten werden, aber dennoch eine relative Selbstständigkeit besitzen und gesetzmäßigen Prozessen unterworfen sind, die uns, zwar anders als die physische Natur, aber doch ähnlich wie diese, im Rücken liegen. Darüberhinaus glaube ich, daß diese Kräfte vorwiegend ökonomischer und soziologisch einsehbarer Dynamik, uns erst — gewissermaßen als unser gesellschaftlich Unbewußtes — in die Lage versetzt haben, uns aus (angeblich gattungsmäßig selbstverschuldeter) Unmündigkeit in die Position des aufgeklärten und abgeklärten Bewußtseins zu bringen, welche uns erst befähigt, uns über die wirklichen Gründe der Aufklärung (d. i. Aufklärung der Aufklärung) klar zu werden. Es ist m. E. diese Dynamik bis heute ungebrochen, und zweifellos zu kritisieren, gerade weil die dieser Dynamik zugrundeliegenden Lebensmächte auch auf die unteren Begehrungsvermögen beruhen, die Kant in seinem Rigorismus schon als
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pathologisch bezeichnet hat. Gleichwohl wäre einzusehen, daß wir gerade auch den gesellschaftlich wirksam werdenden Kräften darunter jene gesellschaftliche Konstellation verdanken, welche die Aufklärung allererst ermöglicht hat. Andererseits vermag ich jedoch auszumachen, daß die Umstrukturierungen des Reiches zum Staat noch vor einer bürgerlichen Republik (also noch im Zuge des aufgeklärten Absolutismus) unter der Bedingung der nationalen (oder doch bloß aristokratischen) Konkurrenz jederzeit zur bloßen Vorbereitung der »nationalen« Wirtschaft auf Kriegstüchtigkeit herabgebracht werden kann, auch wenn es zwischendurch nur um wirtschaftliche Konkurrenz gehen sollte. Das gibt denn doch dem Diktum Benedikts, die Umgestaltungen der Gesellschaft im Zuge des aufgeklärten Absolutismus seien bloß als Vorbereitungen auf einen »Notstaat« zu verstehen, einige Berechtigung, die gerade im Gegenschein zur ausgerufenen »Fitness« für alle nationalen Wirtschaften im Zuge des globalen Wettbewerbs ihre angemessene Beleuchtung erhält. Kann man diesem Dilemma entgehen? Die Wirtschaftsdynamik der Stadt seit dem ausgehenden Mittelalter hat auch innerhalb von Reichsstrukturen trotz des massiven Überwiegens agrarischer Wirtschaft wegen der damit sich ergebenden neuen Möglichkeit der Finanzierung von vor allem Kriegsund Bauprojekten eine allmählich einsetzende Veränderung der gesellschaftlichen Struktur bewirkt, die bis heute noch nicht zum Stillstand gekommen ist. Diese Tendenzen in den europäischen Reichsentwicklungen und die entstehende Bankenstruktur insbesondere in den Stadtstaaten der oberitalienischen Renaissance hat schon früh die Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen in der Stadt das Modell einer nicht-feudalen politischen Entscheidungsstruktur geliefert. Die Organisation von Gesellschaft hat sich anhand der Urbanisierung einerseits und der Vergrößerung der Wirtschaftsräume andererseits zunehmend vor die Aufgabe gestellt gesehen, Strukturen zu finden, die nicht aus familären oder gruppalen Organsisationsformen und deren Formen des Miteinander und Gegeneinander unmittelbar zu entnehmen waren. Parallel dazu hat sich sowohl das Versagen familär-patriachalischer Strukturen als sozialer und wirtschaftlicher Schutz des Individuums wie auch eine, was die vorgegebene Stellung im Kosmos und in der Welt betrifft, sich vorwiegend
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negativ ausdrückende Befreiung des Individuums herausgestellt. — Die im Zuge dieser gesellschaftlichen Entwicklung allererst formulierten Positionen der Aufklärung, deren Aufklärung wir nun heute in Angriff genommen haben, lassen sich nicht von diesen ökonomisch und soziologisch einsehbaren Prozessen des gesellschaftlich Unbewußten ablösen und womöglich vom neu gefundenen Standpunkt der Aufklärung völlig verwerfen, sondern nur in ihren Verfallsformen gegenüber den Potenzen des »transzendentalen« Ideals kritisieren. Auch wenn keineswegs gesagt werden kann, Benedikt hätte diese Dimension der Lebensmächte übersehen, so befürchte ich, daß den angesprochenen Umständen kultursoziologisch nicht regelmäßig die Stellung zukommt, die ich der ökonomischen Wurzel der sich verselbstständigenden Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung beilege. — Ich denke nachwievor daran, daß die Regeln der Bürokratie (deren vorgegebener Handlungsspielraum) und der Massenbeeinflussung (Warenästhetik an Stelle der politischen Rethorik am Marktplatz als erstes Paradigma der Polis) die Bühnengesetze des innenpolitischen Schauspiels ähnlich bedingen, wie die Regel von der Einheit von Ort, Zeit und Handlung die Bedingungen des klassischen Theaters waren. Das Handeln des Unternehmers wie das Handeln des Politikers muß jeweils öffentlich wahrgenommen werden. Die einzige Regel, die hier darüber hinaus »wertfrei« gefunden werden kann, scheint folgende zu sein: Das Schauspiel, welches der im großen Stil Handelnde bietet, sollte wenigstens mittelfristig in den Grundsätzen dem entsprechen, wonach der Verwaltungsstab bzw. die Bürokratie vorgeht. — Weiters wäre gemäß der Aufstufung der Horizonte von Öffentlichkeit von einer gewissen Variabilität (Pluralismus wäre im historischen Vergleich wohl zu weit gegriffen) in der Auffassung zu sprechen, wie ein Unternehmer/Politiker seine repräsentative/politische Rolle anlegt; und vor allem, nach welchen Regeln der Umgang der verschiedenen Konkurrenten untereinander erfolgt. Gerade hierin möchte ich dem Konzept der Offenen Gesellschaft von Karl Popper als einfache und klare Interpretation der demokratisch-liberalen Gesinnung den gebührenden Respekt nicht versagen, wenn auch getrachtet wird, die ursprüngliche Motive der Handelnden zu rasch als irrational auszuscheiden.
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Erst im Anschluß an die Erörterung der gesellschaftlichen Umstände des politischen Handelns erscheint es mir sinnvoll zu sein, über die Grundlagen der Moralität politischen Handelns neu zu verhandeln. Denn zweifellos bleibt die Frage, zu welchen Prinzipien man über den Konsens über den Modus der Konfliktaustragung hinaus noch imstand ist. Erst dann ließe sich eine Ethik auf gesamtgesellschaftlicher Grundlage als Formalwissenschaft neu begründen; ebensowenig reicht für ein solches Vorhaben die Diskursethik aus. — Zu diskutieren wären also eigentlich die Grenzen des kategorischen Imperatives in den Fassungen der Rechtslehre und die Möglichkeiten dessen Interpretation gemäß der Tugendlehre, schließlich die kategoriale Basis der geschichtlichen Erfahrung, die — auch bei Kant — zwar mit dem Freiheitsproblem verknüpft bleibt, aber selbst nicht von der Form kategorischer Imperative bestimmt sein kann.
III. Prinzipien der »sozialen« Anschauung und Prinzipien der Sittlichkeit als Beurteilungsprinzipien Meine abschließenden Fragen, bevor eine Ausweitungen des Diskussionsrahmens die konstituierenden Differenzen endgültig verwischen: (1) Wie steht der Wertbegriff mit einer Motivationslehre des Handelns in Verbindung (und zwar außerhalb der Grenzen der Grenznutzentheorie der österreichischen nationalökonomischen Schule — dem »Kramladen« Hermann Brochs)? Erwirbt man sich dignitas (Würde) durch ausgewogene Entscheidungen, welchen Motiven man nachgibt, welche Zwecke man sich setzt und welche Mittel man dafür einzusetzen bereit ist, oder weil man dabei (womöglich nur vermeintlich) absoluten Prinzipien folgt? Und ist nicht schon die Entscheidung nach Motiven im Rahmen der Zwecke der planenden technisch-praktischen Vernunft nur mehr als die Bestimmung zum pretium (Wert) zu verstehen, und nicht erst die Bestimmung des Wertes am Markt? (2) Beansprucht der Wert eine subjektive Anschauungsform, die selbst ohne Handlungsplan nicht objektivierbar ist? Welche Formen negativer Freiheit wird durch die Ersetzung von Werte durch Relevanzen freigesetzt — oder wird da wie dort der freie Wille überflüssig? Woraufhin zielt die dabei erreichte Präzisierung (oder: woran erfolgt die Anpassung)? Wird durch
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diese Art der Präzisierung die Wertvorstellung ausgehöhlt wie das Objekt der qualitativen Einheit des Begriffes durch die Kriterien der Vielheit der Folgen und deren Rückführbarkeit oder wird mit dem Wertbegriff bloß ein »ens lucationis« (in freilich anderem Zusammenhang das ultimative Beispiel Brentanos für ein ens rationis sine fundamento in re) kritisiert, welches sich als Ersatzhandlung des eher vom Verlust der prästabilierten Harmonie als vom Verlust des Ideals bedrohten Bewußtseins und dessen Ersatzprodukt sich als nichts weiter als eine etwas abstraktere Sorte von Satyren oder Einhörner herausgestellt hat? Wenn ich die Darstellung von Hermann Rauchenschwandtner in »Die Kultur als Synthesis der Werte: Hermann Brochs Aufbau einer allgemeinen Werttheorie« (in: Verdrängt ... und Verzögert..., Bd.4) richtigt verstanden habe, wird von Broch selbst die Einseitigkeit der Auffassung kritisiert, die Wertsetzung sei nichts als eine autarke Handlung eines absoluten Bewußtseins oder ein rein logisches Urteilen. — So müßte Broch die logische Vorstellung des Verhältnisses von Wertbegriff und Setzung, daß die Setzung in ihrer Form als Akt den Wert bereits kategorial enthalten muß (S. 679 f.) als einseitig kritisieren, weil damit die sachhaltigen Relevanzen (Zweck-MittelRelational im teleologischen Urteil) keineswegs schon gegeben sind. Das scheint nun auch zu geschehen: Der Wert in der Einheit der Geltung werde nur in die abstrakte Gegenständlichkeit geschoben oder verlangt im subjektiven Wertverleih die heroische Anstrengung zum Absoluten. (S. 680) — Mit letzterem könnte Zimmermanns Auffassung vom Urbild des Erhabenen als unvergleichliche Stärke des Willens getroffen sein (G.W.C., Bd. 3, »...zwischen Gesellschaftslehre und Psychologie«. Vgl. aber auch meine Brentano-Arbeit im vierten Band: Auf das dort vorliegende Problem des Ursprungs der Sittlichkeit angewandt muß die Charakteristik der Evidenz der entscheidende Wert gewesen sein, obwohl nach der Richtigkeit des Liebens gefragt worden ist). — Wem aber gilt der Vorwurf Brochs: »Die beweislose Behauptung [ist] im tiefsten Sinn unmoralisch, ist, je lauter es sich gebärdet, Werkzeug der Verstocktheit und des bösen Willens« (l. c.)? Eine geregelte Vermittlung der platonisch gedeuteten Geltung und des subjektiven Wertverleihes, worin dieser »Beweis« vermutet werden kann, gelingt aber nicht (S. 681).
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Das scheint auf einen historischen Relativismus hinauszulaufen, in dessen Rahmen die innere logische Folgerichtigkeit der Wertvorstellungen und deren soziologisch relevanten Umsetzung in einer Epoche immanent beurteilt werden könnte, ohne über dieses betrachtend-ästhetische Moment der soziologisierenden Geschichtswissenschaft der Ideenlehren hinauszukommen. Allerdings ist unabhängig von genetischen Aspekten doch eine Vorstellung der Reihe möglicher Komplexionsstufen gesellschaftlicher Beziehungen zu geben, von denen allerdings die letzteren den ersteren als fortgeschrittener vorgezogen werden (vgl. dazu auch die Genossenschaftsgesellschaften in der Anthroposophie Zimmermanns, in: Cernoch, Die in sich uneinige Philosophie, Bd. 4). — Hier ist eine Schlußfolgerung entscheidend: Da es weder allein von der Zufälligkeit der inneren Stimmigkeit des historischen Ensembles abhängt, ob ein historisches Paradigma das eigentliche sittliche Apriori besser ausdrückt als ein anderes, noch, ob die oder eine andere historische Abfolge anhand der zuerst als bloße Normbilder der Möglichkeiten der Sozialisierung und Vergesellschaftung des menschlichen Individuums verstandenen Gesellschaftsformen zur historisch »folgerichtigen« Ableitung im Rahmen empirischer Anthropologie (vergleichende Völkerkunde) erklärt werden soll, bleibt es die Angelegenheit eines transzendentalen Aktes, das Prinzip der Sittlichkeit a priori zu fordern. Das Prinzip der Sittlichkeit a priori läßt sich aber weder aus dem Fortschrittsoptimismus noch aus der Furcht vor dem Ende gewinnen. Eine davon abhängige Vorstellung einer Gesellschaftsform ist zunächst nur abhängig von den Vorstellungen, was dem Gattungswesen guttut oder nottut, und nicht zuerst vom historischen Zustand der Gedankenentwicklung oder von der Immanenz einer einklammerbaren historischen Epoche. — Ist denn die Darstellung des gesellschaftlichen Fortschrittes im Sinne der Aufklärung (Publizität) nicht schon von je her ein Konstrukt, wie schon die bloße Annahme eines Urvolkes und Normalvolkes bei Locke wie bei Fichte; oder vielleicht auch bei Hobbes und sicherlich bei Pufendorf; und völlig unabhängig von einer empirisch-historischen Faktizität sondern den Darstellungsprinzipien nach nur abhängig von der empirisch-historischen Möglichkeit? Die bloße Möglichkeit historischempirisch nachvollziehbarer Erfahrung des zivilisatorischen Fortschrittes gemäß Prinzipien ist nun aber sicher nicht selbst schon der Grund der
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Geltung der Behauptung, es sei das Bessere oder das Schlechtere des Möglichen der Fall, sondern eine solche Behauptung verlangt eigens nach einem Maßstab der Beurteilung. Ist damit das Prinzip der Sittlichkeit zum »leeren Zeichen der Gesellschaft« (Broch) geworden, das ohne Ausschöpfung aller philosophischen Möglichkeiten, die Totalität der Vernunft als das Prinzip der Sittlichkeit a priori enthaltend zu denken, nicht einmal mehr als solches bemerkt werden würde? — Oder muß komplementär zum letzten Punkt der Überlegung sogar gefragt werden, ob das Prinzip der Sittlichkeit nicht die Möglichkeit des Erfolges hinsichtlich des dezenten (oder auch des nackten) Überlebens schmälert: Wäre das ein Grund, auf diese »vernünftigerweise« zu verzichten, und welche Quelle der Regeln des sozialen Verhaltens des total vergesellschafteten Menschen wäre im ersten Fall dann aufzusuchen? Kants erstes anthropologisches Paradigma ist nun zwar von einem republikanisch gesinnten, aber im Sinne des aufgeklärten Absolutismus geprägten Rationalismus her zu verstehen. Dieses historische Bewußtsein reicht zwar zu, sowohl die Hoffnungen der politischen Revolution in Frankreich zu teilen wie deren Auswüchse als Menetekel des Nationalismus zu verurteilen, vermag aber die Bedeutung der industriellen Revolution noch nicht richtig einzuschätzen. Nicht, daß Kant die Bedeutung der Manufaktur und des Handwerks für den Staat übersehen hätte (er hat dem sogar das Recht nach dinglicher Art auf persönliche Fähigkeiten eingeräumt), aber er hat die Dynamik der Industrialisierung unterschätzt. — Kants anthropologisches Paradigma bleibt zuerst der Rationalität der fiktiven Bürgergesellschaft verpflichtet, welche dem Souverän, rechtmäßig wie auch immer, die Treue geschworen hat. Als Kants zweites anthropologisches Paradigma wäre die »Weltbürgerlichkeit« anzusehen, welche bereits zumindest teilweise vom »nationalen« Interesse absehen können sollte. So spricht einiges dafür, daß die individuelle wie gattungsmäßige Realisierung des Weltbürgertums eben im Kreuz zwischen Recht und Tugend einerseits und zwischen nationalem und internationalem Recht andererseits zu stehen kommt.
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IV. Der Wert (pretium) als das Prinzip der Regeln des Spieles — ist demgegenüber dignitas bloßer Stil und somit Ästhetik? Die für Broch nicht gelungene Umwandlung des Wertehorizontes eines sittlichen Gesellschaftsbegriffes in zivile Gesetze der nachrevolutionären bürgerlichen Bühne und deren Helden (Unternehmer, Buchhalter, Erfinder) sei also hauptsächlich deshalb mißlungen, weil die verbindliche Vereinbarkeit von Regeln überhaupt verloren gegangen ist. — So könnte man nach der Idee, daß Problem des Werteschwundes liege zuerst im Verlust der prästabilierten Harmonie, immerhin vermuten. Die Axiomatik der Werte wird damit im Zuge der daraufhin folgenden logischen Formalisierung deren Verhältnisse entweder zu willkürlich gesetzten oder zu historisch erklärbaren Annahmen herabgesetzt. Diese nur mehr historisch aufgefaßten Erklärungsansätze können nun geisteswissenschaftlich beginnen oder gesellschaftswissenschaftlich (Ökonomie und Soziologie als empirische Kernwissenschaften) und finden schließlich das Gleichgewichtstheorem als wertfreies Prinzip der Regelung. Die erste — philosophische — Frage hätte nun zu untersuchen, ob mit der Darstellung der historischen Umstände einer wertesetzenden Entscheidung in der Tat auch eine wertebegründende Argumentation enthalten ist, oder ob damit wenigstens einsichtig werden konnte, warum eine Epoche gerade diese und nicht andere Werte in den Vordergrund gestellt hat bzw. warum gerade diese und nicht eine andere Wertvorstellung »entdeckt« worden ist. Die zweite philosophische Frage betrifft das Problem, ob es möglich sei, die verschiedenen historisch gefundenen Werte nochmals (philosophisch) zu kritisieren und in ein System der Werte zu bringen (Reich der Zwecke überhaupt). Das zieht aber die nächste, völlig gegenläufige Frage nach sich: Kann das Ideal des Menschen nunmehr nur als Gattungswesen, aber nicht als Individuum vorgestellt werden? Hinsichtlich der Gesellschaftswissenschaften aber ist die erste — soziologische — Frage die nach der Übereinstimmung der ideengeschichtlich als Wert vorgestellten Ideale und der tatsächlich funktionierenden Wertvorstellungen der fraglichen historischen Epoche. Haben sich doch die Wertbegriffe der Handlungen in soziologischer Hinsicht und hinsichtlich pragmatischer Nützlichkeit geändert. So gibt es durchaus jeweils Wertvorstellungen, deren Befolgung durchschnittlich nützt
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und deren Nichtbeachtung durchschnittlich schadet. Das sollte spieltheoretisch leicht verständlich sein. Es handelt sich dabei um Wertvorstellungen, welche die Strategie des Handelns bestimmen, insofern sie aus den Regeln des Spiels gefolgert werden können oder aus Erfahrung nahegelegt werden. Die Verknüpfung verschiedener Spieler läßt die Sache nun auch für die mathematische Spieltheorie kompliziert werden: Unternehmer, Buchhalter und Erfinder wären nun ein gutes Team, wenn deren sonstige relevante Charakterisierung zusammenpaßt. Es spielen nun verschiedene Teams am gleichen Spielfeld und müssen nicht unbedingt auch Gegner sein. Das Spielfeld ist der Markt, der sich nun ähnlich einer Analyse unterziehen läßt; auch um herauszufinden, welches Team ein Gegner oder Verbündeter werden könnte, etc., etc.. Betrachtet man nur diesen Ausschnitt, so wird erkennbar, daß es durchaus Wertvorstellungen innerhalb dieses Spieles gibt, die sich durchschnittlich selbst sanktionieren. — Was nun komplementär erkennbar geworden ist, ist die Einschränkung auf bestimmte Arten von »Teams« und einen möglichst abstrakten Marktbegriff. Weiters wird erkennbar, daß dieser Wertbegriff nur als pretium, aber nicht als dignitas betrachtet werden kann. Wie auch immer anhand der Wertfrage erst die Krise der Gesellschaft ins Bewußtsein tritt, sie wird letztlich nicht als Wirtschaftskrise verstanden, sondern die Beschränkung des Regelbewußtseins der Gesellschaft auf die »real existierenden Verfassung« der Wirtschaft ist die eigentliche Krisis. Bei Broch sind aber offensichtlich Personen am Werk, die noch die eine odere andere Beziehung zu anderen Werten besitzen, und auch gerade daran scheitern. Daß die »massa damnata« auf der bürgerlichen Bühne in Erscheinung tritt, kann — im Gegenzug zur in Apokalypsen denkenden Todessehnsucht — kein verläßliches Kennzeichen des Werteverfalls sein; vielmehr ist für die bürgerliche Bühne nur neu, daß das Proletariat selbst auch zum Publikum wird, an das man sich wendet. — Marx hat nun schon darauf insistiert, daß in einer bürgerlichen Gesellschaft, die nur nach den Regel des Besitzes und des Eigentums gespielt wird, der Besitz der Produktionsmittel angeblich die einzige Garantie sei, als handelnde Person nicht nur in der revolutionären Uraufführung auf der bürgerlichen Bühne in Erscheinung treten zu können. Diese klare Analyse kann nicht durch die nebulose Forderung der Vergesellschaftung der Produktionsmittel zunichte gemacht werden. Aber
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auch dem Entwurf Marxens ist der Vorwurf zu machen, nur den ökonomischen Ausschnitt aller gesellschaftlicher »Relevanzen« in Betracht gezogen zu haben; und schließlich nichts als die Spiegelung der Hauptpersonen des vorrevolutionären bürgerlichen Schauspiels in der massa damnata vor unseren Augen entstehen lassen zu haben. Allein der nationale Held scheint nunmehr in der Lage, die auseinanderstrebenden Werte in einer die Gemeinschaft relevant und dauerhaft (?) bestätigenden Emotion gemäß des Problems der Vereinigung von platonischer Wertsetzung und je subjektivem Werteverleih im Zuge einer sich von jeder konkreten Gemeinde lösenden Bewegung zu einigen. — Gerade das ist uns aber nicht mehr möglich und würde uns auch gerade nicht aus der Beschränktheit herausholen. — Die Beschränktheit der handelnden Personen im bürgerlichen Schauspiel ist vielmehr nicht einfach auf die Beschränktheit der Liste der in den Stücken handelnden Personen zurückzuführen, wie es den Anschein haben könnte. Das Scheitern der partikularen Vernunft der Angehörigen der Besetzungsliste in der Frage, ob die gesellschaftliche Entwicklung vernünftigen Gesetzen gehorche oder nicht, ist nun auch bei Broch die Moral von der Geschichte. Damit bliebe von hier aus selbst die karge Utopie der Offenen Gesellschaft Poppers ohne Geleit. Einer so scharfen Zuspitzung will man nun nicht Vorschub leisten: Ich wagte also zuvor in etwa die These, daß der eigentliche Grund der Prophezeiung des Scheiterns der je partikularen Vernunft der vormalige Verlust der prästabilierten Harmonie war, welche den verläßlichen Aufstieg einer individuell oder gattungsmäßig überhaupt als notwendig erachteten Einzelhypothese ins Reich universielle Gültigkeit — auch nicht zuletzt für Werte — garantiert hat. Das hat sich nun so als nicht richtig herausgestellt: Denn ist es nicht so, daß der Wert des beschränkten Spieles von Unternehmer, Buchhalter und Erfinder gerade nicht an der Verallgemeinerungsfähigkeit scheitert, also gerade durchaus nicht Angelegenheit der bloß partikularen Vernunft ist? Daß eine Maxime fähig ist, zum allgemeinen Gesetz zu werden, ist nur die transzendentallogische Bedingung im Sinne einer Eigenschaft des sowohl aktuell und historisch in der sozialen »Anschauung« vom gesellschaftlichen
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Prozess Erfahrbaren. Das beinhaltet einen Begriff vom historisch Möglichen hinsichtlich eines bestimmbaren Modells, das grob gesagt aus ökonomischen, soziologischen und ideengeschichtlichen Prinzipien gebildet wird, der zunächst unabhängig bleibt von den Prinzipien derjenigen Reflexion, ob dies eine mögliche Verengung oder Erweiterung des jeweiligen moral possibile zum »empirischen Charakter« des vergesellschafteten Menschen bedeutet. — Erst das Wollen-können und das Gesollt sein dieses Wollens bestimmt, ob ein logisch möglich allgemeines Gesetz (wobei bereits die mögliche historische Kontingenz einen kategorialen Anspruch dieser Möglichkeit mit sich bringt), im Sinne dieses »Sollen-Könnens« unmöglich ist. Insofern sind die Interpretationen des kategorischen Imperatives nicht von vorneherein frei von Ideologie und Weltanschauung, wenn festgestellt wird, die eigens herausgestellte Bedingung des die Verallgemeinerung der Maxime meines Handelns Wollen-könnens, weshalb es erst als Gesolltes erkennbar wird, sei auch derart zu verstehen, daß sie den kategorischen Imperativ gar nicht mehr als formal eigenständige logische Form erkennen läßt, indem die Entscheidung zum Wollen-können eben eine Bedingung zur bloß logischen Verallgemeinbarkeit der Maxime hinzu ist, und demnach der kategorische Imperativ im Grunde logisch besehen nichts weiter als wieder ein bedingter Imperativ wäre. Die eigentliche Besonderheit des Wollen-könnens des Verallgemeinerns wäre aber erst, daß deren nachgeordnete Mittel-ZweckRelationen nicht partikularen oder nationalen Interessen, sondern dem Interesse am Gattungswesen dienen sollen. Dieses Interesse geht aber womöglich doch wieder nur jeweils von einer bestimmten empirischen Charakterisierung und Vereinnahmung des Gattungswesen aus, und die Entscheidung zur inhaltlichen Weiterbestimmung des höchsten Gut steht noch aus? Diese Entscheidungen wären also in der Reflexion des Wollenkönnens erst zu fällen. — Gleichwohl hat Kant den kategorischen Imperativ beispielhaft mit eben dem Anspruch auf Geltung a priori für verschiedene (wohl doch nicht in jedem Fall bloß für alle historisch möglichen) Gesellschaftsformen interpretiert, der des weiteren zum Katalog der Menschenrechte geführt hat. — Damit ist wohl auch die Quelle des pretium von der Quelle der dignitas genügend deutlich unterscheidbar geworden.
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V. Die »prästabilierte Harmonie« Leibnizens oder die »invisible hand« von Adam Smith? Die Beschränktheit der modernen Vernunft ist also nicht allein mit der Gegenüberstellung von partikularer und allgemeiner Vernunft darzustellen — dem wäre so, ginge man noch von ontologischen Affirmationen oder Negationen innerhalb der prästabilierten Harmonie aus. Die Beschränktheit der modernen Vernunft sieht sich einem noch viel schwierigeren Problem gegenüber. Abgesehen von der Tatsache, daß unter gewissen (historisch noch genauer zu nennenden) Umständen und begleitenden Bedingungen es der These Adam Smith, daß die Laster der Individuen sich gemäß der »invisiblen hand« zum empirischen Allgemeinwohl verwandeln, erst in der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts vergönnt war, sich (nicht ohne Hilfe der USA nach dem Zweiten Weltkrieg) auch im kontinentalen Europa umfassend zu bewähren, ermuntert uns die hereinbrechende Gestalt eines »Notstaates« aufgrund globalen wirtschaftlichen Wettstreites nun zu einer umfassenden Kritik an diesem Fortschritt. — Hat man sich nur vergewissert, daß die Kapitalismuskritik und die Faschismuskritik bei aller sachlichen Verschiedenheit der Aufgänge nicht nur mittels historisch zufälliger Umstände zusammenhängen, so darf man auch die als solche zu würdigenden »Fortschritte« desjenigen Umbruchs in der gesellschaftlichen Entwicklung in die Kritik miteinbeziehen, dessen Ursprung einerseits als politische (Frankreich) und industrielle (England) Revolution bezeichnet, andererseits späterhin von mir gemeinsam als Verlust der prästabilierten Harmonie gekennzeichnet worden ist. Dieser Verlust ist nicht zuletzt durch die damit erfolgten ungleichzeitigen Beschleunigungen der Entwicklung der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche bemerklich geworden. Wir haben also nicht nur unsere gesellschaftlichen Umstände zu kritisieren, sondern wir beziehen die Tradition unserer Kritik im ersten Schritt des Krebsganges der historischen Kritik auf eine Epoche zurück, die das Elend des Kapitalismus nicht nur in als der nur sporadisch auf der bürgerlichen Bühne erscheinende massa damnata, auch nicht allein indirekt im, zumeist nur durch die eigene Beschränktheit der jeweiligen Hauptdarsteller erzwungenem, »Mitleiden« thematisieren läßt, sondern gerade die Beschränktheit aller in Frage kommenden Hauptdarsteller diese für die Verführbarkeit zum Faschismus zurechtgemacht hat. — Genau diese Beschränktheit, die in der Verführbarkeit sowohl der Elite wie der Masse
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zum Faschismus liegt, ist inmitten der Auseinandersetzung zwischen den Gesellschaftsfortschritt beschleunigenden Werten und »konservativen« Werten das Maß der Negationen, woran im engen Gedränge der aktuellen Geschäftigkeit noch das Gemeinsame am Erbe der humanistischen Aufklärung für die je partikulare Vernunft gemessen werden kann, das zumindest im Ansatz eine Vorstellung von der allgemeinen Vernunft zu entwickeln erlaubt, die über die logische Allgemeinheit kybernetischer Modelle von der Gesellschaft hinausgeht. — Die Kapitalismuskritik hat also zur Kenntnis zu nehmen, daß einerseits — unter noch näher zu untersuchenden Bedingungen — die These der »invisible hand« von Adam Smith, die den Eigennutz ins Allgemeinwohl verwandelt, nach knapp zweihundert Jahren regional in der Tat zur Vermehrung des Besitzes für alle sozialen Schichten geführt hat (immerhin die bislang einzige These zum empirischen Allgemeinwohl, die einigermaßen funktioniert hat), aber auch, daß andererseits die Dynamik des Kapitalismus ein vorläufiges Maß für die Verwertbarkeit von Kulturen und »Rassen« an die Hand gibt, die nach wie vor, nicht nur historisch gesehen, den Kapitalismus eine Tendenz innewohnen läßt, die faschistische Tendenzen innerhalb (buchhalterischbürokratisch) und außerhalb der Wirtschaftsorganisationen (ministeriellbürokratisch) befördert. — Nur hoffnungslose Nostalgiker erblicken hier in der Rückgängigmachung der Köpfung der Monarchie zur Republik ein Heilmittel. Nunmehr dürfte die hier schon öfters angesprochene Ambivalenz des Kapitalismus gerade der einzige Ansatzpunkt sein, im Zuge der Entwicklung der Gesellschaft, die ja bekanntlich von ökonomisch wie soziologisch erfassbaren Ursachen dominiert wird, einen ideologieübergreifenden politischen Konsens zu erreichen, wohin die kapitalistisch dominierte Dynamik der Gesellschaft nicht führen soll. Ich denke, daß hier zwar sowohl die Effizenz der Entscheidungsstrukturen und der durchführenden Organisationen wie deren politische Akzeptanz gefragt ist, aber die politische Akzeptanz nicht allein als Frage der Plastizität der massa damnata und deren Bearbeitungskosten gestellt werden kann. Sei auch die Architektur der Werte, die mit der prästabilierten Harmonie versunken zu sein scheint, im Pluralismus bloß partikularer Vernunft nicht mehr geschlossen rekonstruierbar; in diesem Resthumanismus ließe sich noch eine Verbindung zwischen heutiger Kapitalismuskritik und
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vormaliger, sowohl bürgerlicher wie marxistischer (vorrevolutionärer und nachrevolutionärer) Kapitalismuskritik finden. Zuletzt wurden im Rahmen dieser Diskussion hauptsächlich nur diejenigen Merkmale herangezogen, die Einfluß auf die Ursache der Dynamik der Entwicklung der Gesellschaft (also den Gründen der Beschleunigung) haben könnten. Es bleibt ungeachtet der Kontroverse um die Verknüpfung von Faschismuskritik und Kapitalismuskritik die Frage, ob die aus dem Erfolg des Kapitalismus resultierende Restitution der calvinistischen Haltung zum Wert, in welcher die göttliche Gnade sich in wirtschaftlichen Erfolg niederschlägt, längerfristig auch sachlich gesehen die optimale Strategie sein muß. Im Zuge der Globalisierung gilt nochmals die Verschärfung der beschleunigten Gesellschaftsentwicklung, was hier den gesellschaftlich ungezähmtem Kapitalismus und die demokratisch ungezähmte politische »Willensbildung« als die Hauptursachen der beschleunigten Gesellschaftsentwicklung nahelegt. Ideengeschichtlich bleibt bemerkenswert, daß nunmehr die Positionen der Kritiker wie der Kritisierten jeweils ihre Wurzel in der bürgerlichen Aufklärung besitzen. — Ist der Verlust der prästabilierten Harmonie nicht nur eine philosophiehistorische Metapher, sondern ist sie auch ein Menetekel gewesen, so ist zunächst auf den Restbestand zu achten, der von den Werten übrigbleibt. Der Fehler des Modernismus war immer schon, dasjenige, was größte Beschleunigung verspricht, als den größten Wert zu setzen (Avantgardismus). Dieser Stil, oder diese äußerliche Haltung, verstärkt im Expressionismus die Verbindung der ästhetische Ideen mit den Ursachen der Beschleunigung der gesellschaftlichen Entwicklung. — Nun: Schon die Romantik dient der Beschleunigung der Betrachtungsweise. Wer wessen Parallelaktion gewesen ist? Die Romantik oder der Taylorismus? Gerade der Taylorismus wird von verschiedenen Seiten als letzte Ursache der Veränderung der kulturellen Zeitwahrnehmung verantwortlich gemacht. — Nehmen wir also nicht hin, den Wert allein empirisch-faktisch an Erfolgen definiert zu sehen (sei es innerhalb von Strategien im Wirtschaftsleben oder in der Evolution der Arten gemessen), sondern bestehen wir darauf, das Allgemeinwohl nicht nur als Erweiterung wirtschaftlicher Relevanzen auf gesellschaftliche Theorien gemäß der systematisch verschobenen Erfüllung eines formalen
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Gleichgewichtstheorem zu lesen, was als Lösungvariante des Problems der Übergänge von Betriebswirtschaft, Volkswirtschaft und Welthandel in der Perspektive des internationalen Kapitals im Sinne der Grade von Verwertbarkeit der jeweils bereitgestellten Infrastrukturen ohne Gegenwehr geradewegs in einen kulturellen Rassismus führt? Was, wenn uns aber jemand auf den Kopf hin zusagt, das Bestehen auf Werte, die nicht auf die eine odere andere Weise in Verbindung mit dem Phänomens des »Erfolges« stehen, sei selbst nichts als der traurige Rest der Romantik, der neben den ökonomischen und sozialen Gründen die gesellschaftliche Entwicklung in Europa als Verfallsform des Bürgerlichen noch in den politisch relevanten Totalitarismus getrieben habe? Es bleibt ein einziges: Wir beanspruchen anthropologische Konstanten. Nicht wie die empirische Anthropologie im Rahmen von Abstammungslehre und vergleichende Verhaltenstheorie anthropologische Konstanten beansprucht, sondern aus den personalen und existentialen Kategorien unseres Daseins. Die selbst nicht lückenlose Darstellbarkeit der philosophia perennis als Fragenkatalog hängt zwar einerseits von der Unabschließbarkeit der platonischen Ideenlehre, andererseits doch vom sokratischen »Erkenne dich selbst« ab. — Es ist also erlaubt, sowohl aus Gründen der Ideenlehre wie aus Gründen des sokratischen »Erkenne dich selbst« Konstanten der philosophischen Anthropologie zu fordern. Diese Konstanten sind als Forderungen an uns selbst und an unsere Vergesellschaftungsformen zu denken, und zwar, in der modernen Wissenschaftssprache ausgedrückt, biologisch, soziologisch und individualpsychologisch, schließlich auch ökonomisch und politisch. — Ist nun seit dem Menetekel des zunächst nur akademisch betrachteten Verlustes der prästabilierten Harmonie die Ideenlehre etwa gleich obsolet, daß nur mehr das »Erkenne dich selbst« zu befürchten ist (womöglich in der Tat zugleich als Selbsterkenntnis des tierischen Gattungswesens?). Nein, nichts als die garantierte prästabilierte Harmonie und den Glauben an den garantierten Fortschritt wurde uns genommen. Das Chaos der Empfindungen im Wartesaal ist allein die Folge des Verlustes der prästabilierten Harmonie, die den Ausgang der zu erwartenden Operation oder der Reise in die Fremde plötzlich ungewiss werden läßt und uns auf die Fluktuationen des unmittelbaren Daseins zurückwirft. Diesem Chaos sind die Relevanzen entgegenzusetzen, die sowohl im individuellen
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empirischen Dasein des zwischenmenschlichen Mitseins, in der die Soziologie politisch relevant ergänzende philosophisch-kultursoziologischempirischen Anthropologie samt deren unvermeidlichen Existenzialismus für alle (Psychologie der Affekte), wie schließlich in der transzendentalen Anthropologie eines Gattungswesens überhaupt zu finden sind. Letzteres sollte mit den metaphysischen Anfangsgründen der Gesellschaftwissenschaften (bezogen auf die Gestalt der Vergesellschaftung des endlichen — mit Verstand und Sinnlichkeit begabten — Individuums) für die Deduktion der Kategorien der Freiheit ein (historisch-logischer) Leitfaden sein. In dieser Vorausgesetztheit sind die Falsifikationen bloß normativer soziologischer Theorien im Zuge des Verlustes der prästabilierten Harmonie einer bestimmten Epoche aber nicht von der Kraft, die konstituierende Relevanz beanspruchenden Relationsformen der transzendentalen Anthropologie eben in jenem Moment aufzuheben, wo diese gerade einer Gesellschaftstheorie der sich verselbstständigenden gesellschaftlichen Instanzen gegenübersteht. Allein das scheint schon Anlaß für den Glauben sein zu können, daß im Rahmen der Frage, wie macht man sich die Plastizität des Menschen zunutze, einstweilen Platz für die politisch gemeinte Frage bleibt, in welche Richtung sich der Mensch als Gattungswesen entwickeln solle. — Offensichtlich bleibt auch historisch zumindest die Diskussion um das Menschenbild weiterhin in Mode.
VI. Die unbekannten Alternativen anhand der gemeinsamen Betrachtung von Relevanzen und Werte Im Zuge der verschiedenen Ansätze einer eigenständigen, aber selbst bürgerlichen Kritik des Kapitalismus wurde der Vorwurf erhoben, daß die einseitige Entwicklung des Bürgertums vor allem in ökonomisch wie organisationssoziologisch beschreibaren Dimensionen dem Ideal einer »prästabilierten Harmonie« der Ideen widersprechen. Die Frage war auch, ob man darunter im Rahmen des kategorialen Problems der historischen Erfahrung bloß eine Falsifizierung aller damit zu verbindenden Werte verstehen sollte.
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Wenngleich auch die bei aller abstrakt vorausgesetzter Wechselwirkung gegenüber der Zeitordnung evolutionärer Veränderungen der Gesellschaft einerseits und der Idee des Gattungswesens andererseits statisch bleibende Vorstellung einer prästabilierten Harmonie für die Darstellung der Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung von vorneherein nicht als besonders geeignet erscheint, so sollte doch ein Kalkül gefunden werden können, welche alle für die philosophische Anthropologie relevanten Teile des Prozesses der fortschreitenden Vergesellschaftung erfaßt, und nicht nur diejenigen, welcher in der fraglichen Epoche technisch-wirtschaftlichen Erfolges die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung dominieren. Zwischen (a) der Antinomie Kantens, der die alternativen Grundsätze der Ideen der Kosmologie und der Gesellschaftslehre (noch im Rahmen von psychologischer, kosmologischer und theologischer Idee) erst nach der grundsätzlicheren Berücksichtigung der Amphibolie des Noumenons in der Frage nach der Stellung des Menschen in der Natur und in der Welt als historisches Schauspiel a posteriori vor den Gerichtshof der Vernunft ins Gehege der Aporien treten läßt, und (b) der Dialektik Hegels, welche in der Phänomenologie des Schrumpfkopfes (des objektiven Geistes) gegenüber der Enzyklopädie das eingesetzte Auge des sich selbst als Setzendes Gesetzte Fichtes noch verliert, scheint gerade (c) das vinculum substantiale Leibnizens das Heilmittel zu sein, den Verlust der prästabilierten Harmonie angemessen behandeln zu können. Zumal dem vinculum substantiale der Ruf vorauseilt, bereits die Fensterlosigkeit der Monade zu sprengen; oder auch gerade diese Sprengung aufzufangen. Das letztere dürfte uneingeschränkt gelten; ob das vinculum substantiale mehr umfaßt, als den Anspruch, die notwendige Ausgleichsleistung einer aus dem Gleichgewicht zu fallen drohende Monade zu supponieren, muß aber von Fall zu Fall diskutiert werden. Aber schon dem Gleichgewichtstheorem ist sowohl aus der Sicht der Monade des jeweils Besitzenden wie auch aus deren Gegenperspektive jeweils einiges abzugewinnen, wenn die Kluft zwischen Armut und Reichtum nicht Ausmaße annimmt, die den sozialen Frieden nur mittels militärischen Einsätzen aufrecht zu erhalten möglich macht (ein Widerspruch in sich; also eine Grenzbestimmung). — Wie damit angedeutet, gibt es zweifellos auch eine defiziente Interpretation des vinculum substantiale, welche nicht den erfrischenden Durchbruch durch die Fensterlosigkeit der bürgerlichen
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Monade vertritt, sondern die Fensterlosigkeit und deren Mit-sich-selbstGleichheit im Schein des Mitleidens erst garantieren soll. Das gesuchte Schema der Idee, dem gegenüber hier eben das logische Ideal zuerst als defizient weil bloß mit sich selbst ident, schließlich auch das romantische Ideal (in der Form der anspruchslosen Ekstase des Im-anderenbei-sich-seins) als defizient gekennzeichnet wurde, soll aber als Gleichgewichtstheorem im Rahmen der Konkurrenz der Arten untereinander als Vorläufer des Altruismus verstanden werden können (vgl. die Megatrope Leibnizens in der Darstellung von Pfersmann). Die Frage ist da: gibt es einen Altruismus der Parasiten (Serres)? M.a.W., das abstrakte Konzept des vinculum subtantiale als Kalkül könnte als solches invariant gegenüber der Unterscheidung von »point de vue« (der eigenen Vervollkommung oder der erfolgreichsten Strategie des »nackten Überlebens«) und »place d‘autruy« (als von sich selbst und seiner Vervollkommnung absehen können) bleiben. Es mag auch sein, daß das von Kahle über Zimmermann transportierte Verständnisses des vinculum substantiale als Kooperationsform inmitten der Konkurrenz der Gesinnungsgenossenschaften im Sinne des jeweiligen »point de vue« über strategische Überlegungen nicht wirklich herausgekommen ist; bzw. daß die fünf ästhetischen Ideen der praktischen Vernunft Herbarts die Vermittlung zwischen den Genossenschaften im Ausgleich nur zum nichtssagenden Kompromiss der sich selbst nicht von der Stelle bewegenden Monade zwischen je teilhabenden Individuum und gesellschaftlich legitimierter Definition des Gattungswesens (und damit zum analytisch je erst zu bestimmenden Anteilhabe am Produkt des vorausgesetzt gedachten Bandes) geführt hat. Wenn auch die Ästhetisierung der Werte (so durch Herbart und Zimmermann im Österreich des 19. Jahrhunderts vorbereitet) letztlich nur dem Versuch erkenntnistheoretischer Vergewisserung der ethischen Werte entspringt, die nicht länger dem historischen Wechsel der konkreten empirischen Gestalt des Gattungswesens unterworfen sein sollen, führt dieser Weg nur zu drei Holzwegen: (a) zur Stabilisierung des status quo, (b) zur Reduzierung der Konzepte auf die jeweils epochemachende gesellschaftliche Dynamik, (c) zum Avantgardismus. — Das Programm der Ästhetisierung schließt also die Konzepte des »point de vue« fraglos, die des
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»place d‘autruy«, wenn überhaupt, nur teilweise ein. Die Konzepte des vinculum substantiale wären demnach unter zwei Gesichtspunkten zu untersuchen: Erstens inwieweit sie nicht einfach die Doktrin der transzendentalen Urteilskraft (das Schematismuskapitel in der K.r.V.) ersetzen (30. Brief Leibnizens an Des Bosses), und zweitens inwieweit die apperzepierende Monade doch erst von einem Schema des »place d‘autruy« (einer anderen apperzipierenden Monade — der Blick des anderen bei Satre) und nicht von der Intersubjektivität garantierenden Gemeinschaft aller apperzipierender Monaden von ihrem Schattendasein als bloß gedachtes Substrat der eigenen formalen Naturerkenntnis losgesprochen wird. Erst im letzten Fall wird das vinculum substantiale das gewünschte Kalkül liefern können. Dieses Kalkül sollte befähigt sein, die Hoffnung der Aufklärung wenigstens hinreichend zu nähren, eine säkulare Form der schon auf religiöse Weise ausgesprochene Hoffnung auf Befreiung vom bloß tierischen Gattungswesen auffinden zu können. Das sollte (hier noch nicht von der Einsicht, was Natur und Geschichte aus uns gemacht hat, entlastet) zuerst aber auch noch gegenüber den Anmaßungen der Heroen, schließlich noch gegenüber dem Übermaß der sich jenseits jeder »prästabilierten Harmonie« verselbstständigenden Lebensmächte für die »invisible hand« oder List der Vernunft des vermeintlichen »Weltgeistes« (selbst als Ausdruck einer Idee vom Gattungswesen dechiffrierbar) beansprucht werden können. Hingegen umfaßt gerade die verengte Sozialisierungsform der atomistischen Innerlichkeit allein anhand der Sprachform die Idee der Verselbstständigung (Monologisierung und Atomisierung) wie die der Zugehörigkeit zu anderem (als Massenrethorik und Massenpsychologie) gleichermaßen. Nunmehr wird aber schon im Zuge der Passendheit dieser gedanklich-entwerfenden Strategie einer in methodischen Fragen linguistisch fundierten Soziologie zur realen gesellschaftlich-ökonomischen Entwicklung die Sozialisierungsform der Innerlichkeit zugleich der Möglichkeit wirklicher Verselbstständigung beraubt. Das Individuelle scheint als Wesenskern des Subjektiven nunmehr für die Gesellschaftswissenschaften im Allgemeinen des empirisch charakterisierbaren und damit letztendlich trotz der erkenntlich gewordenen Beschränktheit der Plastizität verfügbar gewordenen Gattungswesens aufzugehen. Die Motive sind in der Theorie rational mit Reaktionen verbindbar; im Rapport mit den designten Massensymbolen
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stehend wird das Evidenzerlebnis als Innerlichkeit des Individuellen in einer Umwelt der reinen Warenästhetik selbst nochmals fraglich. — Es kann nicht verhehlt werden, daß das Individuuum des »place d‘autruy« im Rahmen des Herbartianisch-Zimmermannschen Ästhetiszismus auch bloß subjektivistisch das Ergebnis einer von einer wohlgefälligeren Vorstellung verdrängten Vorstellung sein kann. Im Ausgleich, weil diese Verdrängung nicht gefällt, sollte im Sinne des rationalen ästhetischen Universalismus das Individuum des »place d‘autruy« wieder veredelt auftauchen müssen. Die partikulare Vernunft findet in der universalen Ästhetik aber nicht den garantierten Ausgleich: Was kann das Konzept des vinculum substantiale leisten, wenn entweder erstens das Individuum des »place d‘autruy« selbst nie auf eine sozial und auch für das vereinzelte Individuum relevante Weise als das Ideal im Gattungswesen vorgestellt wurde, oder wenn zweitens der »place d‘autruy« bereits vom vergesellschafteten »man« anhand »historisch konkretisierter Gemeinbilder« okkupiert worden ist? Was kann das vinculum substantiale leisten, wenn der ästhetische Ausgleich schon mangels einer gehabten Vorstellung, die zugleich konkret und allgemein ist, mißlingt? Die Diskussion ist ausgegangen vom Verlust der Werte; dieser wurde relativiert durch die Beschränkung auf Konzepte, die spieltheoretisch gewinnbringende Strategien erlauben, weil sie auf die die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung hauptverursachenden Gründe (eben ökonomischer und sozialer Natur) eingeschränkt worden sind. Gewissermaßen erst als Reaktion auf diesen Erfolg werden die Werte, die nicht zum Regelwerk des Erfolgreichen passen oder diesem bloß nicht notwendig sind, überhaupt in Frage gestellt. In Frage steht demnach gegenüber linkshändig oder rechtshändig vermittelte Ideologien der Apokalypse erstens, welche Werte in den Menschenrechten verankert sind, die nicht vom modernen bürgerlichen Schauspiel, das von der Organisierbarkeit der Ökonomie und den Moden des Sozialen bestimmt wird, von selbst sanktioniert werden. Das sollte einen ersten Überblick über die Werte geben können, die von der historischen Kritik nicht als widersprüchlich ausgesondert worden sind, aber doch nicht als entscheidend im Prozess der beschleunigten gesellschaftlichen Entwicklung anzusehen sind. — Zweitens, wie dieses geschrumpfte Erbe abgeklärter Romantik im Zeitalter der vom Finanzmarkt verwalteten neuen Sachlichkeit
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zu bewähren ist. Auch wenn man mit Benedikt die noch auf Hegel zurückgehende Interpretation des jungen Marx des vinculum substantiale als Kette wechselseitigen Genusses im andern als defizient ansieht, dürfte doch gerade eine eventuelle Behebung dieser Defizienz (womöglich aber nur auf die Differenz zwischen selbst Produzieren und selbst Konsumieren des Produkts zurückzuführen) nicht selbst die Frage nach dem vinculum substantiale auf eine Weise stellen können, daß in der Fragestellung nach der gesellschaftlichen Vermittlung des Individuums ans Gattungswesen nunmehr im Rahmen der globalen Konkurrenz schon ein Hinweis auf eine spezifische Antwort zu finden wäre. ❆ Der Aufgabenkatalog ist damit keineswegs schon umrissen. Zwar ist deutlich geworden, daß es sehr wohl auch um unser Selbstverständnis geht: So sind die Grenzen unserer Plastizität schon für die Pädogogik des Achzehnten Jahrhunderts eine der Hauptfragen gewesen, geschweige denn von den Belastungsproben, denen die Menschen durch das neue mechanische Zeitmaß, das sich in der Öffentlichkeit und der Arbeitswelt durchzusetzen begonnen hat, der Straffung der Verwaltung, insgesamt mit der seit damals einsetzenden Effizienzsteigerungsprogramme, durch die Verhetzung vom romantischen Nationalismus des Neunzehnten und Zwanzigsten Jahrhundert, den regelmäßigen Umstürzen der industriellkapitalistischen Wirtschaftsentwicklung, und schließlich durch die neuen Schrecken des technisierten Krieges, ausgesetzt worden sind und weiter ausgesetzt werden. — Die erste Fragerichtung muß also sein: Was ist dem Menschen durchschnittlich zumutbar hinsichtlich Belastung und Leistung unter welchen sozialen Umständen? Die zweite Fragerichtung ergibt sich aus der Betrachtung der philosophischen, geisteswissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Aussagen, was wir von uns erwarten und hoffen dürfen. Das »Erkenne Dich selbst« umfaßt aber außer der Hoffnung auch die Befürchtungen, daß das, was wir unerkannterweise aus uns selbst in die Welt setzen, uns als Monstren zeigt. Diese Spaltung in der letztlich philosophischen Menschenerkenntnis gibt uns erste Hinweise, daß die moralische Frage nach gut und böse durchaus immer wieder in eine relevante Fragestellung
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überführt werden kann und die beklagte Relativierung aller Werte nicht notwendigerweise die Nivellierung zur völligen Gleichgültigkeit nach sich zieht. Diese Relevanzen müssen neu entwickelt werden und werden teilweise andere oder neu interpretierte Wertvorstellungen ergeben; vor allem anderen ist eine neue Verknüpfung und ein anderes Verhältnis in der Abstraktionslehre der Wertvorstellungen zu erwarten. Die Transformierung in eine globale Massengesellschaft, die geänderten Produktions- und Arbeitsbedingungen, die im Vergleich zu den anderen Säulen unserer Gesellschaft zu weitgehende politische Selbstständigkeit des globalen Finanzmarktes, fehlende globale Steuerungsmaßnahmen, schließlich die Klimaänderung verlangen nach der Erweiterung des Aufgabenbereichs von internationalen Institutionen, was aber die globale politische Willensbildung in wichtigen Kernfragen voraussetzt. Dergleichen institutionelle Änderungen ziehen im Anschluß auch eine Änderung der Denkungsart nach sich; diese kritisch zu begleiten kann nicht das einzige Geschäft der bürgerlichen Philosophie sein, will die Philosophie nicht das Schicksal der Kunst in der Postmoderne erleiden. Wie eingangs bereits gesagt, ist die vorliegende Arbeit als Grundgerüst zu verstehen, welches noch einige Lücken hat, die ich im Vorwort bereits skizziert habe. Zur Erstellung der Liste der Relevanzen und deren Kriterien fehlt die genauere Ausarbeitung des Verhältnisses von Soziologie, Ökonomie und nunmehr auch Ökologie, was die Aufgabe der nächsten Jahre sein soll.
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