A. Herbarts Realien Zwischen Metaphysik Und Psychologie. Pädagogik

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  • April 2020
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Wolfgang Cernoch

HERBARTS WISSENSCHAFTLICHE BEGRÜNDUNG DER PÄDAGOGIK Der Zerfall des Reiches der Pädagogik Herbarts in Sachkundeunterricht (Willensbildung) und Moralkundeunterricht (Geschmacksbildung) beruht auf der Spaltung der Bedeutung der Realien in physische und psychische Qualitäten. Ausblick auf Franz Fischer.

Worauf ich aufmerksam machen will, ist die Verschränktheit von einerseits (1) der Entdeckung, die Fähigkeit zur logischen, mathematischen und naturwissenschaftlicher Rationalität (2) und andererseits der Entdeckung der historischen Dimension (a) in der Gewinnung eines sich selbst ermächtigenden Menschenbildes vor den Hintergrund der Wiederentdeckung der Antike als wesentliches Merkmal der Aufklärung (b) in der Entdeckung des Zusammenhangs von Schriftwerdung und Artikulation der Sprache (Vico als Gegengewicht zu Descartes) und (c) in der Entwicklung einer neuen politischen Theorie. Organisiertes Bankenwesen verändert die Wirtschaftsform der Stadt — ein erstes Entdecken des Fortschritts im sozialen Gefüge, welches die Geschichte als Abfolge von Epochen erlebbar gemacht hat. (3) Im Gegenzug zur Ekstase der Selbstermächtigung des Menschen als Emanizipation von Natur, Aberglauben und Kirche führt die Melancolia des Mittelalters von Beginn an zum Gefühl der Überforderung durch den eigenen, neu entdeckten Selbstanspruch in Ethik und Wissenschaft. Nicht nur das Christentum wurde von Rom übernommen, sondern auch die stoische Ethik. Letztere hatte den Vorteil, sowohl den Überschwang wie die Niedergeschlagenheit zu zügeln. Es ist augenfällig, daß unser modernes bis postmodernes Zeitalter auf eine vergleichbare Analyse des Zustandekommens der eigenen kulturellen Situation und deren Zusammenhänge nicht mehr Wert legt. Nun ist Herbart, dessen ästhetische Formulierung der Ethik pädagogisch zur Methodik der Gewöhnung an das Gute führt, zugleich derjenige, der am Beginn des 19. Jhdts. die mathematisch-

naturwissenschaftliche Behandlung der Psychologie im Schild geführt hatte. Darin erblicke ich in der Person Herbarts die Gespaltenheit der Geschichte der Aufklärung nochmals. Herbart versucht die Vernunftphilosophie und die Gründe unserer moralischen und gefühlsmäßigen Bewertung auf wissenschaftlichem Wege zu verbinden. Dazu entwirft er eine »mechanische« Psychologie, die neben der fundierenden Bedeutung auch für die Pädagogik als Modell der Mathematisierbarkeit der Psychologie gedacht war, und auf Robert Zimmermann, Sigmund Freud, Theodor Fechner, um nur einige aus der ersten und zweiten Generation zu nennen, bis zu Bertalanffy und Glasersfeld gewirkt hat. Damit hat er einige Denker auch mit Leibzianischen Ideen bekannt gemacht. Daß dies beim Fichte-Schüler Herbart einen konkreten philosophischen Hintergrund besitzt, habe ich versucht, mit diesem kleinen Aufsatz nahe zu bringen. Realien wie Jochen Ebmeier als »Abdrücke des Seins« zu bezeichnen, könnte die passende »realistische« Interpretation für die individualpsychologische Seite der Pädagogik sein. Ich bringe dieses Grundelement aber mit dem »metaphysischen Punkt« Leibnizens nicht nur historisch in Verbindung. Ich glaube vielmehr, daß von hier aus eine Linie zu ziehen möglich ist, entlang das Thema der »Kraft« zwischen dem physischen und den psychischen Modell des selbst verschwindenden Systems der Realien verschoben worden ist. Die Realien in metaphysischer Hinsicht sind die Unbekannten, welche uns Qualitäten der Wahrnehmung physisch vermitteln und zugleich zusammen das erzeugen, was wir Widerstand nennen. Die Versuche der Erfassung der Erscheinungen dessen, was uns Widerstand leistet und sich sowohl für uns in Theorie und Lebenswelt wie in der Objektwelt füreinander kenntlich macht und im Prozess als Diskontinuität vergegenständlicht wird, nutzen die Varianz der Bedeutung der Erscheinung, wie sie seit Kant bekannt geworden, vorher am Eindringlichsten zwischen Leibniz und Des Bosses noch zwischen Phaenomena, Substantiata und Substantia (spätplatonische und spätaristotelische Diskussion des 17. Jhdts.) diskutiert worden ist. Die Realien in metaphysischer Bedeutung wären nicht einmal als einfache Qualitäten der sinnlichen Erscheinung zu gebrauchen, die noch eine Spekulation über Ursache und Umstand zulassen würde. Sie sind auch nicht Monaden, Substanz oder Materie, sondern müssen demnach

als eine diesen Erscheinungsweisen vorausliegende Struktur betrachtet werden. — Das erlaubt konstruktivistische Freiheiten, welche zu einem einfachen Gleichgewichtsmodell der Bewahrung des status quo eines gestörten Gleichgewichts als Vereinfachung der Monade zum selbstregelnden System (geht bis Bertanalaffy und Glasersfeld) führt. — Da nun die Diversifikation der Qualitäten ein unbetreitbares Faktum ist und nach dieser Annahme als durch die Struktur der Realien in metaphysischer Bedeutung erzeugt zu denken ist, fällt auch die Qualität des Psychischen unter diese Reihe der Qualitäten. Das ist der Moment des Übersprunges auf Raten, in welchem mit der Zwischenstation des Seelischen als Qualität und eigene Realie unter Realien, dann, im Grunde wider Erwarten und wie erwartet zugleich, die Realien den Grund des psychischen Geschehens ausmachen, und, ganz in Leibnizianischer und nicht in Kantscher Tradition, einmal mit einer Vorstellung und einmal mit einer Vorstellungskomplexion in Verwechslung geraten. Ich fasse also die Auflösung in ein Doppelsystem der Realien (gemäß Herbart: Metaphysik und Psychologie) als eine Antwort auf die Frage auf, inwieweit Ideen eine eigene Kraft besitzen (Plato) oder nicht (Kant). Das bemerkenswerte ist daran, daß die kraftlosen Ideen (vgl. Yorck, auch Robert Zimmermann nach dem Vorbild Kant) erst durch die »mechanische« Vorstellungsart der Psychologie wieder zu einer Vorstellung der »Kraft« kommen, aber nicht übersehen werden darf, daß damit auch das Verwerfen und Vorziehen aus den Verhältnissen zwischen Vorstellungskomplexionen erst entsteht. Insofern zieht Herbart mit seiner psychologischen Konstruktion sehr ungefähr und nicht verlustfrei die Entwicklung nach, die bei Kant von der (1) der »Zeichenhaftigkeit des Bewußtseins«, die außerhalb des semantischlogischen Raumes keine Wirkung hat (Auflösung der dritten Antinomie der kosmologischen Idee), über (2) der subjektiven Lust am Funktionieren des freien Spiels der Seelenvermögen als unmittelbarer Gegenstand des ästhetischen Urteils, und (3) der Lust an der Selbsterhaltung einer Vorstellung im ersten Vorwort der Kritik der Urteilskraft zu verfolgen ist. Mit der Konstruktion einer mechanischen Psychologie wird allerdings der Übergang des ästhetisch Schönen zum Ideal des Schönen unterschlagen, worin mittels des Ausdrucks der inneren Gestimmtheit der Zusammenhang einerseits zum (empirischen) höchsten Gut, andererseits zur Sittlichkeit als Natur oder eben als Projekt der Gattung

hergestellt worden ist. Dieser Zusammenhang ist nicht nur in der historischen Darstellung, wie der deutsche Idealismus in die Staatsphilosophie, Rechtsphilosophie, Geschichtsphilosophie und politische Philosophie übergeht, sondern im Versuch des PraktischWerden der Philosophie ersichtlich, die schon mit Fichte in die Pädagogik mündet. Nicht nur, daß die Erklärung des Verwerfens und des Vorziehens in die mechanische Psychologie zurückführt (und zwar auch bei der Bildung des Geschmacks durch Gewöhnung und nicht durch Willensbildung im Sachunterricht), ebenso zentral ist die Grenzziehung des Verwerfens und Vorziehens zum Urteilen. Reinhold hatte schon die Differenz zwischen Verstandesurteil und ästhetischem Urteil psychologischästhetisch nivelliert. Herbart scheint das nicht ganz verhindern zu können, wenn er die Beschleunigung der Anlagerungen mit dem Schlußfolgern, und das Behaltenkönnen der Verhältnisse der Vorstellungen (vielleicht: Herausheben) mit dem Urteil in Zusammenhang bringt (auch Bolzano hat eine ähnliche Variation über Bobrik’ Herbartianismus entwickelt). Herbarts Auseinandersetzung mit Kant in der Frage des kategorischen Urteils hat mit der mechanischen Psychologie aber nichts Erkennbares mehr zu tun, da geht es um die Frage, ob der Satz des kategorischen Urteils Identität des Konzepts und Existenz (Kant), oder ob die Sätze des kategorischen Urteils zuerst Identität des jeweiligen Konzepts ausdrücken, und erst dann nach der Existenz gefragt werden kann (Herbart). Es steht also zur Debatte, inwieweit die transzendentallogische Fragestellung zu einer eigenständigen modallogischen Fragestellung wie in der rationalen Metaphysik nach Leibniz führen muß. Auch Franz Brentano hält die Differenz zwischen Verwerfen und Vorziehen einerseits und Urteilen andererseits für entscheidend, obgleich er seinerseits ohne die Zurückführung des logischen Urteils auf die Psychologie der Akte (Phänomenologie) nicht auskommt. In der Frage nach der richtigen Behandlung der modalen Frage fundiert Brentano die Wahrheitsfrage mit einer Evidenztheorie, die weit hinter Kant zurückgreift: tlw. thomistischer Aristoteles, Duns Scotus, Descartes, und in seiner Logik auf einen klandestinen Leibniz. So vertritt er die Position Kantens und nicht die von Herbart, auf den er sich anfangs (Empirische Psychologie, Bd.2, Von der Klassifikation der psychischen Phänomene), insbesondere in der Frage der Einteilung der Seelenvermögen, mehrfach bezieht.

Um zu einem ersten Resumée zu kommen: Ich stelle mir die aktuelle Bildungs- und Wissensfrage in der Aufklärung immer schon im nämlichen Spannung wie die Philosophie befindlich vor, die zwischen den unverzichtbaren Polen des Logozentrismus, der Idee der Mathesis und der hermeneutisch-historischen Auslegung des Vergesellschaftungs- und Reproduktionsprozesses (wie unvollständig auch immer) auszuhalten und zu bearbeiten ist. Der Übergang des theoretischen Bemühens in die Praxis in allen spezifierbaren relevanten Bereichen der Wissenschafts- und Gesellschaftsentwicklung geht aber ins Leere, wenn versäumt wird, schon für unsere eigene Weltaneignung individuell wie kollektiv die Dimension der Pädagogik zu bedenken. Ich denke, daß die Verbindung von Philosophie und Pädagogik im Heranführen und Herangeführtwerden eine wesentliche ist, und nicht erst unter bildungssoziologischen Gesichtspunkten zum Thema wird. Vgl. Franz Fischers zwei Anläufe: das System der vertikalen und horizontalen Bildungskategorien, und die Einübung in die von sich leeren Vorstellung zur Einübung der von sich reinen (leeren) Gesellschaft als Füreinandersein (Proflexion) gegenüber der von sich erfüllten Vorstellung und der von sich erfüllten Gesellschaft als Gegeneinandersein (Reflexion). Daß dergleichen Projektwerdung von Philosophie durch Haltung ohne die In-Beziehung-Setzen der geschichtlichen Qualität des soziologisch fassbaren Gesellschaftsprozesses mit der Interpretation der eigenen Lebensgeschichte von selbst an Relevanz verliert, macht für mich den Übergang zur gesellschaftshistorischen Relevanz von soziologischen, ökonomischen und politischen Gesellschaftsmodellen aber nicht nur auf der sachlich-theoretischen Ebene zu einem politischen Thema.

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