Eberhard W. Schmidt
Westerplatte Den Entschluss, seinen siebzigsten Geburtstag, der auf den 1. September 2009 fiel, in Danzig zu verbringen, hatte Kern schon länger gefasst. Das Wort feiern schien ihm angesichts des verhängnisvollen Datums nicht angemessen. Es war ihm allerdings schwer gefallen, gegenüber seinen Kindern und seinen Freunden zu begründen, was ihn zu dieser Reise bewegt hatte. Dass es eine Reise in die Vergangenheit sein sollte, wäre vielleicht noch zu vermitteln gewesen. Aber warum er an diesem Tag unbedingt an dem Ort sein wollte, wo alles angefangen hatte, wusste er selber nicht so genau. Das Wort Anfang war vielleicht falsch, wenn man es in einem umfassenden Sinne verstand. Die Wurzeln der Katastrophe reichten, das wusste Kern, der Historiker und Archivar, nur zu gut, weit tiefer in die Vergangenheit. Sie ließen sich nicht an einem Ort festmachen oder an einem einzelnen Ereignis. Und doch zog es ihn unwiderstehlich dort hin, wo vor siebzig Jahren am Tag seiner Geburt die ersten Kampfhandlungen des zweiten Weltkrieges stattgefunden hatten. So, als ob er auf der Westerplatte an der Mündung der Weichsel den magischen Ort fände, der ihm Zugang zu den Erfahrungen seiner frühen Kindheit verschaffen könnte. Hierhin, wo im Morgengrauen des 1. September 1939 die „Schleswig-Holstein“, ein Linienschiff und Zerstörer der deutschen Kriegsmarine, das Feuer auf die kleine polnische Garnison eröffnet hatte, die den Militärs als Hindernis für den Vormarsch der deutschen Truppen in Polen galt, trieb ihn die unbestimmte Erwartung, er werde dort etwas Besonderes erleben.
Gelegentlich hatte der Tag seiner Geburt, wenn er ihn angeben musste, bei dem jeweiligen Gegenüber für ein halb erstauntes, halb beeindrucktes Emporziehen der Augenbrauen gesorgt. Der 1. September 1939 war vor allem für die Älteren unter seinen Mitbürgern ein Datum, das Erinnerungen wachrief oder zu mindestens vage Assoziationen an ein irgendwie bedeutsames Ereignis auslöste. Die jährlichen Gedenkfeiern, die nicht nur von pazifistischen Gruppierungen regelmäßig an diesem Tag veranstaltet wurden, hatten die Erinnerung daran in der Öffentlichkeit wach zuhalten versucht. Aber es war nicht sicher, ob die Nachricht nicht wie so vieles in dem umfassenden medialen Rauschen unterging, an das die Menschen sich inzwischen gewöhnt hatte. Nach dem Ende des Kalten Krieges war es auch hohen politischen Repräsentanten aus Deutschland bei runden Jubiläen dieses Gedenktages zur Gewohnheit geworden mit ihren polnischen Kollegen an diesem Tag an dem Denkmal
2 vor Ort Kränze niederzulegen und Freundschaftsgesten zwischen den einst verfeindeten Nationen auszutauschen.
Seine Mutter hatte sich immer mit gemischten Gefühlen an dieses Datum erinnert, wie sie ihm eingestand, als er schon erwachsen war und nicht mehr den Anspruch auf einen unbeschwerten Kindergeburtstag erhob. Die Geburt des Sohnes war für sie untrennbar mit der Verabschiedung vom Vater verbunden gewesen, der wenige Tage zuvor den Einberufungsbefehl erhalten hatte und im Januar 1943 bei der Belagerung von Leningrad für Führer und Vaterland gefallen war, wie es im Jargon der Zeit hieß. An den Vater erinnerte er sich nicht. Er war in den Kriegsjahren einmal kurz auf Urlaub zu Hause gewesen, der Dreijährige hatte ihn rasch aus dem Gedächtnis verloren. Nur das Foto auf der Anrichte im Wohnzimmer zeugte noch lange von seiner Existenz.
Kerns Freunde, denen er seinen Entschluss mitteilte, auf die übliche Feier aus Anlass dieser bedeutenden Wegmarke in seinem Leben zu verzichten, hielten die Reisepläne entweder für eine Ausrede, um sich vor den Umständen und Kosten der Feier zu drücken, oder für eine liebenswerte Marotte, die man ihm zugestehen musste. Die Kinder, die längst erwachsen waren, waren etwas besorgter. Sie hatten beobachtet, wie sich der Vater seit einiger Zeit immer mehr in sich verschloss. Er ließ sich aber in seinem Vorhaben nicht beirren.
Das mit Touristen und polnischen Reisenden voll besetzte Flugzeug startete planmäßig und durchbrach nach anderthalb Stunden im Landeanflug auf den Lech Walesa Airport die Wolkendecke. Kern, der sich einen Fensterplatz gesichert hatte, sah unter sich die dichten grünen Wälder und Hügel Kaschubiens. Nach einer weiteren Kurve, mit der das Flugzeug zur Landung ansetzte, kam die Ostseeküste in Sicht. Kern konnte die Danziger Bucht unter sich ausmachen, die Halbinsel Hel, weiße Strände im Sonnenlicht und die Weichselmündung. Sein Herz klopfte vor Erwartung.
Er verließ den Flughafenbus am Danziger Hauptbahnhof und ging zu Fuß durch die Altstadt, vorbei an den hohen Backsteinkirchen und den wiedererstandenen Kaufmannshäusern, zu seinem Hotel. Die Orientierung anhand des mitgebrachten Stadtplans fiel ihm leicht. Er musste nur die berühmte Lange Gasse und den Markt erreichen, dann war es nicht mehr weit. Vor dem Rathaus setzte er sich in eines der zahlreichen Straßencafés und ließ die großartige Szenerie, die ihn umgab, auf sich
3 wirken. Im milden Licht des Spätsommertages war von den schweren Zerstörungen, die der Krieg angerichtet hatte, nichts mehr zu sehen. Alles war in prächtigem Glanz wieder erstanden, als hätte es den Krieg nie gegeben. Die Restauratoren hatten phantastische Arbeit geleistet. Dem Ensemble aus alten Handelshäusern und öffentlichen Gebäuden, den Brunnen und Stadttoren war nichts museales anzumerken. Die Stadt lebte, die Menschen flanierten, gingen ihren Geschäften nach oder ließen sich auf Terrassen von der Sonne bescheinen. Ein Hauch italienischer Renaissance lag über vielen Gebäuden und verlieh allem eine beschwingte Heiterkeit.
Keine deutsche Stadt, ging es ihm durch den Kopf, hatte diesen geschlossenen Wiederaufbau geschafft. Die Zerstörungswut der Nachkriegszeit mit ihren blinden und billigen Wiederaufbauprogrammen, die im Leitbild der autogerechten Stadt gipfelten, hatte die Innenstädte mit mittelmäßiger Kaufhaus- und Bankenarchitektur zugepflastert, zwischen denen sich die wenigen restaurierten alten Häuser wie solitäre Fremdkörper ausnahmen.
Kern durchschritt das Grüne Tor und fand sich auf der Brücke über der Mottlau wieder, die jetzt Motlawa hieß. Links von sich ah er das berühmten Krantor am Ufer des Flusses. Sein Hotel lag gegenüber auf der Speicherinsel. Hier gab es noch ein paar Ruinen und unbebautes Gelände. Aber es war abzusehen, dass in einigen Jahren die Wiederbebauung auch hier abgeschlossen sein würde. Die Bauzäune standen schon. Die alten Speicherruinen würden vermutlich bald modernen Hotel- und Bürogebäuden weichen. Aber das schmälerte die Leistung deren nicht, die die alte Stadt gerettet hatten. Er hatte irgendwo gelesen, dass im ersten Furor der Nachkriegszeit der verständliche Hass auf die Invasoren nicht wenige Stimmen hervorgebracht hatte, diese Stadt mit ihrer jahrhundertealten deutschen Prägung endgültig in Schutt und Asche zu legen. Das war erfreulicherweise verhindert worden.
Inzwischen war es Abend geworden. Kern hatte sich noch etwas ausgeruht. Die Reise und die sommerliche Wärme in der Stadt hatten ihn ermüdet. Er verließ das Hotel, um sich ein Lokal zu suchen, in dem er zu Abend essen wollte. Am Flussufer fand er ein Fischrestaurant und trank zu dem Stör auf Steinpilz, den er bestellt hatte, zwei Gläser Rotwein. Sein Plan war, sich früh schlafen zu legen und in der Morgendämmerung ein Taxi zur Westerplatte zu nehmen, um kurz vor fünf Uhr an Ort und Stelle zu sein. Er wollte auf jeden Fall vermeiden, in den Trubel der offiziellen Feierlichkeiten hinein zu
4 geraten, zu der sich die deutsche Kanzlerin und der polnische Regierungschef aus Anlass des runden Jubiläums angesagt hatten. In Wahrheit hoffte er insgeheim auf die kathartische
Wirkung
des
Augenblicks
der
siebzigjährigen
Wiederkehr
des
Kriegsbeginns. Auch wenn ihm sein Verstand sagte, dass er etwas Unmögliches begehrte.
Als Kern gegen vier Uhr morgens vor die Tür des Hotels trat, wartete das bestellte Taxi schon. Die Nacht war kühl und klar. Ein Blick zum Himmel zeigte noch Sterne. Er fröstelte leicht und knöpfte die Jacke zu. Der Fahrer sah ihn erstaunt an, als er das Fahrtziel nannte, erwiderte aber nichts. Vermutlich hatte er zu so früher Stunde eine Fahrt zum Flughafen oder zum Bahnhof erwartet. Sie fuhren zügig durch die noch stillen Straßen, nur selten begegnete ihnen ein anderes Fahrzeug. Kern konnte in der Dunkelheit wenig erkennen. Er bemerkte, dass sie eine Weichselbrücke überquerten und bald danach eine autobahnähnliche Kreuzung erreichten, von der sie sich in einem scharfen Bogen nordwärts wandten. An einer Ampel las er das Straßenschild majora Henryka Sucharskiego. Er erinnerte sich, dass es der Name des polnischen Kommandeurs der Garnison Westerplatte war. Sie mussten also auf dem richtigen Weg sein. Als der Wagen nach einer längeren Fahrt auf der alleeähnlichen Straße plötzlich hielt, waren nach Kerns Schätzung knapp zwanzig Minuten vergangen. Im Scheinwerferlicht sah er, dass die Straße hier endete. Der Fahrer wies mit ausgestrecktem Arm seitlich nach vorne und sah ihn fragend an. Kern nahm in der beginnenden Dämmerung undeutlich etwas Turmähnliches wahr. Das musste die hohe Gedenksäule sein, die er schon auf einer Abbildung gesehen hatte. Er zahlte den Betrag, der auf dem Taxometer stand, gab ein gutes Trinkgeld und wehrte mit einer unmissverständlichen Geste das Ansinnen des Fahrers ab, hier auf ihn zu warten. Er sah noch, wie der Pole den Kopf schüttelte, wie das Taxi wendete und ihn alleine im Dunklen zurückließ.
Dann zog er die Taschenlampe, die er vorsichtshalber eingesteckt hatte, aus der Jackentasche und machte sich auf den Weg. Es war nur ein kurzer Gang, bis er die Anhöhe erreichte, auf der sich das Denkmal in den Himmel erhob. Im Dunklen kam es ihm riesig vor. Er setzte sich auf die Stufen, die den Sockel umgaben und blickte über den Hafenkanal, wo die Lichter von Neufahrwasser auszumachen waren. Dort hatte damals die „Schleswig-Holstein“ ein paar Tage gelegen, bevor sie vor die alte Festung Weichselmünde verlegt worden war, wo sich eine besseres Schussfeld auf die
5 befestigte Garnison bot. Außerdem konnten von dort die Marinesoldaten, es sollen mehr als zweitausend gewesen sein, die im Bauch des Schiffes mehrere Tage verborgen abgewartet hatten, leichter an Land gebracht werden. Sie sollten die Wachthäuser und befestigten Stellungen der Polen von der Landseite her angreifen.
Kern schaute auf die Leuchtziffern seiner Armbanduhr. Es waren noch ein paar Minuten bis zum entscheidenden Augenblick. Hier oben war es noch kühler als in der Stadt und er zog die Jacke eng an sich. Er fror ein wenig auf den kalten Steinen. Am Himmel waren noch die Sterne des verblassenden Sommerdreiecks zu sehen. Er dachte an seine Muter, die ihn heute vor siebzig Jahren geboren hatte, irgendwann am frühen Morgen. Sie hatte kein leichtes Leben gehabt und war nun schon lange tot. Dann war es soweit. Seine Uhr zeigte exakt 4.45. In diesem Augenblick vor siebzig Jahren waren die ersten Geschosse aus den Geschützen an Bord der „Schleswig-Holstein“ abgefeuert worden, Lichtblitze zuckten über das Wasser, Granaten schlugen vor der Garnison ein, viele zerschellten an den Bäumen. Kurz darauf hatten die Verteidiger das Feuer mit ihrem Feldgeschütz erwidert. Die Schlacht um die Westerplatte hatte begonnen und mit ihr der zweite Weltkrieg.
Kern schloss die Augen. Er horchte in sich hinein und mit einem Mal waren Bilder aus der Kindheit wieder da, die er lange vergessen oder verdrängt hatte. Der Luftschutzkeller, in dem er gemeinsam mit den verängstigten Erwachsenen die langen Bombennächte in den letzten Kriegsjahren durchwacht hatte. Die brennenden Häuser in der Nachbarschaft, der Geruch verkohlter Balken in den Ruinen, der noch lange danach zu den unverkennbaren Gerüchen seiner Kindheit zählte. Schließlich das Ende, als er vom Dach des Hauses die brennenden Industrievororte von Berlin sah. Die toten SSMänner in ihren schwarzen Uniformen, die sich kurz vor dem Einmarsch der Russen in den Gräben vor der gegenüberliegenden Kaserne das Leben genommen hatten und mit verrenkten Gliedern unbegraben umher lagen. Es waren die ersten Toten gewesen, die er gesehen hatte. Er erinnert sich an die Heckenschützen, die von den Dächern der Häuser die einmarschierenden Soldaten angriffen und Feuergefechte in der Straße auslösten. Danach waren die ersten Russen gekommen, Kosacken mit ihren kleinen Panjewagen, die die Großmutter mitnehmen wollten, sich dann aber mit einer Weckeruhr begnügten. Wie sich die Frauen, darunter seine Mutter unter den Kohlehaufen im Keller versteckten, um dem Zugriff der Soldaten zu entgehen, was er damals nicht verstand, aber die Angst hatte ihn angesteckt. Auf die Russen folgten die
6 Amerikaner und er durfte wieder auf die Straße gehen. Er hatte die ersten Neger gesehen, die in ihren glänzenden Uniformen äußerlich so gar nicht dem Sarotti-Mohr glichen, den er gut kannte. Sie waren im Gegenteil groß, verteilten Kaugummi an die Kinder und steckten ihnen manchmal sogar Schokolade zu. Insofern waren sie vielleicht doch mit dem Sarotti-Mohr verwandt. Das Höchste war, von ihnen im offenen Jeep um den Block herumgefahren zu werden, was leider nur selten vorkam und mit den anderen Kindern geteilt werden musste. Da war er schon fast sechs Jahre alt und musste mit anpacken, wenn es galt bei Hamsterfahrten in die Umgebung den schweren Tornister heim zu schleppen, voll von Kartoffeln, Rüben oder Obst, eingeklemmt in überfüllte S-Bahnwaggons, auf Kniehöhe mit den Erwachsenen, immer in der Angst erdrückt zu werden. Manchmal begleitete er die Mutter in den Wald zum Holz sammeln, das dann auf einem mühsam ergatterten Leiterwagen kilometerweit nach Hause gezogen
werden
musste.
Aber
anders
war
das
Überleben
in
den
ersten
Nachkriegsjahren in der zerbombten Großstadt für eine Kriegerwitwe mit Kind nicht zu schaffen. Erst ganz allmählich war es besser geworden, nachdem die Mutter wieder eine anständige Arbeit gefunden hatte, als Sekretärin in einem großen Büro.
Kern saß lange Zeit, unbewegt, mit geschlossenen Augen in seine Erinnerungen versunken, auf den Steinen. Er fühlte eine unbestimmte Traurigkeit. Was hatte er erwartet? Dass er die Gespenster seiner Kindheit, die ihn mit zunehmendem Alter mit Depressionen und schweren Träumen quälten, in einem einzigen magischen Augenblick vertreiben könnte? Die Rituale, mit denen die frühen Menschen den bösen Geistern Ort und Gestalt gaben, um sie zu bannen oder zu besänftigen, standen nicht mehr zur Verfügung. Trotzdem fühlte er sich erleichtert. Es war richtig gewesen, hierher zu kommen und sich zu erinnern, auch wenn sich dadurch noch nichts änderte. Er dachte zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder an den verlorenen Vater, den er nicht gekannt hatte und dessen Leichnam oder was davon noch übrig war, irgendwo im Osten in einem Soldatengrab lag. Der wäre jetzt sicher auch schon tot, hätte er den Krieg überlebt.
Als er die Augen wieder öffnete, sich erhob und ein paar rasche Schritte ging, um die Kälte zu vertreiben, waren die Sterne am Himmel waren verschwunden, das Dunkel war einem blassen Grau gewichen, Kern betrachtete das Denkmal, das sich vor ihm erhob, genauer. Es erschien ihm auf den ersten Blick mit den aus dem Stein heraus gemeißelten Soldatenköpfen, die aus großer Höhe auf ihn herabblickten und den
7 vorstürmenden Kriegerfiguren über dem Sockel wie ein gigantischer Totempfahl. Eine überdimensionale Stele, deren polnische Lettern er nicht zu entziffern vermochte. Es war auch nicht wichtig, eine verklärende Litanei vermutlich. Das Denkmal hinterließ einen zwiespältigen Eindruck bei ihm. Es feierte nur eine heroische Tat und ähnelte vergleichbaren Denkmälern aus stalinistischen Zeiten, obwohl es erst in den sechziger Jahren entstanden war. Seine Trauer über die verletzte eigene Kindheit, über die Millionen Opfer des Krieges, die der ersten Schlacht hier auf der Westerplatte gefolgt waren, Tote oder an Leib und Seele Verstümmelte, fand er darin nicht wieder. .
Er wollte sich gerade abwenden, als er hinter sich eine Stimme vernahm, die ihn ansprach: „Sind Sie Deutsch?“ Kern drehte sich erstaunt herum und sah vor sich im Halbdunkel eine schmale Gestalt, einen offensichtlich sehr alten Mann mit spärlichen weißen Haaren, der in einen Mantel gehüllt war und ihn aufmerksam anschaute. „Was suchen Sie hier zu dieser frühen Stunde?“ richtete der Alte erneut das Wort an ihn. Kern hatte sich von seinem Erstaunen erholt und antwortete wahrheitsgemäß: „Ich erinnere mich“. „So“, sagte der alte Mann in seinem gut verständlichen, mit einem leichten polnischen Akzent gefärbtem Deutsch, „Sie erinnern sich. Woran?“ Kern dachte einen Augenblick nach: „An den Krieg und was er uns angetan hat“, sagte er knapp. „Uns?“ fragte der Alte zurück. „Uns allen. Ihnen, mir, denen, die ihn nicht überlebt haben, denen, die ihn nicht vergessen können.“ Der Alte nickte bestätigend, sein Tonfall klang nun verbindlicher: „Wissen Sie, ich komme jedes Jahr um diese Zeit hierher, um zu gedenken. Aber ich habe außer Ihnen noch nie einen Menschen zu dieser Stunde hier angetroffen. Was hat Sie dazu veranlasst?“ Kern überlegte. Was konnte er dem alten Mann antworten? Es kam ihm ja selbst bei Licht betrachtet ziemlich unwirklich vor, was er hier trieb. Andererseits machte der Mann nicht den Eindruck, als gäbe er sich mit einer oberflächlichen Antwort zufrieden. Die Situation war andererseits zu ungewöhnlich, um sich einfach davon zu stehlen. Ein Pole und ein Deutscher, die in der beginnenden Morgendämmerung an dem Ort , wo vor
8 siebzig Jahren die größte Katastrophe des vergangenen Jahrhunderts begonnen hatten, eine Gedenkstunde abhielten. Er zögerte. Sollte er dem Fremden von seiner Angst vor der Depression erzählen, die ihn immer häufiger heimsuchte. Von seiner übermäßigen Erregbarkeit, die ihm die Tränen in die Augen trieb, wenn er mit besonders anrührenden Nachrichten konfrontiert wurde, auch wenn sie gänzlich fremde Menschen betrafen? Zwar spürte er bei diesem Andrang von Tränen keinen körperlichen Schmerz, aber es war ihm doch unangenehm, wenn ihn die Emotionen überwältigten. Selbst wenn er den Enkelkindern vorlas, war ihm bei bestimmten sentimentalen Stellen regelmäßig die Stimme fast gebrochen und er fand nur mühsam zu einem normalen Tonfall zurück. Diese Erregungszustände waren mit zunehmendem Alter immer stärker geworden. Manchmal befürchtete er, die Dämme, die die Tränenfluten zurückhielten, könnten endgültig brechen und die Depression ihn überwältigen. Ein Analytiker, den er früher einmal aus Anlass des Todes seiner Frau konsultiert hatte, antwortete ihm, als er in einer Sitzung davon erzählte, vermutlich hat man auf Sie als Kind zu wenig Rücksicht genommen, Ihnen buchstäblich zuviel aufgeladen, deshalb durchleben Sie verwandte Situationen viel intensiver als die meisten Menschen. Der Therapeut hatte noch von einer Neigung zu Affektlabilität, ja Affektinkontinenz gesprochen. Begriffe, die Kern abstießen und mit denen er nichts zu tun haben wollte. Einen Rat, wie damit umzugehen sei, hatte er nicht bekommen. Sein Entschluss, hierher zu kommen, das war ihm schon länger klar geworden, hing in irgendeiner Weise mit dieser Angst sich zu verlieren zusammen.
Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, hatte der alte Mann ohne Anzeichen von Ungeduld abgewartet. Kern beschränkte sich schließlich auf eine knappe Antwort: „Ich wollte mich an diesem Ort und zu dieser Zeit den Verletzungen stellen, die meine frühe Kindheit geprägt haben. Ich bin heute vor siebzig Jahren geboren worden.“ „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag“, antwortete der Alte, es klang freundlich, nicht sarkastisch, „und haben Sie gefunden, was sie hier suchten?“ „Ich weiß es nicht genau“, sagte Kern, „die Umgebung passt nicht so gut, wie ich erwartet hatte.“ „Das Denkmal? Ja, Sie haben recht, es erzählt nicht die wahre Geschichte, es ist nur ein Ort, der die Legende verewigt. Legenden täuschen meistens über die Wahrheit hinweg. Kommen Sie, ich werde Ihnen etwas zeigen, das der Sache vielleicht näher kommt.“
9
Kern folgte dem alten Mann. Es war nun hell genug, um die Taschenlampe wieder einzustecken. In den Bäumen waren die ersten Vogelstimmen zu hören, irgendwo vor ihnen, im Osten über dem Meer würde bald die Sonne aufgehen. Stumm schritten sie nebeneinander her, bis der Alte ihn am Arm fasste und auf ein halb verfallenes Gebäude im Wald wies. Kerns Augen bot sich ein Betonskelett, das seine Eckpfeiler nutzlos in den Himmel streckte, Trümmer der eingestürzten Decken hingen auf den Boden hinab. Die fehlenden Seitenwände eröffneten einen Blick in dunkle Löcher, die ihm entgegenstarrten. Im fahlen Licht des Morgens wirkte die Ruine wie ein gespenstisches Mahnmal. So hatte Kern die Ruinen seiner Berliner Kindheit in Erinnerung. Das zerstörte Gebäude wirkte echter auf ihn als das monumentale Bauwerk auf der Anhöhe, die sie gerade verlassen hatten. Als Kern sich dem Alten fragend zuwandte, erfuhr er: „Das sind Reste der alten Kaserne, die zur Garnison gehörte. Das meiste, von dem, was nach der Beschießung übrig war, haben die kommunistischen Behörden nach 1945 zerstört. Die Erhaltung nationaler Denkmäler war nicht gefragt. Die Polen sollten sich nicht an ihre heroische Vergangenheit erinnern, sondern die sozialistische Gesellschaft aufbauen. Sie haben auch das große Gedenkkreuz, das 1946 hier in der Nähe errichtet worden war, entfernt und stattdessen einen sowjetischen Panzer aufgestellt. Kolonialisierung des Gedächtnisses. Gelingt selten“. Er wandte sich zum Gehen: „Inzwischen ist der Panzer verschwunden und das Kreuz steht wieder dort hinten beim Friedhof für die verstorbenen Verteidiger der Westerplatte. Übrigens wollen sie jetzt die zerstörte Kaserne wieder aufbauen und zu einem Kriegsmuseum machen. In diesem Land halten sie Ruinen nicht aus.“
Kern hatte den bitteren Unterton nicht überhört, aber ehe er nachfragen konnte, deutete sein Führer auf ein niedriges Gebäude, das der Wald bisher verborgen hatte. „Das Wachthaus Nr.1, das einzige, das nach der siebentägigen Belagerung der Befestigung unzerstört erhalten geblieben ist. Das reichte bisher als Museum aus. Sehen sie die beiden Granaten, die man dort vor der Wand aufgestellt hat. Sie stammen von den damaligen Kämpfen. Wenn es heller wäre, könnten Sie noch ein paar Einschusslöcher sehen“.
10 Sie blieben eine Weile vor dem einstöckigen Haus stehen, das eher einem Schuppen als einem Museum glich und um diese Uhrzeit natürlich geschlossen war. „Drinnen sehen Sie ein paar Devotionalien aus der Zeit der Beschießung, Maschinengewehre, Uniformen, Fotos, Orden, das Übliche eben“, sagte sein Begleiter und forderte ihn auf, mit ihm hinunter zur Anlegestelle zu gehen: „Dort stehen ein paar Stühle und Tische vor dem Kiosk, da können wir uns in Ruhe unterhalten. Vielleicht machen sie heute wegen des zu erwartenden Trubels etwas früher auf, dann bekommen wir dort auch einen Kaffee.“
Kern willigte ein und wenig später standen sie am Ufer des Hafenkanals unterhalb des Monuments, das nun von der aufgehenden Sonne angestrahlt hoch über ihnen erglänzte. Auch der Leuchtturm von Neufahrwasser auf der anderen Seite gewann jetzt deutlicher an Kontur. Sie setzten sich an einen der Tische, nachdem Kern mit Papiertaschentüchern den morgendlichen Tau von den Sitzen gewischt hatte. Es war etwas wärmer geworden, kurz vor sechs, wie er mit einem verstohlenen Blick auf seine Armbanduhr festgestellt hatte. Noch war weit und breit niemand zu sehen, der einen Kaffee ausschenken würde.
Kern musterte sein Gegenüber nun genauer. Die lebhaften Augen ließen das Greisenhafte der übrigen Gestalt in den Hintergrund treten. Der Mann musste deutlich über achtzig sein. Dessen war Kern sich sicher. Er war unscheinbar, fast ein wenig ärmlich gekleidet, aber seinen Verstand hatte er offenbar noch gut beisammen: „Wie konnten sich die Polen auf der Westerplatte eigentlich gegen die militärische Übermacht der Deutschen sieben Tage lang behaupten?“ fragte er unvermittelt. „Sie wissen vielleicht“, sagte der Alte nach kurzer Überlegung, „dass durch Völkerbundsbeschluß nach dem 1. Weltkrieg den Polen ein Zugang zum Meer eingeräumt wurde, der berühmte Korridor. Die Freie Stadt Danzig musste den Polen dazu die Westerplatte überlassen, eine bewaldete Halbinsel, die in den zwanziger Jahren ein beliebtes Seebad war. Nach 1933 bauten die Polen dort eine Kaserne und ein Waffendepot, um notfalls eine deutsche Aggression zu verhindern. Die breite Strasse, auf der Sie vermutlich gekommen sind, war von deutscher Seite mit einer Grenzwache und einer Ziegelmauer von der Stadt Danzig abgetrennt worden. Als die Spannungen 1939 zunahmen, verlegten die Polen auf dem Seeweg mehr Militär und Munition auf die Westerplatte, Kanonen, Mörser und MGs. Dafür errichteten sie mehrere
flache
Maschinengewehrstände
und
hoben
Gräben
aus.
Ein
11 Stacheldrahtverhau diente als zweiter äußerer Verteidigungsring. Sie waren also ganz gut gerüstet, als es losging.“ „Aber die Deutschen griffen schon am zweiten Tag mit fünfzig Stukas an und warfen tonnenweise Bomben ab. Das habe ich irgendwo gelesen“. „Richtig, aber die Verteidiger waren durch Bunker gut geschützt. Von den über 200 Mann, die dort stationiert waren, starben in den ersten Tagen nur wenige, insgesamt nur fünfzehn und sechsundzwanzig wurden verwundet. Die deutschen Marinesoldaten, verstärkt durch SA und Polizei aus der Stadt, hatten anfänglich hohe Verluste. Wie viele bei dem Angriff auf die Garnison starben, wurde nie bekannt gegeben.“ „Sie kennen sich sehr gut aus“, unterbrach ihn Kern anerkennend, „ ich weiß nur, dass der kommandierende Offizier, der Major Sucharski, den Krieg überlebt hat. Ich las, er sei in Neapel gestorben.“ „Henryk Sucharski, unsere heroische Legende. In jeder Stadt Polens ist eine Straße oder ein Platz nach ihm benannt. Wollen Sie die Wahrheit hören?“ Er fuhr fort, ohne ein Antwort abzuwarten: „Major Sucharski wollte schon am zweiten Tag nach den Bombenangriffen kapitulieren. Er hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten und befohlen, die weiße Fahne zu hissen. Aber die anderen Offiziere um seinen Stellvertreter Francisek Dabrowski, der eigentliche Held von der Westerplatte, haben es nicht zugelassen. Sie haben ihn tagelang eingesperrt. Vier Offiziere, die auch kapitulieren wollten, wurden von den Soldaten erschossen. Aber kurz bevor sich die Besatzung der Garnison nach sieben Tagen Widerstand selbst ergeben mussten, weil ihnen die Munition ausging, haben die Offiziere sich geschworen zu schweigen, um den Familien von Sucharski und der anderen Offizieren die Schande zu ersparen. Erst als vor fünf Jahren ein Comicstrip erschienen ist, der auf den persönlichen Erinnerungen von Dabrowski basierte, er starb schon 1962, hat man den wahren Verlauf der Ereignisse erfahren. Aber es hat nichts geändert.“ „When the legend becomes fact, print the legend“. Unwillkürlich kam Kern der Ausspruch eines Zeitungsschreibers aus einem alten Western von John Ford in den Sinn. Auf diese Art wiederholte sich Geschichte immer. Der Alte fügte abschließend noch hinzu: „Ihr General Eberhardt war übrigens sehr beeindruckt von dem tapferen Widerstand der Polen. Er hat Major Sucharski ausdrücklich seinen Degen zurückgegeben, als dieser an der Spitze seiner Offiziere die Kapitulation erklärte.“
12 Kern hatte Verständnis für den ironische Ton seines Gegenübers. Er bedankte sich für die Erklärungen und sah sich um. Inzwischen hatte sich die Anlegestelle belebt, auf der Anhöhe hatten die Vorbereitungen für das feierliche Ereignis begonnen. Auch der Betreiber des Kiosk war erschienen. Er begrüßte den Alten freundlich, nickte Kern zu und versprach, einen Kaffee zu bringen. Offenbar kannte man sich. „Alle waren sie in den vergangenen Jahrzehnten hier,“ sagte der alte Mann, der Kerns Blicken gefolgt war: „Hitler zuerst, er hat eine ganze Woche drüben in Sopot im Grand Hotel logiert, später de Gaulle, der Papst, Ihr Präsident und so weiter. Inzwischen steht die Aussöhnung im Vordergrund. Ist auch gut so.“ Inzwischen war der Kaffee gekommen und beide ließen sich von dem heißen Getränk erwärmen, das nach der kalten Nacht ein Labsal war. „Bitte erzählen Sie mir von sich, wie haben Sie persönlich das Ganze überstanden, den Krieg und was danach kam“. Kern beugte sich zu dem Alten herüber. „Ich frage nicht aus purer Neugier, verstehen Sie, es geht mir um etwas anderes. Der alte Mann sah Kern nachdenklich an, als prüfe er, wieviel er von sich preisgeben sollte: „Ich bin, wie Sie bemerkt haben werden, erheblich älter als Sie, Jahrgang 1922. Ich war siebzehn, als das hier losging. Ich besuchte damals das einzige polnische Gymnasium in Danzig. Dort habe ich mein Deutsch gelernt. Es hat mir einige Male geholfen, den Krieg zu überleben. Die Deutschen konnten mich als Dolmetscher gebrauchen. Mein Vater war Lehrer. Die Deutschen haben ihn gleich zu Kriegsbeginn verhaftet, wie fast alle, die zur polnischen Intelligentsia in Danzig zählten. Er wurde zuerst in das Sammellager in der Kaiserin Victoria Schule gebracht, dann in das zentrale Gestapogefängnis.
Das
Gebäude
steht
noch.
Heute
sind
dort
polnische
Sicherheitsbehörden untergebracht. Über dem Türsturz beim Haupteingang können Sie noch das deutsche Wort „Polizeipräsidium“ lesen. Es ist nur unzureichend übermalt worden. Ob er schon dort in den Folterkellern der Gestapo oder erst im KZ Stutthof starb, kann ich nicht sagen. Wir haben erst nach dem Krieg erfahren, was mit ihm geschah. Das ist übrigens für mich der Grund, warum ich in jeder Nacht des 1. September hierher komme.“ Er machte eine Pause. „Ich wurde ein halbes Jahr später wie viele junge polnische Männer als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt. In dem Lager im Osten Brandenburgs ging es uns sehr schlecht. Wir waren zuerst beim Bau der Autobahn Berlin-Frankfurt/Oder eingesetzt,
13 später in Kiesgruben oder bei Firmen, die uns anforderten, weil ihnen durch den Krieg Arbeiter fehlten. Kontakt mit Deutschen war streng verboten. Es gab wenig zu essen, im Winter froren wir schrecklich. Gegen Kriegsende kam ich ins Straflager Schwetig, dort war es unmenschlich. Viele starben an Entbehrung oder weil sie von den Bewachern tot geprügelt wurden. Ich war dorthin gekommen, weil ich versucht hatte, einen Freund, dem es sehr schlecht ging, vor der Arbeit zu verstecken. Er hat es nicht überlebt.“ Wieder schwiegen beide lange. „Als die Rote Armee im Winter 44/45 näher kam, wurde das Lager aufgelöst, wir wurden gezwungen bei eisigen Temperaturen ohne zureichende Bekleidung und Schuhe nach Sachsenhausen zu marschieren und von dort nach Buchenwald. Viele überlebten den Marsch nicht. Ich war noch jung und einigermaßen gesund. Bei der Befreiung wog ich weniger als heute.“ Er lächelte. „Nach dem Krieg wurde ich Lehrer. Hier in Danzig, wie mein Vater. War es das, was Sie wissen wollten?“ Kern nickte und schwieg. Die Begegnung hatte ihn aufgewühlt. Er hätte den alten Mann gerne in den Arm genommen. Aber das war natürlich nicht möglich. „Quält Sie die Vergangenheit noch? Haben Sie manchmal Alpträume, wenn Sie an das Lager zurückdenken? Entschuldigen Sie, wenn ich Sie so unverblümt frage“. Kern schaute den alten Mann an, der beruhigend den Kopf schüttelte: „Ich verstehe jetzt, warum Sie hier sind. Wissen Sie, die Vergangenheit verstummt nie, aber Sie können mit ihr leben, wenn Sie sie nicht als Feind betrachten. Lernen Sie, sie anzunehmen. Was geschehen ist, ist unumkehrbar. Es gehört zu Ihnen. Mir haben immer die Kinder in der Schule geholfen, wenn es mich zu arg bedrängte. Für sie musste ich da sein. Sie brauchten mich. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.“ Sie saßen noch eine Weile stumm am Tisch. Dann winkte der Alte den Wirt herbei und zahlte den Kaffee für beide. Kern wollte protestieren. Aber der Andere wehrte ab: „Es war mir eine Freude, mit Ihnen zu sprechen. Leben Sie wohl und kommen Sie gut nach Hause.“ Kern schüttelte ihm die Hand und sah ihm nach, wie er in Richtung des Plateaus davon ging. Er setzte sich auf die Kaimauer und wartete auf das erste Schiff mit den Ausflüglern, das ihn zurück in die Stadt bringen würde.
Während das Schiff an der alten Festung Weichselmünde und später an der Werft mit ihren zahlreichen Kränen vorüber glitt, dachte Kern noch einmal zurück. Er war mit der
14 vagen Hoffnung hierher gekommen, den Angstzuständen, die ihn quälten, etwas entgegen zu setzen. Jetzt musste er sich eingestehen, dass der einmalige Akt der Beschwörung des Unwiederkehrbaren dazu nicht ausreichte. Trotzdem war die Reise nicht vergebens gewesen. Der alte Mann hatte ihm eine Lehre erteilt, die wertvoller war. Er musste Geduld mit sich haben und durfte sich nicht in sich selbst verschließen. Es war den Versuch wert.
Im Hotel legte er sich ohne Umschweife ins Bett und schlief bis zum späten Nachmittag. Er lief noch ein wenig in der Stadt umher, sah aber nun mit gemischten Gefühlen die sorgfältig restaurierten Fassaden der Häuser, die ein schlimmes Gestern vergessen lassen sollten, um einer glänzenderen Vergangenheit willen. Abends suchte er sich ein passables Restaurant und flog am anderen Morgen wieder zurück in seine Stadt. In der Zeitung las er von den Feierlichkeiten auf der Westerplatte. Er war nun unwiderruflich siebzig Jahre alt.