Eberhard Schmidt
LANDAUF, LANDAB REISEBILDER
Am Strand von Natanya Am Strand von Natanya wurde mir klar, es kann ja die Wüste das Meer nicht erreichen sie würden einander sonst gleichen
Prag, im Juli ’93 (unter Mithilfe von Clemens Brentano) Ich streife durch die Gassen mein Schatz ist ausgeblieben ich kann sie noch nicht lassen ich bin so ganz allein In Lieben wohnt Betrüben das ist mir zugelost und kann nicht anders sein und bin doch ohne Trost
Postkarte aus Torre del Lago „Puccini Platz mit das Denkmal von Meister“ Giacomo heißt’ er steht sich hier auf ein Podest mit das Hut und die Galoschen steckt sich Hände in der Taschen fehlt ihm leider nur das Groschen für den Parking Automat
Die gleiche Postkarte aus Torre del Lago „Puccini Platz mit das Denkmal für Meister“ Frühverwaister, Weitgereister, Herr der Töne und der Geister, Opfer dreister Steinmetzkunst
Vergebliche Hoffnung in Valencia Gierig küsst der Papst den Gral und hofft: das lindert meine Qual Allein, es hat ihm nichts gebracht Der Herr hat müde nur gelacht Er findet: das geschieht dem recht mal hat sich’s eben ausgezecht * (*beim Anblick einer Postkarte, auf der Papst Johannes Paul II. den Kelch vom heiligen Gral küsst, der in der Kathedrale von Valencia ausgestellt wird).
Florenz, Piazza della Signoria Des schönen Davids marmornes Glied ist das eines Schwulen wie jeder sieht Fakten die Frauen die Freude versauen (mit Th. Hinzpeter)
Lungo il Po (in memoriam Riccardo Bacchelli) Lang schon versunken die schwimmenden Mühlen am Po zwischen Rho und Guarda Nur die Kirchtürme deichwärts gerichtet auf den einstmals verfeindeten Ufern bewahren noch das Gedächtnis im stummen Gang der Uhrzeiger Nur noch Erinnerung die gefahrvollen Wege der Schmuggler bei Nacht über den schwarzen Fluß In den Pappelhainen werden die Pfingstfeuer vorbereitet Ich liege im warmen Sand zwischen Gräsern und Nessel Ruhig gleitet der große Strom vorüber Vom anderen Ufer ruft der Kuckuck Auf der Rückfahrt nach Ferrara den Deich entlang pflücke ich roten Mohn den der Wind bald vom Lenker meines Rades verweht
Im Weinberg oberhalb von Kloster Neustift (Novacella) Es ward nun langsam dunkel vom Tal her Glockenklang die Farben wurden blasser sie ahnten bang die Nacht Die Raben umflogen das Kloster die Winde wehten kalt wo warteten auf uns wohl Mahl und Trank? So mag es einst geklungen haben wenn man nach Worten suchte für das was man auf Reisen so tief empfand Den Wunsch nach Schweinebraten und nach Bier und ein bequemes Bett zur Nacht nach langer Wanderung und wundem Fuß Den postmodernen Menschen erheitern diese Verse nur er schaut ins Tal hinunter gewahrt der Lichter Glanz befragt noch mal den Michelin und lenkt den Schritt auf die Drei Sterne hin.
Nach einer Konferenz in Travemünde Schon dunkelte das Meer am Strand von Travemünde allein ins Bett zu gehn erschien mir eine Sünde du fehltest mir so sehr Ihr werdet mich verstehn ich hatte gute Gründe mich anders um zu sehn die tristen Männerbünde verstärkten nur noch mehr mein Verlangen nach Verkehr
Angstlust Das Land in Erwartung der See. In meine offenen Spalten strömt salzige Feuchte. Auf dem Rücken liegend überschwemmt mich dein nasser Leib.
Vor Capri I Heute morgen vor den Bädern des Tiberius näherte sich unserem Boot ein Zitronenfalter Rhopalocera rhamni ginstergelbe Blüte über der unermesslichen Bläue des tyrrhenischen Meeres Vom Frühlingswind sorglos fort getragen von den Inselgärten suchte er nun taumelnd halt am nassen Holz kurze trügerische Rast II (abends im Hotelbett) Er: das Gedicht braucht noch einen scharf philosophischen Schluss Sie: Ich liebe Dich Er: So sind wir eben, wir Dichter: liebenswerte Gesellen Sie: Nichts als alte Wortwichser
Auf einer Bank in einem römischen Park Im Sommer der Duft von Jasmin in den Gärten der Villa Borghese und wenn ich dann auf der Bank im giornale lese „in cent’anni tutto cinese...“ dann frag ich mich doch wozu das ganze Gewese
Primavera auf der Isola Bella Auf der Isola Bella balzen verwegen die weißen Pfauen Den Lago Maggiore peitschen lustvoll die lauen Frühlingswinde Der heilige Karl Borromeo neigt sich gelinde und vergibt beiden still ihre Sünde
Città di Castello, Umbrien Allein unter den gelben Bäumen im Park Ein kalter Wind treibt die fallenden Blätter über das Tibertal Cautopates, der Knabe hat die Fackel gesenkt an diesem Morgen im späten Oktober Bald wird der Winter einziehen auf den umbrischen Hügeln Vor mir im Tal fliegt ein Schwarm Tauben auf Zwischen den dürren Stauden ein kurzes weißes Flattern dann entschwinden sie hinter dem Horizont Fester ziehe ich die warme Jacke um die Schultern und mache mich auf den Weg zurück in die Stadt ohne Hast
Abend im Bremer Bürgerpark Das Känguruh geht nun zur Ruh, das Zebu macht die Augen zu. Es träumt vom schwarzen Afrika schon längst das müde Zehebra. Und auch das Lama wird immer zahmer. Der Esel legt die Ohren an, still wird’s auf allen Wegen. Das Meerschwein betet himmelan: Bewahr den Park vorm sauren Regen
Sonntagmorgen in Williamstown, Mass Blendend weiß auf leichter Anhöhe das Haus klassischer Portikus mit schlanken Säulen das satte Grün des perfekt geschnittenen Rasens kein Zaun zur Straße am Mast die unvermeidlichen stars and stripes Die mainstreet glänzt am Sonntagmorgen vor Behaglichkeit und Gottvertrauen Es riecht weithin nach Kaffee und warmem Gebäck Mit frischem Hemd lehnt der Ober an der offenen Tür des Cafès und grüßt Bekannte die auf dem Weg zur Kirche sind Hinter meiner Zeitung gerate ich ins Träumen Wer wären wir Du und ich ruhten wir hier aus am Abend auf einer der Terrassen in den geflochtenen Schaukelstühlen versunken in den Anblick der grünen Hügel von Vermont die sich gerade in der Dämmerung auflösen? Gedächten wir
vielleicht der Kinder irgendwo in fremden Städten oder redeten wir über das Unglück des Nachbarn vom Vortage? oder träumten wir gar angesichts eines braungebrannten Fremden der kurz hinüberblickend vorbei eilt vom nicht gelebten Leben? Anything else, Sir? No, thank you. You’re welcome The check, please
Berlin, Manteuffelstr. 23b revisited Was blieb ist der mit nichts vergleichbare Duft der Linden unter denen wir im Sommer am Bordstein saßen zu Tode gelangweilt Elfjährige Jungs die kleine Steine auf die Straßenkante gegenüber warfen bemüht nicht das Kopfsteinpflaster zu treffen von dem die Kiesel weg sprangen ins Nichts Verzweifelt über die Leere des verrinnenden Tages und so wenig fiel uns ein was dagegen getan werden konnte
Wien, Leopoldstadt Ging durch die leeren Gassen eines Dezembermorgens auf der Suche nach Spuren des vertriebenen Volkes das hier gelebt hatte gestritten und gesorgt geweint und gelacht einst angekommen am Nordbahnhof mit Hoffnungen (unter ihnen auch Vater Freud der sich dann in der Pfeffergasse niederließ) Fand zwischen den schon wieder zerfallenen Sozialbauten den Weg in die Vergangenheit versperrt keine Zeichen mehr kein Handel mit Tuch kein masel tow nichts Fand schließlich auf dem alten Friedhof eine große tote Ratte vergiftet verhungert erfroren was weiß ich zusammengekrümmt lag sie da Mitleid heischend Im Maul des Dibbuk aber steckten wieder
gefaltete kleine Zettel Hoffnungsträger Über mir erhob sich krächzend ein Krähenschwarm aus den alten Kastanien und suchte das Weite
Cordoba, Ostern 1992 Der Andalusier versalzt alle Speisen Der Andalusier serviert zu hastig Der Andalusier schlägt seine Zigarre in Wasser ab Der Andalusier littert wie nix Gutes, vor allem in Bars Leider ist meistens alles aus was man will Der Andalusier ist fromm a)
als andalusische Witwe
b)
als Kegelmütze mit Kerze
Aber: der Andalusier schenkt den Cognac ein: al abondante Andalusien ist ein schönes Land
Frage beim Blick aus dem Zug Zwischen Bassum und Bohmte genießen die Schweine die ersten Sonnenstrahlen wohlig wälzen sie sich auf den wieder ergrünten Wiesen unter der blühenden Kirschbäumen Bin ich alt geworden oder warum trifft mich der Frühling so wehrlos?
Madrider Elegie Im Oktober noch glatte zwanzig Grad beim Fundador auf der Plaza Mayor Morgen schon weiter nach Norden ich könnte den glatt ermorden der dafür was kann
Ein Tag am Mittelmeer Un giorno al mare un giorno con te Ein Tag an der See Ein Tag nur mit dir Der Sand ist schon warm Ich hab dich im Arm Du zeigst mir die Muschel und ich dir den Stein Ich öffne die Knospe Du holst Dir den Seim Un giorno al mare un giorno con te Ein Tag an der See ein Tag nur mit dir die Woge erfasst uns und trägt uns davon schaumweiß ist die Brandung wie wirbelnder Schnee Un giorno al mare un giorno con te Ein Tag an der See ein Tag nur mit dir wir schaun in den Himmel azurblau und klar der Strand ist verlassen die Boote sind leer un giorno als mare un giorno con te
Im englischen Garten von München In München, im englischen Garten sah ich die harten Mannsbilder und auch die zarten wie sie bei Bier und bei Karten den Abend erwarten die Damen war’n die Genarrten
Hamburg, Nagels Bodega Zum Beispiel der Blick aus Nagels Bodega an einem Sonntagnachmittag wenn sich im trüben Dezemberlicht der Regen mit Schnee mischt und die graue Bahnhofsmasse gegenüber allmählich mit der Dämmerung verschmilzt Im sanften Licht glänzen die Brände von Korn und Wein hinter der mahagonyfarbenen Theke die Ober bevorzugen die randlose Brille und den Spitzbart immer korrekt vom Publikum kann man das weniger sagen gemischt ist eher eine übertriebene Einschätzung Auf dem Männerklo tobt ein erbitterter Krieg zwischen Faschisten und Antifa, aber nur schriftlich Wenn der dritte Hennessy aufsteigt und sich hinter der Hirnschale sanft ausbreitet schließt sich der Riss der in der Welt ist für einen kurzen Augenblick
Am Westsee von Hangzhou Morgendunst verhüllt noch die Berge am Westsee Noch schlafen Im Schutz ihrer Bäume Die kleinen Fledermäuse Die mich am Abend so munter umschwirrten Wie fern sind meine Kinder von mir
Al cuoco del „Vecchia Varenna“ Primo i giardini di Villa Cipressi Secondo i filetti di pesce persico con riso com’è vicino il paradiso a mezzogiorno sulla terrazza del «Vecchio Varenna»
Am südlichen Meer An den südlichen Meeren begeistert dich das Licht eine ewige Bläue spiegelt dein sonnenverbranntes Gesicht und du vergisst wer du bist An den nördlichen Meeren regiert stattdessen die Melancholie das ist doch auch ein ganz schönes Gefühl und zeugt noch dazu von Esprit
Am Meer (2. Versuch) An den südlichen Meeren begeistert das Licht verneint eine ewige Bläue die nebelverhangene Sicht An den nördlichen Meeren regiert stattdessen die Melancholie auch das ist ein schönes Gefühl aber schon nah an der Pathologie
Erlebnis in Rio de Janeiro In Rio wurd' ich beklaut, ein Beutel, ein Buch, eine Kappe. Erst hat's mir die Laune versaut, hab’ bös mich beschwert. Doch dann sagt' ich zu mir: „Halt bloß die Klappe! Das ist kein’ Zuckerhut wert. Vergiß' es und trink Dich ein Bier."
Am Hafen von Sanary sur Mer Im Café La Marine sind sie alle gesessen: der Brecht und die Manns, die Alma mit ihrem Franz, Feuchtwangers ihre entourage, selbst Bruno, der „Gutmensch" Frank haben dort gesoffen, gestritten, gesungen sind am Ende alle gottseidank dem Hitler von der Schippe gesprungen
Taroudant, Marokko O Taroudant mauerbewehrte lehmbraune Stadt in der Ebene des Souss von der Hitze versehrte Gassen und Märkte wo ich auf den Karren Deiner Händler die reinen Farben des Lichts wieder fand: das unwahrscheinliche Gelb der Honigmelonen Orangen zu Pyramiden gehäuft und das glühende Rot der reifen Tomaten so leuchtet vom Morgen zum Abend der vergehende Tag nach dem Gesetz der Sonne
Schlaflos in Tokio Erwach' in Tokio in der Nacht Und bin um den Verstand gebracht Nun fragen Sie: warum noch bleiben? Die Antwort lautet: Lust am Leiden
Toskana weg Zypressenlos und pinienleer versunken ganz im Regenmeer die Wolken hängen tonnenschwer die grünen Hügel fehlen sehr
Toskana, ach, gesteh doch zu bist nächtens abgehauen, Du lebst fort als fata morgana im Wüstensand der Afrikaner
Lanka Devi (für Basil Fernando) Reife Frucht vom Mangobaum gefallen vom Indischen Stamm in die Bengalische See ein Duft nach Zimt in alten Zeiten heutzutage ein Geruch nach getrocknetem Fisch an den Stränden von Negombo eine Attacke auf die Geruchsnerven aber unentbehrlich um den Reis des Volkes zu würzen In den Zeitungen schreiben sie dass hundert Polizeioffiziere aus dem Dienst entlassen wurden weil sie an Folterungen beteiligt waren zehn Jahre zuvor eine Fußnote in der zweitausendfünfhundertjährigen Geschichte der Insel die übervoll ist von Glanz und Elend und den Furien des Krieges ein Volk das sich noch immer nicht selbst gefunden hat
Lanka Devi (to Basil Fernando) Ripe mango fruit dropped from an Indian tree into the sea of Bengali a smell of cinnamon once upon a time nowadays the aroma of dried fish from the strands of Negombo an unpleasant odour to the refined noses of foreigners in fact a serious attack to the olfactory nerves but essential to season the rice of the people I read in the papers of the compulsory leave of hundred police officers being involved in tortures some ten years ago a footnote in the island’s written history of two thousand and five hundred years full of splendour and misery and the furies of war of a people that has still not come to terms with itself nor to peace.
Penthouse Sachsenhausen (in Erinnerung an R.S.) Vom Wasserbett aufblickend jenseits der Traufhöhen nahm ich die Aeroplane wahr die horizontal vorm Fenster vorbei flossen Ihren zerfließenden Leib unter mir passte ich meine Stöße dem Rhythmus an in dem sie die Vertikale des Henniger Turms schnitten
Die Sonne von Mexiko (Hommage für Dylan Thomas) Wie gehe ich denn in diese Gute Nacht wenn es Zeit ist abzutreten? Gelassen oder, wie Dylan Thomas von seinem Vater forderte, mit Zorn und mit Widerstand gegen das aufgezwungene, niemals gewollte Ende? Ach, Dylan, wie wir Dich feierten eines Nachts in den Sechzigern in einer Hurenkneipe in Frankfurts Breiter Gasse, da warst Du schon zehn Jahre bei den Würmern, die Huren lachten verständnislos, als wir uns erhoben, Dir zu Ehren, und uns vollaufen ließen in Deinem Namen, und dann weiter zogen in die „Sonne von Mexiko", wo wir am Pissbecken stehend den kaputten Legionären zuhörten, die von Vietnam und Algerien erzählten, um früh morgens schwankend die leere Zeil zu überstehen bis endlich die Alte Gasse erreicht war Wie hast Du es gehalten, als es zum Ende kam und Du, kaum vierzig, erschöpft, nicht mehr weiter konntest? War da nicht doch etwas wie Erleichterung im Spiel?
Unterm Reetdach Im Innern des Kopfes lebten wir taglang nachtlang Das Schilfrohr auf unserem Schädel schützte uns vor dem Sturm Der Regen schlug vergeblich gegen unsere Augen aus Glas Kaum unterschieden wir Brandung und den Winden in den Föhren Im Innern des Kopfes lebten wir taglang nachtlang und sahen tief in uns hinein Vergessenes stieg auf und füllte den Raum Vor uns versammelte sich unsere Kindheit und die Angst der ersten Tage Wir erkannten einander als Vater und Mutter als Bruder und Schwester Aber wir brachen den Bann in unseren Umarmungen Einander liebend ließen wir die Kindheit hinter uns zurück und näherten uns tastend uns selbst Im Innern des Kopfes lebten wir taglang nachtlang und ließen uns von Umarmung zu Umarmung klaren Kopfes ins Ungenaue fallen Wir tauchten ein in verborgene Zonen der Lust Und unsere Worte stürzten uns
in Träume von denen wir bleischwer und voll neuer Sehnsucht nacheinander erwachten Im Innern des Kopfes lebten wir taglang nachtlang zwischen Wasser und Himmel auf schwarzem Sand den der Wind über den Strand trieb Nachts während das Meer die Dünen bedrängte Und die Insel im Sternenlicht lautlos vom Abend zum Morgen trieb zitterten wir manchmal vor Glück
Frühling am Osterdeich Morgensonne, Weserstrand laue Lüfte weh’n herüber wärmen mir die alten Glieder Frühling sät am Wegesrand schon den ersten Blütengruß in den Poren steigen Säfte ich verspüre neue Kräfte locker regt sich Hand und Fuß Himmel, jeder Augenblick schmeckt nach Hoffnungsglück