Eberhard Schmidt
Besuch bei einem alten Dichter
Von Rom nach Cerveteri ist es nicht weit, kaum vierzig Kilometer entlang der alten Via Aurelia, auf der einst die römischen Legionen nach Gallien zogen. Das alte Caere veteres war einmal die führende Stadt in der etruskischen Thalassokratie und beherrschte vor dem Aufstieg der Römer das gesamte tyrrhenische Meer. Übrig geblieben ist die große Nekropolis mit den grasüberwachsenen Tumuli, in die man hinuntersteigt, um in den Häusern der Toten umherzugehen und die steinernen Bänke und Sitze zu betrachten, die loculi, auf denen die Sarkophage standen und die Geräte des täglichen Bedarfs, die der Verstorbene für sein Leben im Jenseits benötigte. Im Autobus, den ich im Nordwesten Roms, in der Via Lepanto, an einem Sonntagmorgen besteige, fällt mir unter den Fahrgästen eine große Anzahl alter Frauen auf. Aus ihren Gesprächen entnehme ich, dass sie auf dem Weg zu einem der Friedhöfe in den kleinen Ortschaften sind, die am Wege liegen. Vermutlich sind sie vor vielen Jahren aus den Dörfern der Umgebung nach Rom gekommen und haben dort ihre Angehörigen zurückgelassen, die sie nun auf dem campo santo regelmäßig besuchen. Wir haben also den gleichen Weg, auch wenn meine Toten „doch schon so lange tot sind, ... dass es ist, als ob sie nie gelebt hätten, als wären sie schon immer tot gewesen", wie der Vater der kleinen Giannina in dem berühmten Roman des alten Dichters antwortet, als ihn die Tochter auf dem Rückweg von der antiken Gräberstadt nachdenklich fragt: „Papa, warum sind alte Gräber nicht so traurig wie neue?" Und gleichermaßen gilt auch noch die Lektion, die Giannina den Erwachsenen erteilt, als sie dem Vater nach dessen erklärenden Worten erwidert: „Aber, so wie du das sagst, glaube ich jetzt, dass die Etrusker doch gelebt haben, und ich habe sie so lieb wie alle andern." Der Besuch der etruskischen Nekropole im April 1957 löste für den Dichter das Siegel,
2 das die Erinnerung noch so lange Zeit nach den furchtbaren Geschehnissen in seiner Heimatstadt verschlossen hatte. Auf der abendlichen Rückfahrt nach Rom, auf der verstopften Via Aurelia, schreibt er, „gingen meine Gedanken wieder einmal zurück zu den Jahren meiner Kindheit und Jugend, zurück nach Ferrara und zu dem jüdischen Friedhof am Ende der Via Montebello...". Die Geschichte der Verfolgung und Auslöschung der Familie der Finzi-Contini und die unglückliche Liebe des Erzählers zu der begehrenswerten Micol konnte endlich erzählt werden. Die Via Aurelia ist an diesem sonnigen Vorfrühlingsmorgen nicht sehr stark befahren. Der Autobus kommt zügig voran, überholt mühelos die bunten Pulks der „corridori", der Männer auf den Rennrädern, die den ersten warmen Feiertag zur körperlichen Ertüchtigung oder nur zum Spaß nutzen, und erreicht bald die Küste, wo sich die Straße nach Norden wendet. Die alten Frauen steigen nach und nach an den Haltepunkten am Straßenrand aus und setzen ihren Weg zu Fuß fort. Wir passieren das geschäftige Ladispoli und nähern uns auf der leicht ansteigenden Straße unserm Ziel. Das Zentrum von Cerveteri im Schatten des mächtigen Castello der Ruspoli bietet das typische Bild einer kleinen italienischen Provinzstadt an einem beliebigen Sonntagmorgen. Gruppen von alten Männern, die auf der piazza zusammenstehen, Zeitung lesen, ins Gespräch vertieft, die für den Fremden kaum wahrnehmbaren Unterbrechungen des Gewohnten registrierend. Die Frauen, die sich auf dem Weg von der Kirche zum Herd befinden, um das Sonntagsmahl anzurichten. Die jungen Leute, getrennt nach Geschlecht, um die neuesten Fahruntersätze oder eine Parkbank geschart. So wird es wohl schon immer gewesen sein. Der Weg zur Nekropole führt aus der Stadt hinaus, eine schmale asphaltierte Straße, eine knappe halbe Stunde Fußweg, fast autofrei, rechts sind Weinberge zu sehen und Schafsweiden, links geht der Blick hinüber zu dem dunkleren Hügelzug der erzreichen Tolfa-Berge, die das Gelände für die Etrusker so anziehend gemacht hatten. Bald säumen markante Schirmpinien den Weg, der immer noch ansteigt und direkt zum Eingang der Totenstadt führt. Es ist still zwischen den grün überwucherten Grabhügeln aus grauem und ockerfarbenem Tuffstein, nur das Gezwitscher der Vögel unterbricht von Zeit zu Zeit die Ruhe. Die meterhohen tumuli, die wie überdimensionierte,
3 umgedrehte Tonschüsseln, auffällig regelmäßig geformt, auf der Erde lagern, berühren sich fast. Sie sind nur durch schmale Einschnitte voneinander getrennt. So kann sie der Besucher mühelos umrunden. Die oberen Ränder der Sockel mit den ebenmäßig behauenen Steinen tragen ein profiliertes Gesims und sind mit mehreren ringförmigen Wülsten geschmückt. Auf den Wegen, in die sich die tiefen Spuren der Totenkarren eingegraben haben, begegnen sich an diesem Morgen nur wenige Menschen. Schmetterlinge flattern von gelben zu weißen Blüten, vom Meer her weht eine kühle Brise und bewegt die Spitzen der dunklen Zypressen. Man versteht unmittelbar, warum der Dichter diesen Ort in den Prolog seines großen Romans verwoben hat, der dem Gedenken an Tote aus einer ganz anderen Zeit gewidmet ist. Ich besuche den alten Dichter an diesem Abend in seiner Wohnung am Tiberufer nahe der Isola Tiberina. Es ist eines der hohen, vielfenstrigen Gebäude im Zentrum Roms, die von außen einen eher abweisenden Eindruck machen. Vermutlich stammt es aus dem Beginn des letzten Jahrhunderts. Man schaut von dort über den Fluss zu den Ruinen des Palatin hinüber. An der geöffneten, schmalen Tür im zweiten Stockwerk erwarten mich die Lebensgefährtin des Dichters und ein Diener, ein junger Filipino in einer Art Livree, einer dunkelgrünen, eng anliegenden Weste. Die Signora klagt über die Kälte und entschuldigt die Situation, die Heizung werde gerade ausgewechselt, deshalb empfange man mich in den privaten Räumen. Das mit Bücherregalen und diversen Möbelstücken voll gestellte Zimmer am Ende eines schmalen Flures ähnelt einer Klause, der es aber nicht an Behaglichkeit fehlt. Der leicht klaustrophobische Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass sich an den hohen Wänden, in zwei Reihen übereinander, gerahmte Stiche von Piranesi hinziehen, die berühmten römischen Veduten aus dem 18. Jahrhundert. Der Dichter, der sein dreiundachtzigstes Lebensjahr fast vollendet hat, lehnt in der Ecke eines weichen, mit beigem Stoff gepolsterten Sofas, weißhaarig, der greisenhafte Mund eingefallen, nur die Augen in der Starre des Gesichts sind noch beweglich,. Er trägt einen eleganten grauen Pullover, dazu helle Hosen. Neben ihm liegt griffbereit sein Stock mit silbernem Knauf. Die Augen sind fragend auf mich gerichtet, als die Signora ihm zu erklären versucht, wer zu Besuch gekommen ist. Es ist ersichtlich, dass er sich
4 nicht an die wenige Male, in denen wir uns zuvor begegnet sind, erinnert. Ich überreiche ihm das mitgebrachte Buch, das er aufmerksam anblättert. Es ist nicht festzustellen, ob er die Bilder seiner Heimatstadt Ferrara und die dazugehörigen Texte aus seinen Büchern, auf die ihn die Signora eigens hinweist, erkennen kann. Aber er lächelt mich freundlich an, ergreift meinen Arm und drückt ihn herzlich. Auch die Augen spiegeln die Gemütsbewegung wieder. Der junge Filipino serviert eine Flasche Prosecco und Gebäck. Die Signora zeigt mir die neue Gesamtausgabe, die kürzlich bei Mondadori erschienen ist, ein schön gestalteter Band in der bekannten Klassikeredition des Mailänder Verlages, der auch die frühen, entlegenen Texte enthält. Sie fragt nach dem deutschen Übersetzer, spricht von neuen Übertragungen ins Niederländische und vielen positiven Artikeln in der holländischen Presse. Sie hat ein Archiv angelegt, das inzwischen mehrere tausend Artikel, Rezensionen und wissenschaftliche Aufsätze aus aller Welt über den berühmten Lebensgefährten enthält. Ob der deutsche Verlag nicht auch an einer neuen Gesamtausgabe interessiert sei. Ich verspreche, mich darum zu kümmern. Sie erzählt von den gemeinsamen Reisen zu Lesungen nach Deutschland und versucht, den alten Mann, der stumm dabeisitzt und zuhört, an Einzelheiten zu erinnern: „Weißt Du noch wie die Menschen in Hamburg sogar draußen im Schneeregen gestanden haben, um Dir zuzuhören, weil der Saal nicht alle fasste, die gekommen waren, weißt Du das noch?" Es ist lange her. Es ist nicht klar, ob der alte Dichter überhaupt noch weiß, wer er ist. Seine wenigen Rückfragen verraten es nicht. Unter dem Fernseher vor dem Bücherregal stehen drei Porträtskizzen, die ihn in imponierender Positur darstellen, gleichsam als einen letzten Granden. Auf meine Frage erzählt mir die Signora, es seien Vorstudien zu einem Doppelportrait, das ein italoamerikanischer Maler, ein Freund, kürzlich fertig gestellt habe. Sie will es mir zeigen. Wir lassen den alten Mann in der Obhut einer neunzigjährigen Nachbarin zurück, die sich seit einigen Minuten zu uns gesellt hat, und begeben uns in das Nachbarzimmer, den heute ungeheizten Salon, wo das fertige Bild dominierend an der Frontseite hängt. Es zeigt den Dichter in sehr aufrechter Pose in einem hochlehnigen Sofa, auf den vorgestreckten Stock gestützt, den Blick fest und durchdringend auf den
5 Betrachter gerichtet, während die Signora sich von der Seite hinter dem Sofa aus dem Schatten liebevoll zu ihm hinunterbeugt, das dunkle Haar weich über die Schultern fallend, vom Alter her könnte sie seine Tochter sein. Wir verbringen einige Minuten in dem repräsentativen Raum, der übervoll von Kunstgegenständen jeder Art ist und weniger zur Benutzung im Alltag geeignet scheint. Sie schüttet ihr Herz aus über den Druck, dem sie ausgesetzt ist durch die Machenschaften der Kinder, die ihr die Nähe zum Vater neiden, und die ihre Sorge für den alten Mann als Interesse an finanzieller Bereicherung missverstehen. Dagegen hält sie die zweiundzwanzig Jahre ihres Zusammenseins und ihre finanzielle Unabhängigkeit als professoressa, die doch jedem zeigen müssten, dass es ihr nicht um solche Motive gegangen sein könne. Kein Mensch hält eine derartige Situation so lange durch, wenn es ihm nur ums Geld geht. Ich gebe ihr Recht, nicht zuletzt im Angesicht des Schattens der Krankheit, die nun seit Jahren den Alltag des greisen Dichters verdüstert, und deren verhängnisvollen Namen wir beide auszusprechen vermeiden. Sie spricht von den Reisen, die sie in ihrem großen Wagen noch immer mit ihm unternimmt, Besuche bei Freunden in Perugia, in Florenz, um ihm geistige Anregungen zu verschaffen, eines der wenigen Mittel, das den Patienten in dieser Situation das Leben zu verlängern mag. Sie spricht auch von den wohltuenden Bemühungen des Physiotherapeuten, desselben, der schon Federico Fellini behandelt hat, wie sie nicht zu erwähnen vergisst.. Wir wechseln abermals den Raum, leeren die Gläser. Es ist spät geworden und ich bereite mich darauf vor, die Begegnung zu beenden. „Begleite den Herrn doch zur Tür", bittet die Signora. Zu mir gewandt fügt sie hinzu: „Ein paar Schritte werden ihm gut tun." Ich fasse den alten Mann unter den Arm, reiche ihm den Stock und mit sehr, sehr kleinen Schritten bewegen wir uns zur Zimmertür und durch den langen Gang. Zwischendrin drückt er mir heftiger die Hand und sagt mit leiser Stimme: „Es ist Mamma, die hier die Entscheidungen trifft". Wir sind an der Wohnungstür angelangt. Er verabschiedet sich mit einem Druck auf den Arm: „Grazie infinite". Zurückblickend, vom dunklen Flur aus, sehe ich ihn noch einmal, wie er leicht die Hand erhebt, um mir zuzuwinken. Ein alter Dichter, der wieder zum Kind geworden ist.
6
Zu Fuß überquere ich in der sternklaren Nacht die Tiberinsel, durchschreite auf dem Weg zu meinem Hotel die dunklen Straßen des alten römischen Ghettos, und lasse die Bilder des Tages an mir vorüberziehen. Es sind die Häuser, in denen die Toten von Caere veteres ruhen, die mir in den Sinn kommen, „reich geschmückt mit farbigen Stuckarbeiten, die die geliebten, vertrauten Gegenstände des täglichen Lebens darstellen". Sie strahlen noch immer, nach zweieinhalb Jahrtausenden, eine gelassene Ruhe
aus,
bewacht
von
dem
löwengestaltigen
Charun,
dem
göttergleichen
etruskischen Totenwächter, dessen Statue in dem kleinen Museum von Cerveteri zu sehen war. Ein gutes Jahr später melden die Zeitungen, in Rom ist der Dichter Giorgio Bassani nach langer Krankheit an Herz- und Atembeschwerden gestorben.