Existenz
Der Saal war kaum besetzt, denn der Prozess wurde nicht in der Öffentlichkeit ausgetragen. Familienmitglieder im herkömmlichen Sinne gab es keine mehr. Im Saal waren lediglich der Richter, zehn Geschworene, das typische Personal des Gerichts, sowie der Kläger, dessen Anwalt und der Angeklagte, dieser verteidigte sich selbst und ein Publikum gab es keines. „Was haben Sie zu den Anschuldigungen zu sagen Angeklagter?“, verlangte der Richter zu wissen. Der Angeklagte lächelte nur kühl und schwieg. Geduldig wartete der Richter auf eine Antwort, doch vergebens. Wütend sprang der Anwalt auf und drängte: „Haben Sie die Anklagepunkte richtig verstanden? Sie sollten reden, die Beweise sind eindeutig!“ Der Angeklagte schwieg weiterhin und lächelte überheblich. „Reden Sie endlich!“, brauste der Anwalt auf. Ein Wort nur kam den Angeklagten über die Lippen: „Einspruch“. Der Richter sah kurz in die Runde und erklärte daraufhin: „Freigegeben, setzen sie sich Mr Walther. Und sie sollten endlich anfangen zu reden, Sir“ Der Angeklagte erhob sich langsam und sagte daraufhin: „Ich erkenne mich schuldig in allen Belangen.“ Als der Kläger zufrieden die Arme verschränkte, fügte der Angeklagte hinzu: „Außer in einer Sache. Ich habe all dies getan, außer meinen Vater ermordet.“ Der Anwalt runzelte die Stirn und bemerkte: „In der Anklage steht nichts von ihrem Vater geschrieben. Erzählen sie uns mehr darüber!“ Der Angeklagte bemerkte, dass er einen Fehler begangen hatte, einen schwerwiegenden sogar, aber keinen der nicht rückgängig zu machen wäre. Mit der Erkenntnis, dass dies bald alles nicht mehr geschehen sein würde, erklärte der Angeklagte: „Wie sie wissen, bin ich 1959 geboren. Mein Vater starb durch einen Unfall, wissen Sie.“ „Was hat dies mit der Anklage zu tun?“, verlangte der Richter zu wissen. Der Angeklagte lehnte sich zurück, die harte hölzerne Lehne kam ihm in dieser Minute weich wie ein Sessel vor. „Der besagte Unfall ereignete sich 1951, also knapp acht Jahre vor meiner Geburt. Praktisch existiere ich nicht.“ Nun mussten sowohl der Richter, als auch der Anwalt lachen. Der Kläger und die Geschworenen warfen dem Mann in der Mitte des Saals ungläubige Blicke zu. Der Angeklagte war geistig verwirrt, da gab es keinen Zweifel. Mit einem Mal stimmte auch der verrückte Angeklagte in das Lachen mit ein und im nächsten Moment war er verschwunden. Verschwunden, wie als hätte er nie existiert. Doch genau genommen existierte der Gerichtssaal nicht. Der Richter, der Anwalt, der Kläger, die Geschworenen, das wenige Publikum, all dies existierte nicht. Die Erde existierte nicht. Sie hatte nie existiert. Den wir schreiben das Jahr 1972 und der Angeklagte stand alleine in einer Lagerhalle und begann erst eben zu existieren. Dann verdrängte der Nachtwächter die bösen Erinnerungen an seinen Vater und ging wieder seiner Arbeit nach. Er dachte an eine andere Welt.
by Emanuel May (aka Loofou) http://www.ret-world.de © 2007