Die Ukraine Steht Einen Schritt Vor Dem Abgrund

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Die Ukraine steht einen Schritt vor dem Abgrund Die politischen Eliten der Ukraine verhindern mitten in der Finanz- und Wirtschaftskrise eine konstruktive Politik. Sie fixieren sich auf die Präsidentschaftswahlen, die am 25. Oktober 2009 stattfinden sollen. Die Ukraine steht deshalb einen Schritt vor dem Abgrund – und ihre politische Instabilität ist nicht nur für die Ukraine gefährlich, sondern für ganz Europa. Von Nico Lange / maiak.info Die Ukraine gehört zu den von der Finanz- und Wirtschaftskrise am stärksten betroffenen Ländern. Trotz dieser tiefen Krise verhindern Regierung, Parlament und Präsident seit Monaten jede konstruktive Politik: In einer für das Land sehr schwierigen Zeit bleiben die Schlüsselressorts des Finanz- und des Aussenministeriums monatelang unbesetzt, nachdem Regierung und Parlament die Minister Wiktor Pynsenyk und Wolodymyr Ohrysko entlassen haben. Die Fraktionen der Partei der Regionen (des ehemaligen Ministerpräsidenten und heutigen Oppositionsführers Wiktor Janukowytsch) und des Blocks Julija Tymoschenko (der gleichnamigen Premierministerin) legen den Parlamentsbetrieb mit den für die Ukraine bedauerlicherweise typischen Blockaden des Präsidiums weitgehend lahm. Das Parlament verabschiedet kaum nennenswerte Gesetzesvorhaben. Präsident Wiktor Juschtschenko und seine Administration beschränken sich vor allem auf permanente Kritik an Premierministerin Julija Tymoschenko, ohne jedoch Kooperationsbereitschaft zu zeigen oder selbst Verantwortung für die Situation übernehmen zu wollen. Taktische Manöver statt Krisenbewältigung Politik wird nicht mit Programmen zum Umgang mit der Krise gemacht, mit Verbesserung der Rahmenbedingungen für Wirtschaft und Investoren, mit Reformen der Renten- und Sozialsysteme oder mit der Konsolidierung des Staatshaushalts. Stattdessen debattiert man heftig über vermeintliche neue Koalitionen, mögliche gleichzeitige Wahlen des Präsidenten und des Parlaments, den Termin der Präsidentschaftswahlen und grundlegende Verfassungsänderungen. Dazu gehören auch die Gerüchte über eine neue Regierungskoalition aus dem Block Julija Tymoschenko und der Partei der Regionen von Oppositionsführer Wiktor Janukowytsch. Für beide Seiten wäre eine solche stabile Mehrheit von grossem Interesse, nicht zuletzt, um Präsident Juschtschenko und die von ihm kontrollierten Abgeordneten vollends auszuschalten.

Die Partei der Regionen ist aber gespalten zwischen dem Lager Janukowytschs und der Gruppierung um den Oligarchen Rinat Achmetow (mit einem Vermögen von 31 Mrd. Dollar der reichste Mensch Europas). Weil sich Janukowytsch für die kommenden Präsidentschaftswahlen gute Chancen ausrechnet, will er im Vorfeld keine Verbindung mit seiner vermutlichen Hauptgegnerin Tymoschenko eingehen. Präsident Juschtschenko dagegen, fordert immer wieder die gleichzeitige Durchführung von Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, um für einen echten politischen Neuanfang zu sorgen. Auf diese Weise sollen möglichst schnell klare politische Verhältnisse geschaffen werden. Nach der geltenden Verfassung sind zeitgleiche Wahlen allerdings unmöglich und eine schnelle Verfassungsänderung ist unrealistisch. Die Forderungen haben deshalb nur rhetorischen Charakter, um Druck auf Parlament und Regierung auszuüben. Ohnehin ist in der aktuellen Lage sehr fraglich, ob zeitgleiche Präsidentschafts- und Parlamentswahlen einen stark legitimierten Präsidenten und eine korrespondierende Mehrheit in der Werchowna Rada (Parlament) hervorbringen könnten. Die zunehmende Fragmentierung der politischen Landschaft der Ukraine macht dies eher unwahrscheinlich. Streit um den Wahltermin und die Verfassung der Ukraine Am 1. März beschloss das Parlament, dass die regulären Präsidentschaftswahlen am 25. Oktober 2009 stattfinden sollen. Dieser Beschluss ist rechtlich umstritten und Präsident Juschtschenko geht bereits gerichtlich dagegen vor, so dass ein Wahltag im Januar 2010 als wahrscheinlicher gilt. Der Beschluss der Werchowna Rada kam vermutlich auf Betreiben Tymoschenkos zustande, um einer drohenden Auflösung des Parlaments und der Entlassung der Regierung vorherzukommen. Die ukrainische Verfassung schreibt vor, dass im Zeitraum von sechs Monaten vor Präsidentschaftswahlen das Parlament nicht mehr durch den amtierenden Präsidenten aufgelöst werden kann. Zudem ist umstritten, ob nach der Neubildung der Regierungskoalition im Dezember 2008 die Kandidatur der Premierministerin dem Parlament erneut zur Abstimmung hätte vorgeschlagen werden müssen. Ein entsprechender Entscheid des Verfassungsgerichtes lässt viel Raum für Auslegungen, weshalb Juschtschenko eine Auflösung des Parlaments weiterhin in Betracht zieht. Vor den Wahlen “schnell” ein Zweikammer-Parlament einführen Am 31. März 2009 machte der Präsident zudem dem Parlament den Vorschlag, noch vor den Präsidentschaftswahlen ein Referendum über einen neuen Verfassungsentwurf durchzuführen. Der am Tag der Rede erstmals vollständig veröffentlichte Entwurf sieht unter anderem die Einführung eines Zweikammersystems vor (wie in der Schweiz mit

National- und Ständerat). Die tatsächliche Verabschiedung einer neuen Verfassung durch ein Referendum ist aber unwahrscheinlich und im Rahmen der bestehenden Verfassungsordnung nicht vorgesehen. Dabei wären Verfassungsänderungen zur besseren Abgrenzung der Kompetenzen zwischen den Kerninstitutionen und zur Entschärfung des strukturellen Dauerkonflikts in der ukrainischen Politik sicher nötig. Juschtschenkos Initiative zeigt jedoch deutlich die eklatanten Fehler der ukrainischen Verfassungsdebatte und wird kaum zu einer Problemlösung beitragen. Entgegen den Empfehlungen der Venedig-Kommission des Europarates und anderer Experten legt der Präsident nämlich einen grundlegend neue Verfassungstext vor, anstatt in der bestehenden Verfassung die Widersprüche und Unklarheiten zu beheben. Ausserdem ist der Entwurf im Vorfeld weder mit den anderen Parteien noch mit zivilgesellschaftlichen Organisationen diskutiert worden. Die Ukraine bleibt finanziell weiterhin unter Druck Mitten in diesen Streitigkeiten konzentrieren sich die wenigen sachpolitischen Aktivitäten auf die Bedingungen des Internationalen Währungsfonds IWF zur Auszahlung der zweiten Rate des im Herbst 2008 bewilligten Kredits. Nachdem der IWF sich im März 2009 bereit zeigte, die wegen des politischen Stillstands abgebrochenen Gespräche wieder aufzunehmen, scheiterten die nötigen Gesetzesvorhaben in einer für die ukrainische Führung peinlichen Abstimmung im Parlament. Die Regierung Tymoschenko setzte daraufhin die Gesetze per Kabinettsbeschluss in Kraft. Das Parlament äusserte sich seitdem aufgrund der Blockaden und der anschliessenden Urlaubszeit (!) nicht mehr in dieser Sache. Die Erkundungsmission des IWF unterbreitete dennoch den Vorschlag an den Vorstand, die nächste Rate in Höhe von 2,8 Milliarden Dollar an die Ukraine auszuzahlen. Der Beirat des IWF wird Mitte Mai diesbezüglich eine Entscheidung treffen. Vor allem die hohen Sozialausgaben und der dramatisch unterfinanzierte Pensionsfonds belasten den Staatshaushalt extrem. Einsparmassnahmen sind aufgrund der anstehenden Wahlen aber nicht zu erwarten, weshalb die Haushaltssituation weiterhin sehr prekär bleiben wird. Immerhin konnte die Regierung Tymoschenko sich mit dem Verkauf von Emissionszertifikaten für Kohlendioxid in der Höhe von 300 Mio. Euro (vermutlich an Japan) eine kleine Erleichterung verschaffen. Keine Reformen trotz schlechten wirtschaftlichen Perspektiven Die Prognosen für die wirtschaftliche Entwicklung der Ukraine sehen dabei immer düsterer aus: Nach aktuellen Einschätzungen des IWF erwartet die Ukraine im Jahr 2009 einen Rückgang der Wirtschaft um 8 Prozent bei einer gleichzeitigen Inflation von 17 Prozent.

Die Zahl der Arbeitslosen soll von derzeit 1 Million auf bis zu 4 Millionen per Ende 2009 steigen. Deshalb sind dringendst strukturelle Reformen nötig, um günstigere Rahmenbedingungen für eine Erholung der ukrainischen Wirtschaft zu schaffen. Zum Beispiel Erleichterungen für Unternehmensgründungen, insbesondere im Mittelstand, die gleichzeitig ein grosser Beitrag zur Korruptionsbekämpfung wären. Für die Konsolidierung des Staatshaushalts ist zudem die Erhöhung des Rentenalters absolut dringend geboten – und zumindest ein Anstossen von Debatten über ein beitragsfinanziertes Rentensystem sowie eine Arbeitslosen- und Krankenversicherung. Diese und andere Reformen verschieben die Politiker aller Parteien aber auf einen imaginären Zeitpunkt nach den Präsidentschaftswahlen und den danach mit hoher Wahrscheinlichkeit folgenden vorgezogenen Parlamentswahlen. Die von Exporten und ausländischen Direktinvestitionen sehr stark abhängige Ukraine dürfte bis dahin weiter an ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit einbüssen. Präsidentschaftswahlen mit Überraschungseffekt Das Rennen um die Präsidentschaft ist zum jetzigen Zeitpunkt völlig offen. Vor dem Hintergrund der Dynamik der Finanz- und Wirtschaftskrise sowie der enormen Fragmentierung der ukrainischen Politik sind Überraschungen nicht auszuschliessen. Die aussichtsreichsten Kandidaten sind neben Amtsinhaber Wiktor Juschtschenko die Premierministerin Julija Tymoschenko und Oppositionsführer Wiktor Janukowytsch, Parlamentspräsident Wolodymyr Lytwyn und sein Amtsvorgänger Arsenij Jazenjuk, der Kommunist Petro Symonenko, die Sozialistin Semenjuk-Samsonenko, die Linksradikale Natalija Witrenko, der ehemalige Verteidigungsminister Anatolij Hryzenko, der im Aufwind befindliche Nationalist Oleh Tjahnybok und der ehemalige Nationalbankchef Serhiy Tihipko. Wer würde heute ukrainischer Präsident? Wenn die ukrainischen Präsidentschaftswahlen heute stattfinden würden, sähe das Ergebnis nach aktuellen Umfragen des Rasumkow-Zentrums wie folgt aus: 17.1 Prozent Wiktor Janukowytsch 15,7 Prozent Julija Tymoschenko 11,8 Prozent Arsenij Jazenjuk 5,2 Prozent Wolodymyr Lytwyn 4,2 Prozent Petro Symonenko 3,5 Prozent Wiktor Juschtschenko

Innen- und Aussenpolitik ohne erkennbare eigene Agenda Wie in der Innenpolitik sind auch in der Aussenpolitik der Ukraine sachpolitische Aktivitäten nur sehr begrenzt zu erkennen. Dass die Ukraine zum wiederholten Mal seit Monaten keinen Aussenminister hat, steht symbolisch für die mangelnde aussenpolitische Programmatik des Landes. In Bezug auf die NATO herrscht in der Ukraine seit dem Aussenministertreffen im Dezember 2008 Ratlosigkeit. Im Hinblick auf die EU gab es zuletzt verhaltene und kritische Reaktionen auf die Östliche Partnerschaft. Die darin liegenden Chancen der Ukraine, darin an regionaler Bedeutung zu gewinnen und die bilateralen Beziehungen zur EU zu verbessern, sieht kaum ein ukrainischer Politiker. Weder für NATO noch für die EU packt die Ukraine die nötigen innenpolitischen Reformen an, um den selbst formulierten Fernzielen mit konkreten Schritten näher zu kommen. Im Gegenteil: Mit häufig überzogener Kritik an den Initiativen der jeweils anderen Seite und vielfach unrealistischen rigorosen Forderungen manövriert sich die Ukraine als Partner immer mehr ins Abseits. Auch im sehr angespannten Verhältnis zu Russland zeigt sich kaum Bewegung zum Besseren. Der Gaskonflikt des Jahreswechsels 2008/2009 wirkt noch immer nach. Moskau reagiert höchst erbost auf das eigenmächtige Memorandum zwischen der Ukraine und der EU zur Modernisierung des Gastransportsystems. Die russische Gazprom fordert sogar Strafzahlungen, da die Ukraine wegen des Stillstands ganzer Industriezweige zurzeit nicht die vereinbarte Gasmenge abnimmt. Die Ukraine steht einen Schritt vor dem Abgrund Das Resultat der ukrainischen Politik der vergangenen Jahre ist dramatisch: Durch die jahrelangen politischen Auseinandersetzungen ohne tatsächliche Bewältigung der innenund aussenpolitischen Probleme steht die Ukraine angesichts der tiefen Finanz- und Wirtschaftskrise einen Schritt vor dem Abgrund. Ohne Hilfe von Aussen geht nichts mehr: Weil die führenden Politiker der Ukraine wenig Eigenverantwortung für die Entwicklung ihres Landes übernehmen, kommen die sachpolitischen Vorgaben für Haushalt und Gesetzgebung vom Internationalen Währungsfonds und von der Weltbank. Politische Kompromissfindung gelingt, wenn überhaupt, nur unter Vermittlung der Europäischen Union. Dass diese internationalen Organisationen und die EU in der Ukraine so aktiv sind, hat gute Gründe: Weil die politischen Eliten der Ukraine ihren persönlichen Interessen über die Interessen ihres Landes stellen, wird diese Krise je länger, je mehr nicht nur für die innenpolitisch fragmentierte und wirtschaftlich angeschlagene Ukraine ein Problem, sondern immer mehr für die gesamte Region und für ganz Europa.

Über den Autor: Nico Lange (1975) ist Leiter des Auslandsbüros Ukraine der Konrad-Adenauer-Stiftung. Lange studierte Politikwissenschaft, Kommunikationswissenschaft und Informatik. Als Zeitsoldat der Bundeswehr war er 1993 bis 2000 in NATO-Stäben in Deutschland, Dänemark und Polen eingesetzt und nahm an Einsätzen in Bosnien und Herzegowina und im Kosovo teil. Nico Lange arbeitete u.a. als Politikberater und als Referent im Deutschen Bundestag. Er unterrichtete als Lehrbeauftragter für internationale Politik an der Universität Greifswald und an der Fakultät für internationale Beziehungen der staatlichen Universität Sankt Petersburg. Von 2004 bis 2006 vertrat Lange die Robert Bosch Stiftung in Sankt Petersburg. Seit September 2006 arbeitet er für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Kiew. Die Konrad-Adenauer-Stiftung KAS begleitet seit 1994 konstruktiv den politischen und wirtschaftlichen Transformationsprozess der Ukraine. Dazu führte die KAS in der Ukraine bisher mehr als 500 Projekte durch zur Demokratieförderung, zum Aufbau der Zivilgesellschaft und der Medienfreiheit sowie der Konsolidierung der demokratischen Institutionen. Zur Creative Commons Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by/2.5/ch/ Dieser Beitrag von www.maiak.info – The Newsroom of Eastern Europe steht allen Medien, Weblogs und anderen Autoren nutzergenerierter Inhalte zur Verfügung. Sie dürfen das Werk honorarfrei vervielfältigen, verbreiten und öffentlich zugänglich machen unter der Bedingung der Namensnennung (Autor / maiak.info) und Verlinkung: Von Nico Lange / maiak.info Original-Beitrag: http://www.maiak.info/ukraine-politik-analyse-mai-2009

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