Die Bewohner Aus Dem Dachgeschoss

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  • April 2020
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  • Words: 21,872
  • Pages: 73
Die Bewohner aus dem Dachgeschoss Seit über zwei Monaten lebte Sabrina nun schon mit ihren Eltern in dem Wohnhaus in der Einhornstraße. Und das war eigentlich ganz schön, denn ihre neue Wohnung war viel größer, und außerdem auch viel schöner und netter eingerichtet als ihre alte. Im Treppenhaus war es immer sauber und frisch gewischt. Es roch nicht so modrig und unangenehm wie in dem alten großen Wohnblock, wo sie früher gewohnt hatten. Und die schneeweißen, frisch gestrichenen Wände waren auch nicht mit Filzstiften und Spray beschmiert. Ja, eigentlich gefiel es Sabrina sehr gut in ihrem neuen Heim, aber es gab auch so manche Dinge von früher, die sie sehr vermisste. Und dazu gehörten auch die beschmierten Wände, auch wenn die Mutter das niemals verstehen konnte. „So ein Schweinkram!“ hatte sie sich immer aufgeregt, wenn sie den Flur entlanggegangen oder mit dem Fahrstuhl in das Erdgeschoss heruntergefahren waren. „Wenn ich irgendwann einmal die Kinder erwische, die hier alles voll kritzeln, dann werde ich mal ein ernsthaftes Wörtchen mit ihnen reden.“ „Aber, Mama!“ hatte Sabrina dann immer gesagt. „Wenn diese Schmierereien nicht wären, dann hätte ich ganz sicher nicht so schnell das Lesen gelernt.“ Und das stimmte wohl auch. Denn Sabrinas Mutter las ihr fast jeden Abend vor dem Zubettgehen eine Geschichte vor. Das war immer sehr spannend. Am liebsten hörte sie Geschichten von Detektiven oder auch von Seefahrern, die alte Briefe mit geheimen Zeichen und Schriften entdeckten, die sich dann als Schatzkarten entpuppten. Oh, was sie dann für spannende Abenteuer erlebten, wenn sie nach den Schätzen suchten! Solche Abenteuer hätte Sabrina am liebsten selber erlebt. Und damals, als sie noch nicht lesen konnte, hatte sie geglaubt, dass all die Kritzeleien, die an die Wände geschmiert waren, geheime Botschaften enthielten. Einige von ihnen waren

vielleicht selber Schatzkarten und sie wünschte sich nichts mehr, als sie endlich entziffern zu können. Sie war ziemlich fasziniert von den älteren Kindern gewesen, die solche Dinge schreiben und lesen konnten. Am liebsten wäre sie eine der Banden beigetreten, die sich in dem Wohnviertel gebildet haben, aber niemand wollte sie dabei haben. „Kleine schwache Mädchen können wir nicht gebrauchen!“ hatte einer der größeren Jungen gesagt und ihr verächtlich vor die Füße gerotzt. Ihre Mutter war auch dagegen, dass sie etwas mit den Kindern zu tun hatte. Die sind nicht gut erzogen, sagte sie immer. Die bringen dir nur allerlei schlechte Sachen bei. Stattdessen hatte sie jeden Tag mit Mira, Vanessa und Carlo spielen müssen. Die waren in ihrem Alter und ihre Mutter hatte nichts gegen sie. Diese drei Freunde waren die andere Sache, die sie an ihrem alten Zuhause so sehr vermisste. Manchmal waren sie hinunter auf den Hof gegangen. Dort gab es auch einen Spielplatz, wo sie oftmals im Sandkasten gespielt hatten. Aber dann waren meist die großen anderen Kinder gekommen und hatten sie geärgert. Am meisten hatten sie es auf Carlo abgesehen. Er war ein äußerst klein und dünn, sodass ihn auch keiner der anderen Jungen mit in ihrer Bande haben wollte. Deswegen spielt er immer nur mit Mädchen, weshalb man ihn auslachte und verspottete. Schließlich waren sie alle zusammen in die Schule gekommen, und Sabrina war im Lesen bald die Klassenbeste geworden. Erstens, weil sie versuchte, die Geschichten, die ihr die Mutter jeden Abend vorlas, bald selbst zu lesen. Zweitens, weil sie jeden Tag auf dem Nachhauseweg die Schriften an den Hauswänden entzifferte. Ihre Mutter war dagegen, denn sie meinte, da stünde nichts, was kleine Kinder lesen sollten. Sabrina merkte bald selber, dass das mit Schatzkarten und ähnlich spannenden Geheimnissen nichts zu tun hatte. Meistens waren es nur Flüche, oder man schrieb gemeine Sachen über andere Menschen, die im Haus wohnten. Aber

lesen tat sie es trotzdem gern. Sabrinas Mutter kam eigentlich aus recht gutem Hause und hatte anständige Manieren beigebracht bekommen. Dass sie trotzdem in diesen alten gammeligen Plattenbau gezogen war, lag daran, dass sie sehr früh von zuhause ausgezogen war. Sie wollte möglichst früh selbstständig werden, aber in ihrer Ausbildung zur Gärtnerin hatte sie nicht soviel Geld verdient, um sich eine bessere Wohnung zu leisten. Einen Vater hatte sie auch. Aber den sah sie nicht so oft, weil er Busfahrer war und sich auf Fernreisen spezialisiert hatte. Manchmal war er über zwei Wochen nicht zuhause, weil er mit Reisegruppen durch ganz Europa fuhr. Aber wenigstens brachte er Sabrina von jeder Reise wunderbare Bilder und allerlei andere Geschenke mit. Am liebsten mochte sie kleine Häuser aus Ton, die es in jedem Land als Andenken zu kaufen gab. Sie merkte bald, dass die Häuser im Norden ganz anders aussahen, als beispielsweise die im Süden. Aber trotzdem hatte sie die vierzehn Häuser, die sie bereits besaß, auf einer Tischplatte zu einem Dorf zusammengestellt. Ein sehr lustiges Dorf, in dem Häuser aus ganz Europa vereint standen. Nun aber hatten ihre Mutter und ihr Vater soviel Geld zusammengespart, dass sie sich eine bessere Wohnung leisten konnten. Sie lag in einem weißen Haus, das anstelle von zwölf nur vier Etagen besaß. Außerdem hatte es ein spitzes und kein flaches Dach. Wie gesagt, Sabrina gefiel es gut dort. Das einzige, was sie langweilte, war, dass es im gesamten Haus keine anderen Kinder gab. Aber wenigstens lebte in der unteren Etage ein junges Paar, das einen schwarzen Hund hatte. Die beiden waren sehr nett und verstanden sich auch mit Sabrinas Eltern gut. Manchmal luden sie die ganze Familie zum Kaffee ein, und Sabrina durfte die ganze Zeit über mit dem Hund spielen. Oder sie gingen zusammen in den Wiesen, die ein paar hundert Meter vom Haus entfernt lagen, spazieren, und sie durfte für den Hund, der übrigens Mio hieß, den Ball

werfen. Oftmals aber hatte Sabrina auch Langeweile und dann wünschte sie sich, dass all die Kinder, mit denen sie früher gespielt hatte, mit in dieses Haus gezogen wären. Aber außer ihnen und dem jungen Paar wohnten dort nur noch ein alleinstehender Mann, der nicht besonders gesprächig war, und ein altes Rentnerehepaar, das sich oftmals beschwerte, wenn man im Treppenhaus zuviel Krach machte. Da gab es aber noch einen weiteren Bewohner - oder waren es vielleicht sogar mehrere Bewohner? - die Sabrina noch nicht kennengelernt hatte. Ihre eigene Familie wohnte im vierten Stock, also ganz oben im Haus. Doch das Treppenhaus endete dort noch nicht. Es ging noch eine Treppe weiter hinauf, doch sie war nicht aus Marmor, sondern aus Holz. Die Stufen waren kleiner, und ziemlich schmal. Als Sabrina das erste Mal hinaufgeklettert war, hatte sie so gewackelt, dass man Angst haben musste, sie könne jederzeit zusammenbrechen. Ein dicker Erwachsener konnte sich hier nicht so einfach hinaufwagen. „Also, Sabrina!“ hatte ihr Vater damals gesagt. „Du kannst da doch nicht einfach so hinaufklettern, vielleicht ist das ja privat!“ Aber die Vermieterin, die ebenfalls sehr nett war, hatte nur gelacht. „Das macht nichts“, hatte sie gesagt. „Da geht es nur zum Dachgeschoss hinauf. Sie kann sich dort ruhig einmal umgucken, denn die Tür dort oben ist ja sowieso verschlossen. Aber sie sollte nicht zu oft dorthin gehen, denn sonst könnten sich die Leute dort gestört fühlen.“ „Dort oben wohnen Leute?“ hatte Sabrinas Mutter ganz erstaunt gefragt. „Ich habe gedacht, dass es dort oben nur eine Dachkammer gäbe.“ „Doch, dort oben wohnen Leute“, hatte die Vermieterin mit einem geheimnisvollen Lächeln gesagt. „Sie sind ein bisschen

sonderbar, und sie kommen nur sehr selten hinaus. Aber sie sind nicht gefährlich und werden sie ganz gewiss nicht belästigen. Kümmern Sie sich nicht um sie, und sie werden sich auch nicht um euch kümmern.“ Dass mit diesen Leuten irgendetwas anders war, als bei normalen Menschen, hatte Sabrina im ersten Augenblick gemerkt. Alle anderen Wohnungen hatten eine schlichte weiße Tür als Eingang, doch diese Tür dort oben war aus dunklem, massiven Holz gebaut. Ihre Oberfläche war außerdem nicht glatt, sondern kunstvoll verschnitzt. Es war eine Tür, die eher in ein altes Schloss oder in ein Herrenhaus gepasst hätte, und sie sah im ersten Augenblick etwas unheimlich aus. Doch Sabrina merkte bald, dass es nur Blumen und lustige Gesichter waren, die in ihr eingeschnitzt waren. Keine Totenköpfe, Skelette, oder andere Dinge, vor denen man sich fürchten musste. Aber wie klein diese Tür war! Sie selbst hätte ja kaum dadurch gepasst, ohne den Kopf einzuziehen, und sie war doch nur ein Kind! War das Seltsame an den Leuten vielleicht, dass sie Liliputaner waren? Sabrina hatte nach einem Klingelschild gesucht, auf dem der Name des Menschen oder der Familie stand, aber sie hatte weder Klingel noch Schild gefunden. Und selbst wenn sie geklingelt hätte, hätte möglicherweise keiner geöffnet, denn die Tür war mit einer dicken Eisenkette verschlossen. „Warum verschließt man die eigene Tür von außen mit einer Eisenkette?“ hatte sie die Vermieterin gefragt, nachdem sie wieder hinuntergeklettert war. „Die Tür ist mit einer Eisenkette verschlossen?“ hatte die Mutter etwas entsetzt gefragt. Sie hatte sich sehr darüber gefreut, endlich in dieses schöne Haus zu ziehen, aber in diesem Augenblick sah sie so aus, als bereue sie es fast. Sie hatte die Vermieterin von oben bis unten gemustert, um zu sehen, ob irgendetwas Seltsames oder Unheimliches an ihr war. Aber sie sah völlig normal aus und

lächelte sie freundlich an. „Sie sind ein bisschen schüchtern und fürchten sich vielleicht sogar ein kleines bisschen vor anderen Menschen. Aber eigentlich sind sie ganz in Ordnung. Sie wohnen schon seit Jahren hier. Schon als dieses Haus noch meiner Großmutter gehört hat, und niemals hat sich jemand über sie beschwert. Sie bezahlen auch regelmäßig ihre Miete. Es gibt also wirklich keinen Grund sich Sorgen zu machen.“ Aber ihre Mutter machte sich Sorgen. Als sie am Abend nach ihrem Einzug am Küchentisch gesessen, und Abendbrot gegessen hatten, hatte sie den Vater gefragt, was er von der Sache hielte. Doch der hatte nur gebrummt und gemeint, es wäre schon alles in Ordnung, wenn die Vermieterin das sagte. Und er behielt Recht. Ein paar Tage später hatten sie sich in ihrer Wohnung eingelebt. Die Mutter hatte neue Freunde in der Nachbarschaft gefunden, die sie manchmal zum Kaffeeklatsch einlud. Und niemals war in der Wohnung, oder im Haus etwas Eigenartiges passiert. Auch die Vermieterin entpuppte sich als eine sympathische und angenehme Frau, mit der man sich gut unterhalten konnte. Sie war weder eine Hexe, noch schien sie irgendwelche

anderen

düsteren

Geheimnisse

mit

sich

herumzutragen. Bald schon hatte die Mutter die Sache mit dem Dachgeschoss vergessen. Selbst wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, sah sie nur zu, dass sie in die Wohnung ging, und beachtete die Treppe, die nach oben führte, gar nicht mehr. Sabrina aber konnte diese seltsame Geschichte nicht so schnell vergessen. Immer wieder hoffte sie darauf, diese Bewohner eines Tages kennenzulernen. Sie lauschte, ob sie über der Decke Schritte und Stimmen hörte. Oder ob jemand draußen die Holztreppe benutzte. Vor allem, wenn ihre Eltern nicht da waren, saß sie manchmal stundenlang direkt vor der Wohnungstür und las ein Buch. Sie wollte so schnell wie möglich herauslaufen können, wenn sie hörte, dass dort jemand war. Aber sie hörte ja niemanden. Sie untersuchte die

Treppe manchmal auch nach Fußabdrücken, aber sie fand niemals welche. Oftmals überlegte sie sich schon, ob sie einfach mal herauf laufen und an der Tür klopfen sollte. Aber sie traute sich nicht, denn sie erinnerte sich an die Worte der Vermieterin, dass sie diese Leute möglichst nicht stören sollte. Einmal, als ihr Vater am Wochenende zuhause war, fragte sie den, was er von der Sache hielt. Aber der lachte nur. „Das ist doch nur irgendein Märchen, dass dir die Frau Hansen erzählt hat“, sagte er. „Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass dort oben jemand wohnt.“ „Wieso denn nicht?“ meinte sie trotzig. Ihr Vater wusste ja nicht, dass er gerade dabei war, einen ihrer größten Träume zu zerstören. „Na, das müsste, wenn überhaupt, dann eine Zwergenfamilie sein“, er lachte noch einmal, „Nein, nein, da hat dir die gute Frau Hansen irgendwelche Flausen in den Kopf gesetzt und sonst nichts. Nicht mal deine Mama glaubt mehr daran. Wahrscheinlich ist es nichts weiter als irgendeine Hauslegende. Die Großmutter der Frau Hansen soll eine ziemlich seltsame Dame gewesen sein.“ Doch Sabrina konnte er damit nicht von diesem Gedanken abbringen. Sie glaubte fest daran, dass dort oben jemand wohnte und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als sie eines Tages kennenzulernen. Und eines Nachts ging ihr größter Wunsch schließlich in Erfüllung. Sie wachte irgendwann, mitten in der stockfinsteren Nacht, auf, und wusste sofort, dass sie viel zu früh dran war. Normalerweise weckte ihre Mutter sie nämlich, weil sie einen so guten Schlaf hatte, dass kein Wecker sie wach bekam. Aber in dieser Nacht war es anders. Dabei schien es zunächst nichts weiter als eine stille und rabenschwarze Nacht wie jede andere zu sein. Doch dann schreckte sie hoch, ohne zu wissen, warum. Verschlafen knipste Sabrina die Nachttischlampe an und sah auf die Uhr. Es war zwei Uhr, mitten in der Nacht.

„Puuh“, machte sie und knipste schnell wieder aus. Sie kuschelte sich wieder in ihr Bett und drehte sich herum. Auf keinen Fall durfte sie um diese Uhrzeit so wach werden, dass sie nicht mehr einschlafen konnte. Wie übermüdet würde sie dann am nächsten Morgen in der Schule sein? Doch an Schlaf war in dieser Nacht kaum noch zu denken. Das merkte sie, als sie eine Minute später Geräusche hörte. Sie schreckte erneut auf. In ihrer alten Wohnung war es normal gewesen,

dass

man nachts Stimmen

und Laute aus

Nachbarwohnungen hörte, aber hier hatte sie so etwas noch nie erlebt. Sie hielt die Luft an und horchte. Tatsächlich, hoch oben, auf der anderen Seite der Decke schien sich jemand zu unterhalten. Es war aber nur ein leises Wispern, sodass man keine einzelnen Worte verstehen konnte. Sabrina spitzte die Ohren und horchte, ob es nicht vielleicht auch ein anderes Geräusch aus dem Haus sein konnte. Schließlich aber war sie sich ganz sicher. Dies war das erste Mal, seitdem sie eingezogen waren, dass sie etwas von den geheimnisvollen Bewohnern mitbekam. Sie war dermaßen aufgeregt, dass sie am liebsten sofort aufgestanden und in das Schlafzimmer ihrer Eltern gerannt wäre. Sie konnte sich nicht eine ganze Nacht lang die Geräusche anhören, ohne jemand anderem davon etwas zu sagen. Das hielt sie einfach nicht aus! Aber dann fiel ihr ein, dass ihr Vater mit einer Reisegruppe in Griechenland war. Er würde erst in drei Tagen wiederkommen. Ihrer Mutter durfte sie solche Sachen erst recht nicht erzählen. Sie würde nur in Panik geraten und glauben, dass es im Haus spukt. Es war wohl ganz gut, dass sie zwei Zimmer weiter im Bett lag, tief und fest schlief, und von all dem herzlich wenig mitbekam. Zunächst hatte auch Sabrina ein bisschen Angst. Mit einer Gänsehaut auf dem Rücken kauerte sie sich zusammen, während sie horchte. Aber bald schon wurde sie mutiger,

sodass sie ein schwaches Licht anknipste, sich auf einen Stuhl stellte und direkt an der Decke horchte. Die Menschen, die dort oben waren, unterhielten sich nicht nur, nein, zwischendurch lachten sie auch mal. Es mussten mehrere verschiedene Leute sein, denn Sabrina konnte bald mehrere verschiedene Lacharten heraushören. Da war einer, der lachte so laut auf, als wenn er einen Schluckauf hatte. Dafür war er danach aber auch eine ganze Weile still. Während ein anderer leiser, dafür aber so lange lachte, dass man meinen konnte, er wollte nie wieder damit aufhören. Schließlich hörte Sabrina, wie irgendetwas leise über den Boden schleifte. Es war so, als würde man dort oben Möbel verrücken. Aber es konnten nur sehr kleine, vielleicht sogar nur Puppenmöbel, sein. Dann aber bullerte es unter der Decke so laut, dass sie vor Schreck fast vom Stuhl gefallen wäre. Sie fand, dass es sich wie ein Tanz hörte. Aber es musste ein ziemlich wilder und ausgelassener Tanz sein, bei dem sie ziemlich heftig auf dem Boden aufstampften. Sabrina überlegte, ob sie diesen Menschen ein Zeichen geben sollte. Sie konnte ja einmal kurz gegen die Decke klopfen, oder vielleicht auch etwas rufen. Wenn sie niemand hörte, brauchte sie es ja nicht noch einmal zu tun. Dann aber erinnerte sie sich an die Worte der Vermieterin. Diese Leute dort oben waren etwas schüchtern und fürchteten sich vor Menschen. Sabrina war eigentlich ein ziemlich braves Kind und deshalb beschloss sie, die Bewohner des Dachgeschosses auf keinen Fall zu erschrecken. Sie stieg wieder hinunter, ging zu Bett, und hörte von da aus weiter. Es hörte sich ein bisschen so an, als würde man da oben eine Feier geben. Bald aber wurden die Geräusche leiser und verstummten schließlich ganz. Sabrinas Augen fielen zu und am Ende fand sie in dieser Nacht doch noch ein paar Stunden Schlaf. Am nächsten Tag war Sabrina kein bisschen müde. Im Gegenteil, dazu war sie viel zu aufgeregt. In der Schule konnte

sie kaum ruhig auf ihrem Stuhl sitzen, und als sie zuhause angekommen war und Mittagessen gegessen hatte, musste sie sofort zu der Vermieterin, und ihr von dem wundersamen Erlebnis berichten. Die Vermieterin wohnte selber nicht im Haus. Sie hatte ihr eigenes kleines Haus, das am anderen Ende der Straße stand. „Aha, da haben die Schürigs wohl endlich mal etwas von sich hören lassen“, sagte sie und grinste dabei. „Die Schürigs?“ fragte Sabrina. „Heißen sie etwa so?“ Die Vermieterin nickte. „Und warum haben wir bisher noch nie etwas von ihnen gehört?“ fragte Sabrina weiter. „Warum zum ersten Mal in dieser Nacht?“ „Das weiß ich auch nicht so genau“, antwortete die Vermieterin. „Denn ich kenne sie genauso wenig wie du. Du weißt, dass ich dieses Haus erst seit einem halben Jahr vermiete. Seitdem meine Großmutter gestorben ist. Und ich habe diese Familie selber noch nicht einmal gesehen. Ich kenne nur die Geschichten, die man mir über sie erzählt hat und dass sie immer pünktlich ihre Miete bezahlen.“ Sie lachte. „Hm“, meinte Sabrina. „Glaubst du, es wäre gut, wenn ich vielleicht mal an ihrer Tür klopfe, oder vielleicht auch an der Decke?“ „Nein, das würde ich an deiner Stelle lieber nicht tun“, sagte die Vermieterin. „Damit verängstigst du sie nur. Meine Oma hat mir gesagt, man kann mit dieser Familie wirklich sehr viel Spaß und Freude haben, aber man muss auch sehr geduldig mit ihnen sein. Man muss warten, bis sie von allein kommen und einen besuchen, denn das tun sie ganz bestimmt, wenn sie glauben, im Haus wohnt jemand, dem sie vertrauen können.“ In den nächsten Tagen war Sabrina so damit beschäftigt zu horchen, dass sie alle anderen Dinge fast vergaß. Sie horchte nicht nur abends, wenn sie im Bett lag, nein, auch tagsüber.

Wenn sie zum Beispiel am Schreibtisch saß und ihre Hausaufgaben machen sollte, traute sie sich manchmal für fünf Minuten nicht, den Stift zu bewegen. Immer hatte sie das Gefühl, von oben etwas gehört zu haben, aber meist war es nur ihre

Mutter,

die

in

der

Küche

mit

dem

Geschirr

sehr

bald

über

Sabrinas

herumklapperte. Die

Mutter

wunderte

sich

merkwürdiges Verhalten. Nicht nur, dass sie für ihre Hausaufgaben immer viel länger brauchte. Nein, sie machte auch fast nie mehr Musik in ihrem Zimmer an. Beim Essen sprach sie viel weniger mit ihr und sah dabei auch so aus, als ob sie mit den Gedanken gar nicht richtig da war. Manchmal schob sie sich das Essen sogar am Mund eigenen vorbei. Und wenn sie sie darauf ansprach, reagierte sie so erschrocken, dass sie die Gabel mit einem lauten Knall auf den Teller zurückfallen ließ. „Siehst du Gespenster?“ fragte sie dann. Aber Sabrina druckste nur herum. Solange die Mutter diese Geräusche nicht selber hörte, wollte sie ihr nichts davon erzählen. Und ab und zu hörte sie von oben auch etwas. Aber so laut wie in dieser einen Nacht wurde es nie wieder. Oftmals waren es auch keine Stimmen oder die Geräusche von auftretenden Füßen, sondern nur, dass ein Gegenstand mit einem Knall oder mit etwas Geschepper zu Boden fiel. Nach einigen Tagen aber hatte sich Sabrina an die Geräusche gewöhnt und beachtete sie kaum noch. Nur ab und zu saß sie da und malte sich aus, was für eine Familie das wohl sein könnte, die dort oben wohnte. Und dann fand sie es fast noch schöner, dass sie die Leute eigentlich nicht kannte, weil es so wunderbar geheimnisvoll war. Sie konnte ihrer Phantasie freien Lauf lassen und sich allerlei Geschichten über sie ausdenken. Und wenn sie mal wieder das Gefühl hatte, dort oben lachte jemand, dann lachte sie einfach mit. Und wenn sie das Gefühl hatte, dort sang jemand, dann versuchte sie, die

Melodie mitzusummen. Manchmal hörten sie dann auf, oder gaben verdutzte Geräusche von sich. Dann freute sich Sabrina, weil sie auf diese Weise mit ihnen geredet hatte. Über eine Sache aber wunderte sie sich immer wieder. Nämlich, dass immer noch niemand die Treppe, die nach oben führte, benutzt hatte. Ihre Mutter schien hingegen von alldem nichts mitzubekommen. Seltsam. Entweder diese Geräusche ertönten nur direkt über ihrem Zimmer, oder sie konnten von Erwachsenen nicht gehört worden. Eines Tages war Sabrina allein zu Hause, als es plötzlich an der Tür klingelte. Ihr Vater war gerade in Schottland und ihre Mutter im Supermarkt, um einzukaufen. Vorsichtig schlich sie sich zur Wohnungstür hinüber. Zum Glück gab es im Haus eine Sprechanlage. Wenn dort jemand war, den sie nicht kannte, brauchte sie ihm nicht zu öffnen. Aber bevor sie es schaffte, auf den Knopf zu drücken, klopfte jemand vom Flur aus an die Tür. Vielleicht sind es die Schürigs, dachte Sabrina, und ihr Herz wäre ihr beinahe in die Hose gerutscht. Doch nur eine Sekunde später ertönte die Stimme der Vermieterin. „Ist jemand zuhause?“ Sabrina beeilte sich, die Tür aufzumachen. „Ach, da ist ja endlich jemand“, sagte die Vermieterin und strahlte sie freundlich an. In den Händen hielt sie einen großen braunen Sack, der oben mit einem Faden zugeschnürt war. „Ist deine Mutter eigentlich auch da, Sabrina?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ach, das ist schade. Aber du kannst ihr diesen Sack ja ebenso geben. Richte ihr dazu einen schönen Gruß aus.“ „Was ist denn in dem Sack drin?“ fragte Sabrina neugierig. „Ja, das frage ich mich selber“, sagte die Vermieterin. „Darf ich vielleicht einmal kurz reinkommen?“ Sabrina trat zur Seite und sie setzten sich gemeinsam an den Küchentisch, wo die Vermieterin den Sack in aller Ruhe öffnen

konnte. In seinem Inneren waren hunderte, wenn nicht tausende von kleinen Körnern. Sabrina nahm ein paar davon in die Hand und fand, dass sie wie kleine Sterne aussahen. „Weißt du, was das ist?“ fragte die Vermieterin. „Ich habe so etwas noch nie gesehen. Sie kommen mir aber ein bisschen vor wie Samenkörner. Deshalb wollte ich deine Mutter mal fragen, ob sie etwas damit anfangen kann. Sie arbeitet doch noch in der Gärtnerei Schmitzke, oder etwa nicht?“ „Doch, doch“, antwortete Sabrina. „Aber wo haben sie diese Körner denn gefunden?“ „Unten im Keller. Dort liegt noch allerlei altes Zeug, von meiner Großmutter herum. Ich bin nämlich noch gar nicht dazu gekommen, dort unten für Ordnung zu sorgen. Aber dieser eine Sack stand in einem ganz besonderen Fach, dort wo sie die wichtigsten Dinge ihres Lebens aufbewahrt hatte. Und an Schnüre war ein Etikett angebracht, wo draufstand: Ganz besonders wertvoll. Bitte gut aufbewahren. Aber sonst stand nichts dabei. Keine Erklärung oder dergleichen.“ „Hm“, sagte Sabrina. „Das ist ja seltsam. Aber bis meine Mutter wiederkommt, könnte es noch ein oder zwei Stunden dauern. Sie muss nämlich heute ganz besonders viel einkaufen, weil mein Vater am Wochenende wiederkommt. Er hat Geburtstag und will eine Feier machen.“ „Na, dann sagt aber rechtzeitig dem Ehepaar Müller Bescheid. Nicht, dass sie sich wieder wegen zuviel Lärm beschweren.“ Da die Vermieterin nicht soviel Zeit hatte, um so lange zu warten, verabschiedete sie sich und ging. Danach saß Sabrina eine ganze Weile da und rätselte, was es mit diesen merkwürdigen Körnern wohl auf sich haben können. Sie hatten wirklich eine merkwürdige Form, und sie fühlten sich auch ein bisschen seltsam an. Sie waren nicht hart, aber auch nicht so weich, dass man sie zerquetschen konnte. Ja, eigentlich konnte man sie fast mit einem Gummi vergleichen. Wenn man sie zwischen Daumen und Zeigefinger

zu doll drückte, sprangen sie einem urplötzlich in die Höhe. Sabrina überlegte schon, ob sie eines von Mamas vielen Pflanzenbüchern hervorholen und nachgucken sollte, als sie sich plötzlich zu etwas anderem entschied. Sie hatte doch in ihrem eigenen Zimmer noch eine große Blumenvase, in die sie noch nichts gepflanzt hatte. Wieso legte sie nicht einfach ein, oder vielleicht auch zwei oder drei der Körner hinein, goss sie ein bisschen und wartete dann ab, was passierte. Wenn die Pflanze genauso sonderbar war, wie die Körner, dann würde ihre Mutter aber ziemlich darüber staunen. Es wäre doch ein zu tolles

Ding,

dass

ihre

kleine

Tochter

eine

Blume

hervorzauberte, die sie selbst als Gärtnerin noch nie gesehen hatte. Also tat Sabrina das, was sie sich ausgedacht hatte, und versteckte danach den Sack in ihrem Schrank. Als die Mutter nach Hause kam, erzählte sie ihr nicht, dass die Vermieterin zu Besuch gekommen war und ein Geschenk mitgebracht hatte. Der nächste Tag war ein Freitag und die Mutter weckte sie etwas später als normal. Sie hatte ein bisschen verschlafen, weil sie am Abend zuvor noch einen Geburtstagskuchen für den Papa gebacken hatte. Deswegen merkte Sabrina gar nicht, dass in dem großen Blumentopf schon ein kleiner Spross empor gekeimt war. Nach gerade einmal einer Nacht! Erst als sie aus der Schule zurück war, hatte sie die Zeit dazu, ihr selbst heran gezüchtetes Gewächs etwas genauer zu betrachten. Und sie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus! Das Gewächs war in der Zwischenzeit mindestens zwanzig Meter gewachsen. Es hatte sogar schon Blätter bekommen. Sie waren zwar noch ein bisschen klein und fipsig, aber wenn es weiter mit einer solchen Schnelligkeit wuchs, dann würde es bald ein prächtiges Blätterkleid bekommen. Die Pflanze wuchs aus der Mitte des Topfes hervor, aber Sabrina sah, dass in vier Ecken weitere Keime heranwuchsen. Als ihre Mutter anklopfte, wollte sie ihr voller Stolz ihr

Züchtung zeigen, aber diese hatte keine Zeit dafür. Sie wollte, dass Sabrina zum Mittag kam und danach in ihrem Zimmer selbstständig den Teppich saugte. Denn sie hatte an diesem Wochenende soviel zu tun, dass sie kaum wusste, was sie zuerst und zuletzt anfangen sollte. Na, dann hebe ich mir die Überraschung noch ein bisschen länger auf, dachte Sabrina. Vielleicht bis Morgen, denn morgen war ja der Geburtstag ihres Vaters. Sie goss die Pflanze, aber nur ein bisschen. Nicht, dass ein paar Stunden später ihr Zimmer wie ein einziger Urwald aussah. Am Abend ging Sabrina viel später ins Bett als sonst. Papa war nämlich zurückgekommen und erzählte beim Abendbrot von all seinen Erlebnissen unterwegs. Außerdem war ja Freitag und sie konnte am nächsten Morgen lange ausschlafen. Vorm ZuBettgehen kontrollierte sie allerdings noch einmal die Pflanze, und war beinahe schockiert! Sie war in der Zwischenzeit so gewachsen, dass sie bald den halben Weg zur Zimmerdecke erreicht hatte. Auch die vier Keime in den Ecken des Blumentopfes hatten sich verändert. Im Gegensatz zur Mittelpflanze, die geradeaus wuchs, wuchsen diese spiralförmig um sie herum. Es sah beinahe wie eine Art Zopf aus. Trotzdem bildeten sie auch dünne Seitenäste aus, an denen Blätter keimten. Aber nicht nur Blätter, an den Enden mancher Zweige hing etwas, was so wie Glocken aussah. Waren das etwa schon die Ansätze der ersten Blüten? Sabrina bekam es beinahe ein bisschen mit der Angst zu tun, als sie das sah. Man stelle sich nur vor, die Pflanze war so stark, dass ihre Wurzeln den Blumentopf zersprengen konnten. Vielleicht noch mitten in der Nacht, wenn sie schlief. Aber sie beruhigte sich schnell wieder und ging zu Bett. Denn der Abend war lang gewesen, und nun war sie müde. Schade, dass sie so schnell einschlief! Denn dann hätte sie sehen können, wie sich die Glocken in der Nacht langsam öffneten und sich zu sternförmigen Blüten umwandelten. Aber

sie waren nicht nur sternförmig, nein, sie leuchteten auch wie Sterne. Und zwar nicht nur in gelb, sondern auch in blau, rot oder grün. Es war ein wirklich wunderbarer Anblick, aber als Sabrina am nächsten Morgen aufwachte, war von alldem nichts mehr zu sehen. Das einzige, was sie sah, war, dass die Pflanze weiter gewachsen war. Die Spiralen, die sich um den Hauptstängel gebildet hatten, waren mittlerweile so dick und fest geworden, dass sie wie eine dicke Kordel aussahen. Nur noch wenige Zentimeter fehlten, und die Pflanze hatte die Decke erreicht. Als am Abend Papas Gäste da waren, seine Eltern, seine beiden Schwestern, von denen eine ein Baby hatte, und ein paar Arbeitskollegen, durften sie natürlich alle in Sabrinas Zimmer kommen, um die Wunderpflanze zu bewundern. Der Mama stockte fast der Atem, als sie das sah. „So schöne große, weiße Glocken!“ sagte sie und musste sich am Schreibtisch festhalten, damit sie nicht vor Schreck umfiel. „So etwas habe ich ja noch nie gesehen. Und dieser merkwürdige Stängel… falls man es überhaupt Stängel nennen darf, dass… dass… ist ja. Was für eine Pflanze ist das, die du mir da eingepflanzt hast?“ „Tja, da sieht man mal, dass sogar eine erfahrene Gärtnerin wie du von seiner eigenen Tochter noch was lernen kann!“ sagte der Papa, und kraulte seiner Tochter anerkennend durch das Haar. „Und das Beste ist ja, dass sie in gerade einmal zwei Tagen gewachsen ist!“ rief Sabrina triumphierend. „Nein!“ sagte die Mutter nur. „Liebes Kind, das kann nicht sein! Und da weiß ich als erfahrene Gärtnerin ganz sicher mehr als du. Keine Pflanze dieser Welt kann so schnell wachsen! Egal wie man sie gießt. Egal, was für einen Dünger sie bekommt.“ „Aber wenn ich es doch sage!“ maulte Sabrina. „Eine wirklich nette Tochter hast du“, sagten Papas

Arbeitskollegen. „Und was für eine Phantasie sie hat.“ Wirklich zu glauben wollte ihr an diesem Abend niemand. Außer Papa vielleicht ein bisschen. Aber es klang doch eher so, als wollte er nur ein paar dumme Witze machen wollte, um Mama zu ärgern. „Wenn dieser Strauch aber die nächsten Tage weiter so wächst, wie Sabrina gesagt hat, dann sollten wir schnellstens sehen, dass wir den bei irgendwem im Garten auspflanzen. Denn ansonsten wächst der uns noch dieses Wochenende durch die Decke hindurch.“ Sabrina erstarrte, als sie das Wort Decke hörte und musste sofort an die Gesellschaft dort oben denken, die genauso seltsam zu sein schien wie diese Pflanze. „Nein, das werde ich zu verhindern wissen“, sagte die Mutter. „Spätestens am Montag werde ich dieses Gewächs einmal mit in die Gärtnerei nehmen und meine Chefin, die Frau Dinkler fragen. Vielleicht hat die ja eine Ahnung, was das ist.“ „Aber Mama!“ beschwerte sich Sabrina. „Es ist doch mein Gewächs.“ „Ja, mein Liebes. Aber ich glaube nicht, dass wir diese Monsterpflanze bei uns in der Wohnung behalten können. Dies hier ist eine gewöhnliche Stadtwohnung und kein botanischer Garten.“ Da es Papas Geburtstag war, ging Sabrina auch an diesem Abend wieder spät ins Bett. Als sie die Pflanze vorm Zubettgehen noch einmal betrachtete sah sie, dass sie tatsächlich die Decke erreicht hatte. Eigentlich hätte sie nun trotzig zur Mutter gehen und es ihr zeigen können. Aber sie war ein bisschen beleidigt, dass ihr niemand glauben wollte. Deshalb ging sie, ohne etwas zu sagen, ins Bett. Sie konnte nur wenige Stunden geschlafen haben, als sie erneut erwachte. Sie hatte Geräusche gehört, genau wie in der Nacht, als sie zum ersten Mal von der Familie im Dachgeschoss gehört hatte. Doch nachdem sie sich den Schlafdreck aus den

Augen gerieben hatte, vergaß sie dies sofort. Denn da hatte sie nur noch Augen für den leuchtenden Zauberbaum, der dort in der Ecke in ihrem Zimmer stand. Kann man sich so etwas vorstellen? Einen Baum, auf dem lauter bunte Sterne leuchten? Sabrina war so fasziniert davon, dass ihr nichts daran unheimlich war. Wenn in ein paar Monaten Weihnachten ist, werde ich die übrigen Samen für viel Geld verkaufen, dachte sie nur. Denn wer möchte zu Weihnachten nicht gerne einen Baum haben, der leuchtet, ohne dass man erst mit viel Mühe und Not eine Weihnachtskette anbringen muss? Angst bekam sie erst, als sie wieder die Geräusche hörte. Sie kamen zwar von oben, aber nicht aus dem Dachgeschoss. Nein, aus ihrem eigenen Zimmer kamen sie. Es war so, als ob irgendjemand an der Decke kratzte. Oder vielleicht sogar in sie hineinbohrte. Dann hörte es sich auch immer wieder so an, als ob feiner Sand oder Staub zu Boden fiel. Erst als das Kratzen so laut war, dass man eine Gänsehaut bekam, und eine Sekunde später ein paar richtige Brocken auf dem Boden aufbullerten, erwachte Sabrina aus ihrer Starre. Panisch vor Entsetzen knipste sie das Licht an, und schon hatte sie den Übeltäter gefunden! Die Pflanze war es, niemand anders als die Pflanze! Und sie hatte noch nicht einmal den Anstand, damit aufzuhören, jetzt, wo sie ertappt war. Wie eine dicke grüne Schraube bohrte sie sich weiter in die Decke hinein, dass der Staub vom Putz nur so herunterrieselte. Wie auf einer Baustelle. Zur gleichen Zeit hörten natürlich auch die Sterne auf zu leuchten und verwandelten sich zu weißen Glocken zurück. Aber das bemerkte Sabrina kaum. Jetzt konnte sie nur noch an die Decke starren. Vielleicht wäre sie ein paar Augenblicke später zu ihren Eltern gelaufen, hätte sie wach gemacht, und ihnen alles gezeigt. Doch dann hörte sie neue Geräusche, die sie erstarren ließen, und diese kamen nun wirklich aus dem Dachgeschoss.

Die Familie, dachte Sabrina beunruhigt. Wir sollen sie nicht stören, aber sie werden sich sicherlich gestört fühlen, wenn sich etwas von unten durch die Decke bohrt. Plötzlich wusste sie nicht mehr, ob es gut war, diese Pflanze heimlich zu pflanzen. Sie hätte ja nicht ahnen können, was für einen Ärger sie ihr machen würde. Es musste eine ziemlich aufgeregte Unterhaltung sein, die da oben stattfand, denn die Stimmen gingen immerzu auf und ab. Schließlich aber wurden sie von einem wirklich lauten Krach übertönt, und das war, als sich ein richtig großer Stein aus der Decke löste. Mit einem lauten Bums fiel er zu Boden. Wie gut, dass unter ihnen der einsame Mann und nicht das Rentnerehepaar wohnte. Die hätten sich jetzt bestimmt wieder über den Lärm beschwert. Sabrina wusste, dass es spätestens jetzt an der Zeit war, ihren Eltern Bescheid zu sagen. Aber sie war so gelähmt, dass sie es nicht mehr wagte, sich vom Fleck zu rühren. Nach dem großen Brocken fielen noch ein paar kleinere Steinchen herab, aber das Schlimmste war jetzt überstanden. Dafür waren die Stimmen von oben noch deutlicher zu hören, denn anscheinend hatte die Pflanze bereits ein Loch in die obere Wohnung hindurchgebohrt. Doch den Stimmen nach zu urteilen, schien deswegen niemand betrübt zu sein. Im Gegenteil, man schien sich beinahe darüber zu freuen. Sabrina versuchte genauer zu lauschen, und bald schon glaubte sie, einzelne Worte herauszuhören. Die dort oben sprachen Deutsch, soviel war klar. „du zuerst“, hörte sie eine eher hohe Stimme sagen, während im Hintergrund ein leiser, aber fröhlicher Gesang erklang. Bald aber wurde dieser Singsang von einem weit weniger melodischen Gebrumme übertönt. Und dieses Gebrumme schien durch das Loch in der Wand zu klettern und immer weiter in Sabrinas Zimmer hinunterzukommen. Das wurde ja immer unheimlicher. Konnte diese seltsame Pflanze nun etwa

auch singen? Aber nein. Es war nicht die Pflanze, die da gesungen hatte, es war das Männchen, dass sich kurze Zeit später zwischen den dicken

spiralförmigen

Stängeln

des

Gewächses

hindurchquetschte. Es war ein ziemlich seltsames Männchen. Sabrina hatte schon längst vermutet, dass die Menschen dort oben im Dachgeschoss kleiner waren als gewöhnliche Menschen. Aber so klein? Den konnte sie ja locker mit einer einzigen Hand tragen, und das, obwohl sie noch ein kleines Mädchen war. Sabrina betrachtete das Männchen genauer und fand, dass es ein bisschen altmodische gekleidet war. Hose und Jacke waren braun und sahen ein bisschen lumpenhaft aus. Auf dem Kopf trug es einen Hut, der ebenfalls braun war, und unter dem dunkles, dichtes, lockiges Haar zum Vorschein kam. Das fremde Wesen war eindeutig ein Mann, und zwar ein richtiger Mann, kein Junge. Das sah man ihm deutlich an, wenn er auch ziemlich klein war. Denn er trug auch einen Bart im Gesicht, der unterm Kinn zwar lang und spitz herunterhing, der aber nicht besonders dicht war. „Hallo“, grüßte der kleine Mann und winkte ihr freundlich zu. Sabrina war zunächst ein bisschen verdutzt, weil er überhaupt nicht schüchtern zu sein schien. Dann aber freute sie sich wie eine Schneekönigin. Sie erinnerte sich an die Worte der Vermieterin. Wenn sie glauben, jemandem vertrauen zu können, kommen sie ganz von alleine. „Hallo“, sagte Sabrina leise. „Was bist du denn für einer?“ „Mein Name ist Honzi Hossenheim“, antwortete der Mann. „Ich bin vor ein paar Tagen dort oben eingezogen.“ „Vor ein paar Tagen erst?“ fragte Sabrina. „Ich dachte, ihr wohnt schon viel länger dort oben. Die Besitzerin dieses Hauses hat gesagt, schon seit vielen Jahrzehnten. Schon, als ihre Großmutter dieses Haus noch vermietet hat.“ „Das stimmt“, antwortete Honzi. „Das Ehepaar Schürig wohnt

bereits seit vielen Jahren da. Aber ich und meine Familie, wir sind erst vor etwa zwei Wochen dort eingezogen. Hast du nicht gehört, wie wir damals eine große Feier veranstaltet haben? Bis in die tiefe Nacht hinein haben wir uns an der Hand gehalten, einen Kreis gebildet und getanzt wie die Wilden. Hast du das gar nicht gehört? Es muss doch ziemlich laut gewesen sein. Denn wir hatten noch Gäste da, die uns beim Umzug geholfen haben.“ „Doch“, antwortete Sabrina und nickte. „Ich bin mitten in der Nacht aufgewacht. Und seit diesem Tag habe ich noch öfters was von euch gehört. Früher habe ich nie etwas gehört, und ich habe manchmal gar nicht glauben können, dass dort oben tatsächlich jemand wohnt.“ „Das liegt daran, dass die Schürigs schon sehr alt sind“, erklärte Honzi. „Sie reden nicht mehr viel und sie kommen fast nie mehr aus der Schublade, in der sie wohnen heraus. „Schublade?“ fragte Sabrina ganz überrascht. „Sie wohnen in einer Schublade?“ „Ja, freilich. Halb aufgezogene Schubladen sind die Orte, wo wir Dachbodenbewohner am liebsten wohnen. Vor allem die älteren davon uns. In der Hälfte, die noch im Schrank steckt, hat man es wunderbar dunkel. Wenn man ein paar kleine Kissen und dünne Decken dort hinlegt, hat man eine gemütliche Schlafecke, in der man sogar tagsüber gut schlafen kann. In der Ecke, die offen ist, kann man sich einen kleinen Tisch und ein paar Stühle aufstellen. Wenn die Schublade sehr hoch ist, hat man von dort oben eine wunderbare Aussicht über den gesamten Dachboden. Von dort aus beobachten die Schürigs immer meine Kinder beim Spielen. Sie sind so froh, dass endlich wieder ein bisschen Leben in der Bude ist.“ „Du hast also Kinder?“ fragte Sabrina. Sie war jetzt hellwach und sie spürte, dass dies eine der aufregendsten und schönsten Nächte in ihrem Leben werden würden. „Ja, klar, habe ich Kinder“, antwortete Honzi. „Der älteste

heißt Joppo. Er ist bereits ein großer Junge. Lange wird‘s nicht mehr dauern und er wird ein kleiner Mann sein. Mein kleinster Sohn hingegen ist noch ziemlich jung. So jung, dass er nicht einfach so in den Schränken und Gardinen herumklettern kann wie die anderen beiden. Er heißt übrigens Fenno. In der Mitte zwischen beiden aber habe ich ein Mädchen. Ihr Name ist Neli und sie dürfte in deinem Alter sein.“ „In meinem Alter?“ fragte Sabrina. „Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Sie ist doch mit Sicherheit viel kleiner als ich.“ „Das stimmt allerdings. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass ihr euch richtig gut verstehen werdet. Sie sehnt sich nach einer Freundin, weil sie das einzige Mädchen in der Familie ist. Mein Bruder hat nämlich auch drei Kinder, und das sind alles Jungs.“ „Ja, aber warum kommt sie dann nicht einfach runter zu mir?“ fragte Sabrina. „Sie haben noch ein bisschen Angst“, antwortete Honzi. „Deswegen haben sie mich vorgeschickt, weil ich der Familienvater bin. Aber wenn ich ihnen ein Zeichen gebe, dass du harmlos bist, werden sie sogleich die Traumblume herunterkommen. Nur Fenno wird wohl oben, bei meiner Frau Malli, bleiben. Wie gesagt, er ist noch nicht so geschickt im Klettern.“ Sabrina lachte. „Ich bin ganz bestimmt nicht gefährlich“, sagte sie. „Ihr könnt ruhig in mein Bett kommen und ich werde nicht fressen. Aber sie dürfen nicht so laut sein, denn sie dürfen meine Eltern nicht wecken. Meine Mama ist es nämlich ein bisschen unheimlich, dass dort oben Leute wohnen, die wir nicht kennen. Sie wäre bestimmt nicht begeistert, euch hier bei mir zu sehen.“ „Na, dann muss ich Neli wohl sagen, dass sie aufhören zu singen soll“, sagte Honzi. „Sie sing nämlich so gerne. Hörst du es?“ Ja, Sabrina hörte es. Sie sang beinahe ein bisschen wie ein

Engel, fand sie. Im nächsten Augenblick aber stieß Honzi einen Pfiff aus und dann hörte sie, wie sich im Inneren der Pflanze erneut etwas bewegte. Nun kamen sie also, Honzis Kinder. Sabrina rieb sich die Hände, weil sie es kaum erwarten konnte. Und drei Minuten später saßen sie tatsächlich bei ihr auf der Bettdecke. Honzi, Joppo und Neli. Joppo hatte ähnliche Kleider an wie sein Vater. Er hatte aber keinen Hut. Und bei ihm war auch nur die Hose braun, während die Jacke dunkelgrün war. Er sah insgesamt auch etwas ordentlicher aus. Wenn sie ihn genauer ansah, dann fand sie beinahe, dass er etwas edles an sich hatte. Er hatte helles, glattes Haar und sein Gesicht hatte sehr kräftige Züge. Trotzdem sah er sie schüchtern an. Oder sagen wir besser, geheimnisvoll. Neli hingegen hatte langes, glattes und dunkles Haar. Sie war in ein wolkenweißes Kleid gehüllt, auf dem winzige silberne Sterne glänzen. Sie war ein bisschen dick, aber sie hatte ein sehr freundliches und verträumtes Gesicht. „So groß bist du!“ staunte sie, als sie Sabrinas dicken Finger betastete. „Ich bin noch nie einem so großem Menschen so nahe gewesen.“ Sabrina musste ein bisschen kichern. Sie erinnerte, dass die Kinder in ihrem alten Wohnblock immer gesagt hatten, sie sei viel zu klein. Eine Weile saßen sie alle zusammen auf ihrem Bett und taten nichts, als sich gegenseitig anzustarren. Die Kinder schienen nicht so gesprächig zu sein wie der Vater, der wieder zur Pflanze zurückgekehrt war, um die Gesundheit ihrer Blätter zu begutachten. Doch das täuschte. Als das Eis zwischen ihnen erst einmal gebrochen war, schwatzten sie drauflos, was das Zeug hielt. Am Anfang redete meist Neli. Sie erzählte Sabrina alles von dem Leben, dass die Familie auf dem Dachboden führte. Auf einem Brett in einem Regal hatte sie sich so etwas wie ein

eigenes Zimmer eingerichtet. Eine Pappröhre hatte sie mit Stoffen ausgelegt,

sodass

sie eine

richtig gemütliche

Kuschelhöhle zum Schlafen hatte. Dann hatte sie noch mit einem Bindfaden einen Sack an die Decke gebunden, in dem sie manchmal schaukelte. Besondere Mühe hatte es ihr gemacht eine große Schale mit lauter kleinen Plastikperlen auf ihr Regalbrett zu tragen. Joppo und der Vater hatten ihr dabei geholfen, aber die Mühe hatte sich gelohnt. Denn sie liebte es, an manchen Tagen ein Perlenbad zu nehmen und ihren kleinen Körper in ihnen unterzutauchen. Wenn es ihr abends zu dunkel war und sie noch etwas machen wollte, brauchte sie nur eine der beiden Kerzenstummel anzünden, die sie in ihrem Zimmer hatte. Sabrina überlegte sich, wie eine solche Kerze wohl aussah, wenn man so klein wie Neli war. Wie eine große brennende Säule musste sie für sie sein. Wenn Neli in ihrem Zimmer ungestört sein und nicht beobachtet werden wollte, brauchte sie bloß den Vorhang zu ziehen, den sie an der Außenseite des Regals angebracht hatte. Den Stoff dafür hatte sie in einer Schublade gefunden. Worauf sie aber am allerstolzesten war, war die Holzrinne, die von dem Boden in ihre Regaletage hinaufführte. Wenn sie dort hinunterrutschte, war sie in Windeseile unten und brauchte nicht erst eine anstrengende Kletterpartie zu machen. Ihr Bruder Joppo lebte nicht im selben Regal wie sie. Er hatte sich sein Zimmer auf einer Holzfläche eingerichtet, die direkt unterm Dach lag. Es war die höchste Wohnfläche, die es auf dem Dachboden gab. Er mochte es nämlich, weit oben in der Höhe zu sein, wo ihn niemand störte. Während Neli geredet hatte, hatte er meist schweigend auf der Bettkante gesessen und die Beine baumeln lassen. Sabrina dachte zunächst, er wolle nichts mit ihr zu tun haben, aber dann fing auch er zu erzählen an. Oh, was für eine geheimnisvolle Stimme er hatte! Sabrina konnte sich kaum entscheiden, ob sie eher aus einem Märchen

oder aus einer Schauergeschichte stammen könnte. Zunächst bekam sie eine Gänsehaut, als sie ihm zuhörte, aber dann war es einfach nur schön und unheimlich spannend. Neli hatte mit ihr geredet, wie die Mädchen in ihrer Schulklasse mit ihr redeten. Sie hatte ihr von ihrem Zimmer erzählt, von der Familie, von ihren Spielen. Joppo hingegen redete über ganz andere Dinge. Er liebte es, in der Höhe auf den Stützbalken spazieren zu gehen. Manchmal blieb er dabei stehen, beobachtete die Fliegen, und versuchte, ihre Sprache zu lernen. Jeden Tag kletterte er mindestens einmal zu der kleinen Dachbodenluke herüber und spähte in die weite Welt hinaus. Er musste doch schauen, ob die dunklen Ritter auf ihren fliegenden Pferden angeritten kamen und versuchten, seine Familie anzugreifen. Er selber wollte, sobald er groß war, selbst ein großer Ritter werden, aber einer der guten, nicht der bösen Seite. Er übte dafür jetzt schon mit einem Holzschwert, dass er sich selbst geschnitzt hatte. Er machte seine Übungen sogar auf den Querbalken des Daches. Der gesamten Familie wurde schwindelig dabei, wenn sie ihm dabei zusehen musste. Aber er sagte, ein guter Ritter darf niemals Angst vor tiefen Abgründen haben. Sabrina fragte ihn einmal, ob das, was er erzählte, ernst gemeint war, oder ob es nur Märchen und Phantasien waren. Aber darüber schwieg er, wie über viele andere Dinge, die sie gerne von ihm gewusst hätte. Je länger ihr die beiden aber erzählten, desto trauriger fand Sabrina es, dass sie selbst nicht so klein war, und auf dem Dachboden leben konnte. Sie war schon einmal auf dem Dachboden ihrer Oma gewesen und sie wusste, wie viele Verstecke es auf so einem Boden geben konnte. Wie gerne wäre sie selber all die Schränke und Regale hinaufgeklettert. Wie gerne hätte sie sich aus alten Gardinen und Stoffen ihre eigenen Kleider zusammengeflickt. Wie gerne wäre sie selber einmal auf den Dachbalken entlang balanciert, wenn Joppo bei

ihr war, und aufpasste, dass sie nicht herunterfiel. Wie gerne wäre sie einmal in eine der Schubladen gekrochen und hätte als kleiner Zwerg in all dem alten Ramsch herumgewühlt. Und wie sie so davon schwärmte, stand plötzlich Honzi wieder auf ihrem Bett. Die ganze Zeit war er umhergegangen, hatte sich in ihrem Zimmer umgeschaut, und sich nicht in die Gespräche unter Kindern eingemischt. Was wollte er auf einmal? Wollte er seine Kinder abholen, damit sie wieder nach oben zurückkehren konnten. „Oh, könnt ihr nicht für mich vielleicht einmal die Dachbodentür aufmachen?“ fragte Sabrina ihn. „Dann kann ich wenigstens einmal bei euch hereinschauen und ich euch zugucken. Auch wenn es schade ist, dass ich niemals bei euren Spielen mitmachen kann.“ Dieser Abend war wirklich das sonderbarste, was Sabrina jemals erlebt hatte. Doch das, was Honzi ihr dann antwortete, war fast noch sonderbarer. „Nein, die Bodentür können wir nicht für dich aufmachen. Es wäre viel zu kompliziert, die schwere Eisenkette zu entfernen. Wieso kommst du nicht einfach durch das kleine Loch in der Decke, wie wir es auch tun?“ Sabrina dachte zunächst, er wolle sie veräppeln, aber er meinte es tatsächlich ernst. Er bat sie, zu der Pflanze, die er Traumblume nannte, herüberzugehen, und leicht an ihren glockenförmigen Blüten zu wackeln. Sabrina tat, was er sagte, und schon bald kullerte eine kleine Kugel in ihre Hand. „Was ist das?“ fragte sie. „Ein Samenkorn?“ „Nein, das ist ein Traumplätzchen“, erklärte Honzi. „Wenn du es vor dem Schlafengehen isst, dann kannst du in deinen Träumen tatsächlich bei uns sein. Jedoch musst du dafür eine Puppe haben, die in unserer Größe ist. Wie wäre es zum Beispiel mit der Prinzessin dort in deinem Regal?“ Sabrina holte die Prinzessin herüber in ihr Bett. „Und nun?“ fragte sie.

„Du legst die Prinzessin auf deine Bettdecke, isst das Plätzchen und schläfst ein“, sagte Honzi. „Und sobald du eingeschlafen bist, wandert deine Seele in die Puppe hinüber. Wenn du mit deiner Seele in der Prinzessin steckst, wird diese lebendig, und du kannst mit ihrem Körper hingehen, wo du willst. Dein echter Körper bleibt aber im Bett zurück. Erst, wenn du zu ihm zurückkehrst und du dir selbst einen bestimmten Satz in das Ohr flüsterst, geht deine Seele in deinen echten Körper zurück.“ „Aber bin ich dann nicht total übermüdet, wenn ich die ganze Nacht mit euch auf dem Dachboden spiele, anstatt zu schlafen?“ fragte Sabrina, die von der Geschichte fasziniert und besorg zugleich war. „Nein“, sagte Honzi. „Denn dein Menschenkörper schläft ja weiter. Sobald du aufgewacht bist, wird es dir so vorkommen, als sei alles nur ein Traum gewesen. Trotzdem wirst du dich an alles erinnern können. Und wenn du am nächsten Abend wieder Lust hast, kannst du es ruhig noch einmal probieren. Wir haben jeden Abend Zeit für dich, denn wir Dachbewohner sind sowieso eher Nacht- als Tagmenschen.“ „Ganz besonders ich“, schwärmte Joppo. „Das einzige, was etwas schade ist, ist, dass ich noch nie einem Nachtflügel begegnet bin. Aber hoffentlich wird es eines Tages noch passieren.“ „Ein Nachflügel?“ fragte Sabrina. „Was soll denn das sein?“ „Das ist ein Flügel, der dieselbe Farbei wie die Nacht hat, sodass man ihn nicht sehen kann. Doch du spürst ihn, wenn er direkt in deine Nähe kommt. Wenn du dann schnell genug bist, und dich auf ihn draufstellst, kannst du innerhalb kürzester Zeit zu den unmöglichsten Orten reisen.“ „Zu was für Orten denn?“ fragte Sabrina. „Zu anderen Kontinenten. Aber auch zu anderen Sternen, wenn du willst. Oder eben zu all den Orten der Dämmerung, wo die Tiere und die Wesen der Dämmerung wohnen. Ein normaler

Mensch, und auch wir Dachbewohner können diese Orte aus eigener Kraft nicht finden. Denn sie sind geheim und die Wesen der Dämmerung achten darauf, dass niemand sie entdeckt. Nur ein Flügel der Nacht, der kann einen an alle Orte bringen, ohne dass man dabei Angst haben muss. Man kann sich sogar in den Mittelpunkt der Sonne wünschen und er bildet eine Schutzhülle aus, damit man nicht verbrennt.“ „Oh, ich wünsche, mir würde dieser Flügel der Nacht auch einmal begegnen“, sagte Sabrina. „Aber am besten nur wenn du dabei bist, Joppo. Denn mit dir zusammen würde ich bestimmt niemals Angst haben.“ Sabrina war sich auch sicher, dass ihr ohne Joppo dieser Flügel ganz sicher nie begegnen würde. Deswegen konnte sie sich gar nicht genug beeilen, das kleine Plätzchen der Traumblume herunterzuschlucken. Sie vertrieb die kleinen Menschlein, die nun allesamt ihre Freunde waren schnell aus dem Zimmer, denn nun wollte sie nur noch eins: Schnell einschlafen und ihnen dann hinterdrein folgen. Niemals zuvor hatte sich Sabrina so seltsam gefühlt, wie in dem Augenblick, als sie sich selbst beim Schlafen zusah. Sie war nun klein, nicht einmal so groß wie eine Hand, und das Zimmer war riesig. Ihr Kleiderschrank sah aus wie ein Wolkenkratzer,

und

die

Traumblume

schien

in

der

Zwischenzeit noch einmal um das zehnfache gewachsen zu sein. Er leuchtete wieder so wunderbar in der Nacht, dass sie sich in ihrem Zimmer gut umsehen konnte. Als sie die Bettkante heruntersah, kam sie sich vor wie auf einem DreiMeter-Turm, nur dass unter ihr kein Wasserbecken war. Aber Honzi hatte ihr gesagt, dass kleine Leute viel größere Sprünge machen konnten, und er hatte Recht. Mit einem kleinen Hopser war sie unten, ohne dass sie dabei ausrutschte oder sich sonst wie wehtat. Von oben hörte sie bereits, wie Neli ein paar Lieder für sie sang, und sie beeilte sich, zur Blume zu kommen und hinaufzuklettern.

Auch das war viel einfacher, als sie es sicher vorher vorgestellt hatte. Im Innenraum der spiralförmigen Stängel hatten sich kleine Zweige und starke Blätter ausgebildet, an denen man heraufklettern konnte, wie in einem Treppenhaus. „Willkommen bei uns, im Reich der Dachbewohner“, begrüßte sie eine Frau, sobald sie oben ihren Kopf herausgestreckt hatte. „Bist du die Malli?“ fragte Sabrina und die Frau nickte. Sie war ein bisschen dick, und ziemlich kräftig gebaut. Man sah ihrem Körper und ihrem Gesicht an, dass sie sehr viel arbeitete. Aber sie sah auch ziemlich gütig aus. Juppo und Neli konnten froh sein, so eine Mutter zu haben. Und Fenno natürlich auch. Das war die andere Person, die Sabrina traf, als sie zum ersten Mal aus dem Loch guckte. Und endlich wusste sie, zu wem das Lachen gehörte, dass sich wie ein Schluckauf anhörte. Im Gegensatz zu seinen beiden Geschwistern war er kein bisschen schüchtern. Er lachte und quasselte immerzu und wollte auch sogleich mit Sabrina spielen. Aber er war auch ziemlich tollpatschig und fiel alle paar Sekunden auf die Nase. Neli fand eine kleine Plastikkugel und sie schlug vor, dass sie ein Fußballspiel mit Fenno spielen sollten, damit er sich beruhigte. Juppo aber spielte nicht mit, obwohl er der größte Junge unter ihnen war. Fußballspielen auf dem Boden, konnte ihm nicht begeistern. Er hätte es lieber oben auf dem Dachbalken getan, wo man immer aufpassen musste, dass die Kugel nicht herunterfiel. Aber das ging nicht, weil Fenno zu klein war und die Mädchen sich nicht trauten. So kletterte er auf eine alte Kommode hinauf und schaute ihnen von oben aus zu. „Wirklich merkwürdig, was ihr da macht“, sagte er. „Ich habe noch nie eine Prinzessin Fußball spielen sehen.“ Da erst fiel es Sabrina ein, dass sie ja wie eine Prinzessin angezogen war. Aber doch nur, weil sie im Zimmer sonst keine Puppe in Nelis Größe gefunden hatte. Sie aber pfiff darauf, eine zu sein, und achtete auch nicht darauf, dass sie ihr weißes

Kleid nicht kaputt machte. „Ich will genauso aussehen, wie ihr“, sagte Sabrina, als Fenno endlich müde war, und ihn die Mutter mit hinauf in die Schublade nahm, in der sie wohnten. „Kein Problem“, meinte Neli und zeigte auf die Kommode, auf der ihr Bruder noch immer saß. „Siehst du die obere, offene Schublade? Dort gibt es Nadeln, Garn und Stoffe. Mama hat dort ein Nähstudio eingerichtet. Sie hat dort auch ein neues, fertiges Kleid für mich liegen, was ich mir aber noch nicht abgeholt habe. Das kannst du gerne haben, wenn du willst.“ Also kletterten sie zusammen die Kommode hinauf und Sabrina war überrascht, wie schnell sie das konnte. Was sie auch wunderte, war, dass es so hell war. Aber das log wohl an den Kerzen, die in manchen Ecken des Dachbodens brannten. Und an den Blumen, die in kleinen Blumentöpfen angepflanzt waren. Sie leuchteten genauso wie ihre Traumblume, nur waren ihre Blüten nicht sternförmig und auch nicht so groß. „Sind das auch Traumblumen?“ fragte Sabrina. „Nein, Traumblumen nennt man nur die Blumen, die durch die Decke wachsen, damit Kinder in ihren Träumen zu uns hinaufklettern können“, erklärte Neli. „Aber mit solchen Fragen gehst du am besten zu Joppo. Er kennt sich besser mit den Geheimnissen unserer kleinen Welt aus.“ Als sie aber oben waren, hatte Sabrina keine Zeit dazu. Sie war zu sehr damit beschäftigt, das dunkelrote Kleid zu bewundern, das Nelis Mutter genäht hatte. Es passte gut in diese Gegend hinein, denn es sah geheimnisvoll aus, wie es so im Licht der Wunderbäume glänzte und schimmerte. Und es war auch nicht so lumpig, wie die Kleidung von Honzi. Gerne wollte Sabrina es tragen, während sich Neli das Prinzessinnenkleid borgte. „So wie ihr ausseht, könntet ihr glatt in einer Modenschau auftreten“, meinte Joppo und grinste. „Au ja“, rief Neli vor Begeisterung. „Ich habe gehört, dass es bei euch großen Menschen so etwas gibt. Ich würde so etwas

gerne mal selber machen.“ Aber Sabrina war dagegen. Sie war hergekommen, um die Geheimnisse des Dachbodens zu erkunden. Da kann man Eitelkeiten nicht gut gebrauchen. Sie sah sich auf der Kommode um, um nach etwas zu suchen, womit man spielen konnte. Sie entdeckte aber nur ein altes Photo. Ein verstaubtes Schwarz-Weiß-Photo, das in einem goldenen, verzierten Bilderrahmen steckt. Es zeigt eine junge Dame in weißem Kleid und einen jungen Mann in schwarzem Anzug. Es sieht ganz danach aus, als ob sie ein Brautpaar sind. „Weißt du, wer diese beiden Leute sind?“ fragt Sabrina Neli. Aber bevor diese antworten kann, kommt ihr Joppo schon dazwischen. „Das sind ein Graf und eine Gräfin, die früher einmal in diesem Haus gelebt haben.“ „In diesem Haus?“ Sabrina tippte sich mit dem Finger an die Stirn. Man kann ihr ja eine ganze Menge einreden, aber so einen Unsinn glaubt sie doch nicht. „Dies hier ist doch ein ganz normales Wohnhaus. Wahrscheinlich ist es noch nicht einmal besonders alt. Hier leben doch keine Grafen und Gräfinnen.“ „Nein, besonders alt ist es wirklich nicht“, antwortete Joppo. „Besonders alt kann es auch gar nicht sein, denn vor etwas mehr als einhundert Jahren hat an derselben Stelle noch ein prächtiges Schloss gestanden. Doch eines Tages hat man es völlig niedergerissen, nur diese eine Dachbodenkammer ist geblieben.“ Sabrina wusste nicht recht, ob sie das glauben sollte. Schließlich hatte sie an diesem Tag schon allerlei verrückte Dinge gehört und erlebt. Aber es war ja völlig gleich, ob es wahr war, oder nicht. Joppo konnte gut erzählen und sie wollt ihm gerne weiter zuhören. „Wie kann es sein, dass eine einzige Dachbodenkammer geblieben ist?“ frage sie. „Ohne Haus müsste die doch zu

Boden gekracht sein.“ „Weil sie verzaubert war“, erklärte Joppo. „Die Gräfin und ihr Mann waren in diese Dachkammer geflohen, weil sie Opfer einer großen Verschwörung geworden waren. Man glaubte, sie sei gar nicht die echte Gräfin, sondern eine Schwindlerin. In Wirklichkeit war es nur ihr böser Onkel, der dieses Gerücht in die Welt gesetzt hatte. Er war erzürnt darüber, dass sie nach dem Tod seines Bruders den Thron geerbt hatte und nicht er. Deswegen tat er alles, um ihr zu schaden. Und er war so mächtig und listig, dass er es bald geschafft hatte, das gesamte Volk gegen sie aufzubringen. Welch ein Glück, dass die Gräfin einmal einer kleinen Elfe das Leben gerettet hat und nun einen Wunsch bei ihr freihatte. So wünschte sie sich, dass diese Dachbodenkammer unsichtbar wurde, und niemand sie dort finden konnte. Ihr Onkel ließ das ganze Schloss nach ihr absuchen. Er wusste, dass sie noch da war, aber er konnte sie nirgends finden. Er war so voll Hass gegen sie, dass er am Ende sogar das eigene Schloss abreißen ließ. Nur diese Dachbodenkammer nicht, weil niemand sie sah. Und so harrten die Gräfin und der Graf viele Jahre in dieser Kammer aus, bis ihr böser Onkel gestorben war. Die Elfe war so großzügig, dass sie der Gräfin einen zweiten Wunsch gewährte. Und so wünschte sie sich, dass man um die Dachkammer ein ganz normales Haus herum baute. Und als dies geschehen war, lebten sie in dem Haus viele Jahre wie ganz gewöhnliche Leute. Die große Zeit der Grafen war vorüber, und es hatte ihr ohnehin mehr Schwierigkeiten als Freude bereitet eine Gräfin zu sein. Niemand weiß heute mehr, dass hier früher einmal ein Schloss gestanden hat, nur die Tür zur Dachkammer. Die starke, hölzerne Tür mit der Eisenkette, sie ist von damals geblieben.“ Sabrina hatte die ganze Zeit über eher vermutet, dass sich Joppo die Geschichte nur ausdachte. Aber als er von der Dachbodentür erzählte, war sie sich nicht mehr sicher. Sie

erinnerte sich daran, dass sie sofort an ein altes Schloss gedacht hatte, als sie sie zum ersten Mal sah. Gerne hätte sie ihn auch noch gefragt, ob die Gräfin die Großmutter ihrer Vermieterin gewesen war. Aber plötzlich hörte sie, wie Malli nach ihnen rief. Sie stand in einer geöffneten Schublade in dem kleinen Schrank gegenüber. „Kommt rüber, meine Kinder! Ich habe für euch ein Nachtmahl zubereitet, damit ihr nicht verhungert.“ Sabrina hatte noch nie zuvor in der Nacht gegessen. Aber sie war neugierig darauf, was die Dachbodenbewohner wohl für Speisen hatten. Deswegen wollte sie schnell herunterklettern. „Doch nicht klettern!“ sagte Neli da. „Wir nehmen einfach die Seilbahn. „Die Seilbahn?“ fragte Sabrina zunächst verdutzt. Doch dann wusste sie, dass Neli die dünne weiße Schnur meinte, die zwischen der Kommode und dem Regal aufgespannt war. Sie war ihr schon die ganze Zeit über aufgefallen, aber sie hatte nicht gewusst, dass es eine Seilbahn war. „Die hat Joppo gebaut“, erklärte Neli. „Er ist in solchen Dingen immer sehr tüchtig. Also gingen sie herüber zur Kante, wo am Anfang des Seiles zwei große Schlüsselanhänger hingen. Joppo war als erstes da und

zeigte

Sabrina,

wie

es

ging.

Er

löste

den

Schlüsselanhänger aus einer Halterung, umklammerte mit den Füßen das Plastikteil und schon fuhr er wie ein Sausewind davon. Es dauerte nicht lange, da war er drüben. „Kann man die Anhänger auch wieder zurückbewegen?“ fragte Sabrina. „Es ist nämlich nur noch einer da.“ „Schlecht“, antwortete Neli. „Weil es von drüben aus ja nur bergauf geht. Sie werden meistens von allein zurückbewegt, wenn wir schlafen. Joppo behauptet, es seien unsichtbare Nachtfalter, die das täten.“ Aber die beiden fanden einen Weg, wie sie gemeinsam mit einem einzigen Schlüsselanhänger fahren konnten. Und

Sabrina war sich sicher, dass es viel mehr Spaß machte, wenn sie beim Fahren der Freundin ins Gesicht schauen konnte. Da konnten sie nämlich gemeinsam lachen und sich über die Fahrt freuen. Schließlich saß die gesamte Familie in der Schublade, in der die Schürigs wohnten. Die Schürigs, das waren zwei wirklich angenehme Leute, die Sabrina schon bald in ihr Herz geschlossen hatte. Sie sprachen wenig, aber wenn sie sprachen, dann musste man ihnen ganz aufmerksam zuhören, weil es so interessant war. Sie erzählten manchmal von unheimlichen Dingen, wie Joppo, aber meistens erzählten sie von früher, wie es damals auf den vielen Dachböden gewesen war, in denen sie gelebt hatten. Einige Geschichten waren sehr traurig. Sie hatten nämlich auch noch die Zeiten des letzten Krieges erlebt, und die Oma Schürig, die übrigens von allen auch nur Oma Schürig genannt wurde, wäre einmal fast verbrannt, als der Dachstuhl bei einem Angriff ausgebrannt war. Aber auch Opa Schürig hatte so einiges zu berichten, denn er war in seinem Leben viel in der Welt herumgekommen. Er vermisste das Reisen so sehr, und es war so traurig, dass er heute kaum noch seine Schublade verlassen konnte. Aber zum Glück war jetzt ja die Familie Hossenheim da, die extra hergezogen war, um den beiden Alten zu helfen. „Es ist so schön, dass jetzt wieder ein bisschen Leben bei uns eingezogen ist“, sagte Oma Schürig und schnurrte zufrieden. „Und du, Sabrina, kannst so oft zu uns hoch kommen, wie du möchtest.“ Sie saßen übrigens alle an einem Tisch der eigentlich gar nicht so groß war, dass sie alle daran gepasst hätten. Aber sie rückten ein bisschen zusammen, sodass sie es richtig gemütlich hatten. Auch hatten sie nicht genug Stühle, aber die Kinder konnten sich auch gut auf die Kante von der Schublade setzen. Als Essen gab es eine Suppe, die Malli über einer Kerzenflamme warmgemacht hatte. Sabrina war ein bisschen skeptisch, weil

sie grau und dickflüssig war. Als sie es aber probiert hatte, fand sie doch, dass es ziemlich gut schmeckte. „Was ist denn da drin?“ fragte sie. „Die zerraspelten Flügel einer Stubenfliege und mehrere Mückenstachel“, antwortete Joppo sogleich. „Wirklich?“ fragte Sabrina und war ziemlich geschockt. „Na klar. Und gewürzt wurde die Suppe mit einer Prise Hausstaub.“ Aber Malli sagte sogleich, dass Joppo nur wieder einen Quatsch erzählte. Was wirklich in der Suppe war, wollte sie aber nicht sagen. „Eine gute Hausfrau nimmt verrät ihre Geheimrezepte höchstens auf dem Totenbett“, sagte sie. Außerdem war sie der Meinung, dass die Dachbewohner auch noch so manche Geheimnisse vor den Besuchern aus der Menschwelt bewahren sollten. „Was seid ihr eigentlich für welche?“ fragte Sabrina. „Seid ihr Zwerge, Wichtel oder… oder einfach nur zu klein geratene Menschen.“ „Wir haben für uns keinen eigenen Namen“, antwortete Honzi darauf. „Wir nennen uns auch nur Menschen. Oder eben Dachbewohner, wenn wir uns von euch unterscheiden wollen. Denn unser Volk liebt es nun einmal in alten Dachböden zu leben, wo es viele Verstecke gibt und ihr großen Menschen selten oder gar nicht hinkommt. Es gibt in dieser Stadt noch Dutzende andere Familien, die wir manchmal besuchen.“ „Aber wie macht ihr denn das?“ fragte Sabrina. „Ich habe noch nie gehört oder gesehen, wie jemand von euch die Treppe heruntergegangen ist.“ „Wir gehen ja auch nicht über die Straße wie ihr?“ antwortete Joppo mit schwärmerischen Augen. „Wir haben einen Flugdrachen, der uns bei Nacht durch die ganze Stadt fliegen kann. Muron ist sein Name.“ Sabrina blickte sofort zu Malli und Honzi herüber. Und als sie sah, das die beiden nickten, wusste sie, dass dies keine

Phantasiegeschichte war, die sich Joppo gerade für sie ausgedacht hatte. „Wo ist denn dieser Drachen?“ fragte Sabrina. „Ich möchte ihn zu gerne einmal sehen.“ „Er ist nicht hier, denn Drachen leben meistens in den Innenwänden der Schornsteine“, erklärte Joppo. „Außerdem muss er ja außer uns manchmal noch andere Familien transportieren. Aber morgen Nacht will er zu uns kommen und am Bodenfenster anklopfen. Das hat er mir vor ein paar Tagen selbst versichern.“ „Dann werde ich morgen wiederkommen“, sagte Sabrina erwartungsfreudig. Sie wollte unbedingt einmal bei Nacht auf einem fliegenden Drachen über die Stadt reiten. Am nächsten Morgen aber hatte Sabrina ein ganz anderes Problem. „Ach, du lieber Gott!“ rief die Mutter, als sie ins Zimmer kam, um ihre Tochter zu wecken. Sie hatte aber nur noch Augen für die Traumblume, die mit ihrer Spitze ein Loch in die Decke gebohrt hatte. Natürlich wusste sie nicht, dass es eine Traumblume war, weswegen sie sie sofort aus dem Zimmer nehmen wollte. Sabrina hatte an diesem Sonntagmorgen lange geschlafen, und am liebsten wäre sie noch ein bisschen länger liegengeblieben. Denn der Traum, den sie gehabt hatte, war so wunderbar gewesen. Als ob sie ihn in Wirklichkeit erlebt hätte! Als sie aber sah, was ihre Mutter gerade anstellen wollte, war sie mit einem Schlag hellwach. Und sofort wusste sie, dass ihr der Traum ihr nicht nur echt vorgekommen war, nein, sie hatte ihn in Wirklichkeit erlebt! Wenn die Mutter ihr nun aber die Traumblume wegnehmen würde, konnte sie nie wieder einen solchen Traum erleben. „Lass das sein!“ schrie sie und sprang mit einem Satz aus dem Bett. „Es ist meine Blume! Ich habe sie selber gepflanzt und

ich möchte, dass sie hier stehen bleibt!“ „Aber das geht doch nicht, das siehst du doch!“ entgegnete die Mutter. „Sie hat ein Loch in die Decke gebohrt. In ein paar Tagen bohrt sie sich womöglich durch das Dach hindurch.“ Aber Sabrina wusste, dass dies nicht passieren würde. Seitdem die Blume das Dach erreicht hatte, war sie kaum einen Zentimeter mehr gewachsen. Aber die Mutter wollte nicht mit sich reden lassen. „Wenn die Vermieterin das sieht“, sagte sie. „Oh, jemine, wie unangenehm. Am Ende schmeißt sie uns noch aus der Wohnung!“ „Ich glaube nicht, dass die Vermieterin da so streng ist“, meinte Sabrina, doch die Mutter wollte darauf nicht hören. Welch ein Glück, dass genau in diesem Moment das Telefon klingelte. „Sabrina, ich muss schnell weg!“ rief die Mutter ganz außer Atem, als sie zwei Minuten später ganz gehetzt bei ihr hereinkam. „Einer Arbeitskollegin ist etwas Schlimmes passiert, ich muss sie dringend im Krankenhaus besuchen.“ Sabrina fand es natürlich sehr schade für die arme Frau. Aber wenigstens hatte sie jetzt ein bisschen Zeit, in der sie sich einen Plan überlegen konnte, das mit der Blume zu verhindern. Hastig kletterte sie auf einen Stuhl, zwängte ihren Zeigefinger durch das Loch und machte ein Klopfzeichen. Es dauerte nicht lange, da kniff ihr jemand in den Fingern. Es war Fenno, der ein bisschen mit ihr spielen wollte. Aber sie hatte für so etwas keine Zeit. „Sag schnell deine Eltern oder Joppo Bescheid!“ rief Sabrina zu ihm herauf. „Meine Mama will mir meine Traumblume wegnehmen. Dann kann ich heute Abend nicht zu euch kommen.“ Ein paar Minuten musste Sabrina ungeduldig warten. Dann kam Honzi an, der es gar nicht gewöhnt war, um diese Zeit wach zu sein. Aber als er Sabrinas Problem mit anhörte, sah er

sofort ein, dass es dringend war. „Ich kann deiner Mama doch einen Brief schreiben, dass es uns nichts ausmacht, wenn die Pflanze in unsere Wohnung herein wächst.“ „Ich weiß nicht“, meinte Sabrina. „Sie soll doch eigentlich gar nicht wissen, dass dort oben jemand wohnt. Sie fürchtet sich doch so sehr vor Gespenstern und kleinen Männchen und so. Außerdem nützt das auch nichts, weil ja der Vermieterin das Haus gehört und sie zu entscheiden hat.“ „Dann werde ich der Vermieterin jetzt einen Brief schreiben“, entschied Honzi. „Ich habe sie noch nie gesehen und noch nie mit ihr gesprochen. Aber ihre Großmutter hat den Schürigs einiges über sie erzählt. Wenn sie wirklich so ist, wie die alte Frau Hansen gesagt hat, dann wird sie deswegen bestimmt keinen Ärger machen.“ „Hoffentlich“, sagte Sabrina, die vom Stuhl stieg und wartete, dass das kleine Briefchen zu ihr heruntergeflogen kam. „Ich werde den Brief gleich zu ihr bringen. Hoffentlich trifft sie sich danach sofort mit Mama und sagt ihr, dass alles kein Problem ist.“ Als Sabrina bei der Vermieterin auf dem Sofa saß, während sie den Brief las, guckte sie ein bisschen ängstlich drein. Ihre Mutter hatte ihr immer beigebracht, dass man die Leute am Sonntag nicht einfach so stören durfte. Und dann hatte sie Angst, dass sie sich wegen dem Loch in der Decke aufregen würde. Wie erleichtert war sie, als die Vermieterin zu ihr aufsah und lachte. „Das ist aber schön, dass sich die Herrschaften auch mal bei mir melden“, sagte sie. „Ich bin eigentlich nicht so neugierig und lasse den Leuten Ruhe. Aber ein bisschen traurig war ich schon, dass sie mir niemals auch nur einen Brief geschrieben haben.“ „Du hast also nichts dagegen, dass ein Loch in der Decke ist?“

fragte Sabrina erleichtert. „Wenn du nichts dagegen hast, und die Familie im Dachboden auch nicht, dann wüsste ich nicht, wo das Problem ist“, sagte sie verständnisvoll. „Die Hauptsache ist nur, dass es nicht größer wird. Wenn ihr wieder auszieht kann man das Loch ja immer noch schließen.“ Sabrina lächelte. „Aber du musst zu uns herüberkommen und Mama das auch sagen“, fügte sie noch hinzu. „Die will meine schöne Traumblume sonst nämlich aus der Wohnung werfen.“ „Ich werde sowieso kommen“, sagte die Vermieterin. „Denn ich habe diese wunderbare Blume ja noch gar nicht gesehen.“ „Oh, was sieht die toll aus!“ staunte sie, als sie sie ein paar Minuten später direkt vor sich sah. „Sie passt aber gut zu meiner Großmutter, denn sie war eine sehr geheimnisvolle Frau. Vielleicht sollte deine Mutter eine eigene Gärtnerei aufmachen und dort mit den übrigen Samenkörnern diese Pflanzen züchten. Sie wird damit gewiss ein WahnsinnsGeschäft machen.“ „Lieber nicht“, sagte Sabrina. Denn wenn die Mutter reich wurde, dann würde sie sich bestimmt ein eigenes Haus im Grünen kaufen wollen. Früher hätte Sabrina gern in so einem großen Haus, das sie für sich allein hatten, wohnen wollen. Aber seitdem sie die Schürigs und die Hossenheims kannte, wollte sie nie wieder aus dieser Wohnung weg. „Dann schenke ich dir die übrigen Samenkörner“, sagte die Vermieterin. „Vielleicht wirst du später ja selber einmal Gärtnerin. Wenn du willst, kann ich den Beutel auch weiter für dich im Keller aufbewahren.“ Sabrina fand es gut, dass die Vermieterin das Geheimnis nicht groß herumerzählen wollte. Sie versuchte sich zu erinnern, ob sie schon einmal eine Frau getroffen hatte, die so nett war wie sie, aber ihr fiel keine ein. Am Ende schaffte sie es sogar, ihre Mutter davon zu

überzeugen, dass die Traumblume in Sabrinas Zimmer stehenbleiben durfte. „Und wenn sie weiter wächst?“ fragte die Mutter dennoch skeptisch. „Was ist, wenn plötzlich die Decke einstürzt. Oder wenn wir in Sabrinas Zimmer plötzlich einen Urwald haben.“ „Sie wächst nicht weiter!“ sagte Sabrina trotzig. „Sie ist seit heute Morgen noch keinen Zentimeter gewachsen.“ „Na gut, aber so ganz wohl ist mir bei der Sache trotzdem nicht“, sagte sie, als sie die Vermieterin zur Tür begleitete. „Aber wenn Sie die Verantwortung dafür übernehmen. Bitte.“ Am Sonntagabend wollte Sabrina sofort nach dem Abendbrot ins Bett, das war um kurz nach sieben. „Komisch“, sagte die Mutter. „Sonst gehst du doch nie freiwillig ins Bett.“ „Ich bin die letzten Tage so lange aufgeblieben, deswegen bin ich heute müde“, erklärte Sabrina. Auch der Vater war ein bisschen traurig, denn er hatte sie lange nicht gesehen und hätte gerne noch mit ihr ein Spiel gespielt. „Also gut, eine Runde Halma“, gab sie schließlich nach, aber pünktlich um halb acht lag sie in den Federn. Der Dachboden war noch viel größer, als Sabrina es am Abend zuvor erlebt hatte. Da waren sie nämlich nur in der kleinen Ecke gewesen, in der die Familie lebte. Sie war wahrscheinlich nur wenige Meter breit und lang, aber natürlich kam sie einem viel größer vor, wenn man klein war. An zwei Seiten wurde sie vom Dach begrenzt, an der anderen Seite lag die Mauer mit der Tür zum Treppenhaus, und an der vierten Seite schließlich war quer durch den Raum ein großer Vorhang aufgespannt. „Der hängt da, damit sich im Raum die Wärme besser hält“, erklärte ihr Neli. „Wir können ja nicht den ganzen großen Dachboden heizen.“ „Wie heizt ihr eigentlich genau?“ fragte Sabrina. „Das solltest du besser Joppo fragen, der hat bestimmt gleich wieder eine Geschichte parat“, sagte sie.

Aber Joppo war nicht da. Er war den ganzen Abend noch nicht aufgetaucht und so beschlossen Sabrina und Neli, allein etwas zu unternehmen. Zuerst spielten sie wieder Fußball und eine Runde Verstecken mit Fenno, damit er sich austoben konnte und ihnen hinterher nicht mehr auf die Nerven ging. Dann aber zog es Sabrina wie magisch zu dem Vorhang hin. „So ein Riesenvorhang!“ staunte sie, als sie direkt vor ihm stand und in die Höhe schaute. „Es kommt einem ein bisschen so vor, als ob hier das Ende der Welt liegt. Aber auf der anderen Seite ist eine andere Welt, die voller Rätsel und Geheimnisse ist. Vielleicht gibt es dort Monster und Gespenster. Vielleicht kommt sogar einmal eins zu uns herübergekrochen und erschreckt uns.“ „Du redest ja fast schon so wie Joppo!“ sagte Neli. „Der liebt es, dort drüben auf der anderen Seite zu sein. Er erzählt mir manchmal von seinen Erlebnissen dort drüben. Aber ich gehe fast nie dorthin. Es ist mir zu unheimlich.“ „Und ich interessiere mich unheimlich dafür, was dort drüben ist“, sagte Sabrina. Sie nahm sie an der Hand, denn sie merkte, dass ihre Freundin ein bisschen zitterte. „Wenn du mitkommst, und mir versprichst, dass du immer bei mir bleibst, gehe ich vielleicht doch mal“, sagte sie da. „Aber mit Joppo allein mag ich das nicht. Er nimmt nie Rücksicht auf mich, klettert überall hoch und verkriecht sich in allen dunklen Ecken. Wenn ich ihn nicht folge, lässt er mich einfach allein auf dem Flur stehen. Und dann stehe ich da und zittere und traue mich kaum, mich zu rühren.“ „Ich werde ganz bestimmt immer bei dir bleiben“, sagte Sabrina. „Lasst uns erst einmal am Vorhang hochklettern“, schlug Neli vor. „Damit ich ein bisschen Mut bekomme.“ Der Stoff des Vorhangs war nicht sonderlich glatt, sondern aus ziemlich groben Fasern gewoben. Wenn man so klein war wie sie, fand man überall zwischen den Fäden Halt und bald schon

waren sie über einen halben Meter in die Höhe geklettert. „Das macht mir Spaß“, jubelte Neli und schaukelte sogar ein bisschen hin und her. „Wenn im Hintergrund das Licht der Kerzen scheint und ich genau weiß, dass Mama und Papa mich sehen können, traue ich mich schon eine ganze Menge Dinge.“ „Und was ist, wenn plötzlich von der anderen Seite ein Vampir angeflogen kommt und in den Vorhang beißt?“ fragte Sabrina. „Genau dort, wo du gerade deine Hand hast.“ „Oh, sag so etwas nicht, sonst komme ich ganz bestimmt nicht mit dir!“ beschwerte sie Neli. Schließlich aber kam sie doch. Auf der anderen Seite des Vorhangs war es wirklich dunkel, das musste Sabrina zugeben. Es gab nämlich keine Kerzen und keine Wunderbäume, die ihnen Licht spendeten. Nur wenig blasses Mondlicht drang durch ein Dachfenster, ganz weit hinten rechts, zu ihnen herein. Neli aber hatte ein brennendes Streichholz in der Hand, damit sie wenigstens etwas sahen. Sie hatte es zuvor in flüssiges Kerzenwachs getaucht, damit es länger brannte. Langsam verstand Sabrina, warum sich Neli so vor dem Raum fürchtete. Er war nicht nur dunkel, er war auch fünf- oder sechsmal so groß wie der Raum, in dem sie wohnten. Er ging ja noch so weit um die Ecke herum, wo bei ihnen schon längst die Wand mit der Tür zum Treppenhaus gewesen wäre. Sie bekam eine leichte Gänsehaut, als sie sich überlegte, was in den vielen Ecken und Winkeln dieses Bodens alles sitzen und auf sie lauern könnte. Aber dann erinnerte sie sich an die Zeit zurück, als ihr ihre Mutter noch abends am Bett Geschichten vorgelesen hatte. Damals hatte sie beschlossen, einmal genauso viele Abenteuer zu erleben, wie die Menschen in den Büchern. Da konnte sie jetzt, wo sie endlich die Gelegenheit dazu hatte, nicht kneifen. Mit mutigem Schritt ging sie voran. Der Raum war kühl und leer und auf dem Boden war es auch viel staubiger als dort, wo Malli wenigstens einmal pro Woche den Boden wischte. An den Rändern zum Dach und in den Ecken

aber, da stand das Gerümpel, dass es die reinste Freude war. Alte Stofftiere, Kisten, die vielleicht mit Bauklötzen oder anderem Spielzeug gefüllt waren, alte Lampenschirme, Teppichrollen, mehrere Stühle, alte Werkzeuge, und vieles, vieles mehr. „Das ist doch ungeheuer aufregend, da mal drin herum zu wühlen“, sagte Sabrina. „Aber dort ist alles so schmutzig und staubig“, entgegnete Neli. „Ich habe immer Angst, dass zwischen all dem Staub dicke Spinnen oder andere ekelige Tiere sitzen könnten.“ Nachdem sie ein kurzes Stück gegangen waren, schaute sich Sabrina auch nach rechts herum, dorthin, wo der Dachboden mehrere Meter weit um die Ecke ging. „Sag bloß nicht, da willst du auch noch hinein“, stöhnte Neli. „Das geht wirklich zu weit. Wenn uns da etwas geschieht, hören uns Mama und Papa vielleicht noch nicht einmal, wenn wir um Hilfe rufen.“ „Aber da steht eine Art Schrank, den ich mir gerne einmal anschauen möchte“, sagte Sabrina. „Er sieht sehr alt aus, denn er ist ziemlich kunstvoll verziert.“ „Er ist entsetzlich!“ jammerte Neli. „Joppo hat gesagt, er hat Türgriffe,

die

aussehen

wie

Schlangen.

„Und

auch

Totenschädel und Werwölfe und andere unheimliche Dinge sind in ihm eingeritzt. Ich habe so eine Angst, dass dort drin irgendwelche Wesen der Finsternis sitzen und uns gefangen nehmen.“ „Das glaub ich nicht“, meinte Sabrina. „Joppo hat selber gesagt, die Wesen der Finsternis wohnen an Orten, wo nie ein Mensch hinkommt. Ich würde gerne mal auf diesen Schrank heraufklettern.“ „Heraufklettern ist ja noch schlimmer“, sagte Neli. „Dort oben gibt es nämlich lauter Spiegel, die einen von allen Seiten her anstarren. Joppo hat gesagt, manchmal blitzen auf ihm Lichter auf, obwohl es im ganzen Raum dunkel ist.“

„Joppo hat gesagt, Joppo hat gesagt…“, stöhnte Sabrina. „Lass dir von dem doch keine Angst einreden. Lass uns die Geheimnisse lieber selber erkunden.“ „Und was ist, wenn auf dem Spiegelglas plötzlich ein gefährlicher Drache erscheint, und uns böse anguckt?“ „Dann lass ihn doch böse gucken. Solange er kein Feuer speit, ist es halb so schlimm“, sagte Sabrina. Dann nahm sie der zitternden Neli das Streichholz ab und ging einfach vorneweg. Das wohl die einzige Möglichkeit, Neli zu etwas zu bewegen. Wenn sie nicht im Dunklen stehenbleiben wollte, konnte sie gar nicht anders, als ihr zu folgen. Doch ein bisschen mehr Vorsicht hätte Sabrina schon gut getan. Es dauerte nicht lange, da stolperte sie und ließ den brennenden Streichholz fallen, dass er mehrere Zentimeter über den Boden rutschte. Sofort fing Neli an gellend zu schreien. „Eine Falle!“ rief sie. „Du bist in eine Falle getreten. Jetzt werden die Monster kommen und dich holen!“ „Ach wo“, sagte Sabrina nur, nachdem sie den ersten Schock überwunden hatte. „Da ist nur eine Bodenplatte etwas locker.“ Sie lief schnell weiter, um das Streichholz wiederzuholen. Schließlich war der Boden aus Holz uns sie wollte keinen Hausbrand verursachen. „Lose Bodenplatten sind etwas ganz Geheimnisvolles“, sagte sie, drückte Neli wieder das Streichholz in die Hand und bückte sich. „Ganz oft sind Schatzkarten darunter versteckt. Das habe ich schon in vielen Geschichten gehört.“ Sie hob das Brett an, so weit sie es mit ihren kleinen Händen schaffte. Dann steckte sie neugierig den Kopf darunter, aber sie entdeckte nichts als Schaumstoff. „Wir müssen das Brett weiter absuchen“, sagte sie, als ihr Kopf wieder hervorkam. „Vielleicht ist die Schatzkarte ein Stück weiter versteckt.“ „Und was ist, wenn unter diesem Brett die Unterirdischen wohnen?“ fragte Neli zitternd.

Aber bevor Sabrina antworten konnte, ertönte plötzlich eine Stimme von ganz oben, die sich laut und heulend anhörte. „Huuuuuu-Uhuuuuuu“ Was war das nur? Ein Vogel, vielleicht? Oder am Ende gar ein Gespenst? Für einen kurzen Moment hatte Sabrina fast mehr Angst als Neli. Denn die merkte schon bald, dass es ihr Bruder war. Sie wusste schließlich, wie gut er seine Stimme verstellen, und war für Geräusche er damit nachmachen konnte. „Wenn ihr eine Schatzkarte haben wollt, warum guckt ihr dann nicht dort hinten in der großen Büchertruhe nach!“ sprach er und seine Stimme war so laut und dunkel, dass er sich beinahe wie ein finsterer Burgherr anhörte. „Joppo, wo bist du?“ fragte Neli. „Ich balanciere auf den Dachbalken, wie ich es immer tue, mein Schwesterherz“, war die Antwort. „Aber doch nicht hier, wo es so dunkel ist!“ entgegnete sie. „Komm sofort herunter!“ „Wenn dich die Dunkelheit stört, dann zünde ich eben ein Licht an“, war alles, was der Bruder darauf sagte. Und tatsächlich! Es zischte kurz und ein paar Sekunden später brannte ganz oben, fast direkt unter dem Dach, ein Kerzenlicht auf. Aber dadurch wurde es auf dem Boden fast noch unheimlicher als zuvor. Das Licht war schwach und fern. Riesig aber waren die Schatten, die es verursachte. Die Schatten der Dachbalken, aber auch die Schatten von einem Spinnennetz, das unter der Decke hing. Und natürlich die Schatten von all dem vielen anderen Dingen, die in den Ecken standen oder von oben herunterhingen. Manche davon wirkten auf den ersten Blick wie furchtbare Ungeheuer. „Joppo, lass das!“ flehte seine Schwester ihn an. Aber Joppo legte jetzt erst richtig aus. Neli konnte sich nicht entscheiden, was schlimmer war. Zu sehen, wie Joppo selber dort oben auf dem dünnen Balken balancierte, oder seinen Schatten auf dem

Boden zu beobachten. Als er einmal zum Ende des Balkens spaziert war, ohne dass etwas passiert war, atmete Neli erleichtert auf. Aber dann ging er plötzlich zurück, und zwar mit den Händen. Als er in der Mitte des Balkens war, wackelte er sogar ein bisschen mit den Beinen, um ihnen zuzuwinken. Aber da konnte Neli nicht mehr hingucken. Sie schloss die Augen, und selbst dann fürchtete sie sich noch. Sie fürchtete sich davor, jeden Moment den Knall zu hören, wenn Joppo zu Boden fiel. Aber ihr Bruder wusste, was er tat. Er fiel nicht und Sabrina klatschte laut Applaus, als er es endlich geschafft hatte und zum Abschluss eine Verbeugung machte. Schließlich kam Joppo doch herunter, aber Neli war es gar nicht recht, wie er das anstellte. An der Dachwand hatte er in weiten und unregelmäßigen Abstand Stangen angebracht, die mehrere Zentimeter hervorragten. Die Abstände zwischen ihnen waren aber so groß, dass man nicht einfach an ihnen herunterklettern konnte. Man musste sich fallen lassen, und dann versuchen, mit den Händen, die nächste Stange zu ergreifen. Neli hatte immer ein bisschen Angst, er könne eine Stange verfehlen. Sie war sehr froh, als er endlich unten war. „Hättest du vielleicht nicht oben das Licht ausmachen sollen?“ fragte ihn Sabrina da. „Ach, was. Ohne Licht kann man doch gar nichts sehen, wenn wir in der Büchertruhe sitzen.“ „Ich dachte nur. Nicht dass irgendwann das ganze Dach anfängt zu brennen.“ „Da brauchst du keine Angst haben“, sagte er nur. „Wir löschen die Kerzen hier fast nie selber. Mama auch nicht. Es gibt hier nämlich ein kleines Gespenst, das sie ausmacht, wenn sie zu weit heruntergebrannt sind oder wir sie nicht mehr brauchen.“ „Ein Gespenst?“ fragte Sabrina. „Ein richtiges Gespenst?“ Er nickte. „Es ist aber ein gutes Gespenst“, antwortete er. „Hast du es selber schon einmal gesehen?“ fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. „Es kommt immer nur, wenn wir Menschen nicht hingucken“, erklärte er. „Dann pustet es blitzschnell die Kerze aus und verschwindet schnell wieder hinter einer Dachritze.“ Sabrina wollte sitzen bleiben und warten, bis das Gespenst erneut kam. Sie wollte endlich wissen, ob all das wahr war, was Joppo ständig erzählte. Aber er war dagegen. Wie es sich für einen großen, starken Bruder gehört, nahm er plötzlich an jede Hand ein Mädchen und ging mit ihnen davon. Wenn ihr Bruder dabei war und sich so nett, um sie kümmerte, hatte auch Neli fast keine Angst mehr. Denn er hatte in seiner Lederscheide ja sein Schwert dabei, mit dem er sich sicher jedem gefährlichen Angreifer in den Weg stellen würde. Sie hielt seine Hand ganz fest, damit er ihnen ja nicht wieder davonrannte. Bald schon waren sie an der Büchertruhe angekommen, die ganz am anderen Ende des Bodens lag. Als sich Sabrina nach rechts umsah, merkte sie plötzlich, dass im unteren Teil der Wand einige dunkle Löcher waren. „Was ist das?“ fragte sie. „Gibt es hier auf dem Dachboden etwa auch Mäuse.“ „Das sind die geheimen Höhlen und Katakomben“, erklärte ihr Joppo flüsternd. „Die Bewohner, die vor vielen hundert Jahren diesen Dachboden bevölkert haben, sollen dorthin ihre Gefangenen verschleppt haben. Man sagt, dass tief in ihnen drin noch ihre Skelette liegen. Manchmal, an ganz bestimmten Tagen, sollen sie sogar noch aufstehen, in den Höhlen herumtanzen und dabei ihre Klagelieder singen. Wollen wir mal hineingehen und nach ihnen suchen. Wenn sie heute ihren großen Tag haben, können wir sie ja zum Tanz auffordern. Ich kann wunderbar tanzen.“ Aber das ging Neli eindeutig zu weit. Es kam Sabrina fast schon wie ein Wunder vor, als sie nach dieser Geschichte noch mit ihnen in die Büchertruhe hinaufkletterte. Joppo hatte eine Art Leiter hinauf gebaut, sodass sie sogar ihr Streichholz

mitnehmen konnten. „Denn zum Lesen braucht man richtiges Licht“, sagte er. „Wir müssen nur aufpassen, dass wir nicht aus Versehen eine Seite anzünden. Also gibt es lieber mir, ich bin stärker.“ Oh, was waren das für viele Bücher! Die Truhe war mindestens zwei Meter lang, einen Meter hoch und über einen Meter breit. Aber sie war von unten bis oben gefüllt mit Büchern, die nicht immer ganz gut geordnet waren, sondern kreuz und quer lagen, wie Sabrina bald feststellte. Es waren übrigens ziemlich alte Bücher, nicht solche neuen, wie sie selbst im Regal stehen hatte, bei denen die Einbände noch richtig glänzten. Nein, diese Bücher waren alt und vergilbt. Manche waren schon so kaputt, dass sie gar keine Einbände mehr hatten. In vielen Seiten waren Löcher, sodass man sich kaum traute, sie anzufassen. Man musste Angst haben, dass sie jederzeit zu Staub zerfallen konnten. Es war ohnehin schwierig, die Seiten der Bücher zu blättern, wenn man so klein war. Aber mit vereinten Kräften konnten sie das ganz gut schaffen. „Das sind Bücher nach meinem Geschmack“, murmelte Sabrina, als sie die Titel auf den Einbänden las. Es waren viele Bücher über Piraten und Seeräuber dabei. Und in solchen Büchern kamen sehr oft auch Schatzsuchen vor. Aber warum mussten diese Schätze eigentlich immer in der Südsee versteckt sein? „Die Südsee ist wirklich ein bisschen zu weit“, meinte auch Joppo. „Wenn uns heute nicht gerade ein Flügel der Nacht begegnet, schaffen das heute nicht mehr. Aber vielleicht wäre dies hier ja das richtige Buch für dich.“ Er führte Sabrina zu einem sehr großen Buch, dessen Titel „Die Geheimnisse unserer Stadt“ draufstand. Schon die erste Seite klang sehr vielversprechend. Es war ein kurzes Gedicht, das so lautete: Sind diese Geschichten Wahrheit oder nicht?

Kann man sie glauben oder führt man euch hinters Licht? Das müsst ihr selbst erkunden, Denn ich selber weiß es nicht

„Oh, wenn sie nur wahr sind, und wir finden es heraus!“ sagte Sabrina und rieb sich aufgeregt die Hände. Sie konnte es kaum erwarten sie im schwachen Flackerlicht des Streichholzes zu lesen. Die Geschichten waren kurz. Meist nicht länger als zwei oder drei Seiten. Auch waren sie in altmodischer Schrift geschrieben. Doch Sabrina hatte diese Schrift früh zu lesen gelernt, denn sie wusste ja, dass fast alle Schatzkarten und Geheimnisse der Welt in dieser Schrift aufgeschrieben waren. Die Geschichten handelten nicht von der Südsee, sondern von ihrer eigenen Stadt und all den unheimlichen Dingen, die sich dort in all den Jahrhunderten zugetragen haben sollen. So las sie von Gespenstern, die aus den Orgelpfeifen der Marktkirche hervor krochen, wenn man eine bestimmte Melodie auf ihr spielte. Oder von einem gefährlichen Wehrwolf der ganz in der Nähe im Wald in einer Höhle hauste. Jahrelang hielt er einen tiefen Schlaf und niemand wusste, dass er da war. Nur alle hundert Jahre wachte er auf, zog mit seinem gierigen Maul in die Stadt und tötete und fraß so viele Jungfrauen, wie er nur zu fassen bekam. Und schließlich kam auch so etwas wie eine Schatzgeschichte. Sie handelte von einem jungen Räuber. Eigentlich war er gar kein richtiger Räuber, sondern nur ein Junge, der so arm war, dass er nichts zu essen hatte. Er kam aus einer dummen Familie, aber er selber war schlauer als viele vermuteten. Und so schaffte er es tatsächlich, die kostbaren Schätze des Grafen zu stehlen. Nur leider war in der Nähe des Schlosses ein böser Zauberer, der es ebenso auf die Schätze des Grafen abgesehen hatte. Da er aber nicht die Kraft hatte, ihm den Beutel mit den

Reichtümern zu entreißen, musste er es durch einen Zauber hinbekommen. So verzauberte er den armen Jungen, sodass er bald nicht mehr Herr über sich selbst war. Mit gleichmäßigen Schritt und glasigen Augen ging er auf den Waldfriedhof hinzu, wo er sich sein eigenes Grab schaufelte und sich dort mitsamt der Schätze hineinlegte. Den Beutel hielt er immer noch fest mit seinen Händen und soviel der Zauberer auch daran riss, er konnte ihn nicht bekommen. Also schaufelte er schnell Erde ins Grab und rieb sich danach gierig die Hände. In ein paar Stunden wird das Bürschlein tot sein, dachte er. Und so beschloss er, dass er in der nächsten Nacht wiederkommen und den Schatz holen wollte. Dann würden die Arme des Jungen schlaff sein und es würde keine Mühe mehr machen, ihm den Beutel wegzunehmen. Er hatte gar nicht daran gedacht, dass die nächste Nacht, die Nacht vor Allerheiligen war, und auf allen Gräbern rote Lichter leuchteten. Erst als er bereits über den Friedhof marschierte, merkte er plötzlich, wie ihn die Geister der Toten bei seiner Schadtat beobachteten. Er versuchte dagegen anzukämpfen, aber gegen die Seelen der Toten konnte er selbst mit Zauberei nichts ausrichten. Er spürte bald, dass sie ihm sogar unter die Kleidung schauen konnte, und er fühlte sich so unheimlich nackt dabei. In dieser einen Minuten, in der es geschah, wurde der Zauberer so verrückt, dass er davonlief und niemals wiederkam. Der Schatz aber, der ist immer noch auf dem Friedhof vergraben. Viele haben ihn gesucht, aber niemand hat ihn gefunden. Nur der Wetterhahn auf der Friedhofskapelle, der all das beobachtet hat, weiß, wo er ist. Doch bisher ist es niemandem geglückt, ihm sein Geheimnis zu entlocken. „Oh, wollen wir nicht zum Friedhof gehen und nach dem Schatz suchen?“ fragte Sabrina. „Aber er ist doch zusammen mit dem Jungen begraben“, sagte Neli. „Stell dir mal vor, wir graben sein Skelett mit aus. Das wäre doch schrecklich.“

Joppo wollte etwas antworten, aber mit einem Mal ertönte ein lautes Geklapper durch den Raum. Neli und Sabrina zuckten zusammen, aber Joppo stellte sich kerzengerade auf und spitzte die Ohren. „Muron?“ rief er. „Muron!“ Als es ein zweites Mal klapperte, sauste er blitzschnell über die Bücher hinweg, kletterte die Leiter hinunter, und rannte über den Boden. Er lief auf die Wand zu, die direkt unter dem Dachbodenfenster lag. Neli und Sabrina beobachteten das Fenster ebenfalls. „Da ist ein Schatten“, flüsterte Sabrina. „Sind das etwa diese fliegenden Ritter, die kommen, um euch anzugreifen.“ „Diese fliegenden Ritter hat sich Joppo bestimmt nur ausgedacht“, meinte Neli. „Nein, das ist Muron. Vor ihm braucht man sich wirklich nicht zu fürchten. Er ist der beste Flugdrachen, den es im ganzen Land gibt.“ „Aber können Drachen nicht Feuer speien?“ fragte Sabrina. „Nicht alle. Nur die Großen, die in fernen Teilen der Welt leben, wo es keine Menschen gibt. Muron kann wie alle Stadtdrachen nur Rauchwolken auspusten.“ „Wie kommt das?“ fragte Sabrina. „Die Eltern erkennen schon sehr früh, wenn ein Drache kein Feuerspucker wird“, erklärte Neli. „Dann geben sie ihnen kaum noch zu fressen, sodass sie gar nicht wachsen können. Die Feuerdrachen sind riesiggroß, viel größer noch als ihr großen Menschen. Die Stadtdrachen aber sind kaum größer als ein großer Vogel. Wenigstens aber können sie fliegen. Sie verdienen

sich

ihr

Futter

damit,

indem

sie

uns

Dachbodenbewohner durch die Stadt zu unseren Freunden und Verwandten tragen.“ Bald klapperte es noch viel entsetzlicher, aber das war, als sich das Fenster nach Innen hin öffnete. „Wie

hat

er

das

gemacht?

hinaufgeklettert“, sagte Sabrina.

Er

ist

doch

gar nicht

„Er hat mit Seilen einen Mechanismus gebaut, sodass es auch vom Boden aus geht“, antwortete Neli. Dann aber mochte keiner von ihnen mehr sprechen. Sie schauten dabei zu, wie der dunkle Schatten des Drachen mit gespreizten Flügeln durch das Fenster hereinkam, eine kurze Ehrenrunde durch den Raum machte, und dann auf dem Boden landete. Sabrina wunderte sich ein bisschen, wie sachte er es tat, denn im Gegensatz zu einem Vogel sah er ziemlich plump aus. Noch faszinierender aber fand sie es, dass er aus Maul und Nase

permanent

Rauch

ausstieß,

als

wäre

er

eine

Dampflokomotive. Als Joppo auf ihn zulief, um schnell auf seine Schultern zu springen, und ihm den Kopf zu kraulen, merkte Sabrina erst so richtig, wie groß er eigentlich war. In Wirklichkeit war er wahrscheinlich kaum größer wie die Stofftiere, die in ihrem Regal standen. Doch wenn sie selbst klein war, musste er für sie ungefähr so groß sein, wie sonst ein Elefant. Er konnte sicherlich drei oder vier kleine Männchen auf seinen Rücken nehmen, wenn er wollte. „Los!“ sagte Neli. „Lass uns auch schnell zu ihnen herunterklettern, sonst fliegt Joppo nämlich ohne uns.“ „Das würde er tun?“ fragte Sabrina beinahe etwas empört. Neli nickte. „Muron ist sein ein und alles. Ich glaube, wenn er könnte, würde er am liebsten die ganze Nacht mit ihm durch die Dämmerung fliegen, und zwar ganz allein. Muron kann sprechen wie ein Mensch. Aber trotzdem hat er die Drachensprache gelernt, damit er sich mit ihm unterhalten kann, und niemand von uns die beiden versteht.“ Also beeilten sie sich, zu ihm zu kommen und löschten dann das Streichholz aus. Als die beiden Mädchen auf Murons Rücken kletterten, schien Joppo sie noch nicht einmal zu hören. Er hatte seinen Kopf dicht an den von Muron gelehnt und dann gab er so seltsame keuchende, zischende und grunzende Laute von sich. Der Drache gab ihm darauf eine

Antwort und dabei erzitterte sein Körper so sehr, dass Sabrina und Neli beinahe heruntergefallen wären. „Er freut sich“, sagte sie. „Wahrscheinlich hat Joppo ihm einen Witz erzählt. Wenn er seinen Körper so schüttelt, dann bedeutet das, dass er lacht.“ „Na, ich hoffe, er lässt diese Scherze bleiben, wenn wir in der Lüfte sind“, sagte Sabrina. „Ich habe nämlich keine Lust herunterzufallen.“ „Selbst wenn, dann wäre es nicht so schlimm, weil er dich garantiert wieder auffangen würde“, meinte Neli. „Nanu“, sagte Sabrina ganz erstaunt. „Warum bist du plötzlich so mutig?“ „Weil man bei einem Drachen wie Muron niemals Angst haben muss“, sagte sie und kniff dem Tier ein bisschen in seine dunkelgrüne, glänzende, schuppige Haut. Sie selber saß übrigens ganz hinten, während Sabrina in der Mitte der beiden Geschwister Platz genommen hatte. Ein paar Sekunden standen sie noch. Es sah so aus, als müsse der Drache noch einmal kurz durchschnaufen. Dann aber streckte er seinen Kopf weit nach vorne. Die Kinder konnten direkt spüren, wie er unter seiner Haut die Muskeln anspannte, eine Sekunde später war er in der Luft. Er drehte erst noch eine Ehrenrunde durch den Dachboden und die einsame Kerze auf dem Dachbalken sah plötzlich gar nicht mehr so unendlich weit und entfernt aus. Als Sabrina nach unten schaute und sie sah, wie tief der Boden entfernt war, wuchs ihre Ehrfurcht vor Joppo noch mehr. Dass er es sich traute, so hoch oben solche Experimente zu machen! Dann aber ging es wieder ein paar Zentimeter bergab und Muron sauste durch das geöffnete Dachfenster hinaus, hinein in die frische, kühle Luft der dunklen Nacht. Ach, was war das für ein Gefühl! Es dauerte keinen Augenblick und sie waren über das Dach des eigenen Hauses hinweggeflogen. Zu fliegen war ja ohnehin schon ein

unglaubliches Erlebnis! Aber dann noch auf einem Drachen, und direkt über den Dächern der Stadt… Sabrina drehte sich zu Neli um, doch diese hatte die Augen geschlossen. Dann fing sie an zu singen. Sie sang ja so gern: Heut bin ich geflogen Über unsere Stadt Hab die Freiheit eingesogen Die man mir genommen hat Bin geflogen über Dächer Doch sah nur den Horizont Sacht und leise wie ein Fächer Stahl ich langsam mich davon Eigentlich passte dieses Lied nicht ganz, denn niemand hatte ihnen die Freiheit genommen und sie stahlen sich auch nicht davon. Sie lebten gern in dem Haus, das für alle drei erst seit Kurzem ihre neue Heimat war. Aber Nelis Gesang war so wunderbar und beruhigend, dass Sabrina dies gar nicht auffiel. Das Kribbeln im Bauch wurde ein bisschen schwächer, sodass einem nicht schwindelig davon wurde. Aber es wurde auch nicht so schwach, dass sie es gar nicht mehr spürte. Denn dann wäre der Flug ja langweilig geworden. Sie sah nach unten und erkannte die unscharfen Umrisse ihrer Stadt bei Nacht. Es war wirklich schon sehr dunkel dort unten. Sie mussten ziemlich lange

in

der

Büchertruhe

gelesen

haben,

denn

die

Straßenlaternen in den schmalen Seitenstraßen waren bereits abgeschaltet und nur in wenigen Fenstern brannte noch Licht. Direkt vor ihnen aber ragten sechs Türme wie spitze Stacheln in den Himmel hinauf. „Wollen wir dahin fliegen?“ fragte sie Joppo aufgeregt. „Wollen wir in die Kirche hinein fliegen, auf der Orgel spielen und warten, bis die Gespenster oben aus den Pfeifen herausgeschwebt kommen?“

Aber Joppo hörte nichts. Es kam einem beinahe so vor, als hätte er aufgehört, er selbst zu sein, und war nun vollkommen mit Muron vereinigt. „Aber du kennst doch die Melodie gar nicht, die du dafür spielen musst“, antwortete Neli stattdessen. „Aber du vielleicht“, sagte Sabrina. „Du bist doch so musikalisch. Dir fällt bestimmt sofort eine Melodie ein, mit der man die Gespenster aus allen Löchern und Ritzen hervorlocken kann.“ „Selbst wenn, dann würde ich sie nicht spielen“, sagte Neli. „Ich mag nämlich keine Gespenster.“ Danach schwiegen sie eine Weile, aber schließlich war es Muron selbst, der seinen Drachenkopf zu ihnen herumdrehte, und sie ansprach. Es hörte sich lustig an, denn sein Drachenmaul war eigentlich nicht dafür geformt, um Menschenlaute nachzumachen. Aber er gab sich wirklich große Mühe beim Sprechen. „Wie ich sehe, habe ich einen neuen Fluggast“, sagte er. „Und dann auch noch so ein hübsches, nettes Mädchen. Wie heißt du denn, meine Kleine.“ „Sabrina“, antwortete sie. „Sabrina, und dann auch noch so ein schöner Name. Ist es das erste Mal, dass du fliegst? Es hört sich nämlich fast so an.“ „Nicht ganz“, war ihre Antwort. „Ich bin schon einmal mit einem Flugzeug geflogen, aber das war bei Weitem nicht so schön.“ „Ach, dann bist du in Wirklichkeit wohl ein Menschenkind“, stellte

der

Drache

fest.

„Eines

von

den

großen

Menschenkindern, meine ich.“ „Genau. In Wirklichkeit bin ich auch gar nicht hier. In Wirklichkeit liege ich in der Einhornstraße Nr. 17, 3. Stock, im Bett und träume das alles nur.“ „Na, dann ist es für mich eine besonders große Ehre“, sagte Muron. „Es ist nämlich das erste Mal, dass ich in einem Traum

mitspielen darf. Also will ich dafür sorgen, dass dieser Traum ein ganz besonderer wird, einer, den du auch in fünfzig Jahren nicht vergessen wirst. Denn lass dir gesagt sein, liebe Sabrina, wenn du mit einem Drachen über die Stadt fliegst, kannst du diese auf eine Art und Weise sehen, wie du sie sonst nie wieder sehen wirst.“ „Was meinst du damit?“ fragte sie. „Na, das will ich dir gleich einmal zeigen.“ Der Drache streckte seinen Kopf wieder nach vorn und gab Gas, wie nie zuvor. Dabei dampfte er so sehr, dass die Kinder auf dem Rücken bald in einem richtigen Nebel eingehüllt waren. Aber sie brauchten sich nicht davor zu fürchten, eine Rauchvergiftung zu bekommen. Denn dieser Rauch, oder Dampf, oder was auch immer es war, roch sehr angenehm, und war ganz gewiss nicht schädlich. „Huch, jetzt können wir aber gar nichts mehr sehen“, sagte Sabrina. Und da drehte sich Joppo zum ersten Mal, seit sie auf dem Drachen saßen, zu ihr herum und sprach mit ihr. Sein Gesicht und seine Augen wirkten ja sonst schon immer so träumerisch, aber jetzt sah er fast so aus, als ob er nicht von dieser Welt wäre. „Das ist ja gerade das Besondere, wenn man mit einem Drachen fliegt“, sagte er. „Wenn man so dahin gleitet, ohne zu wissen wohin, und dann plötzlich an einem Ort ankommt, den man noch nie zuvor gesehen hat.“ „Dass ist ja fast wie bei so einem Flügel der Nacht“, sagte Sabrina. „Ja, ein bisschen kann man das schon vergleichen.“ Der Flug dauerte vielleicht nicht länger als zwei Minuten, aber wenn man so aufgeregt ist, wie Sabrina, dann können einen zwei Minuten wie eine halbe Ewigkeit vorkommen. Dann bremste Muron so ruckartig, dass sie beinahe von seinem Rücken gepurzelt wäre, hätte sie sich nicht schnell noch an

Joppos Schulter festgehalten. Und dann hielt er völlig an, an einem Ort, an dem es stockfinster war. Der Mond und die Sterne über ihren Köpfen waren verschwunden. „Wo sind wir hier?“ fragte Sabrina. „Wenn du an Joppo vorbei und über Murons Kopf hinwegkletterst, dann kannst du eine Wand aus altem Stein betasten“, antwortete Neli und lachte. „Ich glaube nämlich fast, wir sind am Rathaus.“ „Am Rathaus?“ fragte Sabrina. „Ich glaube eher, im Rathaus, so duster, wie es hier ist.“ „Nein, wir sind am Rathaus“, widersprach Joppo. „Du kennst doch wohl das Rathaus deiner eigenen Stadt, oder etwa nicht?“ „Doch, schon.“ „Na, dann weißt du vielleicht auch, dass das schräge Dach des Rathauses, ziemlich weit über die Wand übersteht. Und genau unter diesen Überstand sind wir geflogen.“ „Ja, aber was wollen wir hier?“ fragte Sabrina beinahe ein wenig enttäuscht. „Wart‘s nur ab. Ihr denkt wohl, das Rathaus ist nur für euch große Menschen da, aber da habt ihr euch geirrt. Hier an dieser Wand, wo ihr Menschen von unten nicht hingucken können, ist unser Teil des Rathauses. Hier kommen wir hin, um all die Dinge zu erfahren, die wir Dachbodenbewohner wissen müssen.“ Eine Weile warteten sie noch ab. Bis irgendwann links von ihnen ein Licht erschien. Ein glänzendes, goldenes Licht, das bald wie eine Schlange über die gesamte Wand wuchs. „Das… das ist ja eine Schrift!“ staunte Sabrina. „Eine richtige goldene Schrift.“ Ja, das war es. Und wenn Joppo seinen Kopf ein bisschen einzog, konnte sie auch lesen, was man ihnen mitteilen wollte: In der alten Ruine, Wieselstraße 27, Nordstadt, findet heute ein großes Mitternachtskonzert statt

„Ein Konzert!“ jubelte Neli. „Da müssen wir unbedingt hin! Ich war schon so lange nicht auf einem Konzert.“ „Aber sind wir für Mitternacht nicht ein bisschen spät dran?“ fragte Sabrina. „Die Straßenlaternen sind doch längst ausgeschaltet.“ „Keine Sorge“, meinte Joppo nur. „Wenn wir Dachbewohner einmal richtig am feiern sind, dann halten wir das bis in die frühen Morgenstunden durch. Wir können uns unterwegs ruhig noch ein bisschen Zeit lassen.“ Und das taten sie. Muron machte zuvor noch einen kleinen Abstecher über den Stadtpark. Er flog direkt in das Geäst eines dichtbewachsen Baums hinein. „Wenn man klein ist, dann macht es bestimmt noch viel mehr Spaß, auf einen Baum zu klettern“, meinte Sabrina. „Weil man dann ja auch auf all die dünnen Zweige drauf kann, die bei uns Großen sofort abbrechen würden.“ „Darauf kannst du dich verlassen“, antwortete Joppo. „Man kann sich auch viel besser an der Baumrinde festhalten. Und was meinst du erst, wie herrlich es ist, ganz hoch oben auf einem Ast zu sitzen und im Wind hin und her zu schaukeln. Die Kinder mussten sich ein bisschen ducken, damit sie von den Ästen und Blättern nicht erschlagen wurde, dann landete Muron auf einem Ast. Aber… aber da saß ja schon jemand im Baum! Es war allerdings kein kleiner Dachbewohner wie Joppo und Neli, nein, es war ein Riese. Obwohl. In Wirklichkeit mochte er wohl kaum größer sein als Sabrina. Aber er hatte eine dunkelgraue Haut, als wäre er aus Stein gemacht. Merkwürdig, dachte Sabrina. Irgendwie kommt mir dieses Gesicht bekannt vor. Und dann plötzlich wusste sie es. Dieser Junge war eigentlich eine Statue, die schon seit vielen Jahrzehnten unten im Stadtpark auf einem Steinsockel stand. Über ihn gab es auch

eine schöne Legende. Angeblich soll er vor vielen Jahren einmal die Stadt gerettet haben. Natürlich nicht die Statue selber, sondern der Junge, der damals wirklich gelebt hatte. Nun aber war er eine Statue und lebendig zugleich, und saß oben in einem Baum. „He, Adrian!“ rief Joppo ihm zu. „Gib uns bitte drei Beutel, gemischte Nachtfrüchte! Und für unseren Muron bitte ein großes Stückchen Kauholz.“ „Wird gemacht“, sagte der Junge und griff mit seiner Hand in eine Höhle des dicken, mächtigen Baumstamms. Ein paar Sekunden später drückte er jedem der Kinder einen Beutel in die Hand und Muron ein dickes Stück Holz in das Maul. „Was schaust du mich denn so an?“ fragte er, als er Sabrinas erstaunten Blicke bemerkte. „Ist die Legende wahr?“ fragte sie. „Hast du damals wirklich die Stadt gerettet? Und wieso stehst du nicht unten im Park, wie sonst immer?“ „Ja, ich habe die Stadt gerettet“, war Adrians Antwort. „Aber nicht allein. Was viele heute nicht mehr wissen, ist, dass ich einen Zwillingsbruder habe. Aber das ist eigentlich nur praktisch für uns beide. Dann können wir uns nämlich abwechseln. Einen Tag steht er unten, still und starr, und tut so, als ob er ein steinernes Denkmal wäre, während ich im Baum sitze und das Leben genieße und bei Nacht Köstlichkeiten an vorbei fliegende Kunden verkaufe. Den anderen Tag machen wir es genau andersherum.“ „Eine geniale Idee“, meinte Sabrina. Sie hätte sich gerne noch länger mit ihm unterhalten, aber Neli wollte endlich zum Konzert. Also kostete sie unterwegs von den Früchten und Nüssen, die Joppo für sie gekauft hatte. „Die schmecken ja wirklich köstlich!“ schwärmte sie. „Wo wachsen sie denn?“ „Auf den Bäumen im Stadtpark“, war Nelis Antwort.

„So ein Quatsch!“ lachte Sabrina. „Das sind doch ganz normale Eichen, Linden, Buchen, und so weiter. Da wachsen doch solche Früchte nicht.“ „Ich habe dir doch gesagt, mein Kind, fliegst du einmal mit einem Drachen bei Nacht über die Stadt, dann kannst du Dinge erleben, die du nie in deinem Leben für möglich gehalten hättest“, konnte Muron darauf nur antworten. Weit oben am Nordrand der Stadt gab es ein großes Industriegebiet. Nachdem sie an den großen Kirchtürmen der Innenstadt vorbeigeflogen waren, waren es die Schornsteine, die vor ihnen in den Himmel ragten. Am Tag waren hier viele Menschen, um zu arbeiten, doch in der Nacht war fast alles leer uns still. An einem Ende des Industriegebiets gab es auch ein paar alte Fabriken, die längst stillgelegt waren. Nun standen sie da und gammelten vor sich hin. Und zwischen all diesen Fabriken gab es auch ein altes Backsteinhaus, in dem früher einmal die Fabrikarbeiter gewohnt haben. Und man konnte schon von Weitem hören, dass genau dort das Konzert stattfand. Hier lebten ja keine großen Menschen weit und breit, von denen die Dachbodenbewohner gestört werden konnten. Das Haus war so kaputt, dass auf dem Dach kaum noch Ziegel waren. Wenn Muron die Flügel einklappte und sich ein bisschen schlank machte, war es für ihn kein Problem, sich einfach durch das Holzgerüst des Dachstuhls zu zwängen. Aber noch bevor sie drinnen waren, spürte Sabrina, dass da drinnen die Party schon voll im Gange war. Erstens an den vielen Lichtern, die ihr entgegenstrahlten und zweitens an dem Lärm der Instrumente, dem Gesang und dem fröhlichem Gequatsche der Konzertbesucher. Als Sabrina dann endlich nach unten auf den Tanzsaal hinab sah, konnte sie kaum glauben, wie viele Dachbewohner es in ihrer Stadt gab. Das mussten ja weit über hundert sein, und viele waren vielleicht gar nicht gekommen, wie Joppos und Nelis Eltern, zum Beispiel. Seltsam, dass sie zuvor noch nie

etwas von ihnen gehört hatte. Die Musiker selber saßen übrigens hoch oben auf den Dachbalken, wo sie auf ihren seltsamen Instrumenten spielten. Unter der Decke hing eine alte Lampe, die längst nicht mehr leuchtete Dafür konnte man auf ihrem Lampenschirm und ihrer Glühbirne gut herumtrommeln. Andere hatten zwischen verschiedenen Dachbalken Fäden aufgespannt, auf denen sie Geige oder Gitarren spielen konnten. Wieder andere hatten aus dem Kabel, das zur Lampe führte, eine Art Flöte gebaut. Ja, es waren seltsame Instrumente und trotzdem hörte sich die Musik gut und richtig flott an. Sodass man direkt Lust hatte, dazu zu tanzen. Und das taten sie dann auch, genau wie die vielen anderen Leute es auch taten. Die Tänze der Dachbodenbewohner waren wild und ausgelassen. Sie stampften hart mit ihren Schuhen auf, machten große Luftsprünge, als wollten sie den Musikern oben ihre Instrumente klauen, und drehten sich schnell wie die Wirbelstürme. Sabrina fand es toll, denn bei solchen Tänzen konnte man einfach nichts falsch machen. Es machte auch nichts aus, wenn man einem anderen dabei einmal anrempelte oder ihm auf die Füße trat. Manchmal kam es vor, dass wildfremde Leute, die sie nie zuvor gesehen hatte, sie an den Händen nahmen, eine Weile mit ihr tanzten, und sich dann plötzlich wieder von ihr lösten. Am Anfang fand sie es ein bisschen komisch, aber sie gewöhnte sich schnell daran. Denn auf diese Art und Weise lernte sie schnell alle anderen Konzertgäste kennen. Sogar Neli, die sonst manchmal ein bisschen schüchtern war, machte frohen Herzens mit. Ein paar Leute, die sich nicht viel aus dem Gehopse und Gespringe machte, gab es aber doch. Joppo zum Beispiel. Er kletterte lieber an dem Dachgerüst bis oben auf den Dachfirst hinauf, wo er und ein paar andere ihre eigenen seltsamen Tänze machten. Also noch über die Musiker hinweg. Auf dem Boden zu tanzen fand er nämlich langweilig.

In der anderen Hälfte der Dachhalle saßen übrigens Muron und viele andere Drachen. Sie schienen sich auch nicht viel aus Musik zu machen, aber sie waren wohl froh, sich einmal wiederzusehen und unterhielten sich in ihrer seltsamen Drachensprache. Ein paar von ihnen kreisten auch immer um das Dach herum, um zu sehen, ob große Menschen oder andere Gefahren in der Nähe waren. Von dem Getanze wurden Sabrina und Neli bald hungrig, aber sie konnten ja immer zwischendurch zu ihren Säcken mit den Nachtfrüchten gehen, um sich zu stärken. In der einen Ecke des Dachbodens stand auch eine alte Frau mit einem dampfenden Kessel. Zum Tanzen war sie bereits zu alt, aber dafür schenkte sie Tee an alle Gäste aus. Sabrina wunderte sich darüber, dass die Musiker niemals eine längere Pause machten. Sie spielten und spielten, als wollten sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes mehr tun. Dann aber brachen sie ganz plötzlich ab. Gerade noch hatten die Menschen so schön getanzt, als sich in das fröhliche Chaos plötzlich eine wirkliche Unruhe mischte. „Ein Kind ist verloren!“ hallte es bald durch den gesamten Raum. „Eine Mutter vermisst ihr Kind!“ Es stellte sich bald heraus, dass ein paar kleinere Kinder den Tanzsaal verlassen hatten und draußen auf der Regenrinne balanciert waren. Dabei hatten sie nicht gut aufgepasst und so war eins bis zur äußersten Ecke des Dachs gelaufen, wo es in dem Loch verschwunden war, welches nach unten führte. „Oh, wie schrecklich!“ tönte es bald durch den gesamten Saal. „Hoffentlich ist die Regenrinne nicht verstopft! Wie sollen wir den armen Jungen da sonst wieder herausbekommen?“ Ein paar Männer gingen zum Unglücksort, sie riefen laut in das Loch hinein, aber sie bekamen keine Antwort. „Er wird wohl unten im Haus sein!“ hörte man sie bald durch den Tanzsaal rufen. „Einige müssen heruntergehen und ihn suchen!“

„Unten im Haus?“ fragte Sabrina. „Aber führt die Regenrinne nicht in eine Regentonne, draußen im Garten?“ „Nein“, erklärte Neli. „Die Menschen, die hier früher gewohnt haben, haben das Regenwasser vom Dach in eine Regentonne im Haus geleitet. Damals gab es nämlich noch nicht in allen Häusern Wasserleitungen.“ Am liebsten hätte jeder im Saal beim Suchen geholfen, doch viele Menschen wurden zurückgehalten, damit sie unten kein Chaos veranstalten. Die Kapelle fing wieder an zu spielen, aber diesmal sangen sie ruhigere Lieder, solche, wie Neli sie gerne vor sich hin summte. Neli und Sabrina aber gehörten zu denjenigen, die es rechtzeitig geschafft hatten, die Treppe herunterzuklettern. Man sagte ihnen, dass der Junge rote Haare hatte und gelbe Kleidung anhatte, dann konnte die Suche losgehen. „Bei gelben Klamotten ist es nicht so schwer“, flüsterte Neli. „Denn gelb ist eine Farbe, die von uns Dachbewohnern fast niemand trägt. Rote Haare kommen bei uns hingegen ziemlich oft vor.“ Unten im dritten Stock führte auch tatsächlich eine Regenrinne direkt in eine alte Wohnung hinein. Aber der Junge war längst nicht mehr zu sehen. Also liefen die Menschen kreuz und quer umher und suchten an den unmöglichsten Ecken. Sie kletterten nicht nur in den wenigen, völlig verstaubten Möbeln, die es noch gab, herum,

nein, es ging auch in alte Abflussrohre

hinein, man kroch in die Ritzen von Trümmerbergen, riss die Tapeten herunter, kletterte alle Treppen hinauf, öffnete die Fenster, um auf Fensterbänken oder im Efeu der Hauswände zu suchen. Als man in diesem Stockwerk niemanden fand, gingen einige auch eine Etage tiefer. Neli und Sabrina folgten ihnen hinterher. Sie hatten sich wieder ein Wachsstreichholz angezündet, damit sie besser sehen konnten. Doch als sie gerade in diesem Stockwerk ankamen, hörten sie plötzlich ein entferntes Piepen, welches von noch weiter unten zu ihnen

hinauf klang. Neli und Sabrina schauten sich einmal kurz an, dann entschieden sie sich innerhalb von einer Sekunde, dort unten nachzuschauen. Das war vielleicht ein bisschen leichtsinnig, zu gehen, ohne vorher einem Erwachsenen Bescheid zu sagen. Aber da sie das Gefühl hatten, dringend einem Menschen das Leben retten zu können, setzte sogar bei Neli die Vernunft ein. Für eine Weile hörte das Piepen auf, aber nach einigen Sekunden fing es immer wieder an. Es wurde mit der Weile immer lauter, aber auch in der nächsten Etage waren sie nicht am Ziel. Und so führte ihr Weg schließlich bis in den dunklen, feuchten Keller hinunter, wo ihnen das Piepen ganz nahe war. „Nomo?“ rief Neli, aber sie bekam keine Antwort. Da fasste sie Sabrina ganz fest am arm. „Oh, das ist so dunkel und unheimlich hier“, sagte sie. „Glaubst

du,

es

war

richtig,

dass

wir

ganz

allein

hierhergekommen sind? Wollen wir nicht wieder umkehren?“ Aber genau in dem Augenblick hörten sie einen Laut, der ganz eindeutig menschlich war. Das leise, aber fröhliche Lachen eines Kindes, um genau zu sein. „Nomo?“

rief

Neli

noch

einmal,

diesmal

etwas

hoffnungsvoller. Und sofort ertönte das Lachen wieder, das bald aber von einem erneuten Piepen übertönt wurde. Neli und Sabrina irrten im Raum umher, immer in Richtung der Geräusche. Sie mussten dabei aufpassen, dass sie nicht auf dem feuchten Boden ausrutschten oder über den Schutt stolperten, der überall herumlag. Schließlich aber führte sie der Weg zur Wand. Und genau an diesem Abschnitt der Wand befand sich ein kleines Loch. „Ein Mauseloch“, sagte Sabrina. „Ich glaube, wir haben ein Mauseloch entdeckt.“ Und tatsächlich, aus diesem Loch kam das Piepen und das Lachen.

„Nomo?“ riefen sie mit vereinten Kräften noch einmal. Und diesmal schien er sie gehört zu haben. Es dauerte nicht lange, da kam eine Maus aus dem Loch hervorgekrabbelt, und hinterdrein ein Kind, das noch nicht einmal so groß war wie Fenno. Wie sich bald herausstellte, konnte er noch nicht einmal richtig sprechen. Mit der Maus aber schien er sich prächtig zu verstehen. Er streichelte sich an ihrem kleinen Schnäuzchen, und dann fing sie an zu piepen, dass sich Neli und Sabrina vor Schreck die Ohren zuhalten mussten. Ihm aber gefiel es und er lachte. Dann kitzelte die Maus ihm mit ihrem Schwanz durchs Gesicht und da musste er noch viel mehr lachen. „Da sitzt der hier und lacht, während sich oben hunderte von Leuten über ihn Sorgen machen!“ stöhnte Neli. Dann nahm sie den kleinen Jungen an die Hand und führte davon. Er schien sehr traurig zu sein, dass er die Maus verlassen musste. Aber wenigstens wurde er nicht quengelig und kam artig mit ihnen mit. Als sie an der Kellertreppe angekommen waren, schrien Neli und Sabrina um Hilfe. Sie wollten das die Erwachsenen kamen und ihnen Nomo abnahmen. „Das wird eine schwere Arbeit werden, ihn bis nach oben zu schleppen!“ stöhnte Neli. Aber das brauchten sie gar nicht. Nomo schien kleiner zu sein als Fenno, aber er konnte viel flinker klettern als er. Es dauerte nicht lange, da waren sie im Erdgeschoss angekommen. Trotzdem fiel beiden Mädchen ein Stein vom Herzen, als sie dort Muron auf sich warten sahen. „Ach hier seid ihr beiden“, sagte er und guckte sie mit seinen treuen Augen an. „Joppo und ich haben euch schon überall gesucht.“ „Warum habt ihr Drachen euch eigentlich nicht bei der Suche nach Nomo beteiligt?“ fragte Sabrina da. „Weil es keinen Zweck gehabt hätte. Ein Drache kann einen Menschen nur mit der Nase erschnuppern, wenn er ihn

wenigstens einmal gerochen hat. Diesen Jungen aber kannte noch keiner.“ „Aber ist er nicht selber mit einem Drachen hergekommen?“ „Doch, schon. Aber die Mutter ist zusammen mit einem Nachbarn geflogen. Aber ihr Drache ist nicht hiergeblieben. Er hat die beiden nur abgesetzt und hat dann mit dem Nachbarn eine viel längere Reise angetreten.“ Nun aber hatte der kleine Nomo endlich die Möglichkeit, einen zweiten Drachen kennenzulernen. Am Anfang glotzte er ihn mit skeptischen Augen an, aber dann schien er ihn genauso gern zu mögen wie die Maus. Noch viel mehr mochte ihn aber seine Mutter. Wäre er nicht ein großer Drache gewesen, dann hätte sie ihn vor Dankbarkeit sicher tot gedrückt, weil er ihr ihren geliebten Sohn zurückbrachte. Aber Muron war ein sehr bescheidener Drache und wies mit seinen Flügeln nur auf Sabrina und Neli. „Bei den jungen Damen musst du dich bedanken!“ sagte er, denn die Drachen und Dachbewohner sagen immer Du zueinander. Als die anderen Konzertbesucher von Sabrinas und Nelis Heldentat hörten, wollten sie, dass die Kapelle ihnen zu Ehren eine Dankeshymne anstimmte. Aber da lehnte Neli dankend ab. „Nein, nein, wir sind doch keine Stars oder so etwas. Ich glaube, es ist jetzt das Beste, wenn wir die arme Mama und ihren Sohn nach Hause bringen.“ Und so kletterte Neli vorne, Sabrina hinten und die Mutter und Nomo in die Mitte von Murons Rücken. „Oha, wir haben ja zu viert kaum noch Platz“, sagte Sabrina. „Wie sollen wir Joppo denn jetzt auch noch mitbekommen?“ „Ach, Joppo kann ruhig warten, bis wir wieder zurück sind“, sagte Neli. „Oder er soll mit jemand anders mitfliegen.“ „Aber ich glaube, er mag mit gar keinem anderen Drachen fliegen als mit Muron“, sagte Sabrina und kicherte ein

bisschen. „Ich glaube, wenn er kein Drachen sondern ein Mädchen wer, hätte er ihn längst geheiratet.“ „Aber Joppo fliegt mehr mit Muron herum als der Rest der Familie zusammen“, entgegnete Neli. „Da kann er uns jetzt auch einmal den Spaß gönnen. Nomo und seine Mutter wohnten in einem der Fachwerkhäuser der Innenstadt. „Die Dachböden in den uralten Häusern sehen bestimmt noch viel interessanter und spannender aus“, sagte Sabrina. Aber als sie das Haus sah, auf das sie los flogen, konnte sie nur noch erschrocken die Hand vor den Mund legen. Denn es war das Haus ihrer Klassenlehrerin. Und in ihrer Wohnung brannte noch Licht. So vergaß Sabrina ganz und gar, sich auf dem Dachboden umzugucken. Sie wollte unbedingt, dass Muron ganz dicht an ihr Fenster flog, um zu sehen, was sie dort machte. Es war das Küchenfenster und sie sah, wie die Lehrerin am Tisch sah und Aufsätze korrigierte. „So spät noch“, staunte Sabrina. Doch dann sah sie die Küchenuhr und sofort fiel ihr auf, dass sie eher „So früh!“ hätte sagen müssen. Es war bereits viertel vor sechs. „Oh nein!“ sagte sie. „In zwei Stunden fängt die Schule an. Es ist wohl an der Zeit, dass wir endlich nach Hause kommen!“ Dann aber blieben sie doch noch etwas an Ort und Stelle stehen, denn Sabrina sah, dass die Lehrerin gerade ihr Heft genommen hatte und korrigierte. Als sie am Ende eine Zensur darunter schrieb, hätte sich Sabrina beinahe die Augen ausgeglotzt, aber sie konnte sie einfach nicht erkennen. Doch schon drei Stunden später, als sie mit ihren Klassenkameraden auf der Schulbank saß, bekam sie ja die Antwort.

In

Musikunterricht

der

ersten

gehabt.

Stunde Musik

hatten

wurde

sie

nicht

übrigens von

der

Klassenlehrerin unterrichtet, sondern Frau Hitzemann. Das war

immer lustig, weil sie in ihrem Unterricht viel Musik selber machten. Auch in dieser Stunde hatten sie mit ihren Glockenspielen, Xylophonen, Blockflöten, Trommeln und Klangstäben dagestanden und ein Musikstück geprobt, das sie in der letzten Musikstunde bereits einstudiert hatten. Sabrina hatte die Klangstäbe bekommen. Eigentlich mochte sie Klangstäbe nicht, weil es das langweiligste Instrument von allen war. Aber in dieser Stunde war es anders gewesen, denn die Kinder mit den Klangstäben waren die einzigen, die auch zur Musik tanzen konnten. Und wie Sabrina getanzt hat! Genauso wie in der Nacht zuvor auf dem Konzert der Dachbodenbewohner. Was hat die ganze Klasse nur über sie gelacht, auch Frau Hitzemann. Nur Frau Johannis, die im Klassenzimmer unter ihnen Mathematik unterricht hat, die hat gar

nicht

gelacht.

Mit

wütend

rotem

Kopf

ist

sie

hinaufgekommen und hat sich über den Krach beschwert. Doch Sabrina hat da nur drüber gegrinst, auch als sie gefragt wurde, ob sie ein Trampeltier sei. In der nächsten Stunde, als die Klassenlehrerin Frau Ruprecht mit den Aufsatzheften hereinkam, verging ihr das Lachen aber schnell. Und sie hatte auch allen Grund dazu. Denn diesmal hatte sie eine vier bekommen, die erste in ihrem Leben. „Das war wohl diesmal nichts“, sagte Frau Ruprecht, als sie ihr das Heft in die Hand drückte. „Was war denn nur los mit dir?“ „Ich schreibe eben nicht gerne einen Aufsatz darüber, wie man Brötchen backt“, maulte Sabrina. „Können Sie sich das nächste Mal nicht ein lustiges Thema überlegen? Eins, wo man mehr Phantasie für braucht?“ „Ich werde es mir überlegen“, sagte die Lehrerin und lächelte schwach. Der nächste Aufsatz wurde einen Monat später geschrieben. Und als Sabrina das Thema las, konnte sie ihr Glück kaum fassen. „Als ich einmal träumte!“ hieß es. Und geträumt hatte sie im

letzten Monat ja mehr als genug. Fast jeden Abend vor dem Zu-Bett-Gehen hatte sie ein Traumblumen-Plätzchen gegessen und war zu ihren neuen Freunden heraufgeklettert. Fast jede Nacht hatte sie im Körper einer Puppenprinzessin die großartigsten Abenteuer erlebt, während ihr eigener Körper im kuscheligen Bett lag und voller Seeligkeit schlief. Das einzige, was ihr bei diesem Aufsatz Schwierigkeiten machte, war, zu entscheiden, welchen Traum sie auswählen sollte. Erst nach fünf Minuten fasste sie Endlich einen Entschluss, als die anderen Kinder schon längst mit dem Schreiben angefangen hatten. Es war der Traum, den sie in der achten Nacht erlebt hatte. Neli, Joppo und sie waren mit Muron in die Kirche geflogen. Das große Eichentor war zwar verschlossen gewesen, aber in einem der Kirchenfenster gab es weit oben ein Loch, durch das hindurchpassten, ohne sich an einer Glaskante zu schneiden. Und sie hatten tatsächlich auf der Orgel gespielt. Neli und Sabrina oben, wo man mit den Fingern die Tasten drückt, Joppo unten auf den Fußtasten, während Muron empor geflogen ist, um zu sehen, ob oben ein Gespenst

erschien.

Wenn

drei

Menschlein

versuchen

zusammen Orgel zu spielen, obwohl keiner von ihnen etwas von diesem Instrument versteht, dann kommt da nichts weiter als ein dröhnender, scheußlicher Lärm bei heraus. „Wenn der liebe Gott weiß, was wir in seiner Kirche machen“, rief Neli. „Hoffentlich wird er uns nicht sehr böse sein.“ „Aber genauso muss sich eine richtige Gespenstermusik anhören!“ erwiderte Sabrina. Umso mehr wunderte sie sich darüber, dass nicht einmal ein Hauch von Gespenst erschien. „Pah! Das wird wohl wieder nur irgend so ein schüchternes Gespenstchen sein, wie das, was bei Joppo immer die Kerzen ausmacht“, sagte sie irgendwann, als sie keine Lust mehr hatte und wieder von der Orgel herunterkletterte. Dafür entdeckten sie aber etwas anderes Aufregendes. Sie flogen mit Muron ganz dicht unter den vielen Bildern, die auf

der Decke aufgemalt waren, hinweg. Und was entdeckte Sabrina da? Ganz oben, an einer Stelle, wo ein Mensch niemals ohne Leiter hinkam, fand Sabrina eine Schrift. Sie war direkt in das Gesicht einer Person gekritzelt, sodass es keine Beschriftung des Bildes sein konnte. „Das gibt es doch nicht“, flüsterte sie leise. Ihre Mutter hatte ihr gesagt, dass die Kirche ein heiliger Ort sei. Nicht so ein Ort wie ihr alter Wohnblock, wo die frechen Kinder einfach die Wände bekritzelten. Aber sie musste zugeben, dass der Schmierfink eine ziemlich ordentliche Schrift hatte. Lesen konnte sie es trotzdem nicht, weil es in einer anderen Sprache war. „Das sieht aus wie Latein“, stellte Joppo fest. „Ich wollte schon immer mal gern Latein lernen, aber ich bin noch nicht dazu gekommen, weil ich lieber die Sprache der Drachen gelernt habe.“ Sabrina war ein bisschen enttäuscht, doch dann fiel ihr etwas ein. Und zwar die Legende von Adrian, dem Jungen, der damals die Stadt gerettet hatte. War er nicht auf eine Lateinschule gegangen? Und war es nicht auch diese Schule gewesen, wo er dem Feind die große Falle gestellt hatte? Sie lasen die Worte immer wieder, und als sie glaubten, sich alles eingeprägt zu haben, waren sie schnell zu Adrian in den Stadtpark geflogen, damit er ihnen alles übersetzte. Das Dumme war nur, dass an diesem Tag nicht er, sondern sein Zwillingsbruder auf dem Baum saß. Doch der war nicht zur Latein-, nein er war zu gar keiner Schule gegangen, weil die Eltern dafür nicht genug Geld gehabt hatten. Und so mussten sie hinunter zum Denkmal fliegen, wo Adrian starr und steif dastand. Der stellte sich zunächst taub, aber am Ende bewegte er sich doch. In der Nacht sieht das ja eh kein Mensch, meinte er. Doch da hatte er sich geirrt. Gerade als er sich zu Sabrina herunterbeugte, um ihr das Geheimnis ins Ohr zu flüstern, kam

ein Besoffener den Weg entlang, der dachte, seinen Augen nicht mehr trauen zu können. Im Nu fiel er zu Boden und sie mussten sich wirklich große Mühe machen, um ihn zu beruhigen, damit er wieder auf die Beine kam. Als das erledigt war, aber konnte die Schatzsuche endlich beginnen, die erste in Sabrinas Leben. Ein Traum ging für sie in Erfüllung! Der Weg führte sie zunächst auf einen alten Platz. Ein Glück war es nicht der Marktplatz, denn da waren selbst bei Nacht oft noch Menschen. Nein es war ein anderer, aber dennoch alter Platz. Hier mussten sie sich stark anstrengen, um den 112. Pflasterstein von links, bzw. den 39. von oben aus dem Platz zu reißen. Auf der Rückseite des Steins war eine weitere Botschaft eingeritzt, glücklicherweise auf Deutsch. Sie zeigte ihnen den Weg, wie man in ein Labyrinth unter der Stadt kam. Niemand von ihnen hatte zuvor gewusst, dass es unter der Stadt ein Labyrinth gab, nicht einmal Joppo. Und auch im Buch „Die Geheimnisse unserer Stadt“ hatten sie nichts davon gelesen. Aber es war tatsächlich da, und man konnte den Eingang nur finden, wenn man auf der Rückwand der alten Stadtmauer ein Losungswort aufzeichnete. Danach öffnete sich im Boden sogleich eine Geheimtür und sie konnten hineinmarschieren. Sicherlich hätten sie sich darin verlaufen, wäre der Weg auf dem Stein nicht so gut beschrieben worden. Am Ende des Labyrinths fanden sie aber nicht den Schatz, nein, es waren nur die Pilze, mit denen sie den Wetterhahn auf der großen Kirche füttern sollte. Diese Pilze waren das einzige, was er fraß. Und deshalb waren sie auch das einzige Mittel, mit dem man ihn für kurze Zeit zum Leben erwecken konnte. „Kann man den Wetterhahn, auf der Friedhofskapelle auch mit diesen Pilzen füttern?“ fragte Sabrina, als er genüsslich fraß. Aber da antwortete er, dass jeder Wetterhahn ein eigenes Leibgericht habe. Was der Wetterhahn auf der Friedhofskapelle fräße, wisse er aber nicht. Zehn Minuten später, nachdem er aufgefressen hatte, stand er wieder da, und kam seiner Pflicht

nach, als wäre er niemals lebendig gewesen. Aber wenigsten verriet er ihnen vorher noch das Geheimnis, wie man den goldenen Fisch im Brunnen des alten Burghofs anlocken konnte. Mit einer seiner eigenen Federn. Denn er und der Fisch waren in früherer Zeit einmal gut befreundet gewesen. Er erlaubte es ihnen sogar, ihm eine zu rupfen, wenn sie dem Fisch schöne Grüße von ihm ausrichteten. Das wollten sie gerne tun. Die Burg lag auf einem Hügel ganz in der Nähe der Stadt. Eigentlich war sie in der Nacht für Besucher geschlossen, aber Muron konnte ja einfach über die Mauern und Zäune hinweg fliegen. Sabrina staunte nicht schlecht, als sie sah, dass es in diesem Brunnen tatsächlich einen goldenen Fisch gab. Und zwar einen richtig goldenen, nicht so einen wie die gewöhnlichen Goldfische, die in Wirklichkeit rot waren. Der Brunnen war tief, ziemlich tief. Und es dauerte lange, bis der Fisch nach unten und wieder hoch geschwommen war. Aber er brachte ihnen den goldenen Schlüssel mit, den sie dazu brauchten, um an den Schatz zu gelangen. Ihr fragt euch jetzt sicher alle, was sie damit öffnen sollten, eine Tür vielleicht, oder eine Truhe, oder ein Geheimfach. Aber ihr könnt ruhig mit dem Raten aufhören, da ihr ja doch nicht darauf kommen würdet. Das Schloss zu diesem Schlüssel steckte, ob ihr es nun glaubt oder nicht, in einem Baum. In einem Baum, der in einem Wald nur wenige hundert Meter von der Burg entfernt stand. Muron war erst viele Minuten damit beschäftigt, um die Rinde abzuknabbern, damit sie es überhaupt erst entdeckten. Aber er fraß ja so gerne Holz, dass es ihm nichts ausmachte. „Was wird wohl passieren, wenn wir aufschließen?“ fragte Sabrina vorher, aber nicht einmal Joppo hatte eine Ahnung. Als sie den Schlüssel herumgedreht hatten, fing die Baumkrone plötzlich an zu rauschen, als wäre ein Sturm aufgezogen. Aber es war nicht der Wind, der den Baum rüttelte. Nein, der Baum schüttelte sich selber. Es war so

ähnlich wie im Märchen von Frau Holle Aschenputtel, der Baum schüttelte irgend etwas auf sie herab. Schon bald war der Boden um sie herum mit lauter Körnern bedeckt, die in den verschiedenste Farben schimmerte. Goldene und Silberne waren auch dabei. Es war für sie nicht möglich, sie alle auf einmal aufzusammeln und so mussten sie an diesem Tag noch mehrere Male mit großen Beuteln hin- und herfliegen. Ja, diesen Aufsatz schrieb Sabrina, als sie einen Aufsatz über Träume schreiben sollte. Sie schrieb so tüchtig wie nie zuvor im Leben und trotzdem blieb ihr kaum die Zeit, um alles bis zum Ende aufzuschreiben. Eine eins bekam sie drei Tage später aber trotzdem dafür. Denn die Lehrerin fand, es sei einer der besten Aufsätze, den sie jemals gelesen hatte. Oh, wenn sie nur gewusst hätte, dass das alles wirklich passiert war! Diese Schatzsuche brachte Sabrina Jahre später aber noch viel mehr Glück ein. Die kleinen Körner entpuppten sich nämlich ebenfalls als Samenkörner, aber sie traute sich nicht, sie im eigenen Zimmer anzupflanzen. Ihre Mama hatte ja schon etwas gegen die Traumblume. Als sie aber erwachsen war, eröffnete sie ihre eigene Gärtnerei und pflanzte Blumen und Büsche an, wie sie noch nie zuvor ein Mensch gesehen hatte. Pflanzen, an denen echte Gold- und Silberperlen heranwuchsen. Pflanzen, die so stark waren, dass man mit ihnen innerhalb von wenigen Tagen ganze Häuser abreißen konnte, wenn man sie die Mauern heraufwuchern ließ. Aber auch Pflanzen, die nichts anderes taten, als unheimlich leckere Früchte hervorzubringen. Ja, Sabrina wurde, als sie erwachsen war, zur erfolgreichsten Gärtnerin der gesamten Welt, und ihre Mutter war sehr stolz auf sie. Bevor es aber dazu kam, hatte sie zusammen mit den Hossenheim-Kindern noch hunderte von anderen Abenteuern erlebt.

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