Aus dem russischen Dorf Palech kommen die schönsten Lackminiaturmalereien. Vor der Türe nicht asphaltierte Strassen mit Schlammlöchern, malen die Künstler in ihren Ateliers in monatelanger Arbeit mit Eitemperatechnik auf Papiermaché wunderbare Miniaturen. Ein Schweizer Sammler besucht seit zwei Jahrzehnten immer wieder das russische Dorf Palech, wo jeder zehnte der 5500 Einwohner ein akademisch ausgebildeter Kunstmaler ist. Von Felix Waechter / maiak.info Spätherbst – Unterwegs von Moskau nach Palech. Das Wetter ist kalt, es liegt bereits Schnee auf der Fahrt in östlicher Richtung über Wladimir und Iwanowo zu meinem gut 350 Kilometer entfernten Reiseziel. Mit zunehmender Entfernung von Moskau führt die Strasse durch ausgedehnte Birkenwälder. Auf den Stämmen der Birken kontrastiert das typische Weiss hart mit den bruchkantigen Flecken in Braunschwarz oder Schwarz. Wald und Himmel erscheinen in einer Mannigfaltigkeit von Ocker- und Kupfertönen, vermischt mit verwaschenem Graugrün, hellem Blau und Violett. Die Sonne steht tief zu dieser Jahreszeit, ihre Strahlen durchdringen die lockere Gliederung der Bäume. Seit Tagen haben sie die Schneedecke an den Waldrändern aufgetaut und diese grossartige Palette zum Vorschein gebracht, eine begeisternde Farbigkeit im immensen Weiss des russischen Winters. Sensible Seelen mögen durchaus dem russischen Nikolaus “Väterchen Frost” und seinem “Schneemädchen” begegnen. Von solchen Eindrücken und Gedanken haben sich die Palecher Künstler immer wieder anregen lassen: Zweifellos ist die tief empfundene Kunst der Lackminiaturmalerei dieses Dorfes in ihrer ganzen Leidenschaft ohne den Einfluss der wunderschönen Landschaft und Natur, in der sie entstand, kaum denkbar. Vergangenes mit der Gegenwart verbinden Kommt man aus Moskau, ist die nach dem Dichter Maxim Gorki benannte Staatliche Kunstschule der erste auffällige Bau in Palech. Eines der wenigen Gebäude im Dorf, über dessen Funktion eine von der Strasse her gut lesbare Fassadenbeschriftung informiert. Die hier erst in der Sowjetzeit aufkommende Lackminiaturmalerei bedeutete Maxim Gorki sehr viel. Er schrieb dazu in den 1930er-Jahren: “Wer hätte gedacht, dass die Ikonenmalerei – diese konservativste aller Künste – es den Palecher Künstlern ermöglichen würde, in der heutigen Zeit eine Meisterschaft zu erreichen, die unsere Bewunderung verdient… Palech, seine Geschichte ist ein überzeugendes Beispiel dafür, wie es der Revolution gelang, Vergangenes mit der Gegenwart zu verbinden. Palech wird immer Symbol für ein poetisches Bild der Menschen sein”. Die 1935 gegründete Kunstschule bildete bis heute über 1000 Studenten zu Künstlern der Palecher Schule aus, sie ist deshalb der Stolz der Stadtbewohner. Noch ein weiteres Haus ist gross angeschrieben – das “Café Manhattan” unten am Flüsschen Paleschka. Der in dieser Umgebung exotisch anmutende Name des
Cafés leuchtet nachts in kyrillischen Neonbuchstaben durch die von Nebel bedeckte Stille der russischen Siedlung und versucht den Menschen zumindest visuell ein bisschen das Gefühl einer “Grossen Welt” zu vermitteln. Kreuzerhöhungskirche als Museum altrussischer Kunst Über dem Dorf steht aber im doppelten Sinne die Kreuzerhöhungskirche. Fährt man auf dem Dorfplatz vor, ist man von der Grösse dieser rund 250 Jahre alten Kirche und ihrem Hauptturm beeindruckt. Heute wieder ihrem eigentlichen Zweck zugeführt, wurde das Gotteshaus während der Sowjetzeit als Museum genutzt. Zur Geschichte der Kirche gehört, dass im 18. und 19. Jahrhundert Palecher Künstler als Ikonen- und Freskenmaler für Kirchen und Klöster in ganz Russland arbeiteten. Bei ihrer Rückkehr brachten sie oft alte Ikonen mit, die in die Kirche gebracht wurden und dann den ortsansässigen Ikonenmalern als stilistisches Anschauungsmaterial dienten. Nach einem Besuch dieser Malersiedlung im Jahr 1900 schrieb der berühmte Kunsthistoriker Nikodim Kondakow, Mitglied der Akademie der Künste und der Akademie der Wissenschaften, wie ihn die Kreuzerhöhungskirche als ein bedeutendes Museum altrussischer Kunst beeindruckt habe. Geduld als Lebensprinzip und Voraussetzung für Lackmalereien Am Dorfplatz befindet sich die Miliz, in ihrem Gebäude muss sich anmelden, wer als Ausländer länger als zwei Tage Station macht. Das Prozedere ist nicht immer gleich, aber immer zeitaufwändig. Warten in einem schmalen Korridor mit Einheimischen, die etwas brauchen. Ständig passieren in beiden Richtungen Milizionäre und andere Mitarbeiter mit irgendwelchen Dossiers. An der Toilettentüre hängt seit Ewigkeiten ein Schild “Geschlossen, wird zur Zeit repariert”. Vielleicht ist sie eines Tages ja tatsächlich wieder zugänglich. Und trotzdem, die hier für einen Westeuropäer geradezu provokativ langsam ablaufenden Amtshandlungen haben auch ihre positiven Aspekte. Man kommt ins Gespräch mit Menschen, denen man sonst nicht begegnet wäre, und begreift, dass wir unserer effizienten Lebensweise die Beschaulichkeit und Musse opfern. Die Herstellung und Bemalung einer Lackminiatur oder einer Ikone dauert Wochen oder gar Monate. Uns fehlen natürlich zunächst die künstlerischen Fähigkeiten, solche Arbeiten herzustellen. Aber nicht nur das, uns Westeuropäern ist auch das zur Erschaffung von Dingen mit einem zeitlosen inneren Wert notwendige Gefühl für Bedächtigkeit, Bescheidenheit und Kontemplation abhanden gekommen. Palech: 5500 Einwohner, fünf Museen… Auf den interessierten Besucher warten fünf staatlich geführte Museen. An der Bakanowstrasse beim Dorfplatz befindet sich heute das 1935 eröffnete Hauptmuseum. Iwan Bakanow war ein Miniaturmaler der ersten Generation, nach denen hier einige Strassen benannt wurden. Das Museum beherbergt hochkarätige
Sammlungen sowohl von Ikonen als auch Lackminiaturen, die sich bestens eignen, die Entwicklung des Palecher Stils zu verfolgen und dessen Geschichte von den Anfängen bis heute zu studieren. Schräg gegenüber an der Leninstrasse steht das 1961 eröffnete Hausmuseum von Iwan Golikow, in dem vor allem Erinnerungsdokumente und Auszeichnungen des wohl berühmtesten einheimischen Miniaturmalers ausgestellt sind. Zusammen mit seinem Schwiegervater Alexander Glasunow unternahm der ausgebildete Ikonenmaler Anfang der 1920er-Jahre die ersten Versuche, Gegenstände aus Papiermaché in Eitemperatechnik zu bemalen und zu lackieren. Zwei Jahre später gehörte der überaus kreative Künstler zu den Mitgründern Palecher Genossenschaft für Alte Malerei. Drei weitere Hausmuseen, in den 1970er- und 1980er-Jahren eröffnet, sind dem Schaffen der bekannten einheimischen Maler Aristarch Dydykin, Nikolai Sinowiew und Pawel Korin gewidmet. … und ein Hotel mit 7 Zimmern Hinter dem Hauptmuseum wurde vor einigen Jahren das erste Hotel Im Dorf eröffnet, das “Hotel Kovčeg”, dessen Name im religiösen Kontext “Die Arche” bedeutet. Touristen-Busse, die im Iwanowo-Gebiet unterwegs sind, werden allerdings nie vor der Arche anhalten, das “Hotel Kovčeg” ist mit seinen sieben behaglich eingerichteten Doppelzimmern schlicht zu klein. Die “Perle Russlands” hat ihren Glanz verloren Zur Zeit der Sowjetunion hatte der Palecher Kunstbetrieb ganz nach den Vorgaben der staatlichen Organe stattzufinden. Die Künstler arbeiteten für die Kooperative. Diese versorgte sie mit allen Materialien und bezahlte sie für ihre Arbeiten, die dann meistens im Ausland verkauft wurden. Kaum zu glauben, dass der Export der in dieser kleinen Siedlung hergestellten Lackminiaturen während Jahrzehnten eine nicht zu vernachlässigende Devisenquelle für die riesengrosse Sowjetunion bedeutete. Mit deren Ende ging Anfang der 1990er-Jahre auch das Ende der staatlichen Kooperative einher. Die Maler wurden über Nacht zu mündigen, freischaffenden Künstlern! Allerdings bekamen sie in ihrem abgelegenen Dorf schon nach einer kurzen euphorischen Periode die nicht eben zimperlichen Spielregeln des kapitalistischen Kunstmarktes zu spüren. Steigende Lebenskosten, steigende Bedürfnisse, Zwischenhandel, Fälschungen aller Art sind dazu die Stichworte. Heute leben in Palech rund 5500 Menschen, von denen 600 akademisch ausgebildete Maler sind. Die zum Verwaltungsgebiet Iwanowo gehörende Ansiedlung ist stark überaltert. Wie in anderen abgelegenen Gebieten Russlands gibt es keine nennenswerte Industrie, keine ausgebaute Infrastruktur, und wenig Bautätigkeit. Das Iwanowo-Gebiet nimmt sogar im gesamtrussischen Vergleich
bezüglich Lebensstandard einen der hinteren Plätze ein. Als Folge davon wandern die Jungen in grosser Zahl ab. Welch ein Unterschied zur Zeit der Sowjetunion, als zwar verschiedene Ideologen und Funktionäre der Nomenklatura die Lackmalei kritisierten und verspotteten, andere aber, die sich als Apologeten dieser Kunst sahen, das Dorf mit Namen wie “Perle Russlands”, “Die Dorfakademie” oder “Heimat des Feuervogels” (nach dem Echtheits-Symbol der Lackmaler aus Palech) aus der Masse der russischen Dörfer hervorhoben. Die Künstler organisieren sich in Genossenschaften Heute malen die Künstler ihre Lackminiaturen in der Regel zu Hause. Nur einzelne Spitzenkünstler beliefern ihre persönliche Klientele, die meisten verkaufen die fertigen Kunstwerke einer Organisation oder Firma, bei der sie unter Vertrag stehen. Diese bekunden jedoch in den letzten Jahren zunehmend Mühe, alle Kunstwerke zu verkaufen und sind deshalb nicht mehr an jungen Künstlern interessiert. Eine der grösserern Organisationen ist die “Genossenschaft Palech” (Towarischestwo Palech), die sich als Nachfolgerin der “Genossenschaft für Alte Malerei” versteht. Ihr gehört eine Werkstatt zur Herstellung der Rohlinge aus Papiermaché und deren Fertigstellung (lackieren und polieren) im Anschluss an die Bemalung durch den Künstler. Jede eingereichte Arbeit wird von einem Gremium begutachtet, das den Ankaufspreis bestimmt, zu dem die Genossenschaft diese übernimmt und weiter verkauft. Mit einem Warenzeichen werden Echtheit und Einmaligkeit garantiert, d.h. die Signatur des Künstlers ist echt, das Dargestellte ist keine Kopie eines anderen Malers, es werden keine Serien gemalt und als Unikate verkauft. Einen anderen Weg gehen die Künstler der “Malergemeinschaft Lik” (Antlitz). Sie haben sich wieder der hier zur Zarenzeit betriebenen Sakralmalerei zugewandt und malen Ikonen und Fresken. Alle 18 Künstler der von Oleg Schurkus geleiteten Malergemeinschaft haben ihre Ausbildung an der Kunstschule in Palech absolviert. Im Auftrag von Kirchen und Klöstern in ganz Russland hat die Gruppe in den letzten zehn Jahren eine ganze Reihe von Kirchen mit Fresken ausgestattet und für über zwanzig Kirchen Bilderwände (Ikonostasen) gemalt. Eine Kirche auszumalen ist sehr anstrengend, scheint aber in der heutigen Zeit im Vergleich zur Lackminiaturmalerei die sicherere Existenzgrundlage zu bieten. Der Künstler Dmitrij Bachirev nimmt den Gast in seinem Haus auf Der erste Künstler, dem ich vor Jahren im Dorf begegnete, ist der heute dreissigjährige Dmitri Bachirew. Nach meiner bald drei Jahrzehnten währenden Sammler-Leidenschaft für die Palecher Lachmalerei bin ich heute bei meinen Besuchen immer bei ihm zu Gast. Er überlässt mir sein Zimmer, ich schlafe in seinem Bett, das neben seinem Arbeitstisch steht. Sein Urgrossvater, Sergei Pawlowitsch Bachirew (1898-1973), war ein sehr bekannter Miniaturmaler.
Wenn wir am Abend zusammen die alten Entwürfe seines Urgrossvaters anschauen – Szenen aus russischen Heldenepen etwa, oder Episoden aus der russischen Geschichte bis hin zum Bürgerkrieg – dann ist Palech zu spüren, sehr nah zu spüren. Gerade, weil Dmitri gehörlos ist und mit ihm zu diskutieren bedeutet, alles was an Papier in der Küche gerade zu Verfügung steht vollzuschreiben. Das dauert, ist aber eindrücklich und man kann den Dingen auf den Grund gehen. Spätherbst in Palech. Nach ein paar Tagen liegt kaum noch Schnee, es ist wärmer, ein Regentag. Nicht asphaltierte Strassen, und das sind hier die meisten, versinken im Schlamm. Wir waren mit Freunden im Dorf und nähern uns, den grössten Pfützen nach Möglichkeit ausweichend, Dmitris Haus. An den Stiefeln klebt der Dreck zentimeterdick. Kaum jemand würde in dieser Situation vermuten, dass in diesen Häusern Lackminiaturmalerei auf höchstem Niveau betrieben wird. Ein scheinbarer Antagonismus. Was ist Palech? Was ist das faszinierende an der Kunst dieses weit abgelegenen, kleinen Dorfes? Der spanische Dichter Federico Garcia Lorca hat geschrieben: Nur ein Mysterium zwingt uns zu leben. Nur ein Mysterium. Palech mit seiner Kunst ist ein solches. Man wird es nicht enthüllen können, aber es ist schön, dieses Mysterium zu spüren. HONORARFREIER ABDRUCK Dieser Text ist lizenziert unter Creative Commons BY-NC-ND 2.5 Switzerland. Sie dürfen diesen Text mit Nennung des Autors und von maiak.info honorarfrei vervielfältigen, verbreiten und öffentlich zugänglich machen (aber nicht anderen Medien verkaufen!). Textkürzungen sind erlaubt, jedoch darf der Text in keiner anderen Weise verändert werden. Den Originalbeitrag finden Sie hier: http://www.maiak.info/russland-palech-malerdorf-felix-waechter