Vom Schweigen des Redners
1 An diesem 14. Mai, einem strahlenden Sonnentag , war er besonders stolz als er seine Wohnung im ersten Obergeschoss in der Marienstraße 27 betrat. Er lebte seit gut drei Jahren in dieser kleinen 48qm großen Wohnung, die er sich mit einem günstigen und nicht zu hohen Kredit, selbst eingerichtet hatte. Er war damals recht froh darüber gewesen, endlich die Trennung von seinem Elternhaus vollzogen zu haben; auf eigenen Füßen zu stehen übte zu dem einen ganz besonderen Reiz auf ihn aus. War er doch wirklich was diese Selbständigkeit angeht ein Spätzünder gewesen, denn erst mit fast 23 Jahren hatte
er es gewagt diesen Schritt auch wirklich zu vollziehen. Etwa 3 Jahre zuvor hatte er nach seinem erfolgreichen Abitur begonnen in einer Knopffabrik zu arbeiten. Dieser Schritt, nämlich nicht in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und Tiermediziner zu werden, um später seine gut gehende Praxis übernehmen zu können, hatte ihm letztendlich seine Unabhängigkeit beschert! Und würden Knöpfe nicht immer gebraucht werden – er hatte sich also für einen krisensicheren Job entschieden. 2 Er stand nun am 15. Mai in seiner Küche, hatte Kaffeemehl in den Filter seiner Kaffeemaschine gefüllt, sorgfältig abgezählte Teelöffel natürlich, denn dieses braune und heiße Getränk, dass er wegen
seiner Bitterkeit liebte und hasste, und er sich nie wirklich entscheiden konnte, ob er es süßen und mit Milch zu sich nehmen oder die pechschwarze Brühe einfach in sich herein schütten sollte, durfte nicht zu stark werden. Und als er so unentschlossen wie fast jeden Morgen in der Küche stand wurde ihm plötzlich bewusst, dass dieser Tag ein ganz besonderer war: Er war ja zum Redner ernannt worden. Er hatte einen kurzen, von der Betriebsleitung vorgegebenen Text einer kleinen Gruppe von 4 Mitarbeitern vorzutragen. Darauf war er so stolz, dass er vergaß, dass er überhaupt Kaffee gekocht hatte und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Dort hörte man ihm zu was er zu sagen hatte. Das Schweigen der Mitarbeiter und
deren sofortige Aufnahme der routinemäßigen Arbeit gaben ihm das Gefühl auf dem richtigen Weg zu sein. © Uwe Fengler