Sonst Sind Alle Anderen Ziele Ohnehin Nicht Mehr

  • December 2019
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WISSENSCHAFT & DEBATTE

MITTWOCH, 11. MÄRZ 2009 | NR. 49

|9

Frauen fürchten das Nerd-Image von IT-Jobs

DENK-FABRIK

Protz und Krise

I

REGINA KRIEGER Wissenschaftsredakteurin, schreibt über Urbanistik und Architektur.

Die Investoren schauen wieder auf ihr Geld, wenn sie es denn noch haben, und außerdem ist die Krise bei den Stars angekommen. Künftig wird es weniger Symbolprojekte geben, weniger architektonische Leuchttürme, die oft nicht recht ins Stadtbild passen und von zweifelhafter Ästhetik sind – ganz nebenbei: Fosters Entwurf für das Hochhaus auf der „Kristallinsel“ mag russischem Geschmack entsprechen, doch in den Fachmedien ist schon das Wort Kitsch gefallen. „Die Krisis ist als neuer Entwicklungsknoten zu betrachten“, schrieb Jacob Burckhardt am Ende des 19. Jahrhunderts in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen. Und genau das passiert im Moment. Der israelische Architekt Zvi Hecker, der unter anderem mehrere jüdische Gemeindezentren im Ruhrgebiet baute, hat es als Erster erkannt. In einem klugen Essay über Architektur in Zeiten der Finanzkrise erinnert er an die Große Depression, in der „die prunkvolle Ornamentik des Neoklassizismus weggefegt“ wurde. Jetzt sei die Zeit für eine neue Ästhetik, schreibt er, jetzt könnten neue Ideen entwickelt werden wie die Noten einer Partitur, „später, wenn die Ökonomie sich erholt hat, werden sie dann womöglich realisiert“.

Uncool zu wirken gilt vielen Menschen der Gegenwart als ein großes Unglück, das es unbedingt zu vermeiden gilt. Was cool ist und was nicht, ist ein weites Feld, doch der berufsmäßige Umgang mit Informationstechnik ist offensichtlich im Urteil sehr vieler Frauen in höchstem Maße uncool. Dadurch nämlich, so will eine amerikanische Soziologin herausgefunden haben, sei die geringe Zahl von Frauen in der IT-Branche zu erklären. Wer sich gerne mit Computern beschäftigt, wird in den USA schnell als „Nerd“ stigmatisiert. Der Begriff, dessen Herkunft ungeklärt ist, ist kaum zu übersetzen, am ehesten als „Sonderling“. Besonders, wenn ein ITFachmann obendrein eine Brille und unmodische Kleidung trägt oder die Abende nicht in Bars oder Discos verbringt, gilt er schnell als Nerd. Auch erfolgreiche Unternehmer wie Bill Gates oder Steve Jobs werden das Nerd-Image nicht los. Dieses Klischee, das in frühen Computerzeiten in den 70er- und 80er-Jahren entstand und in zahllosen Teenager-Filmkomödien wie „The Revenge of the Nerds“ gepflegt wurde, ist offenbar noch höchst wirksam. Das schreibt die Soziologin Lori Kendall von der Universität von Illinois in einer im Internet veröffentlichten Studie („White and Nerdy“). Der Titel bezieht sich auf ein Lied des Parodisten Weird Al Jankovic. Kendall analysierte amerikanische Medien und stellte fest, dass das Nerd-Stereotyp in Film, Fernsehen und Werbung noch sehr lebendig ist. In den Ruf, „nerdy“ zu sein, wollen besonders Frauen unter keinen Umständen geraten. Dass sie – offenbar noch mehr als Männer – unter gar keinen Umständen als Nerd gelten wollten, so vermutet die Forscherin, könnte ein Grund dafür sein, warum sie in der IT-Branche unterrepräsentiert sind. Im Umkehrschluss, so Kendall, wird Menschen, die keinesfalls dem Klischee entsprechen, wenig Kompetenz in Computer-Dingen unterstellt. Das betrifft pauschal Frauen und nicht-weiße Männer. „Vor zehn Jahren habe ich gedacht, das Nerd-Stereotyp würde von allein aussterben, wenn immer mehr Menschen in ihrem Alltag Computer verwendeten“, sagt Lori Kendall. „Ich dachte: Wenn wir erst mal alle einen Computer benutzen, sind wir alle Nerds. Nun, das hat sich nicht als wahr erwiesen.“ Der typische Nerd wird in den von ihr untersuchten Massenmedien stets als weißer Mann präsentiert – was auch Jankovic in seinem Lied „White and Nerdy“ thematisiert. Jankovic stellt dem unsportlichen weißen Nerd-Jungen, der seinen Laptop mit unter die Dusche nimmt und Tischtennis (das in den USA als uncool gilt) spielt, gegen den schwarzen „Hip-Hop-Gangsta“ und dessen „cooles“, in der schwarzen Subkultur begründetes Männlichkeitsideal. Kendalls Analyse bestätigt dieses Stereotyp zumindest in den Medien: Frauen und Schwarze werden nicht als Nerds angesehen. „Die Folge dieser Stereotypisierung ist, dass wir denken, dass Leute, die etwas von Computern verstehen, weiß und männlich sein müssen“, sagt Kendall. „Und das hat Einfluss darauf, wie Frauen oder Angehörige ethnischer Minderheiten angesehen werden, wenn sie einen Beruf mit starkem Computer-Bezug wählen.“ fk/wsa DÜSSELDORF.

Fotos: imago, dpa

n London fing es an. Vor einem Jahr, also noch „vor Lehman“, meldete das „Architect’s Journal“: Zaha Hadids geplanter Neubau der Architecture Foundation in der Londoner Southwark Street wird nicht gebaut – aus „finanziellen Gründen“. Die Stiftung wolle angesichts der sich dramatisch verschlechternden Spendenfreudigkeit und der zu erwartenden hohen Betriebskosten das Geld lieber für das Programm denn für ein neues Gebäude ausgeben. Peu à peu tröpfelten im Lauf des Jahres weitere Nachrichten ein: In St. Petersburg, in der neuen Gazprom City, wird der Wolkenkratzer des britischen Architekturbüros RMJM nicht gebaut. In Moskau ist die „Kristallinsel“ im Süden der Stadt vorerst auf Eis gelegt, wo ein von Sir Norman Foster geplanter Freizeit- und Geschäftskomplex mit Hochhaus entstehen sollte. Die Bauflaute in den Emiraten ist mittlerweile täglich in den Zeitungen, und auch in Deutschland wird auf die Bremse getreten. Zum Beispiel Nürnberg: Das höchste Haus in Bayern, ein Hotelturm neben der Nürnberger Messe, wird nicht mehr realisiert. Die Krise hat die Architekten erreicht. Die Kammern melden eine Verschlechterung der Auftragslage, die Büros klagen über rückläufigen Umsatz, im Netz werden Krisenbewältigungskurse angeboten. Als Sir Norman Foster jetzt bestätigte, dass er weltweit 400 Mitarbeiter entlässt und die Büros in Berlin und Istanbul zum Monatsende schließt, wirkte das wie ein doppeltes Signal:

Vorbilder für Manager? Ameisen sind Meister des ressourcensparenden Arbeitens. Lange nachdenken müssen sie dabei nicht – soweit wir wissen.

Mach es wie die Ameise! Kognitionsforscher erklären, warum Finanzprofis allzu oft falsch liegen – und einfache Lösungen zuweilen besser sind NIKE HEINEN | DÜSSELDORF

Zu den vielen diskutierten Ursachen der Finanzkrise kommt nach Ansicht von Gerd Gigerenzer noch eine dazu, die Ökonomen sicher nicht in Betracht ziehen: „mangelndes Vertrauen in die eigene Intuition“. Der Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin hatte die Bedeutung des Bauchgefühls schon vor neun Jahren gezeigt. Allerdings nahmen ihn Finanzmarktakteure nicht wahr. Damals hatte er einfach Passanten gefragt, welche Aktien er kaufen soll. Die meisten hatten keine Ahnung von Aktien – und nannten einfach Firmennamen, die sie schon mal gehört hatten. In sechs Monaten stieg der Wert des Aktienfonds um fast 50 Prozent. Das Bauchgefühl von Hänschen Müller Ahnungslos war dem Rat hochbezahlter Finanzanalysten überlegen. Gigerenzer ist Heuristiker, er untersucht, nach welchen Regeln Menschen entscheiden – und mit welchen Entscheidungen sie erfolgreich sind. Die Regel, auf die die Passanten in diesem Fall intuitiv zurückgriffen, heißt Rekognitionsheuristik. Mancher Banker dagegen schaffe es nicht, so Gigerenzer, aus der Fülle der Informationen die richtigen herauszufiltern. Er vermutet, dass die Probleme auf dem Finanzmarkt auch damit zu tun haben, dass die Profis vergessen haben, den einfachen Daumenregeln zu folgen, die uns die Natur zur Orientierung mitgibt. Sie sind viel älter als Aktienfonds und Immobilienkredite. Älter sogar als unsere eigene Art. „Den Bankern könnte man raten: Mach es wie die Ameise!“ meint Gi-

gerenzer. „Die folgt einem Weg voller Windungen und Kurven. Nach rechts, nach links, zurück, hält inne, geht wieder vorwärts. Das ist zwar ein komplexes Verhalten, ähnlich komplex und verwirrend wie der Aktienhandel an der Börse, folgt aber keiner komplexen Strategie.“ Stattdessen folgen Insekten, die nicht einmal ein Gehirn, sondern nur einzelne Nervenknoten besitzen, ganz einfachen Maximen, die sie laufend mit der Umgebung abgleichen. „Die Ameise befolgt vielleicht die einfache Regel: Sieh zu, dass du schnell aus der Sonne kommst, ohne mit dem Klettern über Hindernisse Energie zu verschwenden.“ So bringt man eine optimale Energiebilanz ins heimische Nest. Übertragen auf die Wirtschaft bedeutet das: „Entscheidungen von komplizierten Statistiken abhängig zu machen hilft nicht weiter, kostet nur Kraft. Gute, simple Regeln müssen her. Das spart Zeit und Ressourcen.“

Der Sieg des Einfachen Das Verhalten der Ameise folgt dem „Take the best“-Prinzip. Der wichtigste Grund ist der entscheidende: Steht man zwischen zwei Möglichkeiten, dann lässt man die Intuition eine Rangfolge der Wichtigkeit von Faktoren festlegen. Bei der ersten Priorität beginnend, ist der Faktor der entscheidende, bei dem sich die beiden Optionen zum ersten Mal unterscheiden. Für die Routenwahl der Ameise ist die Schonung der Kräfte ausschlaggebend, sonst sind alle anderen Ziele ohnehin nicht mehr erreichbar. „Ein komplexes Problem verlangt eine komplexe Lösung, wird uns ge-

sagt. Tatsächlich trifft in schwer vorhersagbaren Situationen eher das Gegenteil zu“, sagt Gigerenzer. „Man muss darauf achten, dass man sich nicht in einem Wald aus Wenn und Aber verirrt.“ Sein Paradebeispiel für den Sieg des Einfachen über das Komplexe ist ein Quiz, bei dem man sich entscheiden muss, ob Detroit größer ist als Milwaukee oder umgekehrt. Die überwältigende Mehrheit der deutschen Studenten, die Gigerenzer befragte, sagte spontan „Detroit“, weil sie diesen Namen schon oft gehört hatte. Sie lag richtig. Als Gigerenzer aber amerikanische Studenten befragte, antworteten 40 Prozent trotz ihren landeskundlichen Kenntnisse falsch – weil ihnen Milwaukee genau wie Detroit als bedeutende Industriestadt bekannt war. „Die amerikanischen Studenten wussten zu viel. Die vielen Fakten trübten ihr Urteil.“ Auch Dan Ariely, Verhaltensökonom am Massachusetts Institute of Technology erforscht die menschliche Irrationalität im Allgemeinen und ganz besonders die der Finanzmärkte. Ihn interessiert der Teil unseres Unbewussten, der uns – anders als die von Gigerenzer beschriebene gute Intuition – im Weg steht. „Die meisten Ökonomen gehen davon aus, dass wir fähig sind, für uns die richtigen Entscheidungen zu treffen“, sagt Ariely. „Nach diesem Ideal des rationalen Menschen werden Richtlinien für Gesundheitspolitik gestaltet oder Steuern ausgerichtet. In Wirklichkeit weichen wir weit von diesem Ideal ab. Wir handeln irrational, und zwar mit System.“ Entgegen populärer Sichtweise seien diejenigen, die die aktuelle

Krise verursachten, keine „bösen“ Menschen. Ariely kann zeigen, dass Menschen die moralische Vernunft umso leichter vergessen, je abstrakter die Auswirkungen ihres Handelns sind. Als er Studenten die Erfolgsquote richtig gelöster Aufgaben in einer Prüfung selbst bestimmen ließ, gab die mit Gutscheinen für richtige Antworten belohnte Gruppe doppelt so viele falsche Lösungen als richtig an, wie die bar belohnte. „Betrügen fällt also umso leichter, je weniger echtes Geld im Spiel ist“, meint Ariely. „Das Maß an vernünftiger Selbstbeschränkung kann an der Börse demnach nicht sehr groß sein.“

Unvernünftige Werteinschätzung Arielys dringender Rat an die nächste Generation an den Finanzmärkten ist, sich der menschlichen Schwächen bewusst zu werden – um sie mit einem System der Selbstkontrolle auszuhebeln. Das könnte ganz ähnlich funktionieren wie die kontrollierte Kreditkarte, die Ariely den Amerikanern vorschlägt: Dabei setzt sich jeder Kreditkarteninhaber ein Limit für einzelne Ausgaben – Kleidung, Essen, Reisen –, das er nicht überschreiten kann. Weil sie sich von einem irrationalen Werteinschätzungssystem im Kopf narren lassen, geben die meisten Menschen mehr Geld aus, als sie müssten. „Wir Amerikaner sind dem Konsumwahn erlegen: Wir wollen all das, was unsere Nachbarn auch haben, ob wir es uns leisten können oder nicht.“ Wie leicht sich dieses System von der Außenwelt narren lässt, zeigte Ariely, als sich seine Studenten vor einer Versteigerung die

beiden letzten Ziffern ihrer Studiennummer einprägen sollten. Die Studenten, die sich eine hohe Zahl merken mussten, schätzten den Wert ersteigerter Dinge höher ein. „Die Nummer wirkte als mentaler Anker, der vom Gehirn intuitiv als Maßstab für das Preisgebot herangezogen wurde“, sagt Ariely. „Ganz ähnlich funktionieren Speisekarten in erfolgreichen Restaurants: Ein einziges teures Gericht – und der Umsatz der anderen Gerichte steigt.“ Wenn eine Aktie steigt, würden demnach die anderen deswegen automatisch nachziehen, weil Anleger sie in einer Art Nachahmereffekt kaufen, obwohl dadurch vielen Käufen keine reale Wirtschaftskraft des Unternehmens gegenübersteht. Auch eine Erklärung für Spekulationsblasen. „Wir sind Figuren in einem Spiel, in dem uns größtenteils unbekannte Kräfte mitwirken“, sagt Ariely. „Wir glauben, die absolute Kontrolle über die Richtung zu haben, die unser Leben nimmt. Das entspricht aber eher unseren Wünschen als der Wirklichkeit. Wenn wir uns darüber klar werden, können wir etwas daran ändern.“

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Eine Aufgabe für eine ganze Generation Archivare und Restauratoren kämpfen um die Bestände des Kölner Stadtarchivs FERDINAND KNAUSS | KÖLN

Eine Auszubildende der Archivschule Marburg sucht in einem Trümmerhaufen des Kölner Stadtarchivs nach restaurierbaren Dokumenten.

Ein gesichts- und geschichtsloserer Ort als Porz-Urbach ist kaum vorstellbar. Und der unansehnlichste Flecken in diesem Kölner Stadtteil ist wohl die staubige Arbeitshalle einer Firma für Umwelttechnik. Ausgerechnet hier wird mit riesigen Kipplastwagen die Geschichte der ehemaligen Reichsstadt Köln abgeladen – gemeinsam mit vielen Tonnen Bauschutt. Die 54 Auszubildenden der Archivschule Marburg, die in weißen Staubschutzanzügen und mit Atemmasken auf den Haufen herumkriechen, die einmal das Kölner Stadtarchiv waren, und zwischen Backsteinen und zerquetschtem Hausrat vorsichtig Papierfetzen heraussuchen, haben eine Arbeit begonnen, die vielleicht noch nicht beendet sein wird, wenn sie in Rente gehen. Alle größeren Archive der Nachbarstädte, Universitäten, Museen haben Fachpersonal für diese Jahrhundertaufgabe abgestellt. „Die Fach-

schaft hat sofort begriffen, welche Katastrophe hier passiert ist“, kommentiert Kölns Kulturdezernent Georg Quander die große Solidarität. Die schmutzige Arbeit auf den Schutthaufen ist nur der erste Schritt in einem unsäglich mühsamen Prozess des Rettens. In einem DreiSchichten-Betrieb sollen rund um die Uhr 30 bis 50 Personen die Dokumente aus dem Schutt sortieren. Da der Zustand der Dokumente sich durch Regen und Grundwasser verschlechtern wird, arbeiten sie in großer Eile. Die Papiere, die in der Porzer Halle zwischen dem Schutt zu erkennen sind, wurden offensichtlich durch den Einsturz völlig durcheinandergewirbelt. Da liegt ein Formular eines Gerichtsvollzugs aus den 1980er-Jahren nicht weit entfernt von einem handschriftlichen Notizbuch in Kurrentschrift, das sicher mindestens 100 Jahre älter ist. Daneben der abgerissene Deckel einer Pappschachtel, in der offensichtlich Prozessakten vom Reichskammerge-

richt in Goslar lagen. Aber vom Inhalt ist nichts zu sehen. Ohne jegliche inhaltliche oder historische Ordnung werden die Papiere nach Verschmutzung und Feuchtigkeit sortiert, in Frischhaltefolie eingeschweißt und in Kisten gelegt. Möglichst schnell sollen diese Fragmente in die Gefriertrocknungsanlagen der ganzen Republik abtransportiert werden. Feucht-schmutzige Papiere müssen schockgefroren werden und zwei Jahre lagern, um gereinigt werden zu können. Die Akten setzt man dazu einem Vakuum aus, wodurch das Eis sofort verdampft und abgesaugt werden kann. So kann man die Schimmelbildung verhindern. Aber dazu dürfen die Papiere eben nicht allzu lange feucht und schmutzig bleiben. In normalen Zeiten, wenn Archive nicht einstürzen, restaurieren die Mitarbeiter der Restaurierungswerkstatt in Münster etwa 150 Meter Papierdokumente pro Jahr. Die Bestände des Kölner Stadtarchivs umfassten knapp 30 Regalkilometer. „Die Personalkapa-

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zitäten für eine solche Katastrophe gibt es gar nicht“, sagt Markus Stumpf, Leiter des Archivamts für Westfalen in Münster. An den drei Ausbildungsstätten für Papierrestaurateure in Deutschland werden pro Semester insgesamt nur rund zehn Menschen ausgebildet. An der Unfallstelle in der Severinstraße sind Feuerwehr und THW immer noch vor allem mit der Suche nach der zweiten vermissten Person befasst. Erst wenn die Leiche gefunden ist, werden die Archivare und Restaurateure das Kommando übernehmen und den Feuerwehrleuten sagen, wie sie vorzugehen haben. „Dann werden wir darauf achten, dass die Bestände zusammenbleiben“, sagt Feuerwehrdirektor Stephan Neuhoff. Das impliziert leider, dass sie es jetzt noch nicht tun: „Bis dahin bergen wir Kulturgut nur, wo es auftaucht.“ Wie das aussieht, kann man an der Unfallstelle beobachten. Riesige Bagger werfen den Schutt in Kipplader. Das dürfte viele der histo-

rischen Akten und Dokumente, die zwischen den Beton- und Steinbrocken stecken, endgültig zerstören. Die Leiterin des Stadtarchivs, Bettina Schmidt-Czaia, ist Fachfrau für spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte. Sie ist seit vier Jahren Leiterin des Archivs, das für unabsehbare Zeit der Forschung nicht zur Verfügung stehen wird. Die Fassungslosigkeit ist ihr auch nach einer Woche noch anzumerken. „Ich habe furchtbare Bestände gesehen, aber auch fast unbeschädigte.“ Sie kann neben allen Schreckensnachrichten immerhin den halbwegs unversehrten Fund einiger besonders wertvoller Schriftstücke melden. Eine von zwei Handschriften des berühmten mittelalterlichen Gelehrten Albertus Magnus (ca. 1200-1280) konnte geborgen werden. Für die Kölner Stadtgeschichte und die Alltagsgeschichte des 16. Jahrhunderts besonders wichtig sind die Aufzeichnungen des Kölner Patriziers Hermann von Weinsberg. Vier der fünf Bände sind aufgetaucht.

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