Ihrem Tode Nicht Mehr Weit Gekrochen Sein

  • April 2020
  • PDF

This document was uploaded by user and they confirmed that they have the permission to share it. If you are author or own the copyright of this book, please report to us by using this DMCA report form. Report DMCA


Overview

Download & View Ihrem Tode Nicht Mehr Weit Gekrochen Sein as PDF for free.

More details

  • Words: 596
  • Pages: 2
Käfer „Graf Bobby“ und Käfer „Gemeiner Armleuchter“, beide vom Stamm der Schwarzen Totengräber, saßen nebeneinander auf ihrem Versammlungsplatz im Bayrischen Wald und besprachen das weitere Vorgehen. Ihr Schild an der Vorderseite, ähnlich einer Rüstung, schimmerte, die langen hellen Haare an den Flügeldecken flatterten, ihre braunen Fühlerkeulen zuckten nervös. Der Abend nahte, bald würden sie auf der Suche nach Aas herumfliegen und die toten Tierkörper zur Nahrung ihrer Brut im Erdreich eingraben. „Ich habe etwas entdeckt“, sagte Graf Bobby, „auf der südlichen Lichtung fand vor etwas mehr als einer Woche eine große „Masernparty“ der Schneckenkinder statt. Die Kleinen haben sich wie im Fasching kostümiert, wir können sie anhand ihrer bunten Bemalung und ihres charakteristischen Geruchs leicht ausmachen. Diejenigen, welche sich angesteckt haben und gestorben sind, stellen eine leichte Beute für uns dar. Krank wie sie waren, können sie vor ihrem Tode nicht mehr weit gekrochen sein und wir müssten sie finden.“ „Eine Masernparty? Was ist das?“ „Ein Schneckenkind, das gerade Masern hat, lädt alle seine Freunde ein, damit sie sich auch anstecken. Sie glauben alle, dass Masern nicht schlimm und schnell überstanden sind. Die Party findet zu einer günstigen Zeit statt, zum Beispiel vor den Osterferien, wenn alle Klassenarbeiten schon geschrieben sind. Zu Beginn des Urlaubs ist alles schon vorbei, die Familie kann beruhigt nach Sylt fliegen und überhaupt viel besser planen.“ „Aber sind die Masern nicht eine gefährliche Krankheit?“, fragte Gemeiner Armleuchter. „Warum machen die Mütter das? Haben die Eltern ihre Kinder nicht lieb? Warum ließen sie nicht impfen?“ „Prinz „Gütiger Raffzahn“ hält nichts von Impfungen“, antwortete Graf Bobby. „Er ist ein Heiler, der aus dem Norden zu uns gekommen ist. Die größte Schleimspur, die ich jemals bei einer Schnecke gesehen habe, zieht er hinter sich her und behandelt alle Krankheiten mit Fühlerauflegen, Mondlicht und durch Zaubersprüche gereinigtes, gequirltes Wasser. Die Eltern hören auf ihn. Der alte Arzt Doktor „Kriech-Sabbler“ hat sich seinetwegen aus Verzweiflung entleibt, weil niemand ihn mehr aufgesucht hat. Ich war bei der Totenfeier des alten Knaben dabei und habe anschließend für eine würdige Bestattung nach meiner Art gesorgt.“ Gemeiner Armleuchter war noch nicht überzeugt und wedelte mit seinen Haaren im Wind. Er hing seinen Gedanken nach. Das dauerte bei ihm eine Weile, obwohl er eigentlich schon längst auf Beutezug sein wollte, und sich mental bereits voller Vorfreude auf das Graben der Kanäle im Erdreich und auf das Einbuddeln der Kadaver eingestellt hatte. Er ließ schon mal seine Muskeln spielen, fragte aber trotzdem noch einmal nach: „Warum keine Impfung? Wir beide wissen doch, dass Masern bei den

Schneckenkindern zu Krankheit und Tod führen können. Weshalb hören alle auf Gütiger Raffzahn?“ Graf Bobby lachte. Es klang nicht fröhlich. „Gemeiner Armleuchter, du bist wirklich nicht informiert. Weißt du nicht, dass Impfen sehr gefährlich ist? Guck doch mal ins Internet! In einem von einer Million Fällen gibt es gefährliche Impfschäden. Das kann man doch nicht riskieren.“ „Soso.“ Gemeiner Armleuchter beruhigte sich einstweilen, aber dann dachte er an die Lichtung mit den toten Schneckenkindern und konnte es kaum noch aushalten. Es war zu spät für Nachsicht und Mitleid mit den Kleinen, die vor gut einer Woche noch fröhlich und nichts ahnend Fasching gefeiert hatten und nun tot auf der Lichtung lagen und auf ihn warteten. „Lass uns losfliegen. Wir haben noch viel zu tun, ich bin bereit. Ob sie noch Zeit hatten, sich in ihr Schneckenhaus zurückzuziehen? Dann kriegen wir Probleme.“ Merke: Nicht nur Schnecken sollten bei der Risikoeinschätzung rational vorgehen. Entfernte Gefahren sind schlimm. Kümmere dich aber auch um das Naheliegende, sonst könnte es dir wie den an den Masern gestorbenen Schneckenkindern und ihren Eltern ergehen.

Related Documents