© Uwe Fengler
Das dicke Kind
Es war Mitte Januar. Kurz nach Weihnachten hatte es zu schneien begonnen. Und dann war es schnell sehr kalt geworden. Die Temperaturen sanken auch tagsüber sehr weit unter den Gefrierpunkt. Der kleine See befand sich nicht weit von unserem Dorf entfernt. Er war inzwischen zugefroren und zum Schlittschuh laufen freigegeben worden. So konnte ich, als ich mich auf dem Weg dorthin befand, schon aus ziemlicher Entfernung das laute und fröhliche Rufen der Kinder hören, die sich an diesem Nachmittag auf dem See vergnügten. In der Ferne hörte ich den vertrauten Klang unserer Kirchturmuhr; sie schlug drei mal. Es würde bestimmt in etwa zwei Stunden dunkel werden. Dies störte die fröhlichen Kinder
überhaupt nicht, hatten sie doch nur alle paar Jahre einmal Gelegenheit zu so einem Spaß. Ein Mann mit einem Golden Redriever kam mir entgegen. Als ich näher an den See heran kam, fiel sie mir sofort auf. Sie musste so etwa 10 bis 11 Jahre alt sein. Für ihr Alter erschien sie mir etwas zu klein und zu rundlich, jedoch nicht übermäßig dick. Vor ihr lagen ein paar Schlittschuhe im Schnee. Sie schien zu frieren. Gelegentlich ging sie ein paar Schritte auf und ab, dann blieb sie wieder stehen, sah sehnsüchtig auf die anderen Kinder und atmete wütende Nebelwolken in die Luft. Ich trat zu ihr ans Ufer und sah einen Augenblick lang mit ihr den fröhlichen Kindern zu. „Du hast schöne Schlittschuhe“, sagte ich nach einiger Zeit. Sie wirkte nicht erschrocken, als sie ihr Gesicht mir zu wandte. „Ich wünschte, ich hätte sie nicht zu Weihnachten geschenkt bekommen, dann müsste ich jetzt nicht hier stehen und frierend den anderen Kindern zu sehen.“
Ich sah wieder eine Weile mit ihr auf den See, bevor ich antwortete. „Magst du denn nicht auch wie die anderen Kinder Schlittschuh laufen?“ „Natürlich kann ich Schlittschuh laufen. Mein Vater hat es mir im letzten Winter im Urlaub beigebracht“, sagte sie stolz, „aber das war eben nicht hier“, fügte sie traurig hinzu, „hier wo mich jeder kennt!“ Das ist richtig, dachte ich, hier kennt wirklich jeder jeden, auch mir war sie schon öfters begegnet und ich wusste, dass sie die Tochter eines Krankenpflegers war, der in der nahen Kreisstadt seinen Dienst verrichtete. Ich hatte das Gefühl, dass sie sprechen wollte, also schwieg ich. „Ich habe Angst, dass sie über mich lachen werden, sobald ich auch nur versuche mit den Schlittschuhen den See zu betreten.“ „Aber warum sollten sie das tun?“ fragte ich. Eine stille Träne lief über ihre Wange als sie mich verzweifelt ansah. „Weil sie immer über mich lachen, egal was ich tue. Manchmal fängt das Getuschel und
Lachen schon an, wenn ich nur den Klassenraum betrete.“ „Aber vielleicht meinen sie gar nicht dich; vielleicht lachen sie ja über irgend einen Witz, den sie sich erzählt haben, bevor du den Raum betreten hast. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Du gemeint bist, warum denn auch?“ „Sie nennen mich immer nur „die Dicke“, und ich bin mir ganz sicher, dass sie mich meinen...“, wieder rollten lautlose Tränen über ihre Wangen, „dabei esse ich gar nicht viel!“ Nun begann sie zu schluchzen und ich hatte Angst, dass sie gleich laut los weinen würde. Als ich auf den See hinaus sah bemerkte ich einen wirklich dicken Jungen, der dort mit den anderen Kindern viel Spaß zu haben schien. „Was ist mit dem da?“ fragte ich, während ich zu ihm hinüber nickte. Ich stellte schmunzelnd fest, dass er manchmal eine recht komische Person abgab, wenn er sich
zwanghaft das Gleichgewicht haltend, über das Eis bewegte. „Bei dem traut sich keiner auch nur irgendetwas zu sagen, nicht nur weil er der Sohn eines Lehrers ist, sondern der schlägt auch gleich zu, wenn ihm etwas nicht gefällt.“ „Weißt Du was ich glaube“, meinte ich nach einer Zeit des Nachdenkens, „die Menschen sehen oft das in einem anderen, was sie sehen wollen. Im Sohn des Lehrers sehen sie vielleicht kein dickes Kind, sondern einen starken Jungen, weil sie Angst vor ihm haben. Ich meine nicht damit, das es sinnvoll ist bei jeder Gelegenheit um sich zu schlagen.“ Jetzt begann auch ich zu frieren und trat von einem Bein aufs andere. „Dir ist kalt“, sie lächelte und sah zu mir auf. „Ein wenig“, entgegnete ich, „aber das ist nicht so wichtig.“ Nun hörte ich wieder die Uhr des Kirchturms schlagen. Es war halb vier. Ein großer Teil der Kinder die sich soeben noch auf dem See
befanden, war verschwunden und auf dem Heimweg. „Und weißt du was ich noch denke: Wenn du dich morgen traust, dir deine Schlittschuhe anzuziehen und dort auf dem See deine Runden drehst, keiner wird mehr über dich lachen. Alle werden darüber staunen was du kannst. Trau Dich...“ „Es wird Zeit nach Hause zu gehen“, fügte ich hinzu, „vielleicht sprichst Du auch mal mit Deinen Eltern darüber und fragst sie, wie sie darüber denken.“ Wir verabschiedeten uns voneinander und jeder ging seines Weges. © Uwe Fengler