© Uwe Fengler
Der Baum vor meinem Fenster Ich werde ihn vermissen, denn er hat mich so viele Jahre stumm begleitet. Rückwärts trete ich langsam vom Fenster zurück, bis ich mich in der Mitte meines ehemaligen Wohnzimmers und jetzt leeren Raumes befinde. Nie habe ich ihn verlassen wollen, denn er war immer ein wirklicher Freund. Ihm konnte ich alles anvertrauen und was ich ihm auch erzählte, fast immer verstand er meine Traurigkeit. Meist konnte ich seine Antwort auf meine Fragen schon allein durch sein Schweigen verstehen. Hin und wieder aber auch durch den Wind der durch sein schweres altes Geäst wehte.
Als ich damals in diese Wohnung einzog war es mitten im Sommer. Die dichten grünen Blätter des Baumes versperrten mir fast jede Sicht in die Welt. In den ersten Wochen unseres Zusammenlebens meinte ich darum sogar, das er eher mein Feind als mein Freund sei, denn gerne hätte ich gesehen, was sich hinter ihm befand. Endlich wurde es Herbst, die Blätter wurden nicht nur bunter sondern fielen auch mit der Zeit herab. Der Baum erinnerte mich nun immer mehr an das Haar eines alten Mannes, das mit der Zeit immer dünner wird, und durch das man schließlich auf dessen Kopfhaut blicken kann. Aber was schließlich hinter den endlos fallenden Blättern hervor kam, waren lediglich graue Häuserwände, an manchen Tagen in dichte Neben gehüllt. Wie einsam und kalt musste er sich inzwischen fühlen. In dieser Zeit, etwa vier Monate nach meinem Einzug in die neue Wohnung begann ich eine
zunächst zaghafte, aber dann doch eine immer innigere Freundschaft mit dem Baum vor meinem Fenster zu schließen. Und als ich dann im Frühling beobachten konnte, wie die zunächst langsam auf sprießenden Knospen sich von einem Tag zum anderen wieder in ein dichtes Grün verwandelten, konnte ich die Freude meines Gegenübers direkt verspüren. Er, der Baum, und ich, der Mensch, waren eins geworden in den Jahreszeiten des Lebens. Und mit den Jahren unseres zusammen Seins wuchs in mir eine Hoffnung auf Ewigkeit, die mit menschlichen Sinnen nicht zu verstehen ist. Jetzt aber heißt es Abschied nehmen, wie so oft im Leben. Erst jetzt denke ich daran, das mein Freund trotz meines inzwischen hohen Alters, dass ich als Mensch zähle, doch schon erheblich mehr Jahre erlebt hat als ich, und mir durch sein regelmäßiges neues Erblühen nur eine Art von Jugendlichkeit vorgegaukelt hat.
Ich werde mich immer an ihn erinnern, wo mein Weg mich auch hin führen mag. Wird er aber in ähnlicher Weise an mich denken, wenn ich ihn verlassen habe. Schließlich hat er in seinen Jahren viele Menschen kennen gelernt und auch wieder aus den Augen bzw. aus den Blättern verloren. Hat er mich überhaupt wahrgenommen, und wenn ja, habe ich ihn nicht eher mit meinem einsamen und armseligen Leben gelangweilt? Es ist soweit, ich schließe nun die Tür des Zimmers hinter mehr. Ein neues Leben fängt an, für den Baum und für mich. © Uwe Fengler