Henny Blomme
Antinomien der Kant-Forschung Rede anlässlich der Verleihung des Kant-Nachwuchspreises der Fondazione Silvestro Marcucci und der Kant-Gesellschaft Sehr geehrter Herr La Rocca, sehr geehrter Herr Dörflinger, Sehr geehrte Damen und Herren, Liebe Kollegen, liebe Freunde, als ich die Nachricht bekam, dass die Jury der Kant-Gesellschaft mir den Marcucci Preis zuerkannt hatte, war ich vor allem überrascht. Ich war mir dessen nicht bewusst, dass meine Arbeit im Bereich der Kant-Forschung in diesem Maße wahrgenommen und als herausragende Leistung betrachtet wird. Heute, da ich den Preis empfangen darf, spüre ich vor allem Dankbarkeit. Meine Dankbarkeit gilt zunächst natürlich sowohl der Fondazione Marcucci und der Kant-Gesellschaft – das sind die fördernden Institutionen – als auch den Kant-Experten, denen als Mitglieder der Jury meine Beiträge zur Kant-Forschung ins Auge gefallen sind. Meine Dankbarkeit gilt aber auch allen Kollegen und Freunden, die mich bei meinen, auf den ersten Blick manchmal befremdlich wirkenden Forschungsansätzen und Lösungsvorschlägen motiviert, unterstützt und mir geholfen haben. Nicht zuletzt bin ich dankbar für das Glück, das mir mit der Zuerkennung dieses wichtigen Preises zuteil geworden ist. Wie vorgeschlagen habe ich anlässlich dieser Verleihung eine kurze Rede vorbereitet. Ich möchte mich darin einmal von einer anderen Perspektive aus auf unser Forschungsgebiet richten. Dieser kurzen Rede habe ich den Titel „Antinomien der Kant-Forschung“ gegeben, und ich hoffe sehr, dass sie euch nicht zu sehr auf die Nerven geht.
Antinomien der Kant-Forschung „Gehen“ – das ist der Titel einer 1971 bei Suhrkamp erschienenen „Erzählung“ des österreichischen Schriftstellers Thomas Bernhard. Der namenlose Ich-Erzähler und ein Mann, der einfach ‚Oehler‘ genannt wird, gehen zusammen spazieren und führen dabei ein philosophisches Gespräch über die Welt, die Natur, die Geschichte, das Denken und, damit zusammenhängend, über ihren Freund Karrer, der – wie es ja bei Bernhard nicht anders zu erwarten ist – vor kurzem verrückt https://doi.org/10.1515/9783110467888-012
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geworden ist. Der Eröffnungssatz der Bernhard’schen Erzählung lautet schlicht wie folgt: „Während ich, bevor Karrer verrückt geworden ist, nur am Mittwoch mit Oehler gegangen bin, gehe ich jetzt, nachdem Karrer verrückt geworden ist, auch am Montag mit Oehler.“¹ Die literarische Analyse des Denkens, die fortlaufend in der Erzählung angestellt wird, mündet in der dramatischen Demonstration einer Parallelität, die nach Oehler – und also vermutlich auch nach Bernhard – zwischen der Aktivität des Gehens und der Aktivität des Denkens gefunden werden kann. Sowohl beim Gehen als beim Denken droht das Risiko der Erschöpfung, welche, wenn man nicht rechtzeitig umkehrt, schließlich zur Selbstvernichtung führt. Wie Oehler sagt, dürfen wir nicht weiter nachdenken, „wenn wir nicht die Kraft haben, ein solches Nachdenken […] genau in dem Augenblick abzubrechen, in welchem dieses Nachdenken für uns tödlich ist.“² So heißt es dann auch, dass Karrer „auf dem Höhepunkt seines Denkens verrückt geworden“³ sei und dass Verrücktheit „etwas in unglaublichster Höhe sich Vollziehendes“ ist, weil „es sich bei Verrücktheit im Augenblick tatsächlich um alles handelt.“⁴ Dieses Thema eines drohenden Überschreitens der Grenzen der Vernunft, nicht zur dogmatischen Metaphysik, sondern zum Wahnsinn, kommt verstärkt vor dem Hintergrund der von Bernhard inszenierten Landschaft zur Geltung, in der die mögliche Entfaltung der Aktivität des Gehens auf einen Spaziergang entweder in östliche oder in westliche Richtung beschränkt ist. Oehler ist schon immer in beide Richtungen gegangen, da er am Montag mit Karrer in die westliche Richtung gegangen ist und am Mittwoch mit dem Ich-Erzähler in die östliche Richtung. Nachdem nun Karrer verrückt und „sofort nach [der Wiener Irrenanstalt] Steinhof hinaufgekommen“⁵ ist, geht der Ich-Erzähler nicht nur am Mittwoch, sondern auch am Montag mit Oehler. Die beiden Richtungen werden aber beibehalten und es gibt also für das Gehen eine Montag- und eine Mittwoch-Richtung. Warum aber wird stillschweigend angenommen, dass die Geh-Möglichkeiten durch die beiden angegebenen Richtungen erschöpft werden? Die östliche und westliche Richtung bilden in der Erzählung ja die Totalität der möglichen GehRichtungen. Für diese theatralische Einschränkung der von ihm inszenierten GehLandschaft gibt Bernhard keinen expliziten Grund. Karrer ist immer nur in die westliche Richtung gegangen, und sein Unvermögen, in eine andere Richtung zu gehen, symbolisiert sein Unvermögen, in eine andere Richtung zu denken, das
Bernhard, Thomas: Gehen. Frankfurt am Main 1971, 7. Bernhard, Thomas: Gehen. Frankfurt am Main 1971, 26. Bernhard, Thomas: Gehen. Frankfurt am Main 1971, 23. Bernhard, Thomas: Gehen. Frankfurt am Main 1971, 51. Bernhard, Thomas: Gehen. Frankfurt am Main 1971, 7.
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ihm schließlich zu seinem Schicksal geworden ist. Nach einem Spaziergang sind Oehler und Karrer in den rustenschacherschen Laden eingetreten, wo Karrer sich unzählige Hosen vor das Licht halten ließ. Inmitten einer Diskussion über die Qualität dieser Hosen ist Karrer dann verrückt geworden. Karrer hat es für eine ausgemachte Sache gehalten, dass es sich bei den vorgeführten, und vom Verkäufer Rustenschacher und seinen Neffen als aus „erstklassigste[m] englische[n] Stoffe geschnitten“,⁶ angepriesenen Hosen eher um billige „tschechoslowakische Ausschussware“⁷ gehandelt hat, weil er an jeder Hose eine oder mehrere „schüttere Stellen“⁸ gefunden hat. Karrer hat sich bis zum geistigen Kurzschluss in immer größere Erregung über diesen Umstand gesteigert und hat am Ende nur noch „diese schüttere Stellen, diese schüttere Stellen“⁹ gestammelt. Die obsessive und schließlich fatale Eindimensionalität des Denkens scheint in Karrers Fall irgendwie mit der schon an sich verrückten Tatsache zusammenzuhängen, dass er den Spaziergang immer nur in eine Richtung eingeschlagen hat. Es wäre für Karrer bestimmt erfrischend gewesen, nicht nur auch mal, wie Oehler, in östlicher Richtung zu gehen, sondern auch mal in südlicher oder nördlicher Richtung. Die Möglichkeit einer alternativen Geh- und Denkrichtung hat es für Karrer aber nicht gegeben. Heutzutage gibt es in der Kant-Forschung bestimmte diametral entgegengesetzte Interpretationsrichtungen, von denen stillschweigend angenommen wird, dass sie die Denkmöglichkeiten erschöpfen. Die Annahme eines absoluten Ausschlusses anderer Wahlmöglichkeiten als derjenigen zwischen jeweils zwei Interpretationsalternativen kann man sowohl in der Literatur zur praktischen als zur theoretischen Philosophie Kants antreffen. Wenn ich mich nun der Kürze wegen bloß auf die theoretische Philosophie beziehe, wird zum Beispiel gefragt, ob Kant Subjektivist oder Objektivist sei, ob er denn nun endgültig Idealist oder Realist sei, ob er Formalist oder Materialist sei, ob er Konzeptualist oder NonKonzeptualist sei, und auch ob er in Bezug auf den – unter uns gesagt sehr unrevolutionären – Begriff des ‚Dinges an sich‘ als Anhänger einer Zwei-AspekteTheorie oder einer zwei-Welten-Theorie einzustufen sei. Diese Interpretationspaare sind heute zu Antinomien der Kant-Forschung geworden, in denen viele der brillantesten Kant-Forscher gefangen zu sein scheinen. Zwar besteht für sie keine persönliche Gefahr und schon gar nicht die Gefahr des Verrücktwerdens. Trotzdem entsteht so, angesichts der Kant-Forschung überhaupt, das Risiko, dass es für sie schwieriger wird, die radikale Ori
Bernhard, Thomas: Gehen. Frankfurt am Main 1971, 56. Bernhard, Thomas: Gehen. Frankfurt am Main 1971, 55. Bernhard, Thomas: Gehen. Frankfurt am Main 1971, 65. Bernhard, Thomas: Gehen. Frankfurt am Main 1971, 73.
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ginalität der kantischen Philosophie aufzudecken. Die vorgegebenen dualen Begriffsmuster, die uns sozusagen als Hilfsmittel für die eigene Stellungnahme zu Kant angeboten werden, führen nach meinem Dafürhalten in Wirklichkeit entweder zu unnötigen Verkomplizierungen oder zu philosophisch banalen Simplifizierungen der kantischen Philosophie. Denn keine von den genannten Positionen stimmt als solche mit Kants Position überein. Das sapere aude schreibt uns in diesem Sinne auch vor, dass wir als Forscher den Mut haben sollten, uns von diesen, in ihrer endlosen Wiederholung schon wieder dogmatisch anmutenden Interpretationsmustern zu befreien. Es genügt dabei nicht, zu bejammern, dass die durch ihre Titel zunächst klar benannten Entweder-oder-Positionen in der Ausarbeitung dann doch nicht so klar bestimmt werden können, wie ihre für das „faule“ Denken verlockende Binarität es zunächst vorführt. So wie die Interpretation der von Kant dargestellten mathematischen Antinomien nicht bei der Exegese und Abwägung der für die These und für die Antithese angeführten Beweise enden darf, sondern beide als nicht zutreffende Sätze verworfen werden müssen, um die kritische Lösung in aller Klarheit darstellen zu können, so müssen wir auch nicht fürchten, die genannten dualen Interpretationsmuster beiseite zu schieben, falls wir verstehen wollen, worin das außergewöhnliche philosophische Angebot, das Kant uns macht, besteht. Auch in anderer Hinsicht sind wir als Kant-Forscher vielleicht nicht immer mutig genug. Wenn man zum Beispiel meint, dass gewisse neu erfundene akademische Bedingungen im Endeffekt für die philosophische Forschung nachteilig sind, muss jeder für sich selbst ausmachen, was es angesichts dessen heißt, sich nicht nur seines eigenen Verstandes zu bedienen, aber dann auch entsprechend zu handeln. Man muss gewiss nicht übertreiben und so tun wie Karrer, der eine Zeit vor seinem verrückt-Werden die Gewohnheit angenommen hatte, vor jedem Substantiv immer auch das Adjektiv ‚sogenannt‘ zu benutzen, was bei Bernhard dann naturgemäß in eine sich zur Absurdität steigernde Beschimpfung der österreichischen Institutionen mündet. Man hat wenig Schwierigkeiten damit, sich vorzustellen, wie Karrer während dieser nach Verrücktheit neigenden „Erregung“ nicht nur von ‚sogenannten‘ Exzellenz-Initiativen, ‚sogenannten‘ TopUniversitäten, ‚sogenannten‘ Top-Fachzeitschriften und ‚sogenannter‘ Forschungswirkung gesprochen hätte, sondern auch von den ‚sogenannten‘ besten Kant-Forschern der Welt, was ich hier heute Abend natürlich nicht tun werde. Es gefährdet aber niemanden, ab und zu die Gewohnheit Karrers zu übernehmen, um damit dasjenige, was Sartre „le sérieux“ nannte, zu entwaffnen. Denn, wie Carl Zuckmayer mal gesagt hat, ist das richtige Lachen nicht nur der Beginn des richtigen Empfindens, sondern auch … des richtigen Denkens. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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