Spiegel

  • Uploaded by: Jessica Uwira
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  • June 2020
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  • Words: 746
  • Pages: 2
Es ist kalt. Nicht nur die Temperatur – dieser ganze Raum, seine Atmosphäre, seine karge Ausstattung – all das strahlt eine lähmende Kälte aus. Ich starre in die dunklen Augen der jungen Frau vor mir. Sie ist sehr bleich, wirkt krank, müde. Ich glaube, es geht ihr nicht gut. Tränen haben ihre Schminke verlaufen lassen, haben dunkle Spuren auf der weißen Haut hinterlassen. Sie weint noch immer. Warum weint diese Frau? Ich weiß es nicht. Ich würde sie gerne fragen, würde sie gerne trösten, ihr diese verirrte Haarsträhne, deren Spitze von den Tränen nass ist, die da wie eine dunkle Wunde auf ihrer Wange klebt, gerne fort streichen – raus aus diesem Gesicht, das einmal hübsch gewesen sein muss – vor langer Zeit. In einer besseren Zeit. Diese Frau war einmal glücklich gewesen, ich spüre es – doch all das liegt weit zurück. Vergraben unter Kummer. Unter Verzweiflung. Warum ist sie so verzweifelt? Sie sagt es mir nicht, sie schweigt, und auch meine Lippen bleiben verschlossen. Stumm stehen wir uns gegenüber, starren uns gegenseitig in die Augen. Ich würde sie gerne umarmen, diese Frau, doch sie wirkt so klein, so zerbrechlich... Ich habe Angst, sie zu zerstören, sobald ich sie berühre. Also suchen meine Hände einen anderen Halt, umklammern ihn fest, bis meine Fingerknöchel sich spitz und weiß unter meiner Haut abzeichnen – so sehr schmerzt mich der Kummer dieser Frau, auch wenn es nicht der meine ist. Und doch spüre ich ihn, ich sehe ihn in jeder Träne, die über ihre Wangen rinnt, die jede Spur noch tiefer und dunkler in ihr Gesicht gräbt. Dann wendet sie den Blick ab, bewegt ihre Hände, und auch ich bewege mich mit, fasziniert von ihren Gesten folgen meine Hände den ihren. Meine Finger ertasten kaltes Porzellan; sie ertasten Leder. Dann Kunststoff, die tastenden Finger schließen sich, und obgleich ich die Hände der Frau nicht sehen kann, weiß ich, dass auch ihre Finger sich schließen. Es sind keine schönen Finger; sie sind schwielig von der Arbeit, ihre Nägel sind kurz gekaut, die Nagelhäute rissig und rau; es sind Finger, die versuchen, all dieses Leid zu tragen, das dieser Frau widerfahren ist, die – vergeblich – versucht haben, ihre Last leichter zu machen. Der Blick der Fremden hebt sich wieder, die geschundene Hand umklammert fest, was sie ertastet hat, bewegen sich sachte, zögernd. Ich erwidere ihren Blick, und ihre Augen wirken nun seltsam matt und leer, als sie die Hand hebt; ich kann noch immer nicht erkennen, was die Fremde hält, es bleibt meinem Blick verborgen, und dennoch folge ich der Bewegung, ahme sie perfekt nach, es ist, als hätten wir, die junge Frau und ich, einen geheimen Tanz eingeübt. Dann, urplötzlich, schließen sich die von schlaflosen Nächten dunkel gewordenen Lider, und auch die meinen sinken herab, hüllen den Anblick der Fremden in gnädige, tröstliche Dunkelheit. Und dann setzt der Schmerz ein – jäh und heiß, und ich beuge mich vor, ebenso wie die Fremde; die dunklen Strähnen fallen in ihr Gesicht, verbergen es, verhülle die plötzlich gequälten Züge. Ihre blassen, gesprungenen Lippen bewegen sich, doch alles, was ich höre, ist das leise Keuchen, das aus meinem Munde dringt. Blut spritzt, benetzt das Gesicht der Fremden, doch sie reagiert nicht darauf, sondern starrt weiter gebannt nach unten. Auch ich blicke hinab, auf die kalt glänzende Oberfläche des Waschbeckens. Sie ist nicht länger weiß. Rote Schlieren rinnen über sie und geben dem kalten Porzellan einen bizarren Hauch von Wärme. Ich bin wie gelähmt – so sehr fasziniert mich dieser Anblick. Der Kummer der jungen Frau ist – eben so wie der meine – vergessen. Plötzlich fühle ich mich leicht. Wie befreit. Als wäre das Blut, das nun aus dem schmalen, kerzengeraden Schnitt läuft, schlecht gewesen, eine böse Substanz, die mich vergiftet hatte. Ob die Fremde auch blutet? Ich kann es nicht sehen, ich sehe sie nicht an, verharre weiter reglos bis der stete Fluss des schlechten Blutes langsam verrinnt. Jetzt erst hebe ich den Kopf und sehe die Fremde wieder an. Begegne ihren Augen, und dort hat sich etwas verändert. Sie wirkt nicht glückich. Das würde sie auch niemals sein – doch sie wirkt gelöst. Beruhigt. Und auch ein wenig schuldbewusst, doch ich kann es nicht genau erkennen, denn Blut befleckt noch immer ihr Antlitz.

Ich nehme nun ein Tuch zur Hand, feuchte es an und reinige den Spiegel, vor dem ich gestanden hatte, sorgfältig, bevor ich den kalten Raum verließ. Es würde mich wieder locken. Doch vorerst war es genug.

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