Schuld

  • Uploaded by: Jessica Uwira
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  • June 2020
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  • Words: 849
  • Pages: 2
Es sind vier Worte, die das Leben des Mädchens geprägt haben. Vier Worte, die es zu dem machten, was es war: Einer Außenseiterin. Schwach. Scheu. Fast krankhaft misstrauisch. Ich kann in ihren Augen sehen, dass das Wissen sie belastet. Ob es wahr ist oder nicht, es ist da – es ist, was sie immer gehört hat, immer und immer wieder, bis sie irgendwann aufgab, darüber zu reden. Du bist schuld. Wie oft sie diese Worte gehört haben mag – ich kann es nicht sagen. Ich sehe das Mädchen heranwachsen. Ich sehe sie vor mir, mit stolz glühenden Wangen, wie sie in der Schule sitzt, immer wissbegierig, immer ehrgeizig, nicht einverstanden mit der Tatsache, dass sie nicht immer die erste, nicht immer die beste sein kann. Ich sehe, wie unruhig sie wird, wenn andere bevorzugt werden. Etwas ist an diesem Kind, dass oft andere bevorzugt werden. Sie kann den Mund nicht halten, nie – sie redet, sie erzählt, träumt laut vor sich hin – redet laut und mit sich allein, weil niemand da ist, der ihr zuhören will. Freunde hat sie nicht. Und es ist ihre Schuld. Ich sehe sie... sie ist dreizehn Jahre alt. Sie ist sehr dünn geworden, der rosige Schimmer, den die Kindheit auf ihre runden Wangen gemalt hatte, ist vergangen. Leichenblässe ist geblieben. Noch immer sind ihre Wangen rund, doch es ist eine ungesunde, verquollene Fülle. Niemand bringt es über sich, das Mädchen zu berühren. Sie haben Angst, der schleichende Wahnsinn, die tiefe Leere, die hinter den leeren Augen des Mädchens lauern, könnten ansteckend sein. Haben Angst, sie könnten werden wie sie. Sie tun ihr weh, ich sehe es. Sie treten und schlagen und bespucken sie, ohne sie je zu berühren. Sie tun es mit Worten. Ich sehe in ihren Augen, dass es einmal eine Zeit gegeben hatte, in der sie versucht hatte, sich zu wehren. Sie solle die anderen einfach ignorieren, hatte man ihr gesagt. Sie hatte es versucht. Sie hatten nicht davon abgelassen. Es sei ihre Schuld, das müsse die Erklärung sein. Ihre Schuld – ihre Andersartigkeit. Die Art und Weise, auf die sie durch die Welt ging. Irgendwo, tief in sich, noch das kleine Kind, dem nichts wichtiger war, als zu lernen, Stunde für Stunde, jeden Tag ihres Lebens, neue Wunder zu entdecken. Die Ablehnung der anderen – und diese vier schicksalhaften Worte – Du bist schuld! - all das erstickte diesen Wissensdurst. Ich sehe sie. Sie ist sechzehn. Sie glaubt herausgefunden zu haben, was Liebe ist. Doch ob es so ist, das weiß sie nicht. Sie wagt schon lange nicht mehr, über ihre Gefühle zu sprechen. Denn alles, was sie tut, alles, was ihr widerfährt – es ist ihre Schuld. Wenn die Welt zerbricht, wird es ihre Schuld gewesen sein. Fragt man sie, wie es ihr geht, sagt sie gut. Fragt man sie, wie ihr Tag war, sagt sie: gut. Wie sollte sie es auch wagen, zu beichten? Sie kannte die Antwort auf alles, was ihr auf dem Herzen so schwer lastete, was ihren Lebensmut erdrückte, doch schon in- und auswendig. Sie war so einfach wie vernichtend: ihre Schuld. Das Mädchen verstummt. Sie verstummt, weil es nichts mehr zu sagen gibt. Weil es keine neuen Antworten gibt. Ihre Seele erstarrt, mit jeder Niederlage ein wenig mehr, bis sie irgendwann nichts mehr spüren kann. Sie versucht, den Panzer aufzubrechen. Sie trinkt. Trinkt, um ihre Zunge zu lockern und ihren Lippen den bitteren Zug zu nehmen, die sie über die Jahre angenommen haben. Sie raucht, raucht Kette, um diesen Hauch des Unheils, der sie zu umgeben scheint, diesen Gestank, den sie an sich zu riechen glaubt und der dafür verantwortlich sein muss, dass niemand sie berühren will, zu vertreiben. Und sie gibt sich Männern hin. Sie gibt sich hin, blind, gefühllos, herzlos. Sie tut es, um sich zu bestätigen, um zu spüren, dass es doch Menschen gibt, die sie berühren wollen, Menschen, die ihrerseits von ihr berührt werden wollen. Dem Mädchen wurde vernichtender Selbstekel antrainiert, über all die Jahre. Bis sie es irgendwann nicht mehr wagte, andere Menschen freiwillig zu berühren, aus

Angst, sie zu beschmutzen. Bis sie irgendwann Angst davor bekam, ihrerseits berührt zu werden – sahen diese Menschen denn nicht, wie schmutzig sie war? Doch sie schwieg. Es gab nichts zu sagen. Sie schwieg und gab sich hin und fühlte sich schrecklich. Irgendwann – das Mädchen war eine Frau geworden – begann sie sich, der menschlichen Rasse nicht mehr zugehörig zu fühlen. Fühlte sie sich wie eine Kreatur, die widernatürlich war, nicht sein sollte, stehengeblieben auf dem Weg zwischen Tier und Mensch. Ich fühle es heute noch; fühle es, während ich diese Zeilen schreibe. Das Gefühl, neben den anderen zu existieren – haargenau parallel zu ihnen zu leben. Ihre Sprache zu sprechen. Ihre Sprache zu verstehen – und doch niemals den Sinn dessen zu begreifen, was ich höre. Irgendwo, auf dem Weg von dem kleinen Mädchen zu der Frau, die nun hier sitzt, ging etwas verloren. Ich weiß nicht, was es ist. Ich weiß nicht, wo ich es verlor. Doch es fehlt. Es fehlt – und es ist meine Schuld. Wie alles.

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