Reisebericht Seidenstrasse - 2. Teil

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AUF DER SEIDENSTRASSE NACH HONGKONG

2. TEIL: P AKISTAN - CHINA

Eindrücke einer 5 1/2 monatigen Reise mit Bus, Bahn, Sammeltaxi und Schiff. Von der Türkei in den Iran und weiter über Pakistan nach China.

31. 8. - 12. 9. Rawalpindi – Kashgar Entlang des Karakorum-Highways über den Khunjerab Paß nach China

Um 23.00 Uhr besteige ich den Nachtbus nach Gilgit. Die Fahrt führt kurvenreich dem Indus entlang. Je weiter wir flußaufwärts kommen, desto kahler wird die Landschaft. Nach neunzehnstündiger Fahrt erreiche ich gleichzeitig mit einem Sandsturm Gilgit. Nach zwei Ruhetagen setze ich gemeinsam mit Klaus, einem Berliner, zum Sprung nach China an. Kashgar, die nächste größere Stadt, ist zwar nur rund 700 km entfernt, doch man muß dabei das KarakorumGebirge überqueren, dessen höchster Gipfel, der K2,

INDUS TAL

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8.611 m hoch ist. So ist mit einer Reisezeit von mindestens drei Tagen zu rechnen. Am ersten Tag kommen wir trotz Erdrutschen bis Sust, dem pakistanischen Grenzort. Dort akklimatisieren wir uns noch einen Tag, bevor wir den 4.730 m hohen Khunjerab-Paß in Angriff nehmen. Die Fahrt ist eigentlich nicht so spektakulär, wie ich es mir erwartet habe. Irgendwie fehlt mir das Höhenerlebnis. Die Straße ist gut ausgebaut und asphaltiert. Ei-

KARAKORUM HIGHWAY

nem Faltblatt entnehme ich, daß beim Bau des „8. Weltwunders“ 23 Millionen Kubikmeter Erde bewegt wurden, wobei rund 15.000 Mann 8.000 Tonnen Sprengstoff und 80.000 Tonnen Zement verarbeiteten. Mit anderen Worten: Stand irgendwo ein Berg im Weg, wurde er einfach weggeblasen. So ist der Karakorum-Highway auch das ganze Jahr über befahrbar. Beim Bau standen weniger touristische als militärische Aspekte im Vordergrund. Haben doch die beiden Staaten China und Pakistan die Sowjetunion als gemeinsames Feindbild, das eint. Es sind dann auch weniger grandiose Tiefblicke wie am Lowari-Paß sondern hochalpine Vegetation und Gletscher die faszinieren. Auf der Paßhöhe schieben einsam ein Pakistani und ein Chinese Wache.

Der pakistanische Soldat trägt eine gutsitzende, britisch angehauchte Uniform, der chinesische die typische „Schlapper-Dreß“, die wohl für den Durchschnittschinesen angepaßt wurde und folglich keinem wirklich paßt. In der klassenlosen Gesellschaft der Volksrepublik gab es damals auch noch keine militärischen Rangabzeichen, doch trotzdem konnte man an der Uniform Unterschiede erkennen: Saß sie ausnahmsweise wie angegossen, so war Vorsicht die Mutter der Porzellankiste. Man hatte es mit einem ganz hohen Tier zu tun. Von der Staatsgrenze dauert es dann noch rund eine Stunde bis Pirali, dem chinesischen Grenzort. Bei der Abfertigung lernen wir eine neue Variante des „Wie melke ich die Touristenkuh“-Spiels kennen: Zu unserer Erheiterung sollen wir für die Einreiseformulare

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Geld bezahlen. Das habe ich bisher noch an keiner Grenze erlebt. Folglich zahlen wir auch nicht. Nachdem ein Großteil seinen Obolus entrichtet hatte, bekommen auch wir die Formulare - kostenlos versteht sich. Die eineinhalbtägige Busfahrt nach Kashgar ist ziemlich nervenaufreibend. Machte mir bisher die halsbrecherische Fahrweise zu schaffen, so ist es in China gerade umgekehrt. Kaum läßt sich auch ein noch so minimales Gefälle erkennen, gibt der Fahrer den Gang raus, und wir rollen im Leerlauf dahin. Kein Wunder, daß wir bei so einer Fahrweise kaum 30 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit erreichen. Am zweiten Tag halten wir am Karakul See zum Mittagessen. Der See liegt malerisch zwischen zwei Siebentausendern, die sich im klaren Wasser spiegeln. Nachdem wir uns die Beine vertreten hatten, gehen wir mit knurrenden Mägen zum Restaurant. Die Tische sind fertig gedeckt, aus den Töpfen duftet es verführerisch. Eigentlich könnte es losgehen. Doch weit gefehlt! Zuerst müssen wir noch auf eine Tour-Group warten, die mit Private-Guide, Private-

KARAKUL SEE

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KASHGAR

Landcruiser und First-Class-Service durch die Lande rollt. So sitzen wir vor leeren Tellern und schauen ihnen interessiert beim Essen zu. Erst nachdem sie ihr Mahl beendet hatten, dürfen auch wir an die Kochtöpfe und uns den Bauch vollschlagen. - Man konnte ja im Vorhinein nicht wissen, wie groß der Appetit der Auserwählten sein wird. Kashgar ist für mich ziemlich enttäuschend. In allen Reiseführern wird der orientalische Flair dieser Stadt beschworen, für mich ist es aber schlicht und einfach eine chinesische Stadt mit breiten, sauberen Straßen und vielen Radfahrern in blauem Mao-Anzug. Einzig am Sonntagsmarkt ist ein bißchen orientalische Atmosphäre zu bemerken. Trotzdem kein Vergleich zu einem pakistanischen Bazar. Nach Pakistan wirkt der Markt ziemlich farblos und öd, irgendwie kommunistisch. Wahrscheinlich komme ich aber nur aus der falschen Richtung: Würde ich von „China“ kommen, sähe ich das wahrscheinlich ganz anders.

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SONNTAGSM ARKT

Eigentlich bin ich aber noch gar nicht so richtig in China: Unter China stelle ich mir Han-Chinesen vor, die 93% der Gesamtbevölkerung ausmachen. Nicht aber Uiguren, Kasachen, Kirgisen, Tadschiken oder andere Angehörige der fünfundfünfzig nationalen Minderheiten. In Xinjiang, so heißt die Provinz hier im Nordwesten von China, waren 1955 nur 10% der Bevölkerung Han-Chinesen. Mit dem Bau von Eisenbahnlinien und zunehmender Industrialisierung wurden aber immer mehr Han-Chinesen aus dem übervölkerten Osten des Landes in den „leeren“ Westen umgesiedelt, sodaß ihr Anteil auf 40% gestiegen ist. Trotzdem stellen auch heute noch die mit den Türken verwandten Uiguren die größte Bevölkerungsgruppe. Beim Einkaufen verwende ich immer türkische Zahlen und die Uiguren verstehen mich dabei prächtig. Also kein Wunder, daß es ziemlich lange dauert, bis ich etwas Einkaufs-Chinesisch erlerne, wenn ich mich so mit den Einheimischen besser verstehe.

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Ein Kaufhaus ist die erste „Sehenswürdigkeit“, die ich in Kashgar besichtige. Es ist ein ziemlich auffälliger aber geschmack-loser Bau, der sich als Orientierungspunkt hervorragend eignet. Das Warenangebot ist nicht besonders reichhaltig, vor allem in den oberen Stockwerken wird es immer leerer. Ziemlich lästig ist auch, daß in China die Marken von Stadt zu Stadt vollkommen wechseln. Hat man an einem Ort zum Beispiel Kekse entdeckt, die schmecken, so kann man mit nahezu 100%iger Sicherheit annehmen, daß es sie in der nächsten Stadt schon nicht mehr gibt. So gehört es dann auch zur Reiseroutine, nach Ankunft in einer neuen Stadt „Shopping“ zu gehen und zu erkunden, ob auch hier ein bereits bekanntes Pro-

dukt erhältlich ist. Sollte das nicht der Fall sein, muß man sich erneut durchkosten. Am Anfang hatte ich auch Probleme mit den Verkäuferinnen. Ist es bei uns in Geschäften mit Bedienung eher üblich, daß man vom Verkaufspersonal angesprochen wird, so würde man in China bis zum jüngsten Tag warten. Da muß man sich schon deutlich bemerkbar machen und sich nötigenfalls eine Verkäuferin „suchen“, damit man zu seinen Sachen kommt. Von solchen „Strapazen“ kann man sich in Kashgar im „Oasis-Cafe“ bei „apple pie“ oder „apricots-nutbread“ und. einer Tasse Kaffee entspannen. Man sitzt in Korbstühlen unter einer verglasten Veranda, im Hintergrund spielt dezent westliche Musik. Am Abend speist man dann ungeheuer dekadent Kebab mit Pommes Frites und Gemüse, zur Abrundung eine Fla-

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AB AKH HOJ A M AUSOLEUM

sche Rotwein und als Dessert Fruchtjoghurt. - Ab und zu braucht man etwas Luxus, damit später die Niederungen des chinesischen Alltags wieder leichter zu ertragen sind. Am Abend des 12. Septembers herrscht restlose Verwirrung in der TravellerKolonie des Seman-Hotels, der alten russischen Botschaft in Kashgar. Irgendwer hat das Gerücht aufgebracht, daß morgen die Sommerzeit zu Ende gehe. Eine Gegenprüfung mit dem Reiseführer, der wahnsinnig kompliziert vom ersten Sonntag der zweiten zehn Tage des Septembers spricht, ergibt, daß da etwas Wahres dran sein könnte. Da den meisten ja nicht so klar ist, ob denn jetzt die Uhren vor oder zurückgestellt werden müssen, werden die gewagtesten geographischen Hypothesen aufgestellt und wieder verworfen. Einer fängt sogar irgend etwas von „Xinjiang-Time“ zu faseln an, die ohnehin zwei Stunden gegenüber der landesweit gültigen Beijing-Zeit zurück sei - und wir haben natürlich für morgen 8.00 Uhr einen Bus nach Turfan gebucht.

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13. 9. - 1. 10. Kashgar – Lanzhou Durch die Wüste Taklamakan zum Gelben Fluß; von den nationalen Minderheiten ins Herzland der HanChinesen

Pünktlich um 8.00 Uhr Beijing-Winterzeit sind wir am Busbahnhof. Unser Gepäck wird auf dem Dach des Busses verstaut und dann warten wir. Stunde um Stunde. Leute steigen ein, steigen wieder aus, wieder ein, werden hinausgeworfen, kommen wieder, werden erneut hinausgeworfen, weigern sich, versuchen die Schaffner zu überreden, geben ihnen etwas Geld, erneuter Hinauswurf, ... Gegen zwölf wird es der Busbesatzung zu bunt - der

höchste Polizist des Busbahnhofs wird die Lage persönlich regeln. Er kontrolliert die Reisedokumente und setzt ungefähr die Hälfte der Passagiere wieder an die frische Luft. Die warten bis der Polizist verschwunden ist und entern erneut das Gefährt, bis ein Schaffner den Eingang blockiert. Nach vier Stunden Wartezeit fahren wir endlich ab. Wir kommen aber nicht weit: Zwei Ecken nach dem Busbahnhof halten wir erneut, um den Rest der Passa-

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giere, die zuvor hinausgeworfen wurden, wieder an Bord zu nehmen. Nun kann es endlich losgehen. 1.500 km in dreieinhalb Tagen - das müßte eigentlich zu schaffen sein. Gefahren wird nur während des Tages, die Nächte verbringen wir in Hotels. Die Reise führt durch die Wüste Taklamakan. Rechts vom schmalen Teerband erheben sich „Mondhügel“, felsig und kaum bewachsen, linkerhand eine bis zum Horizont reichende Felsebene. Unterbrochen wird diese Einöde nur von einer Handvoll Oasen, die über kunstvolle Bewässerungssysteme mit kostbarem Naß versorgt werden. Kurz hinter Aksu, am Morgen des zweiten Tages, haben wir einen Unfall. Völlig unvermutet schert plötz-

Y ARK AND

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lich ein Fahrzeug aus einer stehenden Kolonne von Militär-LKWs aus. Unser Fahrer kann den Bus im letzten Moment noch etwas verreißen. Trotzdem erwischt uns der „Dong Hong“ (Der Osten ist rot) an der rechten Seite und beschädigt die Verkleidung und den Hinterreifen. Fünf Stunden dauert es, bis die Polizei eintrifft und die Schadensverhandlungen beginnen können. Es wird ein Tribunal bestehend aus Soldaten, Polizisten und Buspassagieren gebildet. Die beiden Fahrer werden verhört, Zeugen befragt und dann wird ein Urteil gefällt: Es ist typisch chinesisch, nämlich ein Kompromiß. Die beschädigte Seitenbeplankung des Busses geht zu Lasten der Busbesatzung, der kaputte Reifen wird vom Militär ausgetauscht. Am frühen Nachmittag kann die Fahrt dann wieder fortgesetzt werden.

GAOCH ANG

Gegen Abend des dritten Tages erreichen wir das Becken von Turfan. Von rund 1.500 m windet sich die Straße bis unter den Meeresspiegel: Mit -154 m ist die Turfan-Senke das zweittiefste Depressionsgebiet der Erde. Im Sommer werden hier Temperaturen von bis zu +48 Grad im Schatten gemessen, im Winter kann das Thermometer auf -28 Grad fallen. Jetzt, Mitte September, läßt es sich aber ganz gut aushalten, vor allem unter den schattigen „Traubendächern“ des Turfan Binguans. Weniger erfreulich ist dagegen die Dame an der Rezeption: Sie ist extrem „amtlich“ und schikaniert uns, wo es ihr nur möglich ist. Das führt dazu, daß sie in Genuß unseres Erziehungsprogramms kommt. Obwohl wir innerlich kochen, lassen wir uns nichts anmerken; nur nicht das „Gesicht“ verlieren. Lautstark

Protestieren bringt in China wenig. Die traditionelle Auffassung ist, daß nur Kleinkinder nicht Herr ihrer Gefühle sind. Wer schreit und tobt gesteht seine Schwäche offen ein und verdient daher nicht die geringste Beachtung. Am nächsten Tag erscheine ich an der Rezeption: „Guten Tag, ich möchte für eine weitere Nacht bezahlen.“ - „Wieviel Personen?“ - „Wieso? Ich alleine, eine Person für eine Nacht.“ - „Und der Freund?“ - „Keine Ahnung, tut mir leid.“ Fünf Minuten später zahlt Klaus. Wieder Heraussuchen der Zimmernummer, eintragen und Quittung schreiben. - Sie wird auf uns aufmerksam. Am nächsten Tag das gleiche Spiel. - Sie wird freundlicher. Das muß belohnt werden: Am dritten Tag tau-

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BEZELIK HÖHLEN

chen wir schon zu zweit auf und zahlen gemeinsam. Sie hat verstanden. Als wir am vierten Tag gemeinsam für ganze zwei Nächte bezahlen, lächelt sie das erste Mal. Gemeinsam mit einer Gruppe Hongkong-Chinesen chartern wir einen Minibus, der uns zu den Sehenswürdigkeiten der Umgebung bringt. Sie sind ziemlich enttäuschend: Die besten Stücke wurden vor dem Ersten Weltkrieg von Europäern und Japanern außer Lande geschafft und fielen dort teilweise den Bomben des Zweiten Weltkriegs zum Opfer. Der in China verbliebene Rest wurde großteils während der Kulturrevolution zerstört. Heute wird mühsam versucht, die letzten Relikte zu renovieren. Wirklich Beeindruckendes ist aber kaum darunter.

DUNHUANG

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Erheiternder ist da schon eine Traubenplantage, die wohl auch zum offiziellen Besuchsprogramm zählt. Die Traubenstöcke sind viel zu eng gesetzt, und man läßt sie ohne Pflege wuchern. Die qualitativ minderwertigen Produkte werden dann zu horrenden Preisen an Besucher verkauft. Als Abschluß der Rundfahrt will uns der chinesische Fahrer noch in eine Moschee von Turfan zerren - mitten zur Gebetszeit! Auch wenn nur eine Handvoll Gläubige ihre Gebete verrichten, so wollen wir doch nicht stören. Auf der Fahrt von Turfan nach Dunhuang schließe ich das erste Mal mit der chinesischen Eisenbahn Bekanntschaft. Mit einer halben Stunde Verspätung kommt der „Fast Train 144“ in Daheyan an. Wir müs-

sen uns alle in einer langen Reihe aufstellen, dann wir das Gitter zum Bahnsteig geöffnet. Der Zug kommt aus dem 140 km westlich gelegenen Urumqi und ist bereits zu 180 % voll. Wir bleiben gleich bei der Türe stecken. Die Sitzbänke und der Gang sind voll belegt, Expeditionen mit Gepäck sind daher auf keinen Fall möglich. Der einzige Platz, wo man sich noch auf den Boden sitzen kann, ist vor dem Klo. - Schöne Aussichten für die nächsten fünfzehn Stunden. Nach zwei Stunden wechseln wir in den leereren Hardsleeper-Gang über. Das dürften wir zwar mit unseren Hardseat-Tickets nicht, aber egal, endlich wieder einmal die Beine ausstrecken können. Gegen Abend hat sich das Buffet-Wägelchen bis zu uns durchge-

kämpft und wir erstehen für € 0,40 eine Reisbox, unser Abendessen. Als wir mit dem Essen fertig sind und gerade ein „Verdauungsbierchen“ trinken, kommt die Hardsleeper-Schaffnerin und vertreibt uns von dem gemütlichen Platz. So bleibt uns nichts anderes übrig, als wieder vor die Toilette zu ziehen. An Schlafen ist natürlich nicht zu denken. Um 6.30 Uhr in der Früh kommt wieder Bewegung in die Reisenden. In langen Schlangen quetschen sie sich an uns vorbei zum Hardsleeper, wo es normalerweise heißes Wasser für den Morgentee gibt. Nur heute ist die Tür noch verschlossen, sodaß die ganze Meute uns beim Zurückgehen erneut auf die Füße trampelt. Als der Menschenstrom nicht abreißt, denken wir zuerst, daß es an einem Informationsdefizit liege und er-

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klären jedem, daß es heute noch kein heißes Wasser gebe. Doch wir haben unsere Rechnung ohne die Chinesen gemacht: Auch wenn der Vordermann vergeblich an der Tür rüttelt und zurückkehrt, muß jeder noch einmal selbst daran rütteln, bevor auch er es glaubt. Manche „Spezialisten“ stellen sich gleich zwei, dreimal hinten an, um wieder persönlich an der verschlossenen Tür zu ziehen. Beim zweihundertsten Paar Füße, das uns auf die Zehen tritt, werden unsere Spekulationen über dieses Verhalten immer bösartiger. Bevor wir den letzten Rest unserer Beherrschung verlieren, kommt Gott sei Dank der Zielbahnhof. Die Mogao-Grotten in der Nähe von Dunhuang sind wirklich sehr sehenswert. Seit 353 n. Chr. haben buddhistische Mönche an die fünfhundert Höhlen aus dem Gestein gekratzt und mit Malereien verziert. Weniger erfreulich ist dagegen, daß die Gemälde nur unzureichend geschützt sind und durch Frischluft, Licht und viele Besucher langsam aber sicher zerfallen. Ein Franzose bemerkt, daß uns zwar die größten, höchsten und ältesten Höhlen gezeigt werden, aber an Grotten, die in seinem Guide Bleue als interessan-

JI AY U G U AN

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ter oder qualitativ höherwertiger beschrieben werden, vorbeigegangen wird. Als er die Führerin darauf anspricht, will sie uns für € 15,50 zusätzlich auch andere Höhlen zeigen. Da wir aber nicht wollen, daß nur diejenigen interessante Grotten sehen, die auch bereit sind, dafür entsprechend zu zahlen, lehnen wir ab. In Jiayuguan, dem nächsten Stop auf unserer Reise, sehen wir, wie China den Aufbau des Tourismus fördert: In der Nähe der Stadt befindet sich das westliche Ende der rund 10.000 km langen Großen Mauer. Dieses gigantische, angeblich auch noch vom Mond sichtbare Bauwerk, schützte das Reich der Mitte vor Angriffen aus dem Norden. Heute ist die Große Mauer fixer Bestandteil des chinesischen Tourismus-Marketings. So wird in Jiayuguan

ein aus der Ming-Dynastie stammendes Fort renoviert und kräftig erweitert. In ein paar Jahren wird dort eine sehr statthafte Befestigungsanlage zu bewundern sein. Am Markt von Jiayuguan entdecken wir Wurst, eine absolute Rarität in Asien. Klar, daß wir sofort zuschlagen. So veranstalten wir im Hotelzimmer eine original chinesisch-bayerische Brotzeit. Die Wurst ist sehr fett, das Brot wohl ungesäuert, jedenfalls hat es einen absolut neutralen Geschmack, und auch das Bier schmeckt etwas anders - aber was hat das für eine Bedeutung nach Monaten des Verzichts? 3.45 Uhr - Piep, piep, piep! Der Wecker läutet. Aufstehen! Alles ist noch dunkel. Eigentlich ist es ein Wahnsinn, in China längere Strecken mit dem Bus zu fahren, wenn es auch eine Eisenbahnlinie gibt. Doch nach

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NACHTM ARKT

unseren Erfahrungen mit dem Zug zwischen Turfan und Dunhuang nehmen wir für die knapp 800 km bis Lanzhou den Bus. Mit einer Fahrtzeit von siebzehn Stunden ist er ungewöhnlicherweise sogar schneller als der Zug, außerdem kauft man mit dem Busticket auch einen reservierten Sitzplatz - in Asien ein unschätzbarer Vorteil. Lanzhou ist eine riesige Industriestadt mit über zwei Millionen Einwohner, die sich 35 km entlang des Gelben Flusses erstreckt. Touristische Sehenswürdigkeiten gibt es wenige, dafür aber gastronomische - und was für welche! Es ist schon 19.00 Uhr, fast hätten wir die in Nordchina relativ strikten Essenszeiten verpaßt. Schnell springen wir in einen Bus Richtung Bahnhof, jeder sucht eine Straßenseite nach Restaurants ab. Schließlich finden wir eine Gaststätte, die uns zusagt. Mit dem Sprachführer, der um diverse Schmankerl bereichert wurde, versuchen wir zu bestellen. Da uns die zusätzlichen Eintragungen im Buch als

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M AI JI SH AN

Gourmets und Gourmands entlarven, bietet uns die Serviererin Ente an. Nach verschiedenen Gerichten zum Aufwärmen kommt als Höhepunkt die Ente. Von der Beize ist ihr Fleisch ganz dunkelrot geworden, dazu eine traumhafte Sauce - es schmeckt einfach himmlisch. Auch wenn das Essen mit € 5,15 für chinesische Begriffe sündhaft teuer war, ist es jeden Groschen wert. Ein Eßerlebnis ganz anderer Art haben wir in Tianshui, einem kleinen Ort zwischen Lanzhou und Xian. Da die Kellnerin anscheinend nicht lesen kann, deuten wir auf vier Gerichte am Nachbartisch und bestellen sie. Darauf kommt die Serviererin nochmals an unseren Tisch, um uns darauf hinzuweisen, daß das Essen rund € 4,50 kosten wird und erkundigt sich nochmals, ob wir es wirklich bestellen wollen. Jetzt sind wir neu-

gierig geworden und sagen selbstverständlich „shi“, ja. Nach kurzer Zeit bekommen wir vier sehr exotische Gerichte, von denen wir nur eines sicher identifizieren können: Shrimps ist klar, bei dem zweiten dürfte es sich um irgendeine Schlange handeln, das dritte und vierte sind aber völlig unbekannt, obwohl sie nicht schlecht schmecken. Auch ein englischsprachiger Chinese, der uns lächelnd guten Appetit wünscht, fragt, ob es uns denn schmecke. Doch auch er will uns nicht sagen, um was es sich handelt.

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2. 10. - 18. 10. Lanzhou - Beijing Vorbei an den Tonarmeen von Xian zur Hauptstadt des Reichs der Mitte

In Xian, der alten Kaiserstadt der Han-Dynastie, zweifeln wir fast schon an unserem Verstand. Entweder sind wir bereits vollkommen träge und abgestumpft, oder unsere Zimmergenossen totale Hektiker. Ein Amerikaner, der ebenfalls seit vier Wochen in China ist, erzählt uns ganz gestreßt über die Transportprobleme in diesem Land. Hardsleeper (Liegewagen) seien praktisch unmöglich zu bekommen, sodaß er nur mehr in teuren Softsleepern (Schlafwagen) unterwegs sei, oder gar das Flugzeug nehme. Trotzdem sei es oft

XI AN

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unmöglich, bei der staatlichen Touristen-Organisation CITS passende Tickets zu bekommen. Auch ein Schweizer verrät uns, daß er nur ruhig schlafen könne, wenn bereits der Weitertransport aus einer Stadt geregelt sei. Das führt dazu, daß er mit Fieber und Grippe die einundzwanzigstündige HardseatBahnfahrt nach Beijing antritt. Wir dagegen sind in bester Stimmung. Transportprobleme gibt es natürlich, doch alles ist mit etwas Know-

BANPO

how lösbar. So gehen wir beispielsweise nie zu CITS, weil die staatliche Touristenorganisation nicht auf Einzelreisende eingestellt ist und trotz teurer Gebühren keine brauchbaren Problemlösungen anbietet. Fahrkarten kaufen wir immer direkt am Bahnhof, wobei wir meistens ein Kärtchen mit Zielort, Datum, Abfahrtszeit, Zugnummer und Wagenklasse vorbereiten. So können wir uns immer verständlich machen und selbst bei den Ausländerschaltern, wo die Beamten eigentlich Englisch sprechen sollten, geht es schneller und problemloser. Daß oft keine Hardsleeper erhältlich sind, stellt auch kein unüberwindbar es Hindernis dar. Mit einem reservierten Sitzplatz sind Strecken bis zu zwanzig Stunden auch im Hardseat zu überwinden, wenn man nachher einen Tag Zeit hat, sich wieder zu erholen. Sind die Strecken wesentlich länger, muß man eben gegebenenfalls auf ein Hardsleeper-Ticket warten oder man zerlegt die gesamte Strecke in Teiletappen. So fährt man jeden Tag zehn Stunden, übernachtet in einem Hotel und steigt am nächsten Tag wieder aus-geschlafen in den Zug ein.

TERRACOTTA ARMEE

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- Alles kein Problem, wenn man genügend Zeit hat, Wer aber glaubt, in Rekordzeit durch China hasten zu müssen, ist besser beraten, sich einer organisierten Reisegruppe anzuschließen. Das Zugticket Xian - Beijing lassen wir uns von einem Einheimischen kaufen. Er verlangt für ein Chinesen-Ticket zwar den doppelten Preis, aber es ist noch immer um die Hälfte billiger als ein Touristen-Ticket. Ausländern wird nämlich für Fahrkarten ein Zuschlag von 75 % berechnet und sie müssen mit FEC, „Foreign Exchange Certificates“, bezahlen. So versuchen wir, nach Möglichkeit diesem Aufpreis zu entgehen und besorgen uns die Tickets am Schwarzmarkt oder zeigen beim Kauf den internationalen Studentenausweis vor. Die ISIC-Karte ist zwar in der Volksrepublik China gar nicht gültig, hat aber trotzdem auf der Rückseite eine chinesische Übersetzung. So können wir, wie ausländische Studenten in China, die aber einen eigenen Ausweis haben, in 50 % der Fälle mit Volksgeld, Renminbi, bezahlen. Wenn das nicht klappt, nehmen wir das auch nicht weiter tragisch, denn die Preise sind für un-

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BEIJING

sere Verhältnisse noch immer sehr niedrig. Trotzdem empfinden die meisten China-Reisenden diesen Touristenaufschlag als ungerecht. Ein Großteil würde ihn sofort akzeptieren, wenn ein Gegenwert dafür geboten würde: Gäbe es zum Beispiel eine genügend große „TouristQuota“ an Hardsleeper-Plätzen, wären viele gerne bereit, dafür auch mehr zu bezahlen. In Beijing steigen wir im Qiao-Yuan-Hotel ab. Es ist eines der wenigen Hotels in der Hauptstadt, wo auch Ausländer zu einigermaßen zivilen Preisen übernachten dürfen. Wir haben das Pech, daß heute Nachmittag wieder eine Transsib-Ladung Langnasen angekommen sind, sodaß wir um 22.00 Uhr die aussichtsreichen Plätze 78 und 79 auf der Warteliste einnehmen. „Servus, dich kenne ich ja von wo.“ - Ja richtig, das ist ja Sigi, der Vorarlberger, den ich in Istanbul getroffen habe. Das gibt es ja nicht! Jetzt hat jeder von uns Asien von West nach Ost durchquert und nach drei Monaten treffen wir uns

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K AI SER P AL AS T

wieder auf der anderen Seite des Kontinents. Das muß natürlich ausgiebig gefeiert werden. So gegen Mitternacht sprechen wir nochmals bei der Rezeption vor: Zimmer gibt es natürlich keine, dafür sollen wir € 1,30 bezahlen, damit wir auf dem Fußboden schlafen dürfen. Da spielen wir aber nicht mit und beschlagnahmen die Sofa in der Eingangshalle. Am nächsten Tag zählen wir dafür zu den ersten, die ein Zimmer bekommen. Um uns zu ärgern bekommen wir kein Bett im Schlafsaal, sondern müssen ein teureres Doppelzimmer nehmen. Als wir das Zimmer beziehen, stellt sich heraus, daß es sich um ein Dreibettzimmer handelt. So suchen wir uns noch einen „Untermieter“, sodaß wir für € 0,80 pro Person mehr statt in einem VierzigBetten-Saal in einem Dreibettzimmer wohnen. Beijing ist für mich auch Postplatz. Möglichkeit, Briefe abzuholen und sich über die Ereignisse daheim zu informieren. Da ich in anderen Landesteilen be-

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obachtet habe, wie Leute stundenlang auf ein Telefongespräch ins Ausland warteten und dann doch nicht durchkamen, nütze ich die Möglichkeit, problemlos nach Hause zu telefonieren. Etwas verblüfft bin ich aber, als mich die freundliche Postbeamtin bittet, umgerechnet € 25,80 Kaution zu hinterlegen. „Glauben Sie denn, daß ich das Telefon mitgehen lasse?“ Ich krame in allen Taschen nach Geld, aber mehr als € 19,20 wollen es nicht werden. Es scheint aber zu genügen, denn innerhalb einer Minute ist die Verbindung hergestellt. Ein Kapitel für sich sind unsere Versuche, in Beijing Peking-Ente zu essen. Bereits am zweiten Tag probieren wir es in einem Restaurant westlich der Wangfujing Dajie. Doch leider ist es voll. Am nächsten Tag sind wir schon früher dort, doch man will uns von der billigen Chinesen-Etage ins teure AusländerStockwerk drängen. Am fünften Tag probieren wir es erneut - wieder ein Fehlschlag. Beim vierten Anlauf klappt es dann. Nach einer Woche wissen wir auch, wie man die Ente ißt: Man wickelt etwas Lauch und ein Stück Ente in eine

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HOTELZIMMER

Omelette und taucht sie, je nach Geschmack, in eine Sauce. So bekommt man auch das fetteste Stück problemlos hinunter. Natürlich hätten wir für € 4,70 auch eine vom Hotel organisierte Tour zur Großen Mauer machen können. Aber Geiz und Abenteuerlust führen dazu, daß wir mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Badaling fahren. Bis Changping geht es problemlos, doch dann spießt es sich. Wir sind wieder einmal viel zu spät aufgebrochen und verpassen somit den letzten Anschlußbus nach Badaling. Doch zusammen mit einer „Hongkongi“, zwei Amerikanern und einem Neuseeländer versuchen wir, per Anhalter weiterzukommen. Zu unserer Überraschung stopt ein Bus, der von drei „Dollar-Touristen“ gechartert wurde. Auf einer autobahnähnlichen Straße, die, wie uns der Dolmetscher versichert, extra für die Königin von England gebaut wurde, als sie die Mauer besuchte, geht es flott Richtung Badaling.

„PEKING ENTE“

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HIMMELSTEMPEL

Dort steigen zuerst der Dolmetscher und die drei amerikanischen Touristen aus, dann wollen wir das Fahrzeug verlassen. Jetzt versperrt aber der Fahrer die Tür. Der Grund: Jeder von uns soll für die Fahrt € 1,05 bezahlen. Da das aber nicht ausgemacht war, wollen wir auch nicht zahlen. Außerdem, wenn überhaupt, dann zahlen wir nicht an den Chauffeur sondern an die drei Touristen, die ja den gesamten Bus gemietet haben. Der Fahrer bleibt aber hart. So steigen die Ersten durchs Fenster aus. Dabei kommt es zu einem Handgemenge. Ein Riesenstreit entspinnt sich zwischen dem Chauffeur und Dick, einem Amerikaner, der Mandarin spricht. - Wir erregen auf dem Parkplatz bereits Aufsehen. Immer mehr Schaulustige sammeln sich, bald kommt der erste Polizist. Wir erzählen ihm was los ist, worauf er den Chef des Büros für öffentliche Sicherheit in Badaling holt. Dieser hört sich die gegensätzlichen Standpunkte nochmals an und verhaftet kurzerhand den chinesischsprechenden Amerikaner. Wir anderen dürften in der Zwischenzeit die Große Mauer besichtigen. So nicht! Einen aus der Gruppe

LAM ATEMPEL

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GROSSE M AUER

herausholen und weichklopfen - aber nicht mit uns. Wir erklären dem verdudzten Polizeichef, daß wir alle mitkommen. So werden wir gemeinsam in Haft genommen. Nach einer Stunde kommt der Fahrer mit dem Dolmetscher. Wir bekräftigen erneut unseren Standpunkt und verlangen, daß auch einer der Touristen kommt. Langes Hin und Her, wobei die Chinesen sich darauf versteifen, daß das zusätzliche Geld nach chinesischem Recht dem Fahrer gehöre. Schließlich bieten sie uns einen Kompromiß an: Jeder von uns braucht nur € 0,40 bezahlen, was wir letztendlich zähneknirschend auch annehmen. Zum Abschluß gibt es für die Hongkong-Chinesin noch eine lange Schelte, daß sie sich mit uns Westlern einlasse. So kommen wir erst gegen Abend zur Besichtigung der Großen Mauer, was den Vorteil hat, daß kaum noch Touristen hier sind.

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2. 10. - 27. 10. Beijing – Shanghai Über Qingdao, der ehemals deutschen Kolonie, nach Shanghai, dem wirtschaftlichen Zentrum von China

Nach zwei Stunden im luxuriösen AusländerWartesaal des Beijinger Hauptbahnhofs, besteigen wir den Zug nach Qingdao. Im Zug herrscht eine entspannte Stimmung: Ferienlaune. Hier gerät sogar unser „Weltbild“ etwas ins Wanken: Kein Chinese, der auf den Boden spuckt oder rotzt - alles außerordentlich „zivilisiert“, fast schon wieder langweilig. Kurz vor der Ankunft werden wir via Lautsprecher nochmals über die Schönheiten von Qingdao aufgeklärt, beim zweiten Durchgang sogar in Englisch. Die

Stadt war bis zum Ersten Weltkrieg eine deutsche Kolonie. 1898 erzwang Deutschland für „Kiautschou“ einen Pachtvertrag über 99 Jahre. Willkommener Anlaß dafür war die Ermordung zweier deutscher Missionare in der umliegenden Provinz Shandong. Die chinesische Regierung verzichtete ohne Gegenleistung auf die Hoheitsrechte über die „Grüne Insel“, brauchte aber nach Ablauf der Pacht auch keinen Ersatz für die deutschen Aufwendungen zu leisten. Eisenbahnen wurden gebaut, Bergwerke, ein großer Ha-

CHI N A R AI LW AY TI M ET AB LE

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QINGDAO

fen mit einer Werft, Krankenhäuser, Volksschulen und sogar eine Hochschule. 1914 wurde das Gastspiel durch den Einmarsch japanischer Truppen abrupt beendet. Fast 75 Jahre später sind wir natürlich gespannt, was noch geblieben ist. Heute ist Qingdao eine moderne Industriestadt mit eineinhalb Millionen Einwohner. Wenn man aber, was nicht schwer fällt, die Vorstädte vergißt und nur das Zentrum sieht, ist es tatsächlich noch so etwas wie ein „Klein-Deutschland“ an den Küsten der Ostchinesischen See. Im Gegensatz zu vielen modernen chinesischen Städten, die vollkommen eben und im Rasterprinzip erbaut wurden, erstreckt sich Qingdao über mehrere Hügel, die Straßen sind geschwungen, eine fast wohltuende Anarchie. Mehrstöckige Gebäude mit roten Ziegeldächern und kleinen Vorgärten, Häuser mit Fachwerk und Säulenaufbauten. Selbst bei den neuen Bauten versucht man mit wechselndem Erfolg diesen „Kolonialstil“ zu imitieren.

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Geblieben ist auch deutsche Brau- und Winzerkunst. Aus Qingdao kommen die wohl gelungensten geistigen Erzeugnisse von ganz China. Gutes „TsingtaoBeer“, abgefüllt in Alu-Dosen, gibt es im ganzen Land zu kaufen. In Qingdao bekommt man es sogar in der üblichen, billigen 0,64-l-Flasche. „Tsingtao Riesling“, so steht es auf der Flasche, ist nicht so leicht zu finden. Kein Wunder, ist er doch der beste Wein von China und mit € 1,85 für chinesische Begriffe sauteuer. Außerdem ist die Flasche für Chinesen wohl auch gar nicht so einfach zu öffnen: Statt mit dem üblichen Schraubverschluß ist sie, wie alle für Langnasen trinkbaren Weine, mit einem Korken verschlossen - und beim chinesischen Schweizer Messer fehlt der Korkenzieher. Nach drei Tagen verlassen wir die alte deutsche Hafenstadt Richtung Shanghai - natürlich stilgerecht mit einem Schiff. Sechsundzwanzig Stunden kreuzen wir in einem 5.000-Tonner durch das Ostchinesische Meer. Unser Dritte-KlasseTicket bringt uns in eine Vierbett-Innenkabine. Nicht die schlechteste Art zu reisen: Man kann in der Koje liegen, lesen, einen Schiffsrundgang machen, sich

QINGDAO - SH ANGAI

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H AFE N V ON SH AN G H AI

die Fuße vertreten oder das Meer beobachten. Für unser Wohlergehen ist „Attendant No. 45“, eine junge, freundliche Chinesin, zuständig. Wir werden zum Essen abgeholt, dürfen wie die Passagiere der höheren Klassen vor dem allgemeinen „rush“ speisen und können uns mit allen Wünschen an sie wenden. Keine Frage, daß die Beurteilung, die wir in ein kleines Büchlein eintragen dürfen, sehr positiv ausfällt. Eineinhalb Stunden fahren wir die Mündung des Yangtsekiangs, des längsten Stromes Asiens, flußaufwärts Richtung Shanghai. Das Wasser ist ziemlich dreckig. Kein Wunder, lassen doch fast zwölf Millionen Einwohner Shanghais und unzählige Industrien ihren Dreck ungeklärt in den Fluß. € 5,15 kostet das Bett inklusive Frühstück im Pujiang-Hotel, dem früheren Astor. Damit ist es mein teuerstes Zimmer in ganz China. Als wir am nächsten Morgen beim obligaten Frühstück sitzen, muß ein Einheimischer € 1,50 für eine Tasse Kaffee, ein Spiegelei und zwei Scheiben Toast mit Marmelade bezah-

SH AN GH AI - O S AK A

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PUJI ANG HOTEL

len. Leider steigt uns der Angestellte an der Rezeption nicht darauf ein, für eine Übernachtung ohne Frühstück nur € 3,65 zu verlangen. Mit fast zwölf Millionen Einwohnern zählt Shanghai zu den größten Städten der Erde und wer einmal am Sonntag das Gedränge in der Nanjing Donglu erlebt hat, wird dem ohne Zögern zustimmen. In den Kaufhäusern der „Golden Mile“ Chinas Wirtschaft gibt es eine Auswahl chinesischer Produkte, wie sie nicht einmal in Beijing oder Guangzhou erhältlich ist. Eine gute chinesische Daunenjacke kostet hier zum Beispiel rund € 15,40. Sogar chinesisches „Nutella“, das ich sonst nirgendwo gesehen habe, kann man in den Lebensmitteltempeln der Nanjing Donglu kaufen. Als alter Schokoladecreme-Freak habe ich natürlich sofort zugeschlagen. Vielleicht hätte die Creme besser doch von der Ölmühle Nr. l als von der „Oilmill No. 4“ hergestellt werden sollen, denn es bleibt ein leicht öliger Nachgeschmack. Trotzdem schmeckt sie ganz gut im Vergleich zu dem, was sonst alles in China als Schokolade verkauft wird.

MARKENW ARE

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NANJING DONGLU

30 % der Industrieproduktion Chinas wird in Shanghai hergestellt. Da die Stadt gleichzeitig auch Chinas wichtigster Hafen ist, ist sie so etwas wie die heimliche Hauptstadt der Volksrepublik. Beijing wirkte auf mich etwas grau und verwaschen, bereits seit Jahrhunderten eine Besamtenhochburg. Shanghai dagegen ist weltoffener, ohne aber dabei die chinesische Identität zu verkaufen wie Guangzhou, das eine Kopie von Hongkong zu werden versucht, ohne Chance, das Original jemals zu erreichen. Im Frendship Store (Freundschaftsladen), wo man für Touristengeld (FEC) westliche Produkte oder chinesische Produkte in Export-Qualität oder auch nur Produkte, die in normalen Läden Mangelware bzw. überhaupt nicht erhältlich sind, kaufen kann, erhalten wir eine Lektion, wie die chinesische Wirtschaft die offizielle eins zu eins Parität von FEC und Renminbi (RMB, Volksgeld) einschätzt. Da Klaus neue Turnschuhe braucht, interessiert er sich für Nike-Sportschuhe, die der amerikanische Hersteller in China produzieren läßt. „96 Yuan“ meint

BUND

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die Verkäuferin, als er sie probiert. Da auf dem Preisschild irgend etwas von Yuan Renminbi steht, will Klaus auch mit Renminbi bezahlen. „No, FEC“ korrigiert die Verkäuferin. „Da steht aber etwas von Renminbi“, wirft Klaus ein. Sie lächelt: „36 FEC und 60 RMB“ – umgerechnet € 17,- für einen RindslederSportstiefel. Später in Guangzhou sehen wir den gleichen Schuh im Friendship-Store für FEC 64,–, was ungefähr dem Gleichen entspricht. So rechnet also auch die chinesische Wirtschaft den FEC mit zwei Yuan RMB, ungefähr der Kurs, den man auch auf der Straße beim illegalen Schwarztausch erhält.

PEACE HOTEL

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REISEROUTE

Route: Salzburg - Istanbul - Kappadokien - Nemrut Dag - Van See - Dogubayazit - Teheran - Quetta Rawalpindi - Chitral - Gilgit - Kashgar - Turfan - Dunhuang - Jiayuguan - Lanzhou - Tianshui - Xian Peking - Qingdao - Shanghai - Suzhou - Hangzhou Kanton - Hongkong - Macao - Yangshuo - Hainan

Was soll ich mir anschauen? Auf diese Frage eine allgemein verbindliche Antwort zu geben ist natürlich unmöglich. Jeder hat da seine persönlichen Vorlieben. Am besten Ihr kauft einen guten Reiseführer, zeichnet die interessanten Orte auf einer Karte ein, verbindet die Orte und, voilà!, Eure persönliche Reiseroute ist fertig. Wenn Ihr auch noch notiert, wie lange Ihr jeweils bleiben möchtet, bekommt Ihr ein Gefühl, ob die Planung realistisch ist. Ich bin bei meinen Reisen immer so vorgegangen. Und obwohl ich mir meine Planung unterwegs kaum mehr angeschaut habe, an den meisten Orten kürzer oder länger wie gedacht geblieben bin, oft auch Plätze besucht habe, von denen ich erst unterwegs erfahren habe, hat die Planung in groben Zügen erstaunlich gut gepasst. Das ist auch der Sinn einer solchen Planung und nicht ein Korsett, an das man sich sklavisch genau halten soll.

Europa – Istanbul Ich habe für diese Strecke zwei Wochen eingerechnet. Von Budapest nach Oradea, Sighisoara und Sibiu in Rumänien. Dann weiter über Veliko Tarnovo und Plovdiv in Bulgarien nach Istanbul. Türkei Die Minimalvariante für zwei Wochen wäre Istanbul, Kappadokien, Kars und Dogubayazit. Türkei-Neuliegen wurde ich auf jeden Fall einen Abstecher an die Küste des Mittelmeers empfehlen, dann hinauf nach Kappadokien und auf oben beschriebener Route weiter in den Osten. Das müsste in rund fünf Wochen zu schaffen sein. Iran Die iranischen Behörden sind nach wie vor etwas mühsam, wenn es um die Visaerteilung geht. Wahrscheinlich wird man nur ein Transitvisum bekommen. Die im folgenden beschriebene Route ist ein Minimalprogramm für zwei Wochen Iran: Tabris, Teheran, Isfahan, Shiraz, Bam und weiter zur Grenze bei Zahedan.

Pakistan Während der Iran noch vergleichsweise „zivilisiert“ und westlich war, kommt jetzt der große Sprung ins Chaos des indischen Subkontinents. Wenn der Zug von Quetta durchs Gebirge ins Industal hinunterrollt, wird es schlagartig immer schwüler und heißer. In Sukkur überquert man dann die große Brücke über den Indus und bei jedem Überlandreisenden stellt sich das Gefühl ein, es geschafft zu haben: Indien ist erreicht! Die Reiseroute von der iranischen Grenze bis Lahore ist ziemlich klar, weiter nördlich gibt es aber größere Variationen: Man könnte zuerst über Peshawar nach Chitral fahren, von dort über den Shandur Pass nach Gilgit und am Karakorum Highway weiter nach China. Oder man fährt direkt entlang des Indus nach Gilgit. Möglicherweise, falls die Spannungen zwischen Indien und Pakistan es erlauben, am Anfang über das Kaghan Tal und den Babusar Pass direkt nach Chilas im Indus-Tal. China Eine definitive Reiseroute durch das riesige Land anzugeben, ist ein ziemlich hoff-

Der Weg ist das Ziel ... Mit dem Rucksack durch Europa, Asien und Afrika.

WWW.GEOCITIES.COM/GERALD_FIMBERGER

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nungsloses Unterfangen. Die Standardroute führt entlang der Seidenstraße nach Peking und dann auf der für Erstbesucher „empfohlenen“ Strecke über den Osten in den Süden des Landes: Kashgar – Urumqi Turfan – Dunhuang – Lanzhou - Xiahe – Xian – Beijing/Peking – Qingdao - Shanghai – Suzhou – Hangzhou – Guilin – Guangzhou/ Kanton – Hongkong. Das ist zudem die logischste Route ohne viel Zickzack, die sich auch gut in drei Monaten schaffen lässt. Nachteil ist jedoch, dass sie ab Lanzhou praktisch nur durch Städte führt, die zudem ziemlich teuer sind. Wenn ich dagegen die zehn Orte, die Rough Guide als „Best of China“ bezeichnet, aneinander reihe, kommt eine völlig andere Route heraus: Kashgar – Lhasa – Xian – Beijing/Peking – Shanghai - Lijiang – Dali - Xishuangbanna – Guilin – Hongkong. Nach insgesamt acht Monaten in China würde ich sagen, dass diese Orte, nicht unbedingt die Auswahl der Sehenswürdigkeiten, auch ganz gut mit meinen Favoriten übereinstimmt. Lässt sich das aber praktisch auch verwirklichen? Kashgar – Lhasa wäre eine Traumroute entlang des Himalayas, doch leider ist die

Straße nach Westtibet für Einzelreisende gesperrt. Die kürzeste Alternative ist Kashgar – Dunhuang – Golmud – Lhasa. Mit der neuen Eisenbahn sind die rund 2.000 km von Kashgar nach Dunhuang relativ flott zurückgelegt. Von Dunhuang geht es dann per Bus durch die Halbwüste nach Golmud und von dort weiter über 5.000 m hohe Pässe nach Lhasa. Die völlig überteuerte Busfahrt ist zugleich auch die politisch stabilste Route nach Tibet. Nach einer kleinen Rundreise durch das Dach der Welt kehrt man entweder per Bus wieder nach Golmud zurück oder man fliegt nach Chengdu oder Xian. Wer den Landweg nimmt, kann über Xining nach Xiahe zum schön gelegenen Labrang Kloster fahren. Abenteuerlustige schlagen sich von dort über die Seen des Naturreservats Jiuzhaigou Richtung Süden nach Chengdu durch. Die Standardroute führt dagegen über Lanzhou nach Xian. Xian – Beijing – Shanghai ist ohnehin problemlos, wobei ich auch noch zusätzlich Suzhou und Hangzhou besuchen würde. Todesmutige können dann eine rund dreitägige Marathonzugsfahrt nach Kunming machen, der Rest wird den Flieger in die

Hauptstadt Yunnans nehmen. Von Kunming macht man eine kleine Rundreise durch das nördliche Yunnan nach Lijiang und Dali, von wo es Richtung Süden nach Jinghong, der Hauptstadt von Xishuangbanna geht. Von dort kann man sich entweder direkt mit Bussen entlang der laotischen Grenze Richtung Liuzhou und Yangshuo durchschlagen. Oder man fährt wieder nach Kunming hinauf und versucht, einen Zug nach Liuzhou oder Guilin zu bekommen. Von Yangshuo nimmt man dann die letzte Etappe nach Hongkong in Angriff, wobei ich auch in Guangzhou und Macao stoppen würde. Insgesamt wird man für diese Strecke rund vier Monate brauchen, womit man zumindestens einmal das Visum verlängern lassen muss. Wer damit Probleme hat, kann auch auf dem Weg von Hangzhou nach Kunming in Hongkong vorbeischauen und dort ein neues Visum beantragen. Mehr Informationen zu Dauer und Klima gibt es im ersten Teil. Den kompletten Reiseführer Seidenstraße findet Ihr unter www.geocities.com/gerald_fimberger.

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