„Rückkehr nach Kenlyn“ von Dane Rahlmeyer
LESEPROBE
1
Prolog
E
inmal
mehr
wurde
er
aus
einem
dunklen Traum gerissen und erwachte
in einer toten Welt. Kai warf die fadenscheinige Decke von sich; das Herz trommelte ihm gegen die Brust. Er lauschte in die Nacht hinein, während er versuchte seinen keuchenden Atem zu beruhigen. Ein Schiff! Er hatte ein Schiff
gehört
–
ein
Drachenschiff,
mit
dröhnendem Antrieb! Das Schiff, das kam, um ihn zu retten! Doch die Erkenntnis holte ihn schnell ein und seine Schultern sanken herab: Es gab kein Schiff, nur den Sturm, das ewige Heulen des Windes und das Krachen des Donners. Er hatte nie verstanden, woher die Stürme kamen; Yu Nan hatte gesagt, dass in diesem Teil Te’Ras die meiste Zeit die Sonne geschienen hatte. Zumindest war es vor fast tausend Jahren so gewesen... Nun spielte das Klima verrückt, als wäre die Welt über den Tod so vieler Lebewesen 2
wahnsinnig
geworden. Ein
Großteil des
Planeten sah heute aus wie Kenlyn, bevor die Sha Yang es verwandelt hatten: kahl und leer und tot. Ein Blitz zuckte vor dem großen Fenster. Sein Licht funkelte auf den Überresten der anderen Kristalltürme, von denen er von hier
oben,
aus
dem
zweihundertsten
Stockwerk, nur die Spitzen sehen konnte. Sie hatten sich gegen die Wolken am pechschwarzen
Himmel
erhoben,
als
wollten sie diese warnen, ihnen ja nicht zu nahe
zu
kommen.
Staub
füllte
die
Atmosphäre wie Nebel. Der Staub der Plage Rokor. Kein Schiff. Nur der Sturm. Von Wut und Enttäuschung überwältigt ließ
sich
Kai
zurück
auf
die
dünne
Schlafmatte fallen, die wie alles hier nach Verfall roch. Wieder keine Rettung. Wieder würde
er
bitteren
warten
Lächeln
müssen. dachte
er,
Mit
einem
dass
er
zumindest darin inzwischen Übung hatte. In Zeiten wie diesen hatte er immer Trost bei
Yu
Nans
Geistesabwesend
Eidolon griff
er
gesucht. nach
der
Armschiene, nur um im selben Moment wieder zu begreifen, dass er das Artefakt 3
nicht mehr trug. Nach all den Monaten kam ihm sein rechter Unterarm immer noch nackt vor. Erneut zuckte ein Blitz wie ein weiß glühender Drache vom Himmel, und Kai sah zu
der
Wand
neben
Schlafstelle.
In
seiner das
lumpigen einstmals
elfenbeinfarbene Material – früher so glatt wie die Oberfläche eines Geisterkubus, nun grau und mit tiefen Wunden wie der Rest dieser Welt – waren mit einer Glasscherbe Striche
gezogen
wie
hässliche
Narben:
jeweils vier senkrecht und einer schräg darüber. Dann die nächsten vier plus ein weiterer schräger. Und so weiter und so weiter und so weiter. Hunderteinundneunzig
Striche.
Hunderteinundneunzig Tage. Er hatte es sich
ausgerechnet:
Die
Tage
auf
dem
Saphirstern waren zwar siebenunddreißig Minuten (und zweiundzwanzig Sekunden) kürzer als auf Kenlyn, wenn er sich recht an seinen Schulunterricht erinnerte, dennoch war in der Heimat mittlerweile mehr als ein halbes Jahr vergangen. Ein halbes Jahr fort von zu Hause. Ein halbes
Jahr
allein.
Ein
halbes
Jahr
buchstäblich Welten entfernt von Endriel. 4
Er schloss die Augen. Er hatte keine Uhr, aber es war augenscheinlich nicht mehr tiefe Nacht; bald ging die Sonne auf und ihre trüben Strahlen würden sich durch die Wolkendecke
kämpfen.
kommenden
Tag
Um
gerüstet
für
den
zu
sein,
versuchte er wieder einzuschlafen, aber der Sturm hielt ihn wach. Und Endriel. Die Erinnerung
an
ihre
Stimme
und
die
Grübchen neben ihrem Mund, wenn sie lächelte. Das tiefe Braun ihrer Augen… Kai kratzte sich seinen Bart, der wie sein Haupthaar wild wucherte – es ärgerte ihn, er erkannte sich selbst kaum im Spiegel. Er sah sich um: Die halb verrostete Schere, die er vor – Wann? Einem Monat? – in den Ruinen gefunden hatte, lag auf der anderen Seite seines Lagers. Also
kämpfte
schlurfte
über
er
sich
den
mühsam
nackten,
hoch,
staubigen
Boden (den verrottenden Teppich hatte er lange
schon
entfernt),
vorbei
an
den
altersschwachen Regalen. Sie waren gefüllt mit halbzerfallener Kleidung, die er bei seinen Streifzügen entdeckt hatte; ein paar gebrauchsfähigen
Werkzeugen,
uralten
Büchern, sowie zerkratzten und flackernden 5
Geisterkuben.
Einer
davon,
sein
Lieblingsstück, zeigte die Aufnahme eines Drachenschiffs über der Stadt, einige Zeit vor dem Untergang der Welt – doch er konnte ihn nicht lange ansehen, ohne dass ihm Heimweh das Herz zu zerdrücken drohte. Er nahm die Schere von dem wackeligen, selbst
zurechtgezimmerten
neben
dem
Stapel
an
Lagerraum
immer
kleiner
Konserven, eines
örtlichen
Tisch,
die
direkt
werdenden aus
dem
Schutzbunkers
der
Friedenswächtergarnison
stammten. Ein anti-entropisches Feld hatte sie dort fast ein Jahrtausend lang frisch gehalten – auch wenn der Energiegenerator kurz vor dem Exitus stand. Kai hatte damals ein Hoch auf die Langlebigkeit der Sha Yang-Maschinen
ausgesprochen
und
diesen, seinen größten Schatz, im Laufe einer Woche hierher verfrachtet. Er hätte nie
gedacht,
dass
Brotpudding,
getrocknetes Fleisch und klares Wasser solche Delikatessen sein konnten. Allerdings schmolzen seine Vorräte immer weiter dahin. Bisher hatte er noch keine andere Quelle aufgetan, und Staub konnte 6
man nicht essen. Die Zeit lief ihm davon, die
Nahrungsmittel
würden
nur
noch
wenige Wochen reichen. Das jedoch auch nur, wenn er sich noch mehr einschränkte als
ohnehin
schon.
An
das
ständige
Hungerfeuer in seinem Magen hatte er sich gewöhnt. Manchmal war es das Einzige, das ihm verriet, dass er noch am Leben war... Bartstoppeln und Haarbüschel fielen im Takt
des
kratzigen
Schnipp-Schnipp-
Schnipp zu Boden. Und wenn Endriel niemals kam? Wenn die Schatten sie und ihre Mannschaft bei XidaMa getötet hatten? Wenn sie keinen Weg fand oder aufgehalten wurde? Was, wenn sie mich vergessen hat? Er versuchte, die Erinnerung an Endriel festzuhalten. Er wusste jetzt, dass er sie liebte. So wie er damals Liyen geliebt hatte, vielleicht mehr. Und er verfluchte sich dafür, dass er so blind gewesen war, so besessen von seiner Mission, dass er es nicht erkannt hatte. Warum kam die Einsicht immer erst dann, wenn es viel zu spät war? Verzweiflung drohte ihn niederzuringen. Es kostete
Kai
all
seine
Kraft,
dagegen 7
anzukämpfen, und sein Griff legte sich dabei so fest um die Schere, dass er glaubte, seine Finger würden brechen. Der Raum um ihn herum schien plötzlich enger und enger zu werden; die Luft blieb ihm weg. Er warf die Schere fort. Sie landete – irgendwo. Raus! Ich muss hier raus! Kai lief durch die Tür, in den düsteren Korridor dahinter und die Treppe hinauf. Er öffnete eine weitere Tür und tosender Wind drohte ihn zurückzuwerfen, riss an seiner Jacke und seiner Kapuze, doch er stemmte sich ihm entgegen. Ein Blitz erleuchtete die ausgedehnte Moment
Dachterrasse
taghell
–
für
dann
einen
kehrte
die
Dunkelheit zurück. Über ihm toste der Sturm und jagte dicke, schwarze Wolken durch die Nacht. Das Toben des Unwetters übertönte sogar das Rauschen des nahen Meeres. Kai zog sich den Schal über den Mund, um sich vor dem Staub zu schützen; er
marschierte
gegen
den
Wind
zur
hüfthohen Brüstung und sah dabei aus den Augenwinkeln das milchige Glühen
der
Lichtkugeln,
und
die
Metallsplittern
an
er
mit den
Nägeln
Bodenkacheln
befestigt hatte. 8
Ein Glück, sie lagen noch an Ort und Stelle! Er erinnerte sich daran, wie er sie in mühevoller Suche aus der toten Stadt geborgen
hatte:
aus
Kellern,
zerstörten
staubbedeckten Tempeln
und
zusammengebrochenen Hallen. Eine hatte er im Kinderzimmer eines Draxyllbabys gefunden.
Der
Reptilienskeletts
Anblick in
des
der
winzigen Nestwiege,
umgeben von verblichenen Wandmalereien von Blumen und Regenbögen hatte ihm fast das Herz zerrissen. Er wusste noch, wie er sich in den ersten Tagen gewundert hatte, dass Rokor in seinem
blinden
Hunger
die
Artefakte
verschmäht hatte. Doch es ergab Sinn: Die Plage sollte alle feindlichen Lebewesen ausrotten, aber ihre Maschinen und Städte heil
lassen,
damit
seine
Herren
diese
übernehmen konnten, sobald Rokor sich nach Vollendung seines Werkes wieder zersetzt hatte. Zumindest war das der Plan gewesen. Und so wie viele Pläne in der Geschichte der Hohen Völker hatte er nicht funktioniert.
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Kai hatte die Lichtkugeln in großzügigem Abstand ausgelegt, quer über das Dach verteilt. Sie buchstabierten drei Worte: ICH BIN
HIER,
die
Drachenschiff
jedes
vorbeiziehende
hoffentlich
–
hoffentlich,
hoffentlich! – sehen würde. Er hielt inne. Eine der Lichtkugeln flackerte alle paar Sekunden. Er seufzte und machte eine geistige Notiz, sie auszuwechseln. Aber nicht jetzt. Morgen. Morgen... Noch ein Blitz, hinter ihm. Für einen Moment
eilte
Kais
Schatten
ihm
langgestreckt voraus, bevor er wieder mit der Schwärze verschmolz. Das Geländer der Brüstung war kalt wie Eis unter seinem Griff. Er sah hinaus, zu den Schemen der Kristalltürme,
die
der
graue
Dunst
verschluckte. Wie die morschen Knochen von Riesen ragten sie in den Himmel auf. Die meisten ihrer spiegelnden Glasfassaden waren mittlerweile zerstört oder von den ewigen Staubstürmen zerkratzt. Kai sah nach unten, blickte siebenhundert Meter hinab in den Abgrund, bis zu den zerstörten Straßen am Fuße der Giganten, auf
denen
sich
nichts
bewegte
außer
Schleiern aus Staub. Das Pflaster war von 10
unten heraus aufgerissen. Nicht nur hier, überall in der Stadt. Yu Nan hatte ihm erklärt,
dass
Untergrund
Rokor
sich
ausgebreitet
vorher
haben
im
musste,
unbemerkt von den Hohen Völkern. Bis es zu spät gewesen war. Dann hatte die Plage aus der Tiefe zugeschlagen; war aus dem Boden gequollen wie eine schwarze Flut, in der das Strahlende Zeitalter ertrank. Yu Nan ... Er konnte den Umriss jenes Turmes, in dem er seinen Mentor begraben hatte, deutlich erkennen. Yu
Nan
war
gestorben,
keine
Woche
nachdem sie den geheimen Nexus in XidaMa passiert hatten. Mit einem Schritt hatten sie Millionen von Kilometern überquert und sich in einer Nexushalle wieder gefunden, die in der Flanke eines Berges errichtet worden war. Shannashai, Yu Nans Geburtsstadt und sein Grab, lag etwa fünfzig Kilometer weiter westlich. Zu Beginn ihrer Reise war die Luft noch klar und kalt gewesen, doch dann war aus dem Nichts ein Sturm aufgezogen. Kai wusste bis heute nicht, wie er es heil und sicher durch das Unwetter geschafft hatte. Als sie in der Stadt angekommen 11
waren und er einen Unterschlupf für sie gefunden hatte, öffnete er den Zeitlosen Sarkophag. »Wir sind da, Meis... Yu Nan!« Sein Mentor mochte es nicht, wenn er ihn mit »Meister« ansprach – auch wenn Kai das Wort nie untertänig gebrauchte, sondern als Titel, der früher großen Philosophen und Dichtern gegeben wurde. Yu Nan hatte sich in den Trümmern seiner Stadt umgesehen und Kai hatte erkannt, welche Qualen ihm der Anblick bereitete. Der uralte Sha Yang hatte geweint – um sich, sein Volk und seine Welt. Er hatte gesagt, wie sehr er sich schäme, Kai mit in diesen Alptraum gezerrt zu haben. Kai hatte nur gelächelt und ihm versichert, dass er ihm dies schuldig war, während ein dicker Kloß in seinem Hals saß. Es war nie geplant gewesen, dass er hier strandete. Wenn alles gelaufen wäre, wie sie es sich vorgestellt hatten, dann hätte Kai mit Hilfe von Yu Nans Armschiene das Tor nach Te’Ra geöffnet, seinen Mentor nach Shannashai begleitet und wäre kurz danach durch den immer noch offenen Nexus nach Hause zurückgekehrt. Aber das 12
Auftauchen der Schattenschiffe hatte diese Pläne zunichte gemacht. Nun war er die einzige Seele auf dieser Welt, und Kai ertappte sich immer häufiger bei dem Gedanken, ob es richtig gewesen war, Yu Nan seinen letzten Wunsch zu erfüllen und ihn hierher zu bringen, damit er in Frieden sterben konnte. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er nur an sich gedacht hätte. Dann wäre er jetzt zu Hause auf Kenlyn. Zusammen mit Endriel. Er
konnte
kaum
glauben,
wie
zuversichtlich er damals gewesen war, als er Endriel die Armschiene gegeben hatte. Er hätte nie gedacht, dass ihn die Einsamkeit derart quälen würde. Dass es Tage gab, an denen
er
vor
seiner
eigenen
Stimme
erschrak, die so fremd und winzig klang auf diesem Planeten. Manchmal, wenn ihn die Stürme in seinen Turm einsperrten und ihr Heulen ihn verhöhnte, war die Verlockung groß,
einfach
über
das
Geländer
zu
springen – zuzusehen, wie Stockwerk um Stockwerk an ihm vorbeiflog, während er auf den Aufprall wartete. Er hatte sich mehr als einmal gefragt, ob er im Fallen sein
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Spiegelbild in den zersplitterten Fenstern sehen würde. Kai rang nach Atem. Er hob den Blick zum schwarzen Horizont und sah im Licht der Blitze
die
Türme
der
anderen,
der
namenlosen Stadt im Norden glitzern. Wie oft hatte er daran gedacht, dorthin zu gehen. Einfach, um sich abzulenken. Um für eine kurze Zeit das alles hier zu vergessen und den Reiz des Neuen auszukosten. Vielleicht würde er dort neue Vorräte finden oder vielleicht eine Landbarke, mit der er diesen Kontinent auskundschaften konnte. Vielleicht sogar ein Drachenschiff – oder eines der Sternenfahrzeuge mit denen die Sha Yang damals hierher gekommen waren. Dann wäre er gerettet. Dann könnte er zurück nach Kenlyn, zurück nach Hause, zurück zu Endriel und den anderen. Dennoch hatte er Shannashai niemals verlassen. Denn größer als diese Hoffnung war seine Angst, Endriel zu verpassen, wenn sie kam,um ihn zu holen. Er wusste, dass sie zuerst hier nach ihm suchen würde. Nein, er musste hier bleiben. Und warten. Warten. Warten.
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Kai schrie. Er schrie in die Nacht hinein, bis ihm die Kehle brannte. Er bemerkte kaum,
wie
sich
der
Sturm
legte
und
schließlich den Versuch aufgab, ihn vom Dach zu reißen. Kai wischte die winzigen Rinnsale aus Schlamm fort, welche die Tränen
auf
seiner
staubigen
Haut
hinterlassen hatten, und lauschte. Tatsächlich, der Wind verlor allmählich an Kraft. Er bemühte sich, aufzustehen und blieb ganz still. Über ihm zogen Wolken langsam weiter – und gaben den Blick auf die wenigen Sterne frei, die durch den Staubschleier zu erkennen waren. Vielleicht war es nur Einbildung oder Wunschdenken – dennoch glaubte er, dort oben zwischen den
schwachen
Lichtern
ein
kleines,
blaugrünes Leuchten zu sehen. Kenlyn. Er lächelte irritiert. Ganz plötzlich war da wieder ein kleiner Funken Hoffnung. Er stand auf, ohne den Blick von dem winzigen Lichtfleck zu nehmen. Und er stellte sich vor, dass seine Gedanken hinauf zu den Sternen flogen, den Weltraum durchquerten und zu ihr gelangten:
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Endriel,wenn du mich hören kannst, ich bin hier. Und ich warte auf dich. Bitte lass mich nicht hängen.
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