Irina

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  • Words: 630
  • Pages: 6
© Uwe Fengler

Irina

Der alte Mann ging allein den einsamen Weg zwischen den Dünen, der zum Strand hin führte, entlang. Es war Spätherbst und ein kalter, kräftiger Wind wehte ihm von der Nordsee her entgegen. Gelegentlich blieb er stehen. Der Weg war doch anstrengender, als er ihn in Erinnerung hatte. Die Pausen wurden mit der Zeit häufiger. Die Kälte, die er dabei jedes mal durch seine zugeknöpfte graue Cordjacke spüren konnte, trieb ihn jedoch immer schnell wieder weiter. Ähnlich wie mein Leben verläuft dieser Weg, dachte der alte Mann, stürmisch und einsam.

Er spürte den durch den Wind aufgewirbelten Sand in seinem Gesicht, auf den Lippen, und da er durch seinen leicht geöffneten Mund atmete bald auch zwischen den Zähnen. Ich muss jetzt viel denken, sagte er still vor sich hin, meine Gedanken werden mich von der Anstrengung ablenken. Ich muss unbedingt mein Ziel erreichen, und es muss heute sein. Egal wie der Wind weht, ganz gleich wie weit der Weg ist und vollkommen unwichtig wie sehr es mich anstrengt. Und er dachte 50 Jahre zurück, während er sich mühsam Schritt für Schritt vorwärts bewegte: 27 Jahre war ich damals alt, voller Kraft, voller Träume und so randvoll mit Sehnsucht.

Ich befand mich mitten in meinem Medizinstudium. Es waren Semesterferien. Ich joggte am Strand entlang. Der Zufall der an diesem Tag mein gesamtes Leben veränderte, geschah eigentlich recht schnell, und blieb doch auf ewige Zeit in meinen Gedanken gespeichert. Der Ball eines spielenden Kindes rollte genau vor meine Füße. Ich verlangsamte meinen Schritt, hob den Ball auf und wollte meinen Blick zunächst nach links wenden um den Besitzer ausfindig zu machen und sah trotzdem erst geradeaus. Und ich blickte in die schönsten blauen Augen, die ich jemals gesehen hatte. Der leichte Wind dieses lauen Spätsommertages spielte in ihren mittellangen blonden Haaren. Ich konnte nicht weitergehen, hielt den Ball fest umklammert und bemerkte nicht, wie ein Kind kam und ihn mir fort nahm. Ich hatte

mein Studium vergessen und auch Karin mit der ich befreundet war. Nenn mich Irina, sagte sie irgendwann und lächelte mir zu. Es störte mich nicht, dass sie fast 15 Jahre älter war als ich, auch war es kein Hindernis, dass sie verheiratet war, mir nie ihren wirklichen Namen verriet. Ich wusste auch dass sie in 3 Tagen wieder abreisen würde. Wir liebten uns tagsüber versteckt in den Dünen, nachts am von Menschen leeren Strand und am letzten Tag in meinem Hotelzimmer. Dann verschwand sie wie sie gekommen war, wir haben uns nie wiedergesehen. Ich beendete mein Studium, heiratete Karin. Wir bekamen zwei süße Kinder. Ich übernahm die Arztpraxis meines Vaters. Wir ließen uns scheiden. Ich hatte Irina nie vergessen. Nach der Scheidung begann ich regelmäßig am

Jahrestag unserer Begegnung den Strand aufzusuchen. Ich weiß nicht, was ich dort erwartete. Ich tat es einfach. Auch in diesem Jahr war der alte Mann wieder unterwegs. Ein paar Monate später zwar als in den vielen Jahren zuvor, denn er hatte sich zu Beginn des Sommers einer Hüftoperation unterziehen müssen, von der er sich nur langsam erholt hatte. Jetzt konnte er das Meer sehen, wenige Minuten noch dachte er, und sah plötzlich alles wieder so vor sich, als wäre es gerade eben erst geschehen. Der Ball, die Geräusche des Meeres, das Lachen der spielenden Kinder und Irina. Kein Foto von ihr, aber auf ewig unvergessen. Ich muss mich kurz hinsetzen, dachte er, nur kurz, damit ich mein Ziel noch erreiche, damit ich ausgeruht weitergehen kann. Er ließ sich in den Sand nieder, lag mehr

als er saß, hatte die Augen weit geöffnet. „Irina“, immer wieder kam der Name über seine Lippen, zunächst laut rufend – dann immer leiser. Und plötzlich war nur noch Dunkelheit um ihn herum und sein ewig sehnsüchtiges Herz hatte aufgehört zu schlagen. © Uwe Fengler

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