Wie realisierbar ist Rousseaus Demokratietheorie? - Eine Erläuterung anhand dem Fallbeispiel Christiania
Inhaltsverzeichnis 1.0.0 Einleitung 1.1.0 Kritik an der Realisierung Rousseaus Demokratietheorie 1.2.0 Christiania – Ein Überblick 2.0.0 Vergleiche zwischen Rousseaus Theorie und Christiania 2.1.0 Kriterien an den Staat 2.2.0 Das Menschenbild 2.3.0 Gesetzgebende Macht 2.3.1 Die Abstimmung 2.3.2 Die Gesetze 3.0.0 Fazit 4.0.0 Anmerkung zur Hausarbeit
1.0.0 Einleitung 1.1.0 Kritik an der Realisierung Rousseaus Demokratietheorie Rousseau definiert die Demokratie als eine basisbezogene Art der Herrschaft, in der allein das Volk die gesetzgebende Macht hat. Diese Theorie der Direktdemokratie wird häufig als unrealistisch bezeichnet. So schreibt Manfred G. Schmidt: „Selbst wenn jeder Bürger zur Beratung und Beschließung einer wichtigen Entscheidung nur 10 Minuten sprechen dürfte, müssten in einem nur 1000 Vollbürger umfassenden Staatswesen alle 167 Stunden zuhören. Unterstellt man einen Acht-Stunden-Tag, käme man auf mehr als 20 Beratungstage.“1 Auch Rousseau selber sieht die Umsetzung bei der Versammlung des Volkes kritisch: „Man kann sich nicht vorstellen, dass das Volk unaufhörlich versammelt bleibt, um die öffentlichen Angelegenheiten zu besorgen (...)“2 Und schließt selber eine Demokratie, wie er sie definiert hat, aus: „Nimmt man den Begriff in der ganzen Schärfe seiner Bedeutung, dann hat es niemals eine echte Demokratie gegeben, und es wird sie niemals geben.“3 Auf den folgenden Seiten werde ich, anhand des Fallbeispiels Christiania, verdeutlichen wie realisierbar oder unrealisierbar einige Ansätze von Rousseaus Theorie sind. 1.2.0 Christiania – Ein kurzer Überblick Es handelt sich hierbei um ein soziales Experiment welches in Kopenhagen stattfindet. 1971 wurde dort eine stillgelegte Kaserne besetzt und die Freistadt 1 Manfred G. Schmidt: Demokratietheorien. Eine Einführung, Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften 3. Auflage Mai 2006, Seite 355 2 Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätzen des Staatsrechts, Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. Bibliographisch ergänzte Ausgabe 2003, Seite 73 3 Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätzen des Staatsrechts, Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. Bibliographisch ergänzte Ausgabe 2003, Seite 72
Christiania gegründet, welche bis heute besteht. In Christiania wohnen rund 800 Menschen. Die Bewohner organisieren sich in einer Vollversammlung und 12 Gebietsversammlungen, welche unregelmäßig stattfinden und zu denen jeder Bürger kommen und mitbestimmen darf. Für einige Themen und Projekte gibt es Arbeitsgruppen wie die Wirtschaftsgruppe, die Verhandlungsgruppe oder die Sozialgruppe, bei denen ebenfalls jeder Bewohner der Freistadt mitwirken darf. Bereits vor den ersten Vergleichen ist zu sagen, dass es bei Christiania nicht um einen echten Staat handelt, auch wenn die Bewohner und Anhänger Christiania als Freistaat bezeichnen, wird es von Dänemark nur als soziales Experiment anerkannt und muss dafür einen Plan zur Normalisierung vorlegen.4 Wissenschaftlich ist Christiania weitestgehend unerforscht. 2.0.0 Vergleiche zwischen Rousseaus Theorie und Christiania 2.1.0 Kriterien an den Staat Rousseau stellt einige Kriterien an einen Staat, damit seine Demokratietheorie funktionieren kann: „(…) einen kleinen Staat, in dem das Volk einfach zu versammeln ist und jeder Bürger alle anderen leicht kennen kann, (…) dann weitgehend Gleichheit der gesellschaftlichen Stellung und der Vermögen, (…) schließlich wenig oder gar keinen Luxus“5 Da es selbst bei 800 Bürgern schwierig scheint das Volk zu versammeln und sich zu beraten, hat sich Christiania in Zwölf Teilgebiete geteilt in denen Gebietsversammlungen stattfinden. Somit erfüllt Christiania zwar nicht das Kriterium des kleinen Staates, hat dies aber geschickt umgangen. Dies beweist, dass selbst ein Staat mit nur 800 Menschen zu groß für Rousseaus Theorie ist, dass die direkte Volksentscheidung aber grundsätzlich möglich ist, wenn der Staat in entsprechend kleine Gebiete geteilt wird. In Christiania leben durchschnittlich 67 Bürger in jedem Gebiet, für einen Staat wie die Bundesrepublik Deutschland würde das bedeuten das 4 Wieland Eschenhagen: Fischer Weltalmanach, München: S. Fischer Verlag GmbH 1. Auflage 2008, Seite 117 5 Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätzen des Staatsrechts, Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. Bibliographisch ergänzte Ausgabe 2003, Seite 73
er in über 1.225.000 Gebiete aufgeteilt werden müsste. Eine Koordination zwischen so viele Gebieten scheint jedoch gerade zu unmöglich. Vermögen und Luxus besitzen die Bewohner nicht, so heißt schon der Titel eines wissenschaftlichen Buches „Christiania: Elendsviertel, soziales Experiment, oder Selbstorganisation Nicht-Angepasster?“ Über die gesellschaftliche Stellung lässt sich wenig sagen, da diese in der Literatur nicht weiter erläutert wird, es ist wird jedoch betont, dass die Rücksicht aufeinander unter den Menschen sehr wichtig ist, daher ist anzunehmen das keine großen gesellschaftlichen Unterschiede existieren. Beide Fälle verdeutlichen jedoch, dass diese Kriterien nur zu erfüllen sind, wenn die Menschen einerseits die funktionierende Organisation über den persönlichen Wohlstand stellen und andererseits in einem nachbarschaftlichen Verhältnis miteinander leben. 2.2.0 Das Menschenbild Damit komme ich zum nächsten Vergleich, dem Menschenbild: In Christiania zählt es zu den Grundeigenschaften eines jeden Menschen sich nachbarschaftlich zu verhalten: „Die Nachbarschaftlichkeit ist von lebenswichtiger Bedeutung für unsere Freiheit in Christiania, denn die Freiheit des Einzelnen sollte nicht die Freiheit des Nachbarn einschränken.“6 Dies scheint vorerst im Gegensatz zu dem negativen Menschenbild was Rousseau als Naturzustand bezeichnet, zu stehen. Er unterstellt den Menschen sich zu hassen, zu lügen, betrügen, verleugnen und zu morden. Doch so schreibt Rousseau später über einen Übergang der nach der Einführung seines Gesellschaftsvertrages stattfinden wird: „Dieser Übergang vom Naturzustand zum bürgerlichen Zustand erzeugt im Menschen eine sehr bemerkenswerte Veränderung, weil dadurch in seinem Verhalten die Gerechtigkeit an die Stelle des Instinktes tritt und seinen Handlungen die 6 Autor unbekannt: Freistaat Christiania. Freistaat Christiania – ein „soziales Experiment“, Osnabrück: Packpapier-Verlag 1. Auflage 1995, Seite 9
Sittlichkeit verliehen wird, die ihnen zuvor mangelte“7 So ist in Christiania der Übergang bereits vollzogen und durch das funktionierende rücksichtsvolle und gerechtigkeitsbewusste miteinander leben ist bewiesen, dass Rousseau mit der Theorie des Übergangs recht hatte. Anderseits lässt sich argumentieren, dass dieses miteinander leben auch in anderen Ländern heutzutage bereits existiert und die Bürger Christianias nur wegen mangelnder Gesetze, zu denen ich später komme, so viel Rücksicht aufeinander nehmen müssen. Es lässt sich also nicht genau nachvollziehen, in wie weit das Menschenbild von Rousseau und das Verhalten der Bewohner Christianias mit dem direktdemokratischem System zusammenhängen 2.3.0 Gesetzgebende Macht Rousseau unterstellt das bei einer Demokratie die Legislative nur vom Volk ausgehen darf8 und die Verfasser der Gesetze niemals Gesetzgebungsbefugnisse haben darf9. Ähnlich ist die Organisationsstruktur in Christiania aufgebaut, dort gehen alle Entscheidungen von unregelmäßigen Gebiets- und Vollversammlungen aus. Vergleichbar mit den Verfassern der Gesetze sind die Versammlungsleiter, diese organisieren zwar die Versammlung und bestimmen über welche Themen diskutiert wird, haben aber nicht mehr Rechte was die Gesetzgebung betrifft, als jeder andere Teilnehmer. Dennoch gibt es zwei große Unterschiede: Die Abstimmung und die Gesetze. 2.3.1 Die Abstimmung Während für Rousseau das einzige Gesetz was Einstimmigkeit erfordert, der Gesellschaftsvertrag ist,10 muss nach der Organisationsstruktur von Christiania jede Entscheidung einstimmig sein:
7 Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätzen des Staatsrechts, Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. Bibliographisch ergänzte Ausgabe 2003, Seite 22 8 Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätzen des Staatsrechts, Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. Bibliographisch ergänzte Ausgabe 2003, Seite 61 9 Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätzen des Staatsrechts, Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. Bibliographisch ergänzte Ausgabe 2003, Seite 45 10 Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätzen des Staatsrechts, Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. Bibliographisch ergänzte Ausgabe 2003, Seite 115
„Entscheidungen werden nicht von der Mehrheit oder durch Abstimmungen gefällt, wie man es im Allgemeinen kennt. Entscheidungen werden nur in Übereinstimmung getroffen. Das bedeutet, dass solange diskutiert wird, bis jeder einverstanden ist.“11 Dieser Unterschied ist jedoch eher ein Beweis, dass eine Realisierung von Rousseaus Idee der Abstimmung von allen Bürger möglich ist, da es in Christiania mit dem größeren Hindernis der Einstimmigkeit trotzdem funktioniert. 2.3.2 Die Gesetze Für
Rousseau
sind
Gesetze
selbstverständlich
in
einer
funktionierenden
Demokratie.12 Während in Christiania versucht wird Gerechtigkeit zu schaffen und dabei weitestgehend auf Gesetze zu verzichten: „Die Leute können ihre eigenen Belange besser in einer direkten Volksdemokratie und basierend auf dem gesunden Menschenverstand regeln als durch Gesetze. Christiania hat keine Gesetze, aber wir haben eine Reihe von Verboten aufgestellt, welche im Freistaat gelten: Keine harten Drogen, keine Waffen, keine Gewalt, kein Handel mit Immobilien und Wohnraum.“13 Im Gegensatz zu Rousseau glauben die Bürger Christianias also, dass eine direkte Volksdemokratie mehr auf dem Verstand der Menschen als auf Gesetzen beruht. 3.0.0 Fazit Diese Uneinigkeit führt zu dem Problem, dass sich nun nicht mehr sagen lässt ob die direkte Volksdemokratie anhand des Fallbeispiels Christianias als realistisch oder unrealistisch zu bezeichnen ist, denn wenn in Christiania kaum Gesetze verabschiedet werden, kann nicht gesagt werden ob eine direkte Volksdemokratie möglicherweise hinderlich für die Gesetzgebung ist. Da Christiania auch kein eigenständiger Staat ist, lässt sich ebenfalls nicht sagen in wie weit fehlende Gesetze in einer 11 Autor unbekannt: Freistaat Christiania. Freistaat Christiania – ein „soziales Experiment“, Osnabrück: Packpapier-Verlag 1. Auflage 1995, Seite 10 12 Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätzen des Staatsrechts, Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. Bibliographisch ergänzte Ausgabe 2003, Seite 39 13 Autor unbekannt: Freistaat Christiania. Freistaat Christiania – ein „soziales Experiment“, Osnabrück: Packpapier-Verlag 1. Auflage 1995, Seite 10
Direktdemokratie schädlich sind, schließlich haben sich die Bewohner der Freistadt an die Gesetze Dänemarks zu halten. Genau so kann nicht davon ausgegangen werden das die Menschen in anderen Ländern sich ähnlich nachbarschaftlich verhalten wie in Christiania, was ebenfalls Gesetze ersetzen kann. 4.0.0 Anmerkung zur Hausarbeit Gerne hätte ich noch über weitere Ansätze Rousseaus im Vergleich zu Christiania geschrieben und weitere Fallbeispiele wie die Schweiz erläutert, in dem ebenfalls eine sehr basisbezogene Demokratie existiert, doch würde das die vorgegebenen fünf Seiten überschreiten.
Literaturverzeichnis Autor unbekannt: Freistaat Christiania. Freistaat Christiania – ein „soziales Experiment“, Osnabrück: Packpapier-Verlag 1. Auflage 1995 Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätzen des Staatsrechts, Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. Bibliographisch ergänzte Ausgabe 2003 Manfred G. Schmidt: Demokratietheorien. Eine Einführung, Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften 3. Auflage Mai 2006 Monika Grau: Christiania: Elendsviertel, soziales Experiment oder Selbstorganisation Nicht-Angepasster?, Werdorf: 1. Auflage 1979 Wieland Eschenhagen: Fischer Weltalmanach, München: S. Fischer Verlag GmbH 1. Auflage 2008