© Uwe Fengler
Er schreibt wieder
Unsere Mutter empfing uns an diesem Tag schon an der Haustür. Während wir uns noch lautstark von unseren Schulkameraden aus der Nachbarschaft verabschiedeten, legte sie bedeutungsvoll den linken Zeigefinger an ihre Lippen. Unsere Worte blieben uns in der Kehle stecken und schienen im Wind zu verhallen. Es war Herbst und der erste Sturm des Jahres kündigte sich unaufhaltsam an. Fast unmerklich und viel zu früh hatten in diesem Jahr die Blätter der Bäume, die um unsere Farm herum standen, ihr Grün in ein Meer aus viel bunteren Farben eingetauscht. Neben Gold und braun leuchteten mir zwischen den grünen Blättern auch immer mehr rote entgegen.
Meine jüngeren Geschwister schienen die Geste meiner Mutter nach einem Bruchteil einer Sekunde, in der sie kurz auf der ersten Stufe zu unserem Haus stehen blieben, vergessen zu haben und stürmten ohne Rücksicht auf sonst noch anwesende Personen durch das direkt an die Tür angrenzende Treppenhaus in ihre Zimmer. Ich blieb etwa in der Mitte der Treppe, die zu unserem Haus führte, stehen und hatte meine jüngste Schwester Emma und meinen Bruder Peter an mir vorbei laufen lassen. Ich sah das Lächeln meiner Mutter und ihr glückliches Gesicht, als ich zu ihr hoch blickte. „Er schreibt wieder", sagte sie, „und wir wollen ihn doch nicht stören, oder?" Nein, das wollte ich auf keinen Fall. Ich war alt genug um zu verstehen, dass die Farm nicht genug abwarf um davon leben zu können. Ich verstand wie wichtig es für die gesamte Familie war, dass mein Vater endlich wieder eine Geschichte verkaufen konnte, damit wir alle überlebten.
Ich hatte auch in den Tagen zuvor mitbekommen wie sehr es in quälte dass er kein Wort zu Papier bringen konnte. Er nannte diesen Zustand des Grübeln „Schreibblockade". Ich nannte ihn Faulheit. Ich verstand damals eben noch nicht, dass mein Vater kein Farmer war, wie es sein Vater und dessen Vater gewesen sind. Dass er im Tiefsten seines Wesens ein Geschichtenerzähler war. Mit allen Höhen und Tiefen, die eigentlich jeder Beruf mit sich bringen kann. Und mit einem Ernst, der ihn durchaus mehrere Stunden vor einem leeren Blatt verbringen ließ. Und lange bevor uns seine Schreiberei ernähren konnte, begann ich meine Erlebnisse in Worte umzuwandeln. In Worte, die andere Menschen hören; in Worte die andere Menschen verstehen; in Worte mit denen ich nicht alleine bin.
Ja, heute kann ich ihn verstehen, und jeden anderen Menschen, der seinen Spaten mit dem Bleistift tauscht. Der sich seine Schwielen in den Händen nicht beim Bestellen einer Farm, sondern beim Schreiben holt.
© Uwe Fengler