Wie Immer

  • May 2020
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  • Words: 856
  • Pages: 1
Wie immer Jedes Jahr am gleichen Tag gehen wir mit der Clique in den nahe gelegenen Freizeitpark. So bekam ich also auch dieses Jahr die Einladung und einige organisatorische Punkte per Mail zugeschickt. Es war wie immer derselbe Text. Wir würden um neun Uhr am Bahnhof losfahren, also war Treffpunkt, wie immer, Hauptbahnhof um Viertel vor neun. Als ich morgens um halb neun am Treffpunkt ankam, waren schon einige meiner Freunde da. Wir begrüßten uns freudig, da wir uns ja schon lange nicht mehr gesehen hatten. Um genau zu sein: ein Jahr. Jeder ging schon seine eigenen Wege, nicht so wie in der Schule, als wir uns oft verabredet hatten und durch die Stadt zogen. Schließlich waren wir vollzählig. Wir stiegen in den Zug ein und schon begann die zweistündige Fahrt, die aber niemals langweilig war. Jeder hatte eine Menge zu erzählen. Der eine wurde befördert, der andere ist arbeitslos geworden, eine hatte endlich nach langer Suche wieder eine Festanstellung und die vierte war mit dem Chef unzufrieden. So ging das eine Weile hin und her, bis mich jemand fragte: „Und du? Was gibt’s bei dir Neues?“ „Ach, so wie immer.“ Betretenes Schweigen. Doch schon nach einigen Augenblicken war das Gespräch wieder in Gange. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Jedes Jahr lief es so, wie immer. Endlich hielt der Zug an unserer Haltestelle und wir stiegen aus. Jetzt mussten wir noch etwa eine halbe Stunde laufen, da in diesem Dorf vom Bahnhof bis zum Freizeitpark kein Bus pendelte. Endlich waren wir am Eingang des Freizeitparks. Da es inzwischen schon Mittag war, beschlossen wir, erst mal in einem der Restaurants zu essen. Obwohl jedes Mal jemand fragte, ob wir zuerst was essen könnten, wussten wir, dass nie-

mand etwas dagegen hatte. Die gemeinsame Mahlzeit war schon zu einem Ritual geworden. Wie immer entschieden wir uns für den Italiener direkt am Eingang. Keiner nahm die Speisekarte zur Hand, wir wussten sowieso schon was jeder bestellten würde. So auch dieses Mal. Nach dem Essen schauten wir uns die Karte und das Programm des Parks an. Nach einigem Hin und Her entschieden wir uns, zuerst das Theater, das monatlich das Programm wechselte, zu besuchen. „Da können wir nämlich alle zusammen hingehen.“, war ein Argument, auf das wieder dieses angespannte Schweigen folgte, das ich so sehr verabscheute. Die unglückliche Stille nach dem einen oder anderem Kommentar, verschwand immer langsamer. Man meinte fast, sie zog sich dahin, wie ein Kaugummi, bis jemand endlich den Mut hatte, sie zu brechen und den Gedankengang der Gruppe zu stören. Und jedes Mal, wurde sie länger. Fast unerträglich. Ich glaube, dass alle – ohne Ausnahme – in diesen Momenten dasselbe denken. Doch keiner möchte weiter darauf eingehen. Oder keiner traut sich, den Gedanken laut auszusprechen. Ich fühle mich nie wohl dabei. Als wir uns dem Theater näherten, sahen wir schon das Stück, das aufgeführt wurde. Irgendwie kam es mir bekannt vor. Ja gut, das Märchen ‚Schneewittchen und die sieben Zwerge’ wird wohl jeder kennen. Aber ich konnte mich noch recht gut erinnern, dass wir es schon einmal hier gesehen hatten. Da wir ja sonst kaum etwas hatten, das wir zusammen in diesem Freizeitpark unternehmen konnten, ließ ich mir nichts anmerken und folgte den anderen in den noch fast leeren Saal. Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht der Einzige war, dem es auffiel, dass wir das Stück schon einmal gesehen hatten. Als wir Platz genommen hatten und uns noch ein bisschen über Dies und Jenes unterhielten, fragte ich in die Runde:

„Sagt mal, mir scheint es so, als hätten wir das Theaterstück schon einmal gesehen. Wollen wir nicht lieber etwas anderes machen? Ich muss mir das nicht unbedingt noch mal ansehen.“ „Ja stimmt, ich kann mich auch noch daran erinnern.“ Ich antwortete: „Na, wollen wir dann gehen, oder es noch einmal anschauen?“ „Also eigentlich dachten wir, dass wir ja kaum etwas gemeinsam machen können. Deshalb sind wir doch seit dem... ja, deshalb besuchen wir erst immer das Theater und gehen dann in den Park zu den Bahnen.“ „Sonst wird es dir doch langweilig, oder?“ Ich fragte, warum es mir denn langweilig sein sollte. Und was mein Kollege denn meinte, mit ‚seit dem...’. „Ich meine, seit du nicht mehr mit uns gehen kannst wie früher. Ja, seit deinem...“ ‚Unfall’ wollte er wohl noch sagen, brachte es aber nicht zustande. Mir platze bald der Kragen, aber das ließ ich mir nicht anmerken. Kann man denn nicht offen darüber reden? Immer nur diese bedrückende Grabesstille, wenn dieses Thema leicht angeschnitten wird. Muss alles irgendwie voller Rücksicht auf mich geplant sein? Können die Menschen um mich herum nicht normal sein? So, wie früher? Ich weiß es selber, dass ich nicht so bin, wie ich früher einmal war. Aber ich lebe. Zwar mit Einschränkungen, aber es geht mir gut. Das weiß ich zu schätzen, wie kaum ein anderer. Warum müssen aber alle dieses Thema meiden? Innerlich brodelte es in mir, doch nach außen hin blieb ich wie immer ruhig und fragte: „Können wir es nicht so machen wie immer? Ihr geht zur Achterbahn und ich passe in der Zeit auf eure Taschen auf. So, wie immer!“ Im Rollstuhl.

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