Urteil Zur Online-durchsuchung Fr 280208c Kopie

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MEINUNG 13

Donnerstag, 28. Februar 2008 64. Jahrgang Nr.50 D/R/S Frankfurter Rundschau

KOMMENTARE

Zeit der Vernunft

LEITARTIKEL

Von Thomas Kröter

Die Hüter des Privaten Z

ur Intimsphäre gesellt sich die IT-Sphäre. Seit gestern ist nicht nur das wirkliche Privatleben der Menschen geschützt, sondern auch ihre virtuelle Zweitexistenz, die sich auf Festplatten und im Internet, in E-Mails und Chats manifestiert. Was Jüngere schon lange wissen und leben, hat das Bundesverfassungsgericht erkannt und festgeschrieben: dass der Computer über den Einsatz als Arbeitsgerät hinausgewachsen ist in einen höchstpersönlichen Raum. Da werden Urlaubsfotos gespeichert, Tagebücher aufgezeichnet, Liebesbeziehungen geknüpft – als „Seelendepot“ hat der Alt-Liberale Hans-Dietrich Genscher einmal bezeichnet, was auch Karlsruhe jetzt als „Kernbereich der privaten Lebensgestaltung“ vor staatlichem Zugriff bewahren will. Diese 106 Seiten vom 27. Februar 2008 verdienen einen Ehrenplatz auf Podest in realen wie virtuellen Bibliotheken. Der Erste Senat errichtet nicht nur hohe Wälle gegen die tendenziell grenzenlose Datengier des Präventionsstaats, indem er OnlineDurchsuchungen auf gravierende und belegbare Fälle beschränkt. Nur bei äußerster und konkreter Gefahr für Leib, Leben und Freiheit des Individuums sowie für die Grundlagen menschlicher oder staatlicher Existenz. Als gute Deichgrafen gestalten die Verfassungsrichter ihre Dämme darüber hinaus stabil, haltbar – wenn nicht für die Ewigkeit, so doch für mindestens ein Vierteljahrhundert. So lange, 25 Jahre, mussten Datenschützer vom Volkszählungsurteil zehren, das ein bis dahin ungekanntes Recht auf informationelle Selbstbestimmung schuf. In dieser hehren Tradition unternahmen Wolfgang Hoffmann-Riem, Hans-Jürgen Papier und ihre Kollegen nun eine weitere Anpassung des Grundgesetzes an die Anforderungen der Moderne. Was

ASTRID HÖLSCHER

Auf Karlsruhe können sich die Bürger da verlassen, wo sie Politikern misstrauen: Sein Urteil zu OnlineDurchsuchungen bietet Schutz vor ausufernden Gelüsten zum Ausspähen im Netz. Es bindet Schäuble und Co. sie – sperrig genug – das „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ nennen, bedeutet einen umfassenden Schutz vor heimlicher Ausspähung der ITSphäre. Und einen Schlag gegen die Phalanx jener Innenminister in Bund und Ländern, in deren Amtsverständnis die Ordnung stets vor Freiheit und Gesetz rangiert. Insbesondere gegen den CDU-Hardliner Wolfgang Schäuble und seinen sozialdemokratischen Vorgänger und Bruder im Präventionsgedanken Otto Schily. Auf die Bundespläne zielt schließlich das Urteil aus Karlsruhe. Der Anlass, das Verfassungsschutzgesetz aus NordrheinWestfalen, war so schludrig und schlampig, so nichtig im Wortsinn, dass es allein den Aufwand wahrlich nicht gelohnt hätte. Nicht die vielen Gutachten, nicht die umfassende Anhörung im Oktober 2007, nicht die penible juristische Urteilsbegründung samt Schöpfung eines neuen Grundrechts.

Weil dieses Grundrecht nicht schrankenlos gilt, kann und wird es eine Ermächtigung des Bundeskriminalamts zur OnlineDurchsuchung geben. Streng eingegrenzt und buchstäblich den Karlsruher Vorgaben folgend: bei akutem Terror-Verdacht, gemäß richterlicher Anordnung, mit sofortiger Vernichtung allzu privater Fundstücke. Kurz, Schäuble darf, was er ausschließlich zu beabsichtigen vorgab: Ermittlungslücken bei Terror-Gefahr schließen. Verwehrt ist dem Innenminister, was viele, auch der Koalitionspartner, ihm als Hintergedanken unterstellten: das ausufernde Ausspähen aufgrund vager Ahnungen, die mähliche Ausdehnung dieses Fahndungsmittels auf andere Kriminalitätsfelder, wie wir es bei der Telefonüberwachung erfahren haben. Respekt vor dem Privaten – diese Grundlehre bläuen uns die Verfassungsrichter seit 25 Jahren ein. Ob es um die Volkszählung ging, um den großen oder die vielen kleineren Lauschangriffe. Es ist ein ziemlich einsames Unterfangen, weil sie Politiker nahezu jeder Couleur in die Schranken weisen müssen. Nicht erst die Großkoalitionäre, sondern auch die Rot-Grünen suchten in Zeiten der Furcht die Waffen gegen terroristische Bedrohung zu schärfen, das verfassungswidrige NRW-Gesetz entstand unter Federführung eines Freidemokraten. Aber es ist nicht nur der vorsorgende Staat, der durch übermäßiges Sicherheitsstreben die Freiheit bedroht, es sind auch die Bürger selbst, die sich leichtfertig der eigenen Privatsphäre berauben. Für ein paar PaybackCent, ein paar Sekunden Berühmtheit im Internet – von „Datenexhibitionismus“ hat Hessens Datenschützer eben gesprochen. So könnte das Karlsruher Urteil nicht nur Politiker bändigen, sondern auch Bürger mahnen: das wertvolle Gut der privaten Freiheit nicht zu verachten.

E

in jegliches hat seine Zeit“, heißt es im Buch der Prediger, „und alles Vorhaben unter dem Himmel seine Stunde.“ Die große Koalition – eine Gesellschaft bibeltreuer Christen. Wahlkampf hatte seine Zeit in Hessen, Niedersachsen und Hamburg. Jetzt haben CDU/CSU und SPD sich wieder Regieren vorgenommen. Ein abrupter Wechsel? Selbstverständlich! So sieht solides Handwerk aus. Polemik gehört zur Politik. Pragmatismus aber auch. Was auf den Weg gebracht wurde bei einer Klausur in Bonn und einem Gespräch der Minister für Familie und Finanzen in Berlin, kann sich sehen lassen. Jedenfalls zeigt es die Fähigkeit zum Kompromiss. Beispiel Pflege: Die SPD wollte ein bundesweites Netz von Beratungsstellen, die Union nicht. Nun wird die Einrichtung den Ländern überlassen. Unionspolitiker gebrauchen gern das Fremdwort „Subsidiaritätsprinzip“. Sozialdemokratisch formuliert: Entscheidungen sollen basisnah getroffen werden. Eine vernünftige Lösung. Beispiel Betreuungsgeld: Die Alternative zum Krippenplatz für daheim erziehende Eltern kommt ins Gesetz, aber in der Begründung wird klargestellt, dass über die Umsetzung erst ein künftiger Bundestag entscheidet, wenn 2013 der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz in Kraft tritt. Sachlich eine Selbstverständlichkeit. Für die CSU nur schwer zu akzeptieren. Nun tut sie es – sogar vor Kommunal- und Landtagswahl in Bayern. Die beiden Beispiele zeigen: Kompromisse sind möglich. Diese Koalition kann regieren – wenn sie will. Im Alten Testament heißt es auch: „Steine schleudern hat seine Zeit.“ Daran werden sich die bibeltreuen Koalitionäre schon rechtzeitig erinnern.

KOLUMNE

Der falsche Berater

Wahlen als Sterndeutung

Von Stephan Hebel

M

itte der 1960er Jahre ist in der Bundesrepublik schon einmal über die Einführung des Mehrheitswahlrechts gestritten worden; die Wahlrechtsreform bildete eines der großen Reformprojekte, um derentwillen die erste große Koalition, das Kabinett Kiesinger/Brandt, gebildet worden war. Teile der CDU waren es leid, dass die FDP mit weniger als zehn Prozent Stimmenanteil die Richtung und Gangart der Politik bestimmte. Als notorisches Zünglein an der Waage kam ihr unverhältnismäßig viel Macht zu. Die SPD, die zunächst bereit war, bei der Reform mitzumachen, erhielt dann aus der FDP Avancen, man könne eine sozial-liberale Koalition bilden, wenn die Wahlrechtsreform gestoppt würde. Diese Aussicht war für die SPD verlockender als die Perspektive auf einen langen Kampf um die Mehrheit bei einem strukturellen Übergewicht konservativer Wählerschichten. Damit war das Mehrheitswahlrecht vom Tisch, und die FDP blieb bis zum Ende der Kanzlerschaft Helmut Kohls der unverzichtbare Mehrheitsbeschaffer auf Bundesebene: Alle Regierungswechsel waren Folge ihres veränderten Koalitionsverhaltens. Das hat sich mit dem Aufstieg der Grünen und der Bildung rot-grüner Koalitionen geändert. Jetzt kam es darauf an, welches der beiden „Lager“ die Mehrheit be-

HERFRIED MÜNKLER So viele Optionen bei der Wahl, so viel Astrologie zu Volkes Wille danach. Das Mehrheitswahlrecht erscheint da verlockend. kam. Aber auch in diesen Konstellationen haben die kleinen Koalitionspartner einen relativ großen Einfluss, zumindest was die Vetoposition anbetrifft. Inzwischen haben sich durch die absehbare Etablierung der Linkspartei als fünfter Größe im Parteienspektrum die Verhältnisse erneut geändert. Daraus können neue Koalitionsmöglichkeiten, aber auch eine Blockade des Politikbetriebs erwachsen. Das kann sich äußern in den „hessischen Verhältnissen“, aber auch im Zwang zur Bildung großer Koalitionen, wie er auf Bundesebene wahrscheinlich ist. Damit ist die Frage nach dem Mehrheitswahlrecht wieder auf dem Tisch. Das zurzeit geltende Verhältniswahlrecht eröffnet dem Wähler viele Möglichkeiten, seinen politischen Willen differenziert zum Ausdruck zu bringen. Aber die vielen Optionen bei der Wahl haben ihren

Preis, und der besteht darin, dass Parteien und Kommentatoren nach der Wahl eine unendliche Freiheit bei der Ausdeutung des Wählerwillens haben. Was hat er wohl gemeint, der Wähler, das rätselhafte Wesen? Die Wahlentscheidung als Ende des Wahlkampfs wird dadurch infrage gestellt. Der Streit geht weiter; ging es vor der Wahl darum, Stimmen zu gewinnen, so jetzt, deren Bedeutung zu interpretieren. Je mehr Parteien im Spiel sind, desto offener wird der Ausgang. Der Wähler begleicht die Fülle seiner Optionen mit einem Verlust an Einfluss. Das ist im Mehrheitswahlrecht anders. Hier hat der Wähler weniger Optionen, seine Präferenzen zum Ausdruck zu bringen. In der Regel läuft es auf die Alternative tendenziell gleich starker politischer Lager hinaus. Die Entscheidung, welches regiert und welches opponiert, fällt der Wähler. Im Mehrheitswahlrecht wird Ernst gemacht mit der Formel, Demokratie sei die Wahl des kleineren Übels. Die Parteien werden sich darum so aufstellen, dass sie Mehrheiten mobilisieren können. Dazu müssen sie mehrheitsfähige Programme und Personen zur Wahl stellen. Das wäre eigentlich eine verlockende Perspektive. Herfried Münkler ist Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt–Universität zu Berlin.

E

in Innenminister hat viele Möglichkeiten, die Freiheit zu verteidigen, auch die Pressefreiheit. Er kann zum Beispiel Zurückhaltung üben bei Eingriffen in die Privatsphäre der Bürger, auch der Journalisten. Was er sein lassen sollte, das sind Ratschläge an die Presse, wie sie ihre Freiheit nutzt und verteidigt. Solche Ratschläge am selben Tag zu erteilen, an dem das höchste Gericht die Freiheitsrechte gegen seine Politik schützen muss, das ist realitätsblind oder skrupellos. Man kann darüber reden, ob es der richtige Weg für europäische Zeitungen wäre, die provozierenden dänischen Mohammed-Karikaturen zu drucken, um gegen die Verfolgung eines Zeichners zu protestieren. Ob also Medien, als Symbol gegen die unerträglichen Morddrohungen, gemeinsam einen Gebrauch der Pressefreiheit wiederholen sollten, den viele – auch die FR – für fragwürdig hielten. Oder ob es andere Mittel zur Verteidigung dieser Freiheit gibt. Ja, darüber kann man reden. Aber nicht mit dem Innenminister. Der kann helfen, indem er freiheitliche Politik betreibt. Und zur Frage, was Zeitungen drucken sollten, schweigt.

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