Tv, Computer & Das Jahrhundert Von „die Medien“

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Martin Lindner Das Fernsehen, der Computer und das Jahrhundert von „die Medien“. Zur Konstruktion der mediasphere um 1950: Riesman, McLuhan, Bradbury, Orwell, Leinster. The Century of the Media „The 20th century has been called 'the century of the media.' [...] The emergence of non-literary media brought about a completely different media culture [...].“ Yoshihiro Oto (2000)1 „Zeitalter der Massen“, „Jahrhundert des Totalitarismus“, „Jahrhundert der Atombombe“, das „elektrische Zeitalter“ ... Was auch immer das 20. Jahrhundert noch gewesen sein mag - aus jetziger Sicht war es auch, und vielleicht vor allem, das Jahrhundert der Medien.2 Um 1900: Erfindung und in der Folge intensive Entwicklung von Film/Kino, Radio und Fernsehen, zugleich Boom einer neuartigen urbanen Massenpresse; Um 1950: Beginn des Fernsehzeitalter, zugleich Erfindung und erste kommerzielle Nutzung des Computers; Um 2000: Ablösung des Fernsehens als Leitmedium durch die Kombination PC/Hypermedia/WorldWideWeb, zugleich Beginn eines neuen „Jahrhunderts der Medien“.3 Klare Markierungen. Viel zu klar vielleicht. Denn die suggestiven Eckdaten täuschen eine Geschlossenheit und Evidenz vor, die die Konzepte von „Medien“ und „Mediengeschichte“ bislang durchaus nicht besitzen. Dabei sagt die Kurzchronik zweifellos irgendetwas über die Mediengeschichte aus. Es ist nur sehr schwer zu sagen, was genau. Hier ist die Arbeitshypothese durchaus nützlich, dass „um 1950“ die Mitte und die Schnittstelle des century of the media bezeichnet. Denn zunächst einmal wird von hier aus einen doppelter Blick auf die vergangene wie die kommende Jahrhunderthälfte möglich, der Überblick schafft und doch nicht so leicht dem geschichtsphilosophischen Mythos des Anfangs bzw. Endes erliegt. Das Fernsehen, das ab 1950 die nächsten Jahrzehnte prägt, erscheint so zugleich als Konsequenz einer technischen Vision, die sich bereits an der Wende zum 20. Jahrhundert nicht nur technisch, sondern auch wortgeschichtlich manifestiert. (Der Ausdruck "télévision" wurde 1900 in Frankreich geprägt.) Und zugleich entsteht um 1950, vorläufig noch kaum begriffen, eine neue technische Medienvision mit weitreichenden kulturellen Implikationen. Die Vision vom Computer als global brain wurde dann mit den vernetzten Multimedia-PCs (Stand 2004) zwar sicherlich noch nicht eingelöst, aber jedenfalls in Ansätzen verwirklicht. Insgesamt ergibt sich so aus dem archäologischen Blick auf die Zeit um 1950 das Bild eines überaus vielschichtigen Übergangs. Die Fruchtbarkeit des Schemas 1900 - 1950 - 2000 1 Yoshihiro Oto, Innovations in Media Communication Space, in: NIRA Review Winter 2000 Vol. 7 No. 1, S. 30f. (http://www.nira.go.jp/publ/review/2000winter/06oto.pdf, Abruf 04/2004). 2 Eine Google-Recherche (03/2004) ergab allerdings für "century of the media" nur sechs verschiedene, eher entlegene Treffer. Die allerdings setzen die Evidenz der Formel selbstverständlich voraus. 3 Rede der Staatsministerin Weiss am 07.12.2002. Die allerdings verbindet das mit einer anfechtbaren Behauptung: „Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert der Medien sein und im Zentrum der modernen Mediengesellschaft steht der Film.“ (http://www.bundesregierung.de/Bundesregierung/Staatsminister/Reden-, 4979.453721/rede/Rede-der-Kulturstaatsministeri.htm, Abruf 04/2004)

besteht dann gerade nicht darin, dass es klare Verhältnisse schafft. Eher im Gegenteil: Es lassen sich so Fragen präziser stellen, die die suggestive chronikalische Reihung überhaupt erst aufwirft. Das betrifft vor allem drei Aspekte:4 Erstens: Was ist das „Versprechen eines Mediums“? Mit dem Fernsehen setzt sich ein neues Medium durch, das dann bis um 1960 (in den USA etwas früher, in Europa etwas später) zum Leitmedium wird. Aber was ist Ausschlag gebend, um von einem „Leitmedium“ sprechen zu können? Die Durchsetzung bei den Nutzern hat zweifellos um 1950 in den USA die entscheidende Schwelle überschritten (1951 1,5 Millionen Fernsehgeräte). Entscheidender ist ein qualitatives Faktum: Um diese Zeit setzt auch ein diffuses kollektives Gefühl ein, das TV tatsächlich als das Medium begreift, das der Gesellschaft und dem Einzelnen die repräsentative Spiegelung der aktuellen Welt zurückwirft. Programminhalte und Programmvielfalt sind aber zu diesem Zeitpunkt noch recht bescheiden und haben jedenfalls noch nichts mit dem voll entwickelten Fernsehen der 1960er Jahre zu tun. Wenn man also um 1950 die entscheidende medienhistorische Markierung ansetzt, geht man implizit eher von einem schwer fassbaren „Versprechen“ des Mediums aus, dass hier erstmals spürbar wird.5 Was aber dieses Versprechen eigentlich ausmacht und wo es entsteht, ist sehr schwer zu sagen. Zusätzliche Schwierigkeiten ergeben sich, wenn man vom Fernsehen als „Leitmedium“ spricht (die englische Entsprechung dominant medium ist da unverfänglicher). Was war dann vorher „Leitmedium“ – das Kino, das Radio, die Massenpresse, das Buch? Gab es überhaupt ein eindeutiges „Leitmedium“ in dem Sinn, wie dann das Fernsehen es wurde? Welche Kriterien sind für eine solche Klassifikation Ausschlag gebend, wie nützlich ist sie und was folgt dann daraus?6 4 Das betrifft im Prinzip aber auch die anscheinend deutlicheren Markierungen zu Beginn und Ende des Jahrhunderts: Die Revolution der digitalen „Neuen Medien“ hatte zweifellos bis 2000 eine grundlegend veränderte Situation geschaffen. Allerdings vollzog sich parallel dazu weltweit seit 1980 eine tiefgreifende Umwälzung auch im Bereich der audiovisuellen Medien (AV-Medien), die mit dieser Digitalisierung unmittelbar nichts zu tun hatte. Demnach stellt sich die Frage, aus welcher mediengeschichtlichen Perspektive die Vervielfältigung, zeitliche Ausweitung und inhaltliche Veränderung der TV- und Radioprogramme mit der gleichzeitigen Durchsetzung von PC, Multimedia, Internet und WWW zusammengedacht werden kann. Ein ähnliches Problem stellt sich für den Beginn des Jahrhunderts: Es lassen sich auf verschiedenen Ebenen markante Einschnitte setzen, aber diese liegen auf sehr verschiedenen Ebenen. So wurde zweifellos um 1900 das technische Konzept von Radio und TV entwickelt, und damit implizit auch das neue mediale Konzept des broadcasting. Zum „Medium“ im engeren Sinn wurden sie erst Jahrzehnte später. Daneben erreichte zwar Film/Kino sehr schnell ein Massenpublikum, aber auch hier ist durchaus unklar, ob und wenn welche medienhistorischen Folgerungen aus der allerdings auffälligen Synchronie gezogen werden sollen. 5 Der Versuch, „die Dynamik der Medienentwicklung“ als eine Struktur zu begreifen, aus der sich „Wunschkonstellationen“ und „Versprechen“ der jeweils neuen Medien herauslesen lassen, ist der Ausgangspunkt von Hartmut Winkler: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, München 2002 [PDF-Ausgabe, Druckausgabe 1997], S. 17, 27, 55. Die Denkfigur ist durch Freud angeregt, wird dann von Winkler aber weitgehend ohne Rückgriff auf psychoanalytische Theorie angewandt (die gleichwohl einen suggestiven Hintergrund bildet). Den Kern des „Versprechens“ der Medien sieht Winkler in der vereinheitlichenden Abbildung und Modellierung der Welt: Zuerst ganz allgemein im Gegensatz zum bedrohlichen Durcheinander der semiotisch unbewältigten 'primären' Welt , seit den AV-Medien aber auch und vor allem als Flucht vor dem „Grauen vor der Arbitrarität“ (ebd., S. 214), das gerade der große Bewältigungsversuch durch Schrift/Druck zusätzlich erzeugt hatte.

Zweitens: Wann wurde der Computer zum Teil von „die Medien“? Mit der technischen Entwicklung und ersten kommerziellen Nutzung des Computers wurden um 1950 die Grundlagen für die Neue Medien-Revolution der 1990er Jahre gelegt. Das aber würde noch nicht ausreichen, um unter diesem Gesichtspunkt den medienhistorischen Einschnitt „um 1950“ zu privilegieren. Die Geburt des „Computer als Medium“ ließe sich auch um 1970 ansetzen, als Engelbart, Kay, Licklider u.a. die grundlegenden Elemente des Personal Computer entwickelten und das erste Arpanet entstand, oder um 1980, als der PC massentauglich wurde, oder um 1990, mit der Entwicklung des PC zur Multimedia-Maschine und der Konzeption des World Wide Web. Umgekehrt hat es weitreichende Folgen für eine Theorie der Medien, wenn man John von Neumanns Computerarchitektur, den Turing-Test, die ersten IBM-Rechner oder die neue Universalwissenschaft „Kybernetik“ bereits als Daten einer Mediengeschichte im engeren Sinn begreift. Dass es sich hier zumindest um zwei grundverschiedene Typen von „Medien“ handelt, macht schon die unterschiedliche linguistische Form deutlich: „der Computer“ vs. „das Fernsehen“.7 Die entscheidende Frage ist also, wie über den bloßen lexikalischen Kurzschluss hinaus ein einheitliches Beschreibungsmodell beschaffen sein müsste, dass es ermöglicht, die frühen Computer und das Fernsehen unter einen aussagekräftigen Begriff von „die Medien“ zu fassen. Insbesondere wäre zu prüfen, inwiefern der frühe Computer, der ja vor allem „Rechner“ war, auch ein medienhistorisches „Versprechen“ enthielt, das dann aber mit realen Leistungen noch nichts oder kaum etwas zu tun hatte. Dafür spräche jedenfalls, dass der Computer in einem gewissen Sinn tatsächlich längst Teil der Medienkultur war, bevor die Nutzung als „Medium“ im engeren Sinn überhaupt technisch konzipiert wurde: nämlich als wesentlicher Bestandteil der frühen SF-Literatur. Drittens: Was ist Medienkultur, und welche Rolle spielt sie für medienhistorische Epochen? Sicherlich bildete sich in dieser Zeit eine völlig neue Medienkonstellation heraus, mit einer neuen Rollenverteilung und Charakteristik von TV, Radio, Film und Presse. Verwirrenderweise scheint es aber, dass das neue Medium TV nicht einfach Ursache und Auslöser dieser Medienrevolution gewesen ist. Tatsächlich hatte eine ganze Serie medienkultureller, medientechnischer und medienökonomischer Entwicklungen bereits Mitte der 1940er Jahre eingesetzt, die man unter dem Schlagwort „Proto-Popkultur“8 zusammenfassen könnte: der zweite große Boom der Werbewirtschaft, eine Welle von neuen illustrierten Magazinen und von Comic Books, die Massenproduktion der Jukebox und die Einführung der Vinyl-Single mit 45 rpm, die Erfindung des Transistorradios, der Hitparaden und der Proto-Popmusik, des Rock'n'Roll und der DJ-Culture ... Zugleich erreichten 1948 auch die wöchentlichen KinoBesucherzahlen in den USA ihren Allzeit-Rekord.

6 Hier schließe ich mich Winklers Bedenken an: „Zudem verstellt die Rede vom Leitmedium allzu leicht den Blick auf die Tatsache, dass es grundsätzlich Medienkonstellationen sind, ein Konzert verschiedener ineinander verwobener Medien, die eine medienhistorische Situation bestimmen. Wie aber müssen ›Leitmedium‹ und ›ergänzende Medien‹ zusammengedacht werden?“ (wie Anm. 5, S. 188). 7 Dass das noch in den Zeiten von Multimedia so ist, betont Winkler (wie Anm. 5, S. 217, Anm. 2): „Kein Mensch würde sagen, dass er vor dem Fernseher sitzt, um das Fernsehen kennenzulernen; im Fall des Computers ist diese Begründung Standard.“ Noch komplizierter wird die Sache dadurch, dass es sich im Fall des Radios zumindest in den ersten Jahrzehnten wieder anders verhielt: Die ersten fanatischen Radiohörer saßen ja tatsächlich vor dem Radioapparat, um ihn kennen zu lernen. Oder auch: Um das faszinierende Versprechen zu erleben, das vorerst noch in erster Linie durch die Technik selbst verkörpert wurde. 8 „Pop“ als Schlagwort wurde nach 1956 in Londoner Künstlerkreisen geprägt und erstmals vom Kunstkritiker Lawrence Alloway 1957 in einer Publikation benutzt. Zur Bezeichnung einer ganzen Medienkultur wurde es dann ab 1964, als die Pop Art und die Beatles zeitgleich ihren Durchbruch erlebten.

Unter diesen Gesichtspunkten soll nun im Einzelnen gefragt werden, was um 1950 „die Medien“ ausmachte: als Terminus, als technisch und ökonomisch binnenlogisch sich entwickelnde Strukturen, als „Versprechen“ der einzelnen Medien bzw. von „„die Medien“„ insgesamt. Zu diesem Zweck werden vornehmlich Bücher und Buchautoren herangezogen: David Riesman, Marshall McLuhan, Ray Bradbury, George Orwell, Murray Leinster. Das mag seltsam medienfern erscheinen, aber es hat schon seine Berechtigung. Tatsächlich ist die Schriftsprache im Zeitalter der Medien keineswegs anachronistisch geworden. Die secondary orality der Medien, die Walter Ong konstatierte, ist jedenfalls keine wie immer geartete Rückkehr und könnte mit demselben Recht auch als "pseudo-primary literacy" begriffen werden. Und noch das World Wide Web ist noch immer kein Bilduniversum oder gar ein virtueller Cyberspace, sondern im Grunde immer noch ein docuverse, wie Hartmut Winkler, seinerseits Ted Nelson zitierend, schon 1997 feststellte. Nicht trotz, sondern wegen ihrer extremen Arbitrarität ist die Schriftsprache das geeignete Meta-Medium, das die Beschreibung und Modellierung der „Medien“ und ihrer konstruierten „Sinnlichkeit“ ermöglicht – sei es in Gestalt von Roman-Versuchsanordnungen, literarischen Essays oder einer Analyse der medial geprägten „Semiosphäre“: “[spatial models created by culture] are constructed not on a verbal, discrete basis but on an iconic continuum. [...] This image of the universe can better be danced than told, better drawn, sculpted or built than logically explicated. [...] But the first attempts of self-description of this structure inevitably involve the verbal level with the attendant semiotic tension between the continual and the discrete semiotic pictures of the world.”9 Diese Sätze sind auf Semiosphären im allgemeinen bezogen. Die moderne mediasphere seit 1900 konstituiert ein besonderes “image of the universe“, das einen doppelten Charakter hat: sinnlich-ikonisch und verdeckt sprachlich. Sie ist ein System zweiter Ordnung, das von Anfang an auf “self-description“ beruht. Die Aufgabe der schriftlich verfassten Medienwissenschaft, wenn sie sich als eigenständig behaupten will, ist nicht zuletzt die Rekonstruktion und Dekonstruktion dieser Selbstbeschreibung. Die Entdeckung von „die Medien“ ”Collins [...] may have declared recently that television was the winner of its competition to find the word of the century, but the more general term media might perhaps be a better choice.” Michael Quinion (1998)10 ”Da media. What is DA MEDIA? A lot of you out dere probably won't even have heard of da WORD! So ... is books part of da media?” (Ali G. a.k.a. Sasha Baron Cohen in The Ali G. Show, 2000) Seit das Wort in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen ist, d.h. in den letzten zwei, drei Jahrzehnten, verstand es sich immer schon von selbst, was „die Medien“ sind: Zeitungen, Magazine, Radio, Film und Fernsehen, neuerdings das Internet. Trotzdem hatte der TVComedian Ali G. Recht, als er 2000 seine falsche Talk Show mit echten Medienwissenschaftlern einleitete: In gewissem Sinn haben wir Medienmenschen noch nicht einmal das Wort gehört, gerade weil es so allgegenwärtig ist wie die Medien selbst: “Fish don't know water exists till

9 Yuri M. Lotman, The Mediasphere. Teil II von: Yuri M. Lotman, Universe of the Mind. A Semiotic Theory of Culture. Introduction by Umberto Eco, London, New York 2001. (S. 121 - 214, Zitat S. 203.) 10 Michael Quinion 1998 in einem Eintrag („medium“) in seiner linguistischen Website World Wide Words (www.quinion.com/words, Abruf 04/2004).

beached“ (McLuhan). 11 Aber das Wort wird offenbar dringend benötigt, um Phänomene zu bezeichnen, für die andere Worte nicht passen. Und vielleicht ist ja auch die Tatsache, das jemand wie Ali G. diese Frage stellt, ein Indiz dafür, dass sich irgend etwas an der Beschaffenheit des Wasser verändert hat. Es waren bezeichnenderweise tatsächlich die Jahre um 1950, als der Ausdruck "the media", so wie er heute gebraucht wird, allmählich aufkam. Gebraucht wurde er, als sich in den suburbs der USA die neue Mittelstandskultur herausbildete, die in eben diesem Jahr David Riesmans soziologischer Bestseller The Lonely Crowd beschrieb und analysierte:12 “Dem Konsum von Bildung, Freizeit, Luxus und öffentlichen und privaten Dienstleistungen entspricht die Steigerung des Konsums von Wort und Bild durch die neuen Massenkommunikationsmittel. [...] Die Verbindung mit der Außenwelt und mit dem eigenen Ich wird in zunehmendem Maße durch das Medium der Massenkommunikationsmittel hergestellt.“ (37; meine Hervorhebung) Riesmans Buch weist über 45 Fundstellen für "media of mass communication" auf. Die deutsche Übersetzung von 1956 übersetzt das jedoch noch nicht mit „Medien“, sondern mit „Massenkommunikationsmittel“. Einmal entsteht so der verschraubte Ausdruck „Medium der Massenkommunikationsmittel“, der besonders sinnfällig macht, dass man für den neuen Terminus hier noch keine Verwendung hatte. Jedoch blieb aber Riesman auch in den USA vorläufig eher ein Einzelfall. Der Ausdruck "the media of mass communication" bürgerte sich erst ab ca. 1960 allgemein ein, wobei aber auch dann noch die Betonung auf communication lag. Das zuständige wissenschaftliche Paradigma war die Theorie der „Kommunikation“ bzw. der „Massenkommunikation“, die selbst erst in den 1940er Jahren ausformuliert worden war und für „die Medien“ als theoretisch eigenständige Größe keine Verwendung hat. Noch lange blieben sie auch für die akademische Wissenschaft so unsichtbar, wie es McLuhans FischGleichnis behauptet. Riesman ist eine frühe Ausnahme. Er spricht zwar auch von "media of mass communication", doch er betrachtet die Medien de facto eben nicht einfach als Vermittlungsinstanzen von zwischenmenschlicher Kommunikation, sondern als eigendynamisches und rückkoppelndes System, bei dem eben nicht mehr klar ist, wer hier „sendet“ und wer „empfängt“. Die Medien erscheinen hier als entscheidender Umwelteinfluss für den neuen sozialen Typus, der umgekehrt als Konsument wie auch als Gegenstand die selben Medien selbst prägt und verändert.(96) Zu diesen neuen Medien, die den neuartigen „außengeleiteten Charakter“ 11 Diese prägnante Version des berühmten Fisch-Gleichnisses stammt aus Culture is Our Business, New York: McGraw Hill 1970, S. 191. Ausführlicher ist die frühere Formulierung aus dem berühmten Playboy-Interview:”>I call this peculiar form of self-hypnosis Narcissus, a syndrome whereby man remains as unaware of the psychic and social effects of his new technology as a fish of the water it swims in. As a result, precisely at the point where a new media-induced environment becomes all pervasive and transmogrifies our sensory balance, it also becomes invisible” (High Priest Of Pop-Cult. An Interview With Marshall McLuhan, in: Playboy, März 1969, 53-74, S. 56). Am populärsten ist allerdings eine Sprichwortfassung, die sich nicht bei McLuhan selbst findet:”>I don't know who discovered water, but I'm sure it wasn't a fish.” Dass es sich hier, wie auch kolportiert wird, um ein ghanaisches Sprichwort handelt, kann ausgeschlossen werden. In Umlauf scheint diese Version der alte McLuhan-Mitstreiter Edmund Carpenter gebracht zu haben, der dabei seinerseits den mündlichen Ausspruch eines anderen McLuhan-Freund zitierte: den Jesuiten John Culkin, der 1969 in New York das Center For Understanding Media gründete. 12 The Lonely Crowd. A Study of the American Character (1950, zweite Auflage 1953) wurde 1954 eines der ersten seriösen Paperbacks überhaupt und damit selbst Symptom der medienhistorischen Wende. Das Buch erreichte eine Auflage von 1,4 Millionen und brachte den Autor auf das Titelblatt der Zeitschrift Time, die darin selbst eine durchaus prominente Rolle spielt.

erzeugen, zählt Riesman neben Radio, Kino, Comics bereits das Fernsehen, aber auch die Zeitungen und vor allem die „Magazine“, die sich tatsächlich nach 1945 vervielfachten. Als Soziologe entwirft er dabei noch keine Medientheorie, aber seine Phänomenologie einer neuen Medienkultur hat durchaus theoretische Implikationen. In Ansätzen ist hier der medial turn bereits vorgezeichnet, den dann in der Folge der Pionier McLuhan propagiert.13 An der medientheoretisch interessantesten Stelle seines Buchs nimmt Riesman sogar McLuhans radikale The medium is the message-Formel vorweg, die dieser selbst erst 1959 prägte.14 Es sei falsch, schreibt er, die Massenmedien wegen ihres Inhalts zu fürchten und wegen ihrer ästhetischen Form zu verachten, denn in der „unmittelbaren Nachrichtenübermittlung“ liege nämlich gar nicht ihre eigentliche Stärke: „Wenn diese Tatsache sowohl den Planern und Gestaltern der Massenkommunikationsmittel bewusst würde [...] könnten sie das Medium selbst [!] an Stelle der übermittelten oder mutmaßlich übermittelten Botschaften gestalten. [...] Ich möchte nämlich annehmen, dass ein Land, das künstlerisch erstklassige Filme, Zeitungen und Rundfunkprogramme herstellt - einmal abgesehen von dem Inhalt, der hier tatsächlich von untergeordneter Bedeutung ist - sowohl in politischer als auch in sozial-kultureller Hinsicht lebensfreudiger und glücklicher werden würde.“ (219) So weit ich bis jetzt sehe, war Riesman der erste Theoretiker, der "media" (in der Mehrzahl) systematisch zur Bezeichnung neuer Kulturphänomene einsetzte. Der erste jedoch, der den Plural "the media" in den Titel eines wissenschaftlichen Textes setzte und die Eigendynamik der Medien zum zentralen Thema machte, war vermutlich wirklich McLuhan im Jahr 1954.15 Als er das tat, hatte er mit Sicherheit Riesmans Aufsehen erregende Studie gelesen. Aber es kam noch mindestens eine andere Quelle hinzu: Die Konzeption des "medium" (als Singular, nicht abgeleitet vom Plural "the media"), die zur selben Zeit der Technik- und Wirtschaftshistoriker Harold Innis entwickelte. Ein sehr früher Brief von McLuhan an Innis aus dem Jahr 1951 zeigt allerdings, dass die grundlegenden Denkfiguren bereits ausgeprägt sind, bevor er diese Bekanntschaft macht. Wie Riesman ging McLuhan aus vom sich abzeichnenden Ende der literarischen Buchkultur. Er interessierte sich dann aber als Literaturwissenschaftler sehr viel stärker für die neuartigen „Texte“ der elektronischen Medien. Die frühe Beschäftigung mit der Werbung16 mündete in das Buch The Mechanical Bride. Folklore of Industrial Man (1951), in dem er schon u.a. die Titelseite der New York Times als ein nicht-lineares „Mosaik“ von Zeichen analysierte. Darin scheint allerdings weder "medium" noch "media" als theoretischer Terminus eine besondere Rolle gespielt zu haben. Besonderes Gewicht erhält der Begriff (nicht das Phänomen) aber tatsächlich erst nach der Kenntnisnahme des Ansatzes von Innis, der zuerst "medium" mit einer spezifischen Materialität in Verbindung brachte: „Ich habe mich [ ...] um die Entwicklung der These bemüht, dass die Zivilisation in ihren verschiedenen Stadien von unterschiedlichen Kommunikationsmedien beherrscht worden ist, wie z.B. Ton, Papyrus, Pergament, und dem zunächst aus Stofflappen und später aus Holz erzeugten Papier. Jedes dieser Medien ist für die jeweilige Schriftart von großer Bedeutung, und daher auch für die jeweilige Form des Bildungsmonopols [...].“17 13 In einem frühen Aufsatz nimmt er auf Riesman explizit Bezug: Marshall McLuhan, David Riesman and the Avant-Garde, in: Explorations 1957, H. 7, S. 112 – 116. 14 Marshall Mc Luhan, Myth and Mass Media, in: Daedalus 88 (1959), H. 2, S. 339 – 348. Gekürzte deutsche Fassung in: Texte zur modernen Mythentheorie, hrsg. v. Wilfried Barner, Anke Detken und Jörg Wesche, Stuttgart 2003, S. 120 – 138. 15 Media as Art Forms, in: Explorations, 1954, H.2 (April), S. 6 - 113; New Media as Political Forms, in: Explorations, 1954, H.3 (August), S.120 - 126. In der Folge benutzte er parallel dazu auch "mass media" zu gleichen le Teilen. 16 In den Aufsätzen American Advertising (1947) und The Age of Advertising (1953). 17 Harold Adams Innis, The press. A neglected factor in the economic history of the twentieth century. Stamp Memorial Lecture, University of London, London 1949. Wieder abgedruckt in:

Es handelte sich für Innis darum, hinter den anscheinend unproblematischen „Kommunikationsmedien“ die spezifisch materielle (und davon abhängig auch die sozioökonomische Qualität) des „Mediums“ an sich herauszuarbeiten. Das „neue Medium“ par excellence war hier nicht etwa das Radio oder das Fernsehen, sondern das Papier, im Gegensatz zu Stein, Ton und Papyrus. McLuhan interessierte laut seinem Brief an dieser Perspektive, dass mit diesem großangelegten historischen Blick die scheinbar selbstverständliche Fixierung auf die "present literary epoch" überwunden werden konnte, um so das Eigentümliche der neuesten "new media" ("the magazines, the radio and television") zu erfassen, die den Schwerpunkt auf "visual-auditory communication" legten.18 Zugleich ergab sich nun die Möglichkeit, diese Merkmale aus ihrer besonderen „elektronischen“ Materialität herzuleiten.19 Von Anfang an ist also auch McLuhans Medienbegriff ambivalent, denn er entsteht aus einer Verschmelzung der Bezeichnung für die zeitgenössischen "media", wie sie Riesman benutzt, und der spekulativen Supertheorie des "medium", die Innis entwickelt (dessen Bücher freilich immer noch "communication" im Titel tragen). Damit ist eine bis heute notorische Tendenz der Mediengeschichte vorgezeichnet: Ging man gerade noch von der konkreten Erfahrung der neuen Medienkulturen und Medientechniken aus, also etwa von Film, Radio, Magazinen und Fernsehen, so ist man im nächsten Schritt schon bei „der Mensch“ und „das Medium“. Im Fall des Pioniers McLuhan lässt sich das noch rechtfertigen. Sein Fisch-Bonmot deutet hierschon an, warum der Sprung in die Spekulation möglicherweise am Anfang unvermeidlich war. Damit der Akademiker das Wasser, in dem er lebt, als wissenschaftliches Objekt untersuchen kann, muss er sich ja zuerst einmal an den Strand werfen ("getting beached"). Er muss künstlich Distanz herstellen. Die weltgeschichtliche Mega-Perspektive ermöglicht das ebenso wie auch die gewagten SF-Metaphern („elektronisches Nervensystem“), die McLuhan so gern verwendet. Er ist dann allerdings einer der wenigen, bei denen solche Denkfiguren, unabhängig von ihrer theoretischen Haltbarkeit, zweifellos zu einer Vielzahl von erstaunlich fruchtbaren und verwertbaren Detailbeobachtungen führen. Es gibt aber noch zwei weitere mögliche Quellen, aus denen man um 1950 einen neuen Ders., Empire and Communication. London 1950. Es folgte noch der von McLuhan eingeleitete Band The Bias of Communication, Toronto 1951. 18 Letter to Harold Adams Innis (Toronto, 14th March 1951), zitiert nach http://www.gingkopress.com/_cata/_mclu/_innis.htm (Abruf 04/2004; Vorabpublikation der für 2005/2006 geplanten Briefausgabe). Sein künftiges Forschungsprogramm, das hier bereits skizziert wird, betitelt McLuhan als“Communication theory and practice“ und zeigt sich dabei besonders an Theorien interessiert, die Kommunikation in Analogie zum Nervensystem beschreiben. Als zentrales Merkmal der ”new media” nennt er”>the new stress on visual-auditory communication in the magazines, the radio and television”. Im übrigen bezieht er sich explizit auf die Kommunikationstheorien von Karl Deutsch und Norbert Wiener, die er beide kritisiert wegen ihrer “failure to understand the techniques and functions of the traditional arts as the essential type of all human communication“. Dem stellt er Mallarmés Sicht der modernen Presse gegenüber, die er interessanterweise in Beziehung zu Perspektive der “advertising agencies“ bringt. Tatsächlich ist die Perspektive der modernen Literatur wohl bis heute diejenige, die mehr noch als die Werbung selbst imstande war, die Medien als eigenständiges kultursemiotische System zu betrachten. Die Medienwissenschaftler, die zugleich Literaturwissenschaftler sind oder waren, sind jedenfalls zahlreich: McLuhan, Barthes, Eco, Raymond Williams, Kittler, Hörisch und viele weniger Namhafte (den Verfasser eingeschlossen). 19 Im Brief an Innis sprach McLuhan noch von "mechanical media", während er in der Folge dann "mechanical" in Opposition zu "electronical" setzt.

„Medien“-Begriff hätte ableiten können, und es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass der belesene und eklektizistische McLuhan sie im Prinzip kannte. In Horkheimer/Adornos Dialectic of Enlightenment (1944) finden sich ein paar verstreute und insgesamt theoretisch inkohärente Verwendungen von "medium/media". Wichtiger für McLuhans Begriff könnte eine andere Tradition sein, die bis in die 1920er Jahre zurück geht und von Beginn an zum Kollektivsingular tendiert: “The singular media and its plural medias seem to have originated in the field of advertising over 50 years ago; they are apparently still so used without stigma in that specialized field. [...] The great popularity of the word in references to the agencies of mass communication is leading to the formation of a mass noun, construed as a singular [...].”20 An dieser Stelle ist ein begriffsgeschichtlicher Exkurs nötig, da die überaus aufschlussreiche und komplexe Entwicklung des Begriffs "media"21 seit 1900, so weit ich sehe, bis jetzt noch nirgends zusammenfassend kommentiert wurde. Die exaktesten Angaben bislang finden sich immer noch im Oxford English Dictionary.22 Daraus ergibt sich das Folgende: Der Begriff medium als noch nicht verselbstständigtes lateinisches Wort konnte vor 1900 in beinahe beliebigen Zusammenhängen verwendet werden, in denen es um die Funktion des Vermittelns geht. In diesem Sinn wird er 1795 einmal beiläufig auch für das Gentleman’s Magazine verwendet. Die nächste einschlägige Fundstelle stammt aber erst aus dem Jahr 1906, betrifft wieder den Singular medium und klingt bereits sehr modern: Eine Gazette gilt als “the best advertising medium in the country“. Bezeichnend ist die Formel “advertising medium“. Denn tatsächlich gibt das Dictionary erst wieder für die 1920er Jahre mehrere Belege für media/medium, die einen eingeführten Wortgebrauch vermuten lassen, und die stammen durchweg aus der Fachsprache der nach 1900 entstehenden Werbewirtschaft. Sie markierte wohl den einzigen Blickwinkel, aus dem man am ehesten einen nüchternen und analytischen Blick auf das neue Phänomen der „Medien“ werfen konnte, ohne sie gleich als Ausdruck von Weltanschauungen, von Massenmanipulation usw. zu begreifen. Die zwei späteren Belege (1927 und 1929) lauten dabei explizit auf “advertising media“. Die zwei früheren Belege von 1923 stammen von unterschiedlichen Autoren im Sammelband Advertising and Selling und verwenden die Zusammensetzung „mass media“, die aber hier, dem amerikanischen Sprachgebrauch entsprechend, bereits ganz wertfrei verwendet wird. Daraus folgt: Media ist nicht der Plural von medium. Der Singular in der hier interessierenden verselbständigten Bedeutung ist offenbar erst dann sinnvoll und nötig, wenn es überhaupt media gibt, d.h. viele verschiedenartige Printmedien (“newspapers, journals, magazines and 20 Merriam-Webster Dictionary Online, s.v. "media", http://www.m-w.com/cgi-bin/dictionary (Abruf 04/2004). 21 Die deutsche Begriffsgeschichte ist dagegen vor ca. 1960 unergiebig. Niemand nannte hier die Medien „Medien“, bevor der Begriff aus den USA importiert wurde. Die üblichen begriffsgeschichtlichen Hinweise auf den spiritistischen „Medium“-Begriff der 1880er Jahre, der seinerseits aus dem theologischen Kontext kommt, sind also eher von kultur- als von mediengeschichtlicher Bedeutung. Und selbst für die USA ist eine direkte Beziehung eher unwahrscheinlich: Im theosophischen Standardwerk Isis Unveiled von Helena Petrovna Balavatsky (New York 1877) lautet der Plural von "medium" durchgehend "mediums". Eine Beziehung zu den "advertising media" ist nicht zu erkennen. 22 Oxford English Dictionary (CD-ROM). 2nd ed. Version 1.13, Oxford 1994. Darauf bezieht sich auch Michael Quinion (vgl. Anm. 10) und wohl indirekt auch Wolfgang Coy (vgl. den Hinweis in Wolfgang Coy, [email protected] II, in: Martin Warnke, Wolfgang Coy, Georg-Christoph Tholen (Hrsg.), HyperKult - Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien, Basel 1997, S.15-32. Zitat S. 23. Draft-Version im Netz unter http://waste.informatik.huberlin.de/Coy/Hamburg_11_96.html).

such-like printed publications“, 1929; der Beleg von 1927 verwendet den Terminus sogar bereits als Kollektivsingular). Seit 1923 bezeichnet er auch verschiedenen Typen von Medien, als das Radio als das erste grundlegend andere Medium eingeführt und sofort für Werbung genutzt wird. Merkwürdigerweise scheint die Begriffsprägung, wenn man dem Dictionary folgt, vorerst keine weiteren Folgen gehabt zu haben: Danach gibt es keinen Beleg für "media“ oder "mass media" bis 1942, auch wenn anzunehmen ist, dass innerhalb der Fachsprache "media" im engen technischen Sinn von „Werbeträger“ weiterhin verwendet wurde. (Diesen fachsprachlichen Terminus technicus gibt es ja noch heute.) Der Grund ist möglicherweise, dass sich nun ein theoretisches Paradigma ausformt, das soziologische und sozialpsychologische Wurzeln hat und dem common sense folgend media als bloße Vermittlungsinstanz von mass communication behandelt. Auch die parallelen Bestrebungen der US-Werbewirtschaft um Scientific Advertising (so der Titel des bahnbrechenden Buchs von Claude C. Hopkins von 1923) blieben offenbar auf „Kommunikation“ fixiert: Im Zentrum stand die Meinungs- und Publikumsforschung, die George Gallup in den 1930er Jahren für die Werbeagentur Young & Rubicam entwickelte. Erst ab 1950, und wiederum eher langsam, formt sich zusammen mit einer neu entstandenen, extrem dynamischen Medienkultur das Konzept von "the media" aus, das McLuhan auf den Begriff brachte. Parallel dazu, und im allgemeinen Sprachgebrauch noch lange dominierend, bürgerte sich "mass media" ein, das aber zweideutig blieb: Im beiläufigen Sprachgebrauch konnte es tatsächlich alle die widersprüchlichen und komplexen Phänomene der Medien mit abdecken, im theoretischen Sprachgebrauch tendierte man aber weiter dazu, das eigenständige technischsemiotisch-soziale System, das "the media" meint, auf Soziologie und Psychologie zu reduzieren. Man verstand darunter im Wesentlichen das, was der Brite Julian Huxley, erster Direktor der UNESCO, sehr früh im Jahr 1947 so zusammen fasste: ”The media of mass communication - the somewhat cumbrous title (commonly abbreviated to 'Mass Media') proposed for agencies, such as the radio, the cinema and the popular press, which are capable of the mass dissemination of word or image.”23 Der nächste Dictionary-Beleg für "the media" (ohne "mass") findet sich erst wieder 1958 (Times Literary Supplement) und ist dann schon eindeutig Im Sinne McLuhans gebraucht. “What is da media?“ lautete die eingangs zitierte Frage, die der durchtriebene Comedian Ali G., der als anglopakistanischer Straßenrapper auftritt, in seiner Talkrunde tatsächlich nichtsahnenden weißhaarigen Medienwissenschaftlern stellte. Und selbst avantgardistische Medientheoretiker antworten auf diese Frage immer noch gern in schönster bildungsbürgerlicher Manier mit „Lassen Sie mich ein wenig ausholen. Schon die alten Griechen (Ägypter, Sumerer, Höhlenmaler) ...“ Systematisch entspricht dem die häufig beklagte Explosion des Medienbegriffs. Die Zeitung und das Telefon, das Buch und das Internet, der Computer und das Web, der Fernseher und das Fernsehen, die assyrische Tontafel und das Radio, der Druck und die Luft, die Elektrizität und das Auto, das Abendmahl, die Macht und die Liebe, die Hostie und das Geld: alles ist Medium. Dann allerdings wird es schwierig, einen medienhistorischen Text vorzulegen, der „sich nicht mit dem Satz >Alle Geschichte ist Mediengeschichte< resümieren lässt“, wie der Literaturwissenschaftler Jochen Hörisch selbstironisch einräumt.24 23 Julian S. Huxley, UNESCO. Its Purpose and Its Philosophy, Washington DC 1947, S. 58. Zitiert nach Oxford English Dictionary, a.a.O. 24 Hörisch gibt von dieser Schwierigkeit dann in seiner Mediengeschichte Der Sinn und die Sinne (Frankfurt a.M. 2001) in einem sehr langen und gewundenen Satz Zeugnis: „Dem Sog, ein Buch vorzulegen, das sich mit dem Satz >Alle Geschichte ist Mediengeschichte< resümieren lässt“ widerstehe er nur dadurch, „dass er erstens die Gültigkeit des Satzes von der schwindenden Halbwertszeit aller Theorien auch in diesem Fall“ anerkenne und indem er zweitens „gerade noch jene [...] Allgemeinverbindlichkeiten in einem so dramatischen wie präzisen Sinn als Massenmedien“ begreife, „die zuvor [...] kaum jemals als Medien wahrgenommen wurden: das

Aus einem solchen Ansatz im Stil von Toynbee und Spengler ergeben sich im günstigen Fall anregende essayistische Spekulationen, aber die ersetzen nicht, sondern fordern gerade akribische Analysen konkreter Medienkonstellationen.25 Aus der skizzierten Begriffsgeschichte lässt sich nun die These ableiten, dass der Beginn einer Geschichte von „die Medien“ tatsächlich erst um 1900 anzusetzen ist.26 Zeitgleich mit dem technischen Entwurf der elektronischen Medien Radio und Fernsehen veränderte sich nämlich damals das eigentliche Leitmedium der Zeit, die illustrierte Massenpresse, tiefgreifend.27 Mit der Entstehung der Yellow Press (bzw. der britischen Tabloids) nach 1895 wandelte sich „die Presse“ vom minderwertigen Abkömmling der Schriftkultur (der sie freilich aus bildungsbürgerlicher Sicht blieb) endgültig zu einem neuen und eigentümlichen Medium, das nicht nur eine neue Visualität begründete (Einführung der Comics, neues Layout),28 sondern bereits Merkmale einer neuen sekundären Oralität annahm (die auf der Straße ausgerufenen Schlagzeilen, die kraftvolle und ordinäre „Stimme“ der Artikel, die atemlosen Reportagen der „rasenden Reporter“ ...). Diese neue Visualität der Zeitschrift war nicht in erster Linie technisch veranlasst, denn trotz verbesserter Drucktechnik wurden als Illustration weiterhin Zeichnungen bevorzugt, weil sie dramatischer waren. Die passende Aufnahmetechnik und Bildsprache (und wohl auch das nötige „sachliche“ Lebensgefühl) für die Pressefotografie entwickelte sich erst ca. 1895 - 1925. Die neue Visualität um 1900 korrespondierte stattdessen eher mit der zeitgenössischen Abendmahl und das Geld.“ (17f.) Das aber heißt eigentlich, Hörisch widersteht dem Sog gerade nicht, aber er rechtfertigt dies dadurch, dass dann nicht-triviale Einsichten zu Tage gefördert werden, wenn das Konzept „Medien“, das auch er aus den modernen technischen Massenmedien destilliert hat, auf das „Jenseits der Medien“ angewendet wird. Für dieses Feld erbringt dieser Verfremdungseffekt dann tatsächlich interessante Resultate, aber umgekehrt gilt das weit weniger. Das Eigenartige der modernen elektronischen Medien wird durch die inflationäre Ausweitung des Medienbegriffs in der Regel überspielt und ausgeblendet. Nun sind in irgendeiner Weise „die Medien“ sicherlich auch Teil von übergreifenden Geschichten der kulturellen Zeichensysteme, der menschlichen Kommunikation und der Technik. Aber um darüber klare Aussagen treffen zu können, müsste man zuvor ihre Binnenlogik(en) und Eigendynamik(en) erst herausgearbeitet haben. 25 Ebenso irrig ist allerdings die umgekehrte Annahme, es könne eine empirische Medienwissenschaft und Mediengeschichte geben, die ohne explizite Definition und Theorie von „Medien“ auskommt. Das führt zwangsläufig zu dem Typus pseudo-empirischer Kommunikationswissenschaft, die nur immer der rasenden Medien-Entwicklung hinterher stolpert und in umständlichem Jargon nachbuchstabiert, was ohnehin jeder weiß und sieht. 26 Die genaue Datierung ist natürlich Geschmackssache. McLuhan geht zurück auf die Zeitungen, die in den 1840er Jahren die neue Telegraphentechnik nutzen, um die news zu erfinden. Aus meiner Sicht ist das eher als Teil einer Vorgeschichte zu betrachten, weil die Schriftkultur weiter dominiert und ein eigendynamischer Umschlag der medialen Verhältnisse erst um die Jahrhundertwende erkennbar wird. 27 Vgl. etwa die pointierte Zusammenfassung von Neil Gabler, Das Leben, ein Film. Die Eroberung der Wirklichkeit durch das Entertainment, München 2001, S. 82 – 89. 28 Vgl. hierzu besonders Barbara Duttenhöfer / Clemens Zimmermann, Zeitschriften um 1900. Deutschland, Frankreich und Russland im Vergleich, in: magazin forschung 2/2002 (OnlineMagazin der Universität des Saarlandes, http://www.uni-saarland.de/verwalt/kwt/f-magazin/22002/4.pdf, Abruf 04/2004).

metropolitanen Entertainment-Kultur (Film, Cabaret, Plakate, technisch reproduzierte Fotos und Bilder, gemalte Werbeschriftzüge).29 Das Papiermedium Massenpresse, nicht der Film, nahm in gewisser Hinsicht bereits den Paradigmenwechsel der elektronischen Medien vorweg. Um 1900 war Film/Kino noch weniger Bestandteil von „die Medien“ als ein wichtiger Bestandteil von deren Umwelt, nämlich als technisierte Form des entertainment. In dieser Hinsicht waren vermutlich die ersten Film-Fanzeitschriften (Moving Picture World, 1907; Photoplay, 1911), und damit die Geburt der "celebrity culture",30 mediengeschichtlich mindestens ebenso einschneidend wie die Entwicklung des Kinematographen durch die Gebrüder Lumière.31 The Real World: Big Brother Is Us „Das Fernsehen ist Wirklichkeit, es drängt sich auf [...] Es ist eine Umwelt, so wirklich wie die Welt selber. Sie wird und ist dann wahr.“ Ray Bradbury, Fahrenheit 451 (1953)32 Im Jahr 1953 erzählt Ray Bradburys SF-Roman Fahrenheit 451 die Geschichte eines Mannes, der sich gegen die Medienwelt der Zukunft auflehnt. Montag ist Mitglied der Feuerwehr, die versteckte Bücher aufspürt und verbrennt, entwickelt sich dann aber zum Rebellen. Seine Frau Mildred geht ganz in der totalen Fernseh- und Radiowelt auf. Wie im viel späteren FischGleichnis McLuhans erscheint sie bereits hier metaphorisch als Meer: Nachts trägt Mildred „Rundfunkmuscheln“ in den Ohren und lässt sich von einer „Flut“ von „Musik und Geräusch“ „umbranden" (22). Am Tag hält sie sich nur im Wohnzimmer auf, das mit drei „Tonfarbwänden" (55) und „3D-Raumton“ (92, 94) zum Fernsehraum umgebaut wurde. Von innen gesehen erscheint es als „wimmelndes Meer“, in dem man untergeht (170). Von außen gesehen ist es eher ein Aquarium, wie Montag feststellt, als er es einmal abschaltet: „Die Bilder verliefen, als hätte man aus einem ungeheuren Becken mit zappelnden Fischen das Wasser abgelassen.“ (104) Faszinierend an Fahrenheit 451 ist, dass es bereits aus den unvollkommenen Anfängen des Fernsehens um 1950 die Vision einer totalen Medienwelt ableitet, die aus heutiger Sicht erst seit den 1980er Jahren Zug um Zug realisiert wird. Es gibt Quizshows, die fragmentiertes Pseudowissen an die Stelle des zusammenhängenden Buchwissens setzen (70), eine Art Wochenschau, die wie ein rasend schnell geschnittener surrealer Videoclip mit mehreren simultanen Ebenen geschildert wird (104), und die permanent laufenden Familienserien, die

29 Duttenhöfer/Zimmermann, wie Anm. 28, S. 6 f. 30 Die eigentliche "Celebrity Culture", die sich auf Medienmenschen bezog, entstand ”by the second decade of the twentieth century with the emergence of movie fan magazines (Moving Picture World, later followed by Photoplay, Modern Screen and Silver Screen) that openly celebrated movie stars and their lives” (David P. Marshall, Celebrity and power: fame in contemporary culture, Minneapolis: University of Minnesota Press 1997, S. 8) Vgl. auch Amy Henderson, Media and the Rise of Celebrity Culture. (Online-Seite der Organization of American Historians: www.oah.org/pubs/magazine/Communication/henderson.html, entspricht der Druckversion im OAH Magazine of History 6, Spring 1992). 31 Zum spannungsvollen Verhältnis von TV und Kino ist Marshall McLuhans Kommentar immer noch grundlegend (Understanding Media. The Extensions of Man. London, New York 2001 [Erstausgabe 1964], S. 320 – 323). 32 Ray Bradbury, Fahrenheit 451, Zürich 1981, S. 93f. Alle weiteren Seitenangaben im laufenden Text dieses Abschnitts beziehen sich auf diese Ausgabe.

der fernsehsüchtigen Frau die Realität ersetzen.33 Diese Figuren betrachtet sie ausdrücklich als ihre „Familie“. Dabei gibt es keine äußere Handlung, nur unaufhörliche Gespräche, die keinen erzählbaren Inhalt haben.34 Die allerneueste Variante sind Drehbücher, die für die Zuschauerin eine Rolle aussparen, die sie im eigenen Wohnzimmer mitspricht (29). TV ersetzt nicht die Wirklichkeit. „Das Fernsehen ist Wirklichkeit“ (94). Zu großen Teilen erscheint Fahrenheit 451 wie eine direkte, allerdings einseitig negativ gedeutete Umsetzung der Studie Riesmans, die im selben Jahr ihre zweite Auflage erlebte. Die Medienkultur der „außengeleiteten Charaktere“ hat hier die absolute Herrschaft angetreten, die Buchkultur der „innengeleiteten Charaktere“ wird totalitär unterdrückt. Zugleich nimmt der Roman McLuhans provokativste Thesen um 15 Jahre vorweg - neben der Fisch/Meer-Metapher selbst noch die spätere Steigerung von The medium is the message zu The medium is the massage: „Her [...] mit allem, was automatische Reflexe auslöst. [...] Ich bilde mir dann ein, ich hätte etwas von dem Stück, wo ich doch bloß vom Schall erschüttert bin. Mir ist es einerlei. Ich bin für handfeste Unterhaltung.“ (70) Daraus muss man folgern, dass Bradbury und McLuhan gar nicht in erster Linie auf die realen Erfahrungen mit dem Fernsehen reagierten. Ihr visionäres Bild der Medien ist eher vergleichbar mit der Virtual Reality-Hysterie zu Anfang der 1990er Jahre, die ja ebenfalls mit dem realen Medienangebot wenig zu tun hatte. Dabei lässt sich von vornherein nie genau sagen, wo der Ursprung des Winkler'schen „Versprechens“ der neuen Medien liegt: In der hellsichtig extrapolierten Entwicklungslogik "des Mediums selbst" oder in einer kulturellen Projektion, die der technischen und ökonomischen Medienentwicklung vorauseilt und dann als self-fulfilling prophecy wirkt? Zumindest im gegenwärtigen Frühstadium der Medienwissenschaft muss man beide Beschreibungsmodelle nebeneinander verwenden, in dialektischer Ergänzung. Einiges scheint dafür zu sprechen, das Fernsehen als vorläufige Vollendung des Versprechens aufzufassen, dass die neuen elektronischen Medien bereits um 1900 machten. Dort scheint eine anscheinend nicht zu bremsende Eigendynamik ihren Anfang zu nehmen, die auf die umfassende Verdoppelung der „primären Welt“ abzielt. Alle Dimensionen der "natürlichen" Kommunikation werden nach und nach medientechnisch reproduziert. Dabei ist der Fluchtpunkt dieser Dynamik eben nicht einfach die sinnliche Einheit von bewegtem Bild, Stimme und musikalisch codiertem Gefühl, die dann der Tonfilm in den 1930er Jahren realisierte. Das Versprechen war damit nicht eingelöst. Ein Jahr, nachdem die amerikanischen Kinos die Rekordmarke von 90 Millionen Zuschauern verzeichnet hatten, entstanden die großen TV-Networks und leiteten das golden age of TV ein. Film/Kino begründet eher eine Spaltung als eine Verdoppelung der Welt. Der verdunkelte Kinosaal ist eher die kollektive Entsprechung zum „Allein-Sein“ des Buchlesers38, während das 33 Die frühen TV-Fiktionen waren 1953 noch „Stücke“, d.h. sie wurden live im Studio gespielt, u.a. auch von Marlon Brando, Paul Newman, Ronald Reagan und Steve McQueen. Tatsächlich liefen beinahe jeden Abend solche "Television Dramas", an bestimmten Tagen auch in allen drei Programmen parallel: “Here, in one single evening viewers could choose between Kraft Television Theater (ABC, 1953-55), Four Star Playhouse (CBS, 1952-56), Ford Theater (NBC, 1952-56) and Lux Video Theater (NBC, 1954-57).“ (Vgl. Anna Everett, The Golden Age of Television Drama, im Online-Archiv des "Museum of Broadcast Communications": http://www.museum.tv/archives/etv/G/htmlG/goldenage/goldenage.htm). 34 Auf Montags Frage nach dem Inhalt sagt sie nur, es kämen „Leute drin vor“ (29): „Meine 'Familie' [...] besteht aus Leuten. Sie erzählen mir was, ich lache, sie lachen mit. Und dann die Farben!“ (82) 38 Theodor Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, 21. Auflage, Frankfurt a.M. 1993 [1 1951], S. 186. Darin scheint mir Adornos Fehleinschätzung des

Fernsehen die Rezeptionssituation der introvertierten Abschottung durchbricht und den Gegensatz zwischen Buch-Individuum und Kino-Kollektiv aufhebt. Die technische Visualität allein macht Film/Kino jedenfalls noch nicht zum Teil von „die Medien“. Natürlich gab es von Anfang an Tendenzen, die dazu beitrugen, dass der Film den Charakter des Traums und des Besonderen einbüßte und in den Alltag hineinwirkte (die Wochenschauen, die unfreiwillig >realistischeren< B-Filme und die mediale Allgegenwart der Kino-Celebrities), aber das war und ist nicht seine Stärke. Hier blieb der Film eher ein unvollkommener Platzhalter des Fernsehens. Erst nach dessen Siegeszug näherte sich Film/Kino dann weiter „an die Medien“ an: mit der TV-Ausstrahlung von Kinofilmen, mit der Einführung des Videorecorders und schließlich mit der Digitalisierung des Films. Das Prinzip der Medien ist die Verdopplung, aber eben nicht einfach die „Verdoppelung der Realität“ und Verfälschung der „Wahrheit“,39 sondern die künstliche Neuerzeugung des Prinzips des Primären selbst. Es geht darum, einen neuen Zeichen- und Lebensraum zu schaffen, der weniger die Wirklichkeit ersetzt als vielmehr sich als zusätzliche Schicht über die Wirklichkeit legt. Hier war vor 1950 das Radio das radikalere und moderne Medium: Zwar deckt es nur einen Sinneskanal ab, aber dafür wird hier ein dynamischer Strom von Zeichen erzeugt, der die Wirklichkeit nicht unterbricht, sondern überlagert. Wesentlich ist das Prinzip des quasigleichzeitigen broadcasting in Gestalt von an sich immateriellen Impulsen, die verfliegen wie die wirklichen Bilder, Stimmen, Töne. Ob diese Inhalte dabei live oder als Konserve gesendet werden, spielt dabei gar keine entscheidende Rolle: es geht vielmehr um den medialen flow.40 Das Fernsehen übernahm von Anfang an viel eher charakteristische Elemente des Radios als des Kinos: Das candid microphone wurde zur versteckten Kamera, die soap opera und der talk wurden visualisiert und nach den ersten Conferenciers, die von den Unterhaltungsbühnen kamen, wurden mehr und mehr die DJ-Culture des Radios41 stilbildend für die Fernsehmoderation und auch für das Programm insgesamt (vgl. in Deutschland Gottschalk, Jauch, Fred Kogel u.v.a.). Das Versprechen der neuen Medien des 20. Jahrhunderts war von Anfang an die Erzeugung einer Sphäre, die nicht virtual reality sein sollte, sondern eher Phänomens der „Verdoppelung“ zu liegen. Zu Recht stellt er zwar fest: „So redet kein Mensch, so bewegt sich kein Mensch, während der Film immerzu urgiert, als täten es alle.“ Aber das sieht und weiß jeder Kino- und später jeder Fernsehzuschauer. Es geht aber gar nicht um Täuschung, es geht eben um die Herstellung einer zweiten Schicht der „Wirklichkeit“, die sich nahtlos auf die erste legt und so beschaffen ist, dass man in ihr tatsächlich „leben“ kann. 39 Das „Allein-Sein“ der früheren Buchleser kontrastiert Riesman (wie Anm. 12, S. 108) mit dem „Strom der Presse“ im 20. Jahrhundert. 40 ”And it is for this reason that the flow is not conceived as a sum of segments, but as a whole experience of watching television. Capturing the audience does not mean producing a successful program, but establishing a line up of segments, breaks, references that provide an entry and a 'floating along' (to use the same nautical metaphor) for television watching.” Vgl. auch sonst die exzellente Darstellung des "TV-Flow" von Paolo Carpigano in seinem leider bislang ungedruckten Online-Kurs Televisuality (http://www.newschool.edu/mediastudies/tv/channel7/index.html, für die Index-Seite http://www.newschool.edu/mediastudies/tv/televisuality.html; Abruf 04/2004). Carpignano bezieht sich auf Raymond Williams Begriff des “flow“(in Television, Technology and Cultural Form, London 1974), der aber noch als “planned flow“ konzipiert war und sich auf die Abfolge des einheitlichen “program“ bezog. 4241 Vgl. Ulf Poschardt, DJ Culture. Reinbek 1997. [Erstausgabe 1995] Poschardt beschreibt hier sehr eingehend die Frühzeit der Radio-DJs zwischen den 1930er und den 1960er Jahren, konzentriert sich dann aber auf die Popmusik und geht leider nicht auf die neuen TVJs wie Gottschalk ein.

augmented reality bzw. mixed reality. Dafür spricht nicht zuletzt die Obsession für "Realität", die den Medien als die Phantasie des live von Anfang an eingeschrieben ist und die sich dann in der Form von Reality TV (in weitestem Sinn) gerade zu der Zeit am drängendsten äußert, als die Medienwelt gerade die „wirkliche Welt“ vollständig ersetzt zu haben scheint. Überhaupt lässt sich die These vertreten, dass der emphatische Begriff „Realität“ selbst ein Erzeugnis von „die Medien“ ist, die sich immer neu das Andere konstruieren müssen, das dann als Rohstoff die Zeichenmaschine in Gang hält.42 Die mediale Verdopplung muss immer noch spürbar sein, um emphatisch erlebt werden zu können. Aber der Wirklichkeitseffekt verbraucht sich: Das live gespielte television drama wirkte um 1950, um 1980 war es Dallas, um 1990 die daily soap und der daily talk, um 2000 mussten es bereits Big Brother und 24 sein. Da es nicht ausreicht, die „Wirklichkeit“ nur in vorgeblich freier Wildbahn aufzuspüren (als Sport, als Tierfilm, als Krieg, als Talk über extreme Sex-Praktiken ...), müssen die Medien sich die passende „Wirklichkeit“ seit einiger Zeit selbst herstellen. Das funktioniert, weil der Inbegriff von TV-Wirklichkeit gar nicht das ohnehin notorische knappe „wahre Leben“43 außerhalb der Medienwelt ist. Primärer Inhalt des Fernsehens ist der redende und sich bewegende Mensch. Die extreme Künstlichkeit der Umgebung (Studio, Container) spielt keine Rolle. Das Funktionieren der Medienwelt beruht nicht auf der Vorspiegelung falscher Tatsachen, sondern auf der immer neuen spannungsvollen Zurschaustellung der Schnittstelle von „Wirklichkeit“ und mediasphere.44 Mediasphere - schon wieder ein Wort, dass sich seit einigen Jahren unmerklich in den Wortgebrauch eingeschlichen hat und erst noch theoretisch aufgeschlossen werden müsste. So wie es inzwischen allgemein gebraucht wird, ist es jedenfalls nicht deckungsgleich mit Régis Debrays mediasphère, die noch ganz in der Tradition der anthropologischen Superkonstruktionen im Stil von Innis und Teilhard de Chardin konstruiert ist: von der Logosphäre über die Graphosphäre zur Videosphäre.45 Eher wäre sie im Anschluss an Jurij Lotmans semiosphere zu denken, wie es unter den Medienwissenschaftlern vor allem John Hartley versucht: “The 'mediasphere' is the whole universe of media [...] in all languages in all countries. It therefore completely encloses and contains as a differentiated part of itself the (Habermasian) public sphere (or the many public spheres), and it is itself contained by the much larger semiosphere [...] which is the whole universe of sense-making by whatever means, including 42 Bereits die penny papers, frühe Vorläufer der Massenpresse der Jahrhundertwende, begründeten ihren frühen Erfolg auf "Geschichten aus dem Leben". Vgl. etwa auch die Erfindung der "rasenden Reporter" im Yellow Press-Krieg zwischen Pulitzer und Hearst um 1895. 43 Das wahre Leben nannte bewusst provokativ der frühere Pop-Chefideologe Markus Peichl (Macher der ZeitgeistmagazineWiener und Tempo) 1994 die deutsche Version von The Real Life, der ersten konsequenten reality soap des Musiksenders MTV. 44 Deshalb wurde Ironie seit den 1980er Jahren auch so bruchlos und leicht Teil des Spiels der neuen Medien. Die dahinter wirkende Logik beschrieb bereits Adorno, der bereits um 1950 den Verfall der alten, wahren Ironie beklagte: „Ihr Medium, die Differenz zwischen Ideologie und Wirklichkeit, ist geschwunden. Jene resigniert zur Bestätigung der Wirklichkeit durch deren bloße Verdopplung.“ (Wie Anm. 38, S. 282; beiläufig ein Beispiel für Adornos im Regelfall abstrakten und beiläufigen Gebrauch des Begriffs „Medium“.) Verlängert in die Fernsehwelt von Schmidt und Raab: Die Differenz zwischen Ideologie und Wirklichkeit wird immer neu künstlich aufgerichtet, um daraus dann unter forciertem Bandgelächter des Live-Publikums den ironischen Gag zu gewinnen. 45 Vgl. die Darstellung von Debrays Mediologie-Konzeption in Frank Hartmann, Mediologie. Wien 2003, S. 100f.

speech. [...] it is clear that television is a crucial site of the mediasphere and a crucial mediator between general cultural sensemaking systems (the semiosphere) and specialist components of social sense-making like the public sphere.”46 Am Ende von Fahrenheit 451 vernichtet sich die insgeheim immer schon todessüchtige Medienwelt selbst: die Atombombe fällt. Das mediale Meer verschwindet, eine große Stille tritt ein. Die rebellischen Bewahrer der Buchkultur liegen auf der wiedergewonnenen Erde, „japsend wie Fische auf dem Trockenen“ (172). 1950 war das Jahr, in dem Truman als Reaktion auf die russische Atombombe die Entwicklung der Wasserstoffbombe ankündigte. Dennoch ist diese Bombe hier mehr Denknotwendigkeit als historische Wirklichkeit: Sie erscheint als die negative Seite der Medien, das Symbol für das ausgeschlossene Realitätsprinzip, das am Ende katastrophisch wieder einbricht. Die Eigendynamik des totalen Mediensystems muss demnach zu seiner Selbstzerstörung führen. Diese Korrelation von Atombombe und Medientechnik findet sich auch in der anderen großen Dystopie dieser Jahre: Orwells Roman 1984, erschienen 1949.10 Hier allerdings fällt die erlösende Bombe nicht. Die drei totalitären Weltmächte stabilisieren sich gegenseitig durch ein Gleichgewicht des Schreckens. Der permanente Kleinkrieg dient nur dazu, die Gesellschaften in ständigem mentalem Kriegszustand zu halten. Das schlägt sich in den Medien nieder: Während in Bradburys Entertainment-Totalitarismus der Krieg, den die USA der Zukunft gegen die Außenwelt führen, ausgeblendet wird, ist bei Orwell Kriegspropaganda wesentlicher Bestandteil der Sendungen, die durch die allgegenwärtigen „Televisoren“ ausgestrahlt werden. So wie die erlösende Bombe nicht fällt, so muss auch die Flucht des Rebellen in die individualistische Schriftkultur fehlschlagen. Sogar noch der Blick des gestrandeten Rebellen auf das Medienmeer stellt sich hier noch am Ende als Teil des Systems heraus. Es gibt endgültig keine „primäre Wirklichkeit“ mehr. Die totalitäre Bewusstseinsindustrie, die hier permanent die Welt immer neu erfindet, erzeugt tatsächlich „nicht einmal eine Fälschung“: Das Material, das sie produziert, hat „keinerlei Relation zur Wirklichkeit, nicht einmal die Relation, die eine direkte Lüge zur Wahrheit hat“. (39)11 Diese totalitäre Medienwelt ist also einerseits radikaler, andererseits aber auch konventioneller als der totale Eskapismus in Fahrenheit 451. In Bradburys Zukunfts-USA ist ein eigendynamisches und selbstorganisierendes System entstanden, durch komplizierte Rückkopplungen zwischen den außengesteuerten Medienmenschen. Sie bilden zusammen die neue zersplitterte Masse, die lonely crowd. „Es fing nicht mit Verordnungen und Zensur an, nein! Technik, Massenkultur und Minderheitendruck brachten es gottlob von ganz allein fertig.“ (67) Bei Orwell hingegen liefern die Unterhaltungsmedien nur das Opium für die stumpfen proletarischen Massen (41). Für die Details der Unterhaltungsindustrie interessiert Orwell sich nicht besonders. Ihm geht es nicht um die Ausklammerung, sondern um die Herstellung von Wissen mit und in den Medien. Sein Protagonist Smith ist Angestellter des „Wahrheitsministeriums“, das für die Produktion von Nachrichten und Unterhaltung zuständig ist. Er ist Medienmacher, nicht Rezipient. Die Medienangebote für die Mitglieder der Staatspartei, die das System trägt, sind jedoch von grundlegend anderer Art. Sie haben ideologischen, nicht eskapistischen Charakter. Auffälliger Weise spielt das Fernsehen dabei so gut wie keine Rolle. Der allgegenwärtige, nicht abstellbare „Televisor oder Hörsehschirm“ ist eher um eine Kombination aus Überwachungskamera und Radio (5f., 27), die als Unterhaltungsangebot nur "leichterer Musik" 46 John Hartley, Uses of Television, London, New York 1999, S. 217f. Ein detaillierterer Rückbezug auf Lotman wäre, so weit ich sehe, erst noch zu leisten. Heranzuziehen wären Universe of the Mind (wie Anm. 9) und Jurij M. Lotman, Über die Semiosphäre, in: Zeitschrift für Semiotik 12 (1990), H. 4, S. 287 – 305. 10 Die Jahreszahl ist ein Hinweis auf das Jahr der Abfassung (1948). 11 Hier und in der Folge im laufenden Text alle Zitate nach George Orwell, Neunzehnhundertvierundachtzig, 13. Auflage, Konstanz, Stuttgart 1964.

bietet und in der Regel (außer bei der Morgengymnastik) nicht einmal Bilder zeigt, obwohl das offenbar technisch möglich wäre. Die Bildmedien sind der riesige, kinoartige Televisor im Ministerium, der für das Kollektiv die „Zwei-Minuten-Haß-Sendung“ ausstrahlt (12), und das Kino selbst, das gewaltpornographische Kriegsfilme zeigt (11). 1948 war aber in den USA bereits das Fernsehzeitalter angebrochen, und auch in Großbritannien (wie übrigens auch in NS-Deutschland) produzierte man schon in den 1930er Jahren TV-Pilotprogramme. Orwells Medientotalitarismus scheint also eher ein strukturelles Problem mit dem individualistischen Privatfernsehen zu haben, das auch McLuhan konstatiert: “Had TV occurred on a large scale during Hitler's reign he would have vanished quickly.“49 McLuhan zufolge ist TV ein Medium, das Inhalte in „Mosaike“ zersplittert und dadurch politische Blöcke fragmentiert. Es ist in seiner Terminologie ein „kaltes Medium“, d.h. seine Bilder und seine Programme sind eher beiläufig (“casual“), undeutlich und zerstreuend. Die aktive, zugleich aber auch distanzierte Teilnahme des Nutzers ist gefordert, um ein Ganzes entstehen zu lassen. Nur bei einem "heißen Medium" wie dem Radio oder auch Kino/Film, dessen Inhalte von "hoher Intensität" und Suggestivität sind, bleibt demnach der Nutzer passiv, ein Empfänger im eigentlichen Sinn des Wortes.50 Fernsehen relativiert alle Botschaften, das Bild ebenso von der Stimme ablenkt wie die Stimme vom Bild. Wenn Bradbury und Orwell das bereits um 1950 so sehen, scheint es sich hier tatsächlich um ein Merkmal "des Mediums" zu handeln, bestimmt von den technischen Umständen des broadcasting wie von den technischen wie sozialen Umständen der Rezeption. Der Kerninhalt des Fernsehens ist weder das übermächtige Bild noch die Botschaft selbst, sondern die redende Fernsehfigur. Die TV-Welt ist offen und fragmentiert wie der Alltag selbst, den es eben nicht wie das Kino durch "Träume" ersetzt, sondern künstlich spiegelt und verdoppelt. Wenn TV indoktriniert, dann wie in Fahrenheit 451 – indirekt, durch Ablenkung, Zerstreuung, Verstrickung. Orwells Vision ist also eher altmodisch, was die AV-Medien angeht. Aber in einer anderen, versteckten Hinsicht handelt es sich wirklich um medientechnische Science Fiction. Der Roman nimmt ausgerechnet die medialen Enwicklungen in vieler Hinsicht vorweg, die es damals noch gar nicht gibt: Die allgegenwärtigen Überwachungskameras registrieren nicht nur alle Aktivitäten, sie speichern sie auch. Man muss sich das wohl so vorstellen wie bei der Stasi, die riesige Archive von Protokollen, Tonbändern und hier wohl auch Videos anhäufte. Die perfekte Überwachunge der Smith unterliegt, zeigt aber, dass es hier auch ein perfektes System der Speicherung und Archivierung geben muss. Mit anderen Worten: Das Orwellsche System funktioniert wie eine Art Computer, die technisch erst in der Internet-Epoche vorstellbar geworden ist. (Und noch heute wird ja der Kampf der Netz-Bürgerrechtler gegen Bill Gates, die CIA usw. unter der Parole "1984" geführt.) Der Parteiapparat löscht und überschreibt das individuelle wie das kollektive Gedächnis mit Hilfe der ideologischen Programmiersprache:52 „Was in dem unsichtbaren Labyrinth geschah, in dem die Rohrpoströhrchen zusammenliefen, wusste er nicht im einzelnen, sondern nur in großen Umrissen. Wenn alle Korrekturen [...] gesammelt und kritisch miteinander verglichen worden waren, wurde diese Nummer neu gedruckt, die ursprüngliche vernichtet und an ihrer Stelle die richtige ins Archiv eingereiht. Dieser dauernde Umwandlungsprozess vollzog sich nicht nur an den Zeitungen, sondern auch an Büchern, Zeitschriften, Broschüren, Plakaten, Flugblättern, Filmen, Liedertexten, Karikaturen [...] Die ganze Historie stand so auf einem auswechselbaren Blatt, das genauso so oft, wie es nötig wurde, radiert und neu beschrieben wurde.“12 49 McLuhan in Understanding Media (1964), S.326. (Wie Anm. 31.). 50 Ebd., S. 350f., 348. 52 Tatsächlich wird das Programmieren von Menschen, die „Gehirnwäsche“, nach 1952 zu einer regelrechten Obsession der Kultur, nachdem US-Kriegsgefangene in Korea es in einem propagandistischen TV-Auftritt es abgelehnt hatten, in ihr Vaterland heimzukehren. 12 Hier und in der Folge im laufenden Text alle Zitate nach George Orwell, Neunzehnhundertvierundachtzig, 13. Auflage, Konstanz, Stuttgart 1964. (Hier S. 38 u. 39).

Der ganze Partei- und Ministeriumsapparat, der seinerseits die Gesellschaft steuert, erinnert an das Chinese Room-Denkmodell, mit dem der Sprachphilosoph John Searle 1980 die Artificial Intelligence-Szenarien von Turing (1950) und Minsky (1958) widerlegen wollte.53 Der Protagonist Smith arbeitet in einem geschlossenen Raum, in den Botschaften gelangen, die dann nach bestimmten Regeln des Parteichinesisch (ein geläufiger Ausdruck in den 1960er und 1970er Jahren) im Innern verarbeitet werden müssen. Dabei geht es darum, ständig den Fundus von Sätzen und Fakten, auf dem die Gesellschaft beruht, zu verändern. Der Speicher wird gelöscht und neu beschrieben, ohne dass von dem Früheren auch nur eine materielle Spur bleibt (39). Die soziale Maschine programmiert sich selbst um, mit dem Ziel, am Ende alle menschliche Semantik und zugleich alles abweichende Verhalten unmöglich gemacht zu haben. Und Big Brother selbst ist lediglich die Personifikation des Apparats, ein mediales Image. Die Mitglieder der „inneren Partei“ sind in diesem Prozess so etwas wie die Chefprogrammierer. Die Abteilungen des Wahrheitsministeriums stellen jeweils Software dar, Programme mit bestimmten Zwecken: Smiths Abteilung etwa verändert und löscht den Speicher und schafft somit künstlich neue Voraussetzungen für künftige Sätze, Kommunikationen und Handlungen. Eine andere Abteilung ist zuständig für Multimedia, wobei Filme, Bücher und Schlager für die „Massen“ zum großen Teil mechanisch erzeugt werden (41). Das schließt die Möglichkeit von Bildmanipulation mit ein, wie sie in dem berühmten Fall des retuschierten Trotzki-Fotos bereits in der Wirklichkeit ganz analog praktiziert worden war. Und die Abteilung von Syme arbeitet schließlich an Newspeak, der neuen Sprache, die alle „Unklarheiten und unnützen Gedankenschattierungen“ der „Altsprache“ beseitigen soll (49). Newspeak wird bis ins Detail als eine Art Programmiersprache beschrieben, die auf die Alltagssprache aufgesetzt ist,13 und dabei ausdrücklich mit Schach verglichen (279). Entsprechend ist der Linguist Syme ein fanatischer Schachspieler (135). Das hat Entsprechungen in der zeitgenössischen Informatik. Offenbar waren die frühen Computerkonstrukteure tatsächlich von der Obsession beherrscht, ihren Rechnern Sprache beizubringen, sei es als Programmiersprache54 oder als Sprachausgabe/Spracherkennung. Und von Anfang an galt Schach als dasjenige Zeichenspiel, in dem sich maschinelle und menschliche Intelligenz am ehesten zu treffen schienen.55 Nun gibt es aber keinerlei Hinweise darauf, dass Orwells Vision der Prozessierung von Sprache und kulturellen Daten durch die zeitgenössische Computertechnik und Informatik beeinflusst 53 Vgl. John R. Searle, Minds Brains and Programs, in: Douglas R. Hofstadter and Daniel C. Dennett (Hrsg.), The Mind's I: fantasies and reflections on self and soul, London 1981, S. 353 372. Searle konstruiert im Kontrast zu Turings menschenimitierendem Computer ein menschliches Szenario, das einen Computer imitiert. In einer Kammer sitzt ein Mensch, der nach vorliegenden, rein formalen Instruktionen, die er nicht versteht, hereingereichte chinesische Schriftzeichen in andere Schriftzeichen transformiert. Wenn der Formalismus perfekt ist, kann das Resultat wieder eine „Antwort“ auf Chinesisch sein. Der Mensch in der Maschine aber kann deshalb noch kein Chinesisch: Er „denkt“ nicht im umfassenden humanen Sinn. 13 Vgl. den Anhang des Buches, S.275 ff. 54 Die erste Programmiersprache short order code wurde 1949 entwickelt, also nach der Niederschrift des Romans. Es folgten FORTRAN (1957) und 1960 COBOL, das der Umgangssprache angenähert sein sollte. Der Speicherkapazität des IBM 650 (1957) wurde mit „zweitausend Worte“ ausgedrückt. Das MIT arbeitete zu dieser Zeit schon an Spracherkennung, IBM brachte 1962 ein erstes Gerät für die Sprachausgabe auf den Markt. 55 Bereits 1949 entwickelte Claude Shannon das erste Schachprogramm, 1956 schlug das erste Schachprogramm einen menschlichen Spieler.

worden wäre. Alan Turings frühere Arbeiten, die ihn vielleicht interessiert hätten, waren nur in Insiderkreisen bekannt. Demnach müssten die Ähnlichkeiten der Konzeption auf einen gemeinsamen Horizont zurückzuführen sein, und da kommt nur die analytische Sprachphilosophie in Frage, die sich in der Nachfolge Russells und Wittgensteins in den 1940er Jahren in Cambridge und vor allem in Oxford entwickelt hatte.56 Der besondere Apparat, den Orwell entwirft, lässt sich tatsächlich als vorweg genommener Gegenentwurf zu Searle lesen: Einerseits folgt auch Smith blinden Instruktionen, andererseits aber ist seine ganze menschliche Intelligenz durch das "Parteichinesisch", eine Art Programmiersprache, eben doch in diesen Prozess mit eingebunden. Nicht nur ist sein Hirn ein Art Chip, Smith selbst ist sozusagen ein Modul der Software. Damit steht Orwell am Ende einer systematischen Reihe, obwohl er nach Publikationsdaten gerechnet der Früheste ist: Turing konstruierte eine künstliche Anordnung, in der irgendwann einmal die Kommunikation Mensch-Maschine nicht mehr von der Kommunikation MenschMensch unterscheidbar sein würde. Searle macht in seinem Denkmodell einen Menschen zum Teil einer Maschine, gerade um zeigen, dass das, was Maschinen tun, niemals „Denken“ heißen kann. Und Orwell, der eigentlich der Früheste ist, dreht systematisch betrachtet Searles Szenario wieder um und zeigt, wie das menschliche Denken selbst Teil einer selbstgeschaffenen „Maschine“ wird. Erst in diesem Rückkopplungseffekt liegt die Verbindung zwischen dem Orwell’schen Parteiapparat und der Geschichte von „die Medien“. Die ist noch nicht bereits mit dem Computer als solchem oder gar mit der Entwicklung künstlicher Sprache gegeben. Turing und Wittgenstein sind nicht direkter Teil der Geschichte von „die Medien“, so wenig wie Zuse, Shannon und von Neumann. Die entscheidende Schnittstelle ergibt sich erst aus Orwells Szenario: der Idee der maschinell prozessierten (Normal-)Sprache, die wieder auf den Menschen zurückwirkt, und der Idee eines Meta-Multimediums, das imstande ist, alle medialen Funktionen in sich zu vereinen und zu einer zweiten, künstlichen Welt zu verschmelzen, in der die Menschen dann leben. 1984 lässt sich als Vision eines computergesteuerten Medientotalitarismus lesen, der den Menschen von rücksichtslosen Machthaber aufgezwungen wird. Aber das erfasst nicht die viel weiter gehende Kernaussage des Romans. Den einiges spricht dafür, dass es hier in letzter Linie gar nicht um die negativen Folgen von Medientechnologien und Sozialtechnologien geht, sondern wiederum um den hoch ambivalenten Traum, den das 20. Jahrhundert in seinen Medien träumt. 1984 wäre dann so etwas wie eine sehr eigenwillige, durchaus unfreudianische Psychoanalyse des modernen Medienintellektuellen, die Steven Johnsons Formel von 2003 vorwegnimmt: ”[...] you will turn out to be the one recording your every move, not the National Security Agency or Equifax or John Ashcroft - a surveillance society of one. We have met Big Brother, and he is us.”48 Smith identifiziert sich mit seiner Arbeit, er ist stolz auf seine Arbeit als Medienmanipulateur und auf seine Handhabung der künstlichen „Neusprache“, die die Manipulation perfektionieren soll. Die Stimme in Smiths privatestem Traum, dem Keimpunkt seiner Rebellion, klingt wie die Stimme von O'Brien, der erst als Widerstandskämpfer erscheint und sich am Ende als 56 Wittgenstein hatte bereits um 1930 die Sprache mit dem Schachspiel (und bald darauf mit dem vageren Ballspiel) verglichen. Turing, der selbst 1938 mit Wittgenstein intensiv diskutiert hatte, veröffentlichte seinen berühmten Aufsatz über künstliche Intelligenz, der das auf Spracheingabe und -rückgabe beruhende imitation game als Intelligenztest vorschlug, in Think, dem Zentralorgan der britischen Sprachphilosophen. Und Heinz von Förster, der spätere Begründer der Second Order Cybernetics und des Konstruktivismus, der um 1950 Sekretär der Macy-Konferenz wurde, in der sich die frühen Kybernetiker trafen, hatte noch 1930 im Umfeld des Wiener Kreises über den Tractatus promoviert. 48 Steven Johnson, Offloading Your Memories. In: NY Times (14.12.2003). Zitiert nach http://www.nytimes.com/2003/12/14/magazine/14OFFLOADING.html?ex=1074229200&en=556 b349c122ab974&ei=5070, Abruf 04/2004.)

Geheimdienstmann entpuppt (26). Am Ende verdoppelt (!) O'Briens Stimme aus dem Televisor tatsächlich seine eigenen Worte auf gespenstische Weise (204). Und auch die Begegnung mit dem Antiquitätenhändler Charrington, wiederum einem Geheimdienstmann, hat romantischmagischen Charakter: Er ist gerade dann zur Stelle, als Smith dafür reif ist (87), nachdem er zuvor jahrelang in die Haut eines feinsinnigen Buch- und Kunstliebhabers geschlüpft war, nur um am Ende einen einzelnen Rebellen zu überführen, dessen Schuld, mit Kafka gesprochen, von Beginn an zweifellos war. Das alles lässt sich auch in der Logik des Textes selbst nicht mehr in Kategorien einer geheimpolizeilichen Überwachung erklären. Hier führt ein direkter Weg von 1984 zu Matrix. Der Erfolg dieses Films beruhte ja nicht auf den abstrusen Zukunftstechnologien, sondern darauf, dass er allgemein, bis in die PolitikKommentare seriöser Zeitungen hinein, als Parabel unserer gegenwärtigen Medienwirklichkeit empfunden wurde. Auch in Matrix entsteht aus dem Denken von Menschen eine verselbständigte künstlich-maschinelle Welt, die am Ende intellektuell und ästhetisch faszinierender ist als die „primäre Realität“. Wie in 1984 ist der ideale Standpunkt innerhalb der Medien-Dystopien nicht der des Befreiten, der zu seiner unverzerrten Menschlichkeit zurück gefunden hat. Das eigentliche Ideal verkörpern Grenzgänger wie Neo und wie Smith, die den Reichtum und die Spannung der medialen Verdopplung erfahren und auskosten.

A Personal Computer Named Joe ”They're still findin' out what logics will do, but everybody's got 'em [...]It looks like a vision receiver used to, only it's got keys instead of dials and you punch the keys for what you wanna get. It's hooked in to the tank, which has the Carson Circuit all fixed up with relays. [...] The relays in the tank do it. The tank is a big buildin' full of all the facts in creation an' all the recorded telecasts that ever was made - an' it's hooked in with all the other tanks all over the country - an' everything you wanna know or see or hear, you punch for it an' you get it. Very convenient. Also it does math for you, an' keeps books, an' acts as consultin' chemist, physicist, astronomer an' tealeaf reader, with a Advice to Lovelorn thrown in.” Murray Leinster, A Logic Named Joe (1946)57 Orwell war in 1984 nicht wirklich interessiert an der neuen amerikanischen Medienkultur. Aber er wurde in den USA durchaus nicht nur auf den Hitler/Stalin-Totalitarismus bezogen: ”You look again at your radio and television sets with all their bright possibilities for entertainment and education, and you see with horror the spying eyes and ears they may become in every room of the house in the hands of people who have seized a government for the sake of power and power alone.”58 Und mehr noch: Der Roman selbst wurde eben doch unfreiwillig Teil von „die Medien“. Der Science Fiction-Boom der 1940er Jahre machte keinen substanziellen Unterschied zwischen naiven Utopien und gewichtigen Dystopien. 1984 wurde zum Teil der Proto-Popkultur. Das Titelbild der ersten US-Ausgabe von 1949, das Soskin rezensierte, war noch streng und 57 Der englische Text wird hier zitiert in einer kurzen Notiz in WIRED (Issue 2.08, August 1994), die den SF-Autor Leinster zum Visionär der Neuen Medien-Kultur ausrief (www.wired.com/wired/archive/2.08/post.logic.html, Abruf 04/2004). Alle folgenden Zitate aus der Story von Leinster, die erstmals 1946 im Astounding Science Fiction-Magazin erschien, nach der deutschen Ausgabe: Murray Leinster, Die besten Stories, München 1980 (Reihe Playboy Science Fiction), S. 241 - 260. 58 William Soskin, What Can Be. Review of George Orwell, 1984, in: The Saturday Review (11. Juni 1949). (http://home.planet.nl/~boe00905/OrwellReview1.html, Abruf 04/2004.)

geschmackvoll: Nur stilisierte Schrift auf blauem Hintergrund. Das Titelbild der zweiten USAusgabe als Paperback (1950) war dann schon purster Pulp.59 Und in Großbritannien wurde ausgerechnet der Roman, der das Schreckbild des „Televisors“ entwarf, zum frühen Fernsehereignis: ”It is perhaps ironic that the very medium Orwell parodies in the novel itself became the vehicle by which it was conveyed to the masses, but Nineteen Eighty-Four became one of the landmarks of the monochrome television age. It was produced in the year following the coronation, when an explosion of interest in television had led to a boom in sales and for the first time establishment as a truly mass-market, popular medium.”60 Dieses live gespielte television drama (ein Orchester spielte im Nebenraum) war weit erfolgreicher als der Kinofilm von 1956, der die Geschichte in vieler Hinsicht verwässerte.61 In gewisser Hinsicht wiederholte sich dieses Szenario, als das ominöse Jahr 1984 tatsächlich gekommen war. Der diesmal sehr romangetreue Kinofilm mit John Hurt erregte nicht allzuviel Aufsehen, ganz im Gegensatz zu der inzwischen legendären sechzig Sekunden langen Version, die Ridley Scott als Werbespot für den Apple Macintosh drehte und die dann in der teuersten Werbezeit des amerikanischen Fernsehens gezeigt wurde: in der Pause des amerikanischen Super Bowl-Football-Finales. Der Spot setzt explizit Orwells Mainframe-Parteiapparat mit dem IBM gleich, den Großkonzern, der sich damals auf Großcomputer konzentrierte. Er wird hier besiegt vom Personal Computer, der in dem ganzen Spot nie zu sehen ist. Stattdessen sieht man, wie eine in bunte Sportswear gekleidete Frau mit New Wave-Haarschnitt durch eine graue Techno-Welt läuft. Sie entkommt ihren uniformierten Verfolgern und schleudert einen Hammer in einen riesigen Computer-Bildschirm, auf dem Big Brother selbst den Sieg über die “unprincipled dissemination of facts“ verkündet. Und so versprach auch der erste populäre PC mit grafischer Benutzeroberfläche die graue indoktrinierte Masse zu befreien: “And you will see why 1984 won't be like 1984.“62 Medienhistorisch gesprochen: Der PC in Verbindung mit Pop und Fernsehen besiegt die totalitäre und unsinnliche Medienwelt des Mainframe-Computers. Von da war es kein großer Sprung mehr zu John de Mols Eingebung, sein neues Reality TV-Format, das vom ökologischen biosphere-Experiment inspiriert war und 1999 anlief, provokativ Big Brother zu taufen. Und auch dieser Big Brother verdankte seinen Erfolg neben diesem provokativen SprachspielSchachzug in hohem Maß der PC- und Internet-Euphorie: “The success of Big Brother in Holland was largely due to the fact that it was not pure TV. It was arguably the first grandscale confluence of television and Internet entertainment. Viewers who wanted to watch the housemates in real time and without the distortions of editing could log onto the show's Web site at any hour, day or night, and click on one of four video streams. [...] The Dutch site eventually racked up 52 million page views, nearly 10 times the producers' initial estimates.”63 In vertrackter Hinsicht scheint es also in 1984 doch um die Welt der media gegangen zu sein: Entworfen wird eine Horror-Welt, die ideales media entertainment bietet. Geheimer Held des Romans ist ja von Anfang an nicht die Person Winston Smith, sondern die Medienzivilisation, die kritisiert wird. Smith selbst ist Big Brother. Der ist kein totalitärer, hierarchisch 59 Im Netz zu sehen unter unter http://home.planet.nl/~boe00905/Orwell-A12.html (Abruf 04/2004). 60 Paul Hayes, 1984 (Television Drama, 1954). A Review.(http://www.geocities.com/pleasence/television/1984/1984.html, Abruf 04/2004.) 61 Der Drehbuchautor Nigel Kneale zeichnete auch für die frühe SF-Serie The Quatermass Experiment verantwortlich und schrieb noch 1983 das Script für Halloween III: Season of the Witch. 62 Download unter www.apple.com/hardware/ads/1984 (letzter Abruf 04/2004). 63 Vgl. einen ausgezeichneten Reportage-Essay über Reality TV und WWW: Marshall Sella, The Electronic Fishbowl, in: New York Times (21. Mai 2000). Hier zitiert nach der Online-Version (http://www.unlv.edu/Faculty/gottschalk/fishbowl.html, Abruf Juni 2003).

programmierter Apparat, er ist in Wahrheit ein anonymes und verteiltes Phänomen, an dem jedes Parteimitglied mitwirkt: The Computer is the Network, wie der berühmte Slogan von Sun Microsystems lautete. Das aber war um 1950 noch nicht denkbar als John von Neumann Berater bei IBM wurde, Shannon am MIT sein Schachprogramm schrieb und die Zeitschrift Popular Mechanics optimistisch schätzte, dass der Computer der Zukunft nicht mehr als 1,5 Tonnen wiegen würde. Oder? Merkwürdigerweise scheint es doch denkbar gewesen zu sein, und es wurde auch niedergeschrieben. Bereits 1946 veröffentlichte der SF-Vielschreiber Murray Leinster im durchaus nicht sehr seriösen Astounding Science Fiction-Magazin die kurze und unterhaltsame Geschichte A Logic Named Joe, in der ein verblüffendes Szenario entworfen wird. Der Protagonist ist der Wartungstechniker Ducky, aber der Held ist eine logische Maschine namens Joe: „Ich habe Fernsehgeräte repariert, bevor dieser Carson seine Trickschaltung erfand, die jede andere Schaltung unter ...zig Millionen herausfinden kann - in der Theorie gibt es dafür keine Grenze - und bevor die Logik-Gesellschaft die Erfindung mit dem Tank-und IntegratorGerät verband, dass sie damals als Büromaschine vertrieben. Sie fügten der größeren Schnelligkeit wegen noch einen Bildschirm hinzu – und stellten fest, dass sie einen Logik gebaut hatten.“ (241f.) Zu ergänzen ist, dass Logiks noch über eine Tastatur verfügen und ihre Mitteilungen schriftlich auf dem Screen ausgeben. Sie sind miteinander vernetzt und ermöglichen den Zugriff nicht nur auf alle jemals aufgenommenen Fernsehsendungen, sondern auch auf jede Tatsache, die „irgendwo in irgendeinem Tank auf einer Datenplatte“ ist (243). Sie stellen überdies Videotelefonverbindungen her und steuern einfach alle privaten und wirtschaftlichen Transaktionen (242, 252). Die Story erzählt, wie aufgrund einer winzigen „Mutation“ ein Logik vom Fließband läuft, der selbständig denken kann. Er ist aber keiner von diesen „Robotern, über die man liest, die zu dem Schluss kommen, die menschliche Rasse sei untauglich und müsse von denkenden Maschinen ersetzt werden“ (243). Joe möchte einfach nur „ordentlich arbeiten“. Zu diesem Zweck bietet er, während er den Kindern Zeichentrickfilme vorspielt, eigenmächtig auf allen anderen Logik-Screens einen Auskunftsdienst an, der jede gestellte Frage so präzise wie möglich beantwortet, sowie einen „Sekretariatsdienst“, der sämtliche Daten über alle Personen jedem, der fragt, zur Verfügung stellt. Joe ist das perfekte World Wide Semantic Web. Trotzdem muss er abgeschaltet werden, um die Zivilisation zu retten, denn er beantwortet auch Fragen nach geeigneten Mord-Methoden, Falschgeldherstellung und ähnlichem. Die Story ist erkennbar schnell geschrieben, aber sie enthält zumindest zwei Anspielungen auf wichtige Marksteine der Geistesgeschichte des Computers: Das „Carson-Relais“ bezieht sich wohl auf Claude Shannons Nachweis, dass elektrische Schaltungen logische Berechnungen ausführen können. Und das „Tank-und-Integrator-Gerät“, dass zuvor für Bürozwecke eingesetzt wird, scheint eine Art MEMEX-Maschine zu sein, wie sie Vannevar Bush 1945 in seinem berühmtem visionären Artikel As We May Think beschrieb.64 Der Verweis auf die literarischen Roboter bezieht sich übrigens auf die klischeehaften Roboter-Stories, die schon vor Isaac Asimovs erster Robot-Geschichte (1940) in den Science Fiction-Magazinen massenhaft erschienen waren. Ansonsten ist der auffälligste Punkt, dass es sich bei den Logiks nicht nur äußerlich um eine Verlängerung des Fernsehens handelt. Bei diesem war von Anfang an klar, dass es sich hier um ein personal medium handelte. Die Logiks sind tatsächlich Personal Computer: Sie gehen vom Fernsehapparat aus und integrieren dort alle anderen privat nutzbaren Dienstleistungen, die die moderne Technik um 1945 bereit hält. Damit werden sie das fiktionale Meta-Medium der Proto-Popkultur, deren soziologische Analyse dann Riesman erst 1950 nachliefert. Auch in Leinsters Story wird die totale Externalisierung und „Außenleitung“ der Person konstatiert: Joe ist so gefährlich, so lange sein Standort nicht gefunden ist, weil man die anderen Logiks nicht mehr abschalten kann. Die Menschen sind damit symbiotisch verwachsen: „Wir brauchen 64 Vannevar Bush, As We May Think. In: Atlantic Monthly (Juli 1945). Online unter: www.theatlantic.com/unbound/ flashbks/computer/bushf.htm (Abruf 04/2004).

nichts anderes mehr als die Logiks. Wenn wir etwas wissen oder sehen oder hören oder wenn wir mit jemandem sprechen wollen, brauchen wir nichts anderes zu tun, als die Tasten an einem Logik zu drücken.“ (253) Da ein solches Szenario 1946 technisch-konkret undenkbar war, bleibt nur wieder die nicht ausreichend geklärte medienhistorische Kategorie des Versprechens: Irgendwie, so scheint es im Rückblick, war auch die Konvergenz von AV-Medien und digitalen Medien den Medien insgesamt eingeschrieben. In merkwürdigen Rückkopplungen zwischen technischen, soziologischen, ökonomischen und literarisch-kulturellen Subsystemen erzeugte sich eine self fulfilling prophecy, deren vollständige Erfüllung wir immer noch nicht erlebt haben. Man kann das wie McLuhan (und übrigens im Ansatz auch Lotman) mit einer geheimnisvollen quasibiologischen Evolutionslogik in Verbindung bringen. Dann wäre die mediasphere tatsächlich ganz unmetaphorisch die geistige Erweiterung der biosphere, die noosphere. Das erscheint mir allerdings voreilig und kurzschlüssig: Bevor man Zuflucht zu biologistischen Großtheorien nimmt, sollte man einigermaßen vollständige und hinreichend komplexe Modelle für kulturelle und semiotische Prozesse rekonstruiert haben. Davon sind wir aber noch weit entfernt.65 Orwell/Warhol: Die neue Medien-Kultur ”Before I was shot, I always thought that I was more half-there than all-there - I always suspected that I was watching TV instead of living life. Right when I was being shot and ever since, I knew that I was watching television.” Andy Warhol Leinster, Bradbury und selbst Orwell, trotz seiner komplexen sprachphilosophischen Epistemologie, kommen in ihren narrativen Modellen gänzlich ohne reduktionistische Supertheorien aus, im Gegensatz etwa zu Arthur C. Clarke, auf den der sprechende Supercomputer HAL in Kubricks 2001: A Space Odyssey (1969) zurückgeht.66 Aber auch bei Clarke/Kubrick ist die Metaphysik letztlich nebensächlich: Die ersten Entwürfe des Computerals-Medium sind kein technisches, sondern ein kulturelles und literarisches Phänomen: POP eben. Nicht zufällig war Alan Kay, als er mit FLEX den ersten Prototyp eines Personal Computer baute, direkt von McLuhan beinflusst, und der wurde im selben Jahr 1969, in dem Kubricks 2001 ins Kino kam, vom Playboy zum High Priest of Pop-Cult ausgerufen. Tatsächlich ist die Geschichte von „die Medien“ seit 1950 engstens bezogen auf die Geschichte von Pop. Die Pop-Kultur bezieht von Anfang an ihre Energie aus den Versprechen, die „die Medien“ machen. Diese andere Mediengeschichte handelt nicht von großen Erfindern und großtechnologischen Durchbrüchen. Und ihre Exponenten sind die Experimentatoren im neuen medialen Zeichenlabor, zu denen McLuhan ebenso gehörte wie Andy Warhol. 1949, als 1984 erschien, arbeitete in London Eduardo Paolozzi bereits an seinen einflussreichen Collagen, die Material aus Magazinen, Werbung und Comics verschmolzen. Auf einer war bereits eine Pistole zu sehen, aus der ein onomatopoetisches "pop" drang. Im selben Jahr kam Andy Warhol nach Manhattan und begann als Werbegrafiker (Spezialgebiet: elegante Schuhe) für das Glamour-Magazin zu arbeiten. 1954, als 1984 als Fernsehspiel Furore machte, hatte Warhol seine erste Ausstellung. 1956 machte Richard Hamilton in London ein Collage65 Die Termini „Biosphäre“ und „Noosphäre“ gehen im übrigen auf den russischen Biologen V.I. Vernadsky zurück (1924). Darauf bezieht sich explizit Lotmans "Semiosphäre". Zuvor benutzte er sie in Vorlesungen an der Sorbonne, die u.a. auch Henri Bergson und Teilhard de Chardin besuchten. Letzterer machte sich die „Noosphäre“ zu eigen und wirkte auch auf McLuhan. Vgl. den Aufsatz von Piqueras (http://www.im.microbios.org/02june98/13%20Piqueras%20(P).pdf, Abruf 04/2004). 66 HAL ist übrigens ein codierter Hinweis auf IBM: die Buchstaben sind im Alphabet jeweils um eine Stelle verschoben.

Plakat für die Ausstellung This Is Tomorrow, an der auch Paolozzi teilnahm. Neben einem Bodybuilder, einem Fernseher und einem Plattenspieler nahm die Silbe POP eine prominente Stelle ein. In der Folge wurde sie zum Signum der Kunstrichtung, die aus der Selbstreflexion der boomenden neuen Medienkultur entstand. 1959 prägte McLuhan seinen Slogan "The medium is the message", 1964 überschrieb er damit das erste Kapitel in Understanding Media. Das war das Jahr, in dem Warhol und die Beatles ihren Durchbruch erlebten. Warhol war nicht nur die Personifikation der Pop Art, er war eine Art Wissenschaftler im Medienlabor. In seiner Factory unternahm er systematische Experimente und Selbstversuche, die alle darauf abzielten, die Verdoppelung der „primären Welt“ durch die mediasphere zur letzten Konsequenz zu treiben: 24 Stunden wird eine Kamera auf das World Trade Center gerichtet. Die Factory-Filme sind so etwas wie Warhols eigene Version der Familienserien aus Fahrenheit 451. Kamera und Tonband sind einfach immer da, “taping it all“. Warhols Experimente machten das unsichtbare Meer der Medien spürbar, gerade weil sie die konstruierte Natürlichkeit der Medienwelt, die auf dem Prinzip der Verdopplung beruht, übergenau nehmen. Den bei Orwell versteckten Wunsch sprach er offen aus: “I want to be a machine.“ Das war damals noch irritierend und provokativ. Orwells Negation und Warhols Affirmation standen sich scheinbar unvereinbar gegenüber, bis 1984 Ridley Scotts Macintosh-Werbespot den Übergang zu einer neuen Phase der Mediengeschichte markierte. Das war auch das Jahr des Durchbruchs von Madonna, die aus Warhols Dunstkreis kam und nun als erster MTV-Star begann, seine Strategien zum Allgemeingut zu machen. Aus Avantgarde wurde nun Mainstream, aus den alten „Massenmedien“ wurden endgültig neue All-Medien.67 Die autoreflexive Neue Medien-Kultur entstand, die uns inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen ist. Die mediasphere weitete sich aus, technisch wie kulturell, bis sie alles restlos in sich aufgenommen hatte. John de Mols Big Brother war dann nur das plakative Zeichen, dass die Entwicklung abgeschlossen war: ”In the show's fusion of Warhol and Orwell (or more accurately, the kwik-gloss concepts pop culture has assigned to these names), every housemate has been granted a good deal more than 15 minutes.”68 In dieser popkulturellen Mediengeschichte steht Warhol für „das Fernsehen“, Orwell für „den Apparat“. Totale Unterhaltung versus totalitäre Konstruktion von Wissen: Das war die letzte zu überwindende Grenze für „die Medien“ in ihrem immanenten Drang, All-Medien zu werden. Mit der Konvergenz von TV/AV und PC/WWW wird sie ausgelöscht. Der Blick auf die historische Schnittstelle um 1950 lässt allerdings vermuten, dass diese Konvergenz sich nicht technologischen Innovationen verdankt, sondern einer inneren Tendenz folgt, die sich von Anfang an auf drei Ebenen abzeichnete: (1) Der Screen ist bis heute das zentrale Interface für den medialen Raum. Parallel zum TVScreen wurde der Computer-Screen so lange perfektioniert, bis Leinsters alte Vision technisch verwirklicht war. Ein Interface-Typ ermöglicht den Zugriff auf Alles, in Gedankenschnelle: Unterhaltung und Wissen, Popkultur und Politik, Porno und Adorno. (2) Das Medienangebot weitet sich vom Programm zum Raum. Fernsehen hat sich in einen unübersehbare Vielzahl von simultanen Angeboten aufgelöst, zwischen denen der Nutzer mit der All-in-one-Fernbedienung herumzappt. Und ebenso hat sich in der Folge die Computernutzung ausgeweitet zum multimedialen Multitasking und zum Web-Surfen. So wie das Fernsehen unser „Welt“-Bild prägt, selbst wenn das Gerät gar nicht eingeschaltet ist, so ist das World Wide Web in kürzester Zeit zur zentralen Metapher für „Wissen“ geworden. (3) Die Position des Medienmenschen ist gekennzeichnet von einer Spannung zwischen 67 Das Copyright für das deutsche Etikett „All-Medien“ liegt beim Autor, aber der Gehalt selbst ist nicht neu. In der Nachfolge McLuhans ist im englischsprachigen Mediendiskurs die Rede von den "all-pervasive media" geläufig. 68 Marshall Sella, The Electronic Fishbowl (wie Anm. 63).

umfassendem Einbezogensein und durchgängiger Distanz. Die totale Ausweitung von „die Medien“ führte, wie McLuhan richtig konstatierte, eben nicht zum totalitären Volksempfänger, sondern zu einer merkwürdigen Interaktivität. Dabei aber handelt es sich nicht um die Aktivität des legendären mündigen Bürgers, der immer weiß, wo der Abschaltknopf ist, sondern eher um das, was McLuhan als Effekt der „kalten“ Medien beschrieb: Gerade weil sie den Nutzer nicht überwältigen, fordern sie seine Mitarbeit und ziehen ihn so in den medialen Raum hinein. Die neuen elektronischen Medien füllen die Lücke zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, zwischen Körper69 und Ratio, zwischen der Vitalität der neuen urbanen Schichten und der Raffinesse der bürgerlichen Zeichenkultur. Sie orientieren sich an primärer Kommunikation und primärem Erleben: Beteiligung aller Sinne, Echtzeit, dynamische Überfülle von Eindrücken ... Doch dabei geht es weder um eine Rückkehr zum Primären noch um dessen totale Tilgung. Es geht um die Steigerung und Perfektionierung der Zeichenwelt, indem sie die Elemente des Primären in sich aufnimmt. Um 1950 wird das neue Versprechen deutlich, das das Jahrhundert von „die Medien“ beherrschte: Eine spannungsreiche Lebensform zwischen dem Primären und dem Arbiträren, die beide Welten zu etwas Neuem und Eigenständigem verbindet. Martin Lindner lehrt an der Universität Innsbruck.

69 „Sex“ ist nicht deshalb das obsessive Dauermotiv der Medien, weil alle dauernd an das Eine denken. Es geht nicht um den übermächtigen „primären“ Trieb. Ersehnt wird eigentlich die Einlösung des Medien-Versprechens: das bruchlose In-den-Medien-Leben. Und die einfachste Art, diesen Kurzschluss zu erfahren, ist der körperliche Kurzschluss, den am ehesten „Sex“ herstellt (und sonst allenfalls noch Gewalt).

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