Geschichten aus der Realität © 1989, 1990 Stefan Hinz
Ein nicht ganz gewöhnlicher Balkon Als Sej die Balkontür öffnete, nieselte es draußen immer noch wie beim letzten Mal, als er hinausgetreten war. Er stützte die Hände auf die flache Brüstung und blickte auf das nasse Kopfsteinpflaster der Straße, das die Lichter der Gaslaternen reflektierte. Ein Laster kam angeschossen und zerriß für eine Weile die Klangkulisse der Nebenstraße - das ferne Rauschen der Hauptverkehrsstraße, ein bellender Hund an der Ecke, der versuchte, seinen angeleinten, betrunkenen Menschen in die richtige Richtung nach Hause zu ziehen. Der Lastwagen geriet außer Sicht, während seine Bremsleuchten noch rot auf dem Pflaster schimmerten. Der Hund war um die Ecke verschwunden, wo er mit seinem Menschen anscheinend eine heftige Diskussion begann, wenn Sej die Lautäußerungen des Menschen richtig einschätzte. Schon bald darauf waren sie nicht mehr zu hören, wahrscheinlich hatte der Hund bei diesem Wetter die besseren Argumente. Sej fand, daß er das alles schon oft genug gesehen hätte und daß es an der Zeit wäre, zu verschwinden und etwas Neuem Platz zu machen. Er schaute nach oben in den stadtnachtgrauen Himmel - eine Farbe, die etwas eigentümlich Gewöhnliches hat, und die Nässe der Luft legte sich ihm auf die Augen, so daß er, als er wieder die Fenster des gegenüberliegenden Hauses ansah, diese nur als verschwommene Lichtflecke wahrnahm. Hinter ihm in der Tür miaute seine Katze. Sej hockte sich hin, um sie zu streicheln, wobei er den Blick aber nicht von den Lichtflecken nahm, aus denen allmählich wieder gewöhnliche Altbaufenster wurden. Er wußte, wo die Katze stehen würde: nämlich mit den Vorderpfoten auf der Türschwelle, so daß er gar nicht hinsehen brauchte, um sie zu berühren. Aber heute war etwas anders. Sej schaute verwundert auf seine Katze hinunter, die ihren Kopf an seinem rechten Bein rieb und schnurrte. Die Katze haßte gewöhnlich den Lärm der Straße oder die Kälte des Balkonbodens oder beides und kam deshalb nie heraus, außer an den wenigen Tagen des Sommers, an denen nachmittags die Sonne auf die Blumenkästen schien, was sie als Aufforderung ansah, sich auf die Blumen zu legen und sich den Pelz wärmen zu lassen. Heute nieselte es, und sie stand hier draußen und schnurrte. Sej nahm sie auf den Arm und drehte sich um, um hineinzugehen. Er hätte das mit Sicherheit auch gemacht, wenn sich zwischen dem Balkon und der Wohnung nicht ein fünf Meter breiter Spalt befunden hätte, der sich rasch vergrößerte. Die Wohnung befand sich in der vierten Etage, und der Balkon war auf den Erker der darunter liegenden Wohnung gebaut oder vielmehr: gebaut gewesen. Sej fragte sich, ob es nun in diese Wohnung hineinregnete. Direkt danach fragte er sich, worauf der Balkon denn nun stände. Wiederum kurz danach fragte er sich, ob er vielleicht träume. Andererseits hatte er sicher im Traum im Nieselregen gestanden, aber er konnte sich nicht erinnern, sich jemals so täuschend echt naß gefühlt zu haben. Außerdem wurde ihm langsam kalt. "Nun gut", sagte Sej zu seiner Katze, "ich sollte mir ziemlich bald klar werden, ob ich das nur träume, sonst werden wir uns erkälten. Was hältst du von der Sache?"
"Hmmm...", schnurrte die Katze, weil sie noch überlegen mußte. Dann aber grub sie ihre Krallen in Sejs Pullover, wie sie das immer tat, wenn er sie in einer fremden Umgebung umhertrug. Der Balkon hatte mittlerweile die Straße überquert und war dabei unmerklich höher gestiegen. Nun stand er beinahe auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses. Sej hielt sich jetzt mit der einen Hand am Gitter fest, das auf die Balkonbrüstung montiert war, um die Blumenkästen am Herunterfallen zu hindern, mit dem anderen Arm hielt er noch immer die Katze. Der Balkon beschleunigte nun merklich und stieg immer höher. Als Sej es wagte, einen Blick hinter sich zu werfen, konnte er schon fast das gesamte Stadtviertel erkennen: die drei Hauptstraßen, die die Gegend auseinandertrennten wie geronnene Lava, auf denen jetzt nur wenige Autos fuhren, den Rathausturm, die große Kirche. Ein Schauder lief über seinen Rücken. Der Fahrtwind blies ihm den Nieselregen ins Gesicht wie Gischt an Bord eines Schiffes. Die Katze vergrub ihren Kopf in seiner Armbeuge und schnurrte nur noch ganz leise. "Hätte mir jemand gesagt, daß Balkone fliegen können, hätte ich mir heute nicht nur diesen Kimono angezogen," murmelte Sej vor sich hin. Er war erstaunt darüber, so wenig erstaunt zu sein, daß er sich mit derartig Trivialem beschäftigen konnte, während er mit dem vermutlich ersten fliegenden Balkon der Menschheitsgeschichte auf einer nicht ganz alltäglichen Reise unterwegs war. Mittlerweile waren die beiden in die niedrighängenden Wolken eingetaucht, aber nasser konnte es sowieso nicht werden. Durch den immer stärker werdenden Fahrtwind und die größere Höhe wurde es allerdings empfindlich kühl. Am Balkongeländer bildeten sich die ersten dünnen Eisschichten. Schräg vor ihnen erschien urplötzlich ein grelles Licht, und Sej kniff vor Schmerz die Augen zusammen. Der folgende Knall war so stark, daß er ihn fast vom Balkon gefegt hätte, doch dieser raste gleichzeitig in einer scharfen Kurve zurück in die Richtung, aus der sie kamen, so daß Sej und die Katze gegen die Balkonbrüstung gedrückt wurden. Der Balkon bremste nun heftig ab, wobei er aber immer noch an Höhe gewann, und das schneller als zuvor, bis er wie ein Aufzug in den Himmel schoß. Schließlich zerriß der Wolkenschleier wie ein Vorhang und die Sterne und der fast volle Mond wurden so plötzlich sichtbar wie in einem 3D Trickfilm, so daß es Sej schier den Atem verschlug. Der Balkon stieg nun immer langsamer und vollführte noch einige Drehungen, bis er zum Stillstand kam. Das überraschende Auftauchen des Sternenhimmels war schon überwältigend gewesen, aber was Sej nun sah, hätte ihn wirklich von den Socken gehauen, wenn er welche getragen hätte.
Die Aggregatzustände der Zeit Nachrichten von Ebene 9, formatiert für Lebensformen bis Ebene 10. Eine scheinbare Unmöglichkeit ist jetzt nicht mehr ganz so unmöglich. Wie uns Bewohner eines Cerebralplaneten im System Alpha Centauri mitteilten, ist es ihnen angeblich gelungen, die auf allen Ausprägungen der Ebenen 10 und darunter vorliegende Standardsimulation "Zeit" von einem Aggregatzustand in einen anderen umzuwandeln. Daß diese Simulation überhaupt einen Aggregatzustand besitze, war bisher von wissenschaftlichen Kreisen unserer Ebenen kategorisch bestritten worden. Bei den genannten Bewohnern des Cerebralplaneten handelt es sich (auf Ebene 10) um Virenähnliche, die verblüffenderweise Radikal Erweiterten Insekten ähnlich sehen.
Die Geschichte selbst eines Staubkorns auf den Ebenen 10 und darunter ist eng verbunden mit einer Standardsimulation, die von Humanoiden im Sol-System als "Zeit" bezeichnet wird, allerdings sagen andere dort auch "time" zum selben Phänomen, wieder andere nennen es "temps", "tiempo" usw., und nur die Worte aufzuzählen, die auf Ebene 10a (einer Raum-Zeit(!)-Simulation mit einer Krümmung von 56 Trillionen Lichtjahren) dafür verwendet werden, würde mehr als ein Buch wie dieses füllen. Eine Bezeichnung sei jedoch erwähnt, weil sie durch ihre Art einen ganzen Planeten auf die Suche nach den verschiedenen Aggregatzuständen dieser Simulation schickte: Auf dem Cerebralplaneten Medulla wurde Zeit nämlich als "Das Fließende" ausgedrückt, was gewisse virenähnliche Bewohner dieses Planeten veranlaßte, mit dieser Simulation herumzuexperimentieren, daß es Gott eine Freude gewesen wäre, hätte es ihn gegeben. Das letztendliche Ergebnis war für die Virenähnlichen eine Sensation; für einige Programmierer auf Ebene 5 bedeutete es bedauerlicherweise, eine Wette mit Kollegen auf Ebene 4 verloren zu haben, wofür sie tief in ihre Taschen greifen mußten, die sich unpraktischerweise zwei kosmische Ebenen unter ihnen befanden. Auf Sejs Heimatplaneten im Sol-System hatte es vor dem Auftauchen der Humanoiden, die sich seitdem rasant über die gesamte Landfläche ausgebreitet hatten (mit Ausnahme einiger schöner Sonnenplätze, die sie "Wüsten" nannten, und vieler hoch gelegener Aussichtsplattformen und -spitzen, in ihrer Sprache "Hochgebirge"), einige hochinteressante Lebensformen gegeben, die sich (teilweise zu ihrem eigenen Bedauern, teils unter der Anteilnahme fast des gesamten fühlenden Universums) selbst wieder ausgerottet hatten. Die meisten waren nicht auf dem Planeten selbst entstanden, sondern von Reisenden der Ebene 9 zu Versuchszwecken oder zum Spaß ausgesetzt worden. Einige hatten sich gar selbst eingeschleust, wie z.B. die SAURIER (Superintelligente AUßerirdische Riesen In Eigentümlichen Rüstungen), die sich einige Milliarden Planetenumdrehungen damit vergnügt hatten, die Landoberflächen kahlzufressen, bevor ihnen das zu langweilig wurde und sie unter Hinterlassung des größten Teils ihrer Körpermasse auf einen nahegelegenen Planeten desselben Systems übersiedelten, wo sie es dann so toll trieben, daß dieser zum Schluß in Stücke zersprang, die von den Humanoiden später "Asteroiden" genannt wurden. Viele Rassen waren allerdings auch von den Humanoiden verdrängt worden, wie der Knatschmaulflosser, der einzige bekannte wasserscheue Fisch, der hauptsächlich in Laubwäldern wohnte. Sein Geistes- und Sozialleben basierte auf hochempfindlichen Logikschaltkreisen, die denen späterer, von den Humanoiden "erfundener" Computer sehr ähnlich waren, mit dem Unterschied, daß die Schaltungen des Knatschmaulflossers Gedankenimpulse verarbeiteten und nicht elektrische oder optische Signale. Mit der Zunahme humanoider Gedankenaktivität wurde dem Knatschmaulflosser das Leben zuerst versaut und im weiteren Verlauf unmöglich gemacht, woraufhin sich die letzten Exemplare ins Ungewisse auflösten.
Intelligentes Leben auf dem Planeten Erde Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, daß bis zum beziehungsweise mit dem Auftauchen der Humanoiden sämtliches intelligente Leben von dem Planeten verschwand. Zwei Exemplare einer Rasse intelligenten Lebens schwammen in diesem Augenblick (eine höchst hypothetische Angabe; korrekt müßte es heißen: würden zu möglichen, programmgleichen Simulationseindrücken als Schwimmende erschienen sein; aber das verunmöglicht flüssige Schreibweise) direkt vor der
Küste einer Region, die von den Humanoiden Kalifornien genannt wird, und erfreuten sich am Spiel der untergehenden Sonne mit den kleinen Wellen, die sie beim Durchbrechen der Wasseroberfläche hervorriefen. "An Tagen wie heute werde ich immer philosophisch," sagte Ssnfrneingh der Jüngere und blickte zu Arrgnflrt dem Unbeirrten hinüber, der heute seinen Geburtstag feierte (er wußte allerdings nicht mehr, den wievielten, da er seit dem 500000. nicht mehr mitgezählt hatte). "Tage wie diese gab es schon, als wir zum ersten Mal in diesen Planeten eintauchten," fügte er hinzu, "und in manchen Bereichen scheint sich nichts zu ändern, während es in anderen nie zweimal denselben Zustand gibt." "Denkbar wäre," entgegnete Arrgnflrt, "daß sich die Kontinua seit unserem Eintreffen übereinandergelagert haben, und dass sich durch äußere Einwirkungen, die wir nicht verstehen, dort in den gestapelten Schichten Brüche und Risse bilden, die durch ihre Anomalie erst erlauben, Einblicke in diese Dualzeit zu gewinnen, wie du sie anscheinend hast." "Wenn es so wäre, hätten wir allerdings keine Möglichkeit mehr, durch rekursive Spiegelungen entlang der Zeitachse das Geschehen von Anbeginn zu rekonstruieren," behauptete Ssnfrneingh. Derart zog sich die Unterhaltung hin, bis die Sonne schon lange im Ozean verschwunden war. Arrgnflrt und Ssnfrneingh schwammen jetzt knapp unter der Oberfläche in der großen Bucht, an deren Ufer sich eine der größten Humanoiden-Siedlungen des Planeten befindet. Nur noch ihre Rückenflossen ragten aus dem Wasser, während sich ihre Unterhaltung einem höchst theoretischen Ende zuneigte. Lebensformen ihres Charakters haben eine ausgesprochene Abneigung gegen letztendliche Schlußfolgerungen, die es ja unmöglich machen, ein Gespräch mit demselben Thema auf dieselbe Art bis ins Unendliche weiterzuverfolgen. Daher traf es sich gerade richtig, daß über ihnen ein defektes Verkehrsflugzeug mit qualmenden Triebwerken zur Bruchlandung auf dem Wasser ansetzte. "Die Humanoiden haben eine merkwürdige Einstellung zu ihrer Technik," sinnierte Ssnfrneingh, "wenn etwas schiefgeht, glauben sie, das sei ein Fehler, den man in Zukunft vermeiden kann, selbst wenn es schon tausendmal schiefgegangen ist." "Wir sollten uns darüber nicht beklagen," lachte Arrgnflrt (Humanoide würden beim Anblick dieses Lachens nicht behaupten, daß Lachen unbedingt etwas mit Humor zu tun hat), "außerdem ist es Zeit, etwas zu essen." Mit einem gewaltigen Krach landete das Flugzeug gar nicht weit von ihnen auf dem Wasser, wobei es sofort in zwei Teile auseinanderbrach. Ssnfrneingh drehte und schwamm gemächlich neben Arrgnflrt her auf die abgestürzte Maschine zu. "Du hast recht," sagte er, "laß uns Abend essen gehen."
Hightech zum Reinkuscheln Sej setzte die Katze auf die Balkonbrüstung zwischen zwei Blumenkästen und hielt sich mit beiden Händen am Gitter fest. Er versuchte, tief Luft zu holen, zwinkerte ein paarmal heftig mit den Augen und versuchte sich einzureden, daß er doch nur träume. Die Katze sah ihn an und miaute, machte aber keinen ängstlichen Eindruck. Was ihn verwunderte, war, daß auch er überhaupt keine Angst hatte. Unter seinem Balkon war einige tausend Meter nichts, und dennoch
fühlte er sich sicher wie auf festem Boden. Er drehte sich um und nahm das Objekt, das ihn von den Socken gehauen hätte, wenn er welche getragen hätte, genauer in Augenschein. Als wäre das das Normalste von der Welt, lag dort eine kleine weiße Wolke mit allerdings sehr symmetrischen Formen. Sie lag dort wie ein Schiff, das am Kai des Balkons angelegt hatte. Sej schätzte sie auf drei Meter Länge und vielleicht knapp zwei Meter Breite. Die Oberfläche formte einige Dinge, deren Sinn einfach zu erkennen war, und einiges, was ihm unverständlich blieb. Da waren zwei Sitzkuhlen nebeneinander, eine große und eine kleine, zwischen denen sich eine Art Tastatur befand mit Tasten verschiedener Größe und Dicke. Vor den Sitzen befand sich ? schräg "eingebaut" ? eine Art Monitor, dessen Schirm in einer etwas anderen Farbe als der Rest schimmerte. Überhaupt diese Farbe! Die Wolke war aus dem reinsten Wolkenweiß überhaupt, ohne eine Spur von Regen. Hinter den Sitzen befanden sich Erhöhungen, deren Sinn er nicht erkennen konnte, und hinter diesen etwas, das der Heckflosse eines Flugzeugs ähnelte. Diese Flosse war der Teil der Wolke, der am weitesten herausragte, vielleicht einen knappen Meter vom Boden der Sitze aus gerechnet. Die Katze war auf den Balkonboden gesprungen und schnupperte vorsichtig an der Wolke herum. Sej beugte sich herunter und faßte das Gebilde an. Es fühlte sich unbeschreiblich an: Da war viel mehr als bei einer gewöhnlichen Wolke, durch die er hindurchgefaßt hätte (dachte er jedenfalls, denn soweit er sich erinnern konnte, hatte er vorher noch nie eine Wolke berührt). Andererseits war das Material auch nicht wirklich fest, eher so wie dichte Watte. Auch konnte er nicht sagen, ob es sich warm oder kalt anfühlte. Insgesamt hatte er den Eindruck, daß die Bezeichnungen für Tasteindrücke, die er wie alle anderen Menschen verwendete, einfach nicht ausreichend waren für dieses Gefährt. Ein Gefährt: Er war sich ganz sicher, daß diese Wolke so etwas war, obwohl er auch ganz sicher war, so etwas noch nie gesehen zu haben. Die Katze setzte vorsichtig eine Pfote darauf: Das Material gab ganz leicht nach. Das gleiche geschah, als Sej mit der Handfläche kräftiger drückte, die Wolke an sich jedoch bewegte sich überhaupt nicht. Danach beugte er sich hinüber bis zu der Tastatur. Er zögerte einen Moment, dann drückte er den größten der Knöpfe, den er vom Balkon aus erreichen konnte. Wie um eine Vorahnung zu bestätigen, erschienen auf dem Monitor die Worte: "Bitte treten Sie näher!" Er drückte noch einmal auf den Knopf, und darunter erschien die Nachricht: "Guten Tag! Was Sie hier vor sich sehen, ist der Prototyp eines neuartigen Reisesimulators, der auf einer neuentwickelten Design-Philosophie basiert. Erstmals wurden hier nicht nur sämtliche interstellaren Simulationen implantiert, sondern auch Zeit-Simulationen, die auf neuesten Erkenntnissen beruhen. Patente sind bisher für die Ebenen 10 bis 7 angemeldet." Die Schrift verblaßte, bis sie fast nicht mehr sichtbar war und wurde dann wieder stärker. Die Nachricht ging weiter: "Zögern Sie nicht einzusteigen. Dies ist, wie gesagt, ein Prototyp. Wenn Sie ihn nicht ausprobieren möchten, werden wir ihn in Kürze ins nächstgelegene Sonnensystem lancieren, um ihn dort anzubieten. Bedenken Sie: Die Fabrikation kann erst im nächsten Zeitgrad aufgenommen werden. Für Ihren Planeten (hier kamen jetzt die genauen Zeit-RaumKoordinaten samt einer atemberaubenden 3D-Grafik) wird dies erst im Jahre 50384 Ihrer Zeitrechnung der Fall sein. Sollten Sie unser Probeangebot aber annehmen, können Sie den Reisesimulator vorerst bis zum Jahr 2024 Ihrer Zeitrechnung behalten. Sollten Sie sich danach zum Kauf entscheiden, kann Ihnen unsere Kreditabteilung günstige Bedingungen anbieten. Sollten Sie auf den Kauf verzichten, entstehen Ihnen aus der probeweisen Nutzung keinerlei
Verpflichtungen." Dieser Text blieb auf dem Monitor stehen, und Sej drückte noch einmal auf den Knopf. Das führte dazu, daß alles jetzt noch einmal akustisch dargeboten wurde, mit einer sympathischen, säuselnden Stimme, von der man nicht sagen konnte, ob sie einem Mann oder einer Frau gehörte: "Bitte treten Sie näher! Guten Tag! Was Sie hier vor sich sehen, ist der Prototyp ..." Sej hörte nicht lange zu. "Du hältst das vielleicht für feige," sagte er zu der Katze, "aber ich bin sicher, das nichts Schlimmes passiert." Er nahm sie hoch und setzte sie auf die Wolke, in die Vertiefung des großen Sitzes. Sie sah ihn etwas vorwurfsvoll an, lief dann über die Tastatur hinüber und nahm auf dem kleinen Sitz Platz. Sej setzte einen Fuß auf den großen Sitz, verlagerte vorsichtig sein Gewicht vom Balkon auf die Wolke und setzte sich schließlich richtig hin. Zu seiner Überraschung saß man hier sehr angenehm; das Material paßte sich der Körperform an. Außerdem fühlte er sich jetzt nicht mehr kalt, obwohl sein Kimono immer noch durchnäßt war. Die Katze saß da und leckte sich die Pfoten. Sej sah zu ihr hinüber. Sie stoppte mitten in der Bewegung und sah ihm in die Augen. Sej lachte und lehnte sich zurück. Mit einem Mal war der Balkon verschwunden. Sej schaute über den Rand der Wolke hinunter und sah, wie er nach unten raste. Auf dem Monitor erschien die Mitteilung: "Ihr Aufzug wird jetzt wieder dauerhaft im Erdgeschoß geparkt. Sie werden ihn wahrscheinlich nicht mehr benötigen." Sej legte die rechte Hand auf die Tastatur, was den Bildschirm veranlaßte, ihm mitzuteilen, daß die Wolke jetzt auf ihn kalibriert sei und von nun an die RaumZeit-Koordinaten in bezug auf den Punkt Erde ausgeben werden würden. Er wagte nicht zu hoffen, auch nur im Entferntesten zu verstehen, was ein Reisesimulator wäre; dennoch hätte er gerne gewußt, wie das Ding zum Laufen gebracht werden könnte. Er drückte wieder auf die große Taste. "Hallo! Sie möchten jetzt sicher losfliegen. Neben der Taste, die Sie gerade bedient haben, befindet sich ein Hebel, mit dessen Hilfe Sie verschiedene Menüpunkte ansteuern und aufrufen können. Folgen Sie den Anweisungen, die ausgegeben werden, und genießen Sie Ihre erste Reise. Proviant, Kleidung und weitere Dinge, die Sie benötigen werden, befinden sich hinter Ihnen. Stellen Sie Temperatur, Luftdruck und -feuchtigkeit, Gravitation, Strahlungsgemisch und -stärke Ihren Wünschen gemäß ein. Eine Standardeinstellung, die die nach unseren Erkenntnissen optimalen Werte für Ihre Lebensformen enthält, ist bereits aktiviert."
Die Wette Nachrichten im Subkanal der Ebenen 4/5: Parameterübertragungen unkontrolliert impliziert Rückwirkungen in Kontinua-Aspekten ergo kontinuierlich disrelevant. Damit sollte jetzt dem letzten Programmierer der Subebene 10a klar sein, daß DIE WETTE verloren ist! Wir bitten, die Begleichung der dadurch entstandenen Schuld am Buß- und Bettag diesen Jahres vorzunehmen. Haha! Huhu. Hehehe! Höhöhöh. Hihi.
Das extramaristrische Spektroskop Arrgnflrt der Unbeirrte war ein verfressenes Tier, wie er selbst nicht ohne Stolz
zugab. Dennoch hatte das Angebot an Abendessen an diesem Tag trotz der Hilfe einiger Dutzend Artgenossen, die schleunigst herbeigekommen waren, sein Können bei Weitem übertroffen. Das havarierte Flugzeug hatte sich wieder einmal als eine vollbesetzte Boeing 747 herausgestellt, und Arrgnflrt beschloß insgeheim, diese Bucht bis auf Weiteres zu meiden, da nichts ihn so sehr verdrießen konnte wie Essen, das ungefressen wegschwamm. Auch den anderen quollen vor Sattheit schon fast die kleinen Augen aus den feisten silbrigen Körpern, und es war klar: Da man heute schon mal versammelt war und außer Entspannen nicht mehr viel drin war, würde früher oder später wieder eine hochphilosophische Diskussion entbrennen, auf die Arrgnflrt an diesem Abend überhaupt keine Lust mehr hatte. Überhaupt hatte er sich in der letzten Zeit (eine Spanne, die die Humanoiden mit "während der letzten Jahrtausende" bezeichnet hätten) ganz schön verändert, wie er meinte. Hatte er früher noch jahrelang am Stück über ein einziges Thema plaudern können, so war er heute meist nach ein paar Monaten ziemlich gelangweilt. Auch fühlte er sich von Zeit zu Zeit müde, was ihn anfangs reichlich erschreckt hatte. Zwar hatte er in der letzten halben Million Jahre nicht geschlafen, aber das war für Angehörige seiner Rasse normal. Wenn einer von ihnen mal schlief, dann nur, weil er keine andere Chance mehr sah, verrückt zu werden, und es partout nicht mehr aushielt, normal zu sein. Arrgnflrt hatte es am Anfang seiner jetzigen Existenz aus Neugier ausprobiert und hegte seitdem einen tiefen Abscheu gegenüber Lebensformen, die regelmäßig schliefen, was auf diesem Planeten merkwürdigerweise fast alle waren. (Diese Tatsache ist tatsächlich merkwürdig, denn das Phänomen Schlaf ist im übrigen Universum nichts weiter als ein Kuriosum, das allenfalls in billigen Ratespielen, Boulevardzeitungen und vereinzelt auf entlegenen Planeten zu finden ist. Die Attraktion von Lea Ulterior ist der Faltige Schnurzpiep, der seit mehreren Jahrtausenden in einem Glaskasten schläft, wobei er durch eine Batterie von Schläuchen künstlich ernährt wird. Böse Zungen behaupten, daß sein Schlafzustand schon seit Langem chemisch verlängert wird, aber die LeaUlterioraner streiten das natürlich energisch ab. Eine Filmfirma, die viel Geld dafür bezahlt, die Gedankenströme des Schnurzpiep ableiten zu dürfen, um daraus Drehbuchvorlagen für Nachmittags-Kinderserien herzustellen, legte neulich sogar ein Gutachten eines Schlafschutzvereins vor, das beweisen soll, daß der Schlaf des Schnurzpiep völlig natürlich ist.) Arrgnflrt hatte auch herausgefunden, daß die Neigung zu schlafen etwas mit der Neigung zu sterben zu tun hatte. Deshalb wunderte er sich, daß die vielen Humanoiden, die versuchten, ihre Neigung zu sterben abzuschaffen oder doch hinauszuzögern, nicht versuchten, ihre Neigung zu schlafen zu verändern. Dabei hatten sie doch trotz ihrer minimalen Intelligenz vor Kurzem bereits erkannt, daß - wie sie sich ausdrückten - der Schlaf der Bruder des Todes sei. Nun, für Arrgnflrt war es natürlich unmöglich, sich in so niedrige Lebensformen hineinzuversetzen; aber manchmal reizte ihn das schon, weil er dann vielleicht etwas mehr über seine eigene Müdigkeit dazugelernt hätte. "Leider", so sinnierte er, "schließt die Evolution die Türen zur Rückentwicklung..." Arrgnflrt war einige Zeit in ziemlich schnellem Tempo südwärts geschwommen, um seine diskussionsfreudigen Artgenossen abzuwimmeln, jetzt schwamm er eher gemächlich gegen den sanften kühlen Strom, der um diese Jahreszeit die gesamte Küste dieses Kontinents entlangstrich. Hin und wieder begegnete er großen Fischschwärmen, die bei seinem Anblick hastig abbogen oder auseinanderstoben, aber Arrgnflrt achtete nur darauf, keinem Artgenossen über den Weg zu schwimmen, weil er in Ruhe seinen Gedanken nachhängen wollte.
Sein Hunger war ohnehin für ein paar Tage gesättigt, und die Pflanzengewebe und Tierhäute, die die Humanoiden sich über ihre Haut zu hängen pflegten, waren ziemlich schwer verdaulich. Arrgnflrt hing noch einige Tage seinen Gedanken nach (für die ein humanoider Philosoph vermutlich sein Leben gegeben hätte, wenn er sie nur hätte hören können), bis er schließlich einen Entschluß faßte: Er würde auf dem schnellsten Wege zum extramaristischen Spektroskop schwimmen, das seit etlichen Jahrhunderttausenden in einem vergleichsweise ruhigen Meeresarm aufgestellt war, den die Humanoiden Ägäis nannten (in Arrgnflrts Sprache hieß dieser Teil des Ozeans Sflng Krzm Krzn Pflpfl, was nicht nur in Kurzform durchschnittliche Tiefe, Salzgehalt, Strahlungsaktivität und andere wissenswerte Parameter dieses Seitenmeeres angab, sondern auch einige Anekdoten und Legenden aus den Zeiten beinhaltete, in denen dieses Meer trockenes Land gewesen war). Das extramaristische Spektroskop war von den ersten Ankömmlingen von Arrgnflrts Rasse ursprünglich in einem pazifischen Graben aufgestellt worden; dort war es jedoch von pazifischen Tiefseeröchlern, den einzigen Fischen mit meßbarer Intelligenz, als eine Art Kino mißbraucht worden, und war daher irgendwann einmal nach Sflng Krzm Krzn Pflpfl geschafft worden, wo es nur ein paar hundert Meter unter der Oberfläche stand (und damit zu hoch und auch zu weit entfernt für die Tiefseeröchler, die seitdem die pazifischen Gräben mit ziemlich barbarischen Spielen terrorisierten, auf die aus Gründen der Ästhetik nicht weiter eingegangen werden soll). Für ein humanoides Gehirn wäre das extramaristische Spektroskop tatsächlich eine Art Kino gewesen (wenn das humanoide Gehirn etwa fünfmal schwerer und das Kino vierdimensional gewesen wäre). In ihm waren alle Erkenntnisse des belebten Universums seit dem Urknall und bis zum Endplumps in komprimierter Wellenform aufgezeichnet. Äußerlich bestand es aus einer Anzahl Metallringe, die im Abstand von einigen Metern in unterschiedlicher Höhe und Ausrichtung aufgestellt waren und fast gleiche Durchmesser hatten. Dieser Durchmesser war schwer zu schätzen, da die Ringe ein irisierendes Flirren von sich gaben, was es zusammen mit der ständigen Bewegung des Wassers in ihrer Nähe sogar schwierig machte, ihren genauen Standort zu bestimmen. Nichtintelligente Lebensformen wurden durch sie gewöhnlich so stark verunsichert, daß sie es vorzogen, die Metallringe überhaupt nicht zu bemerken. Mit den Eindrücken im Unterbewußtsein konnte man sich schließlich im Schlaf beschäftigen... Arrgnflrts Rasse nutzte das Spektroskop fast nur noch in Augenblicken des Zweifels und wenn einer Schwierigkeiten hatte, sich zu irgendetwas zu entscheiden (dafür war es besonders vorteilhaft, denn wenn man mal wieder gesehen hatte, was für Schwierigkeiten das Universum gewöhnlich hatte, sich zu entscheiden, fühlte man sich irgendwie gestärkt). Und genau daran dachte Arrgnflrt, während er, jetzt wieder mit höherer Geschwindigkeit, an Baja California vorbeizog, in Richtung der Einöden vor der südamerikanischen Küste, und in Richtung des riesigen Strudels, der sich einige Wochen im Jahr vor dem antarktischen Kontinent bildete (und von dem die Humanoiden bisher merkwürdigerweise nichts bemerkt hatten, mit Ausnahme derer, die darin untergegangen waren), in Richtung eines Naturphänomens also, das selbst für Arrgnflrt gefährlich werden konnte, und an das er, da er schon wieder in Gedanken versunken war, überhaupt nicht dachte.
Fahren lernen Sej spielte eine Weile auf dem Bildschirm herum. Die Informationen, die dort
erschienen, und die phantastischen Möglichkeiten, die dort angedeutet waren (in Wirklichkeit war das der eher trockene Ebene-10a-Standard nach der ESN C2007), brachten ihn in eine Art euphorischen Rauschzustand. Daher dachte er vorerst gar nicht daran, sich für irgend etwas zu entscheiden, sondern ließ sich von einer Menüleiste in den nächsten Unterordner und eine weitere Menüleiste von etwas, das ein Unterprogramm zu sein schien, in eine dreidimensionale Farbgrafik hineintragen, die Walt Disney's Trickfilmexperten als blasse Stümper hätte dastehen lassen. Der Effekt war dermaßen überzeugend, dap Sej sogar versuchte, in den Monitor hineinzufassen, was zu seiner Überraschung möglich war: Er konnte den momentan dargestellten Planeten (die ätherische Version eines Gasplaneten am Rande der 10a-Ebene) mit den Fingern berühren, seine Konsistenz ertasten, fühlen, wie kalt er war, ihn drehen und sogar eindellen (hätte er sich bereits besser mit Simulationen ausgekannt, hätte er auch mit dem Planeten sprechen können). Er konnte auf bestimmte Punkte zeigen und dazu wiederum Menüleisten aufrufen, die andere Grafiken vor, hinter, oder, fast durchsichtig, in den Monitor stellten, und er war so fasziniert von diesen Möglichkeiten, daß er erst wieder daraus auftauchte, als seine Katze miaute. Sej schaltete die diversen Grafiken und schriftlichen Informationen mit einem Tastendruck ab und kraulte die Katze hinter den Ohren. "Wollen wir mal sehen, was der Schlitten sonst noch so kann?" fragte er sie, und sie gab ein Miauen von sich, das Zustimmung andeuten sollte. Sej schaltete den Monitor wieder ein und ging auf "Run", was bewirkte, daß ihm eine verwirrende Anzahl von Optionen zur Steuerung der Wolke angeboten wurde. Er wählte "Handsteuerung" und klickte bei "Mit wieviel Händen? Eins/zwei/drei/vier/Anzahl frei und stufenlos einstellbar" "eine Hand" an, dann aktivierte er noch vorsichtshalber die "Anfängerstufe mit zugeschalteten Hilfsprogrammen". Jetzt erschien an der Stelle der Tastatur ein Schalthebel, der nichts ähnlich sah, was man auf der Erde einsetzte, um Maschinen zu bedienen: Es war ein Griff in der Form eines platten, umgedrehten U, der entlang einer Achse vor und zurück bewegt werden konnte, wobei man den ganzen Teller, auf den er montiert war, auch drehen sowie nach vorn und hinten kippen konnte. Trotz dieser vielen Freiheitsgrade konnte man komfortabel damit umgehen, da sich der Gegendruck genau den beabsichtigten Aktionen anpaßte, so daß man beispielsweise in einer Rechtskurve nicht zu weit oder zu schnell nach rechts drehte. Ein Drücken des U-Griffs nach vorn bewirkte Beschleunigung, je stärker, desto schneller. Genauso bewirkte ein Zurückziehen Abbremsung. Das Kippen des Tellers führte zu veränderter Flughöhe. Sej war noch damit beschäftigt, vorsichtig die verschiedenen Steuermöglichkeiten auszuloten, als er vom Monitor gefragt wurde: "In wieviel Dimensionen möchten Sie reisen? Stufenlos einstellbar von 0 bis 5,3." Sej stellte fürs Erste auf 3,0, was aber zu einem ziemlich verrückten Gehopse führte, wobei immer nur ganz kurz die merkwürdigsten Umgebungen zu sehen waren, bis Sej die Zeit in den Sinn kam und er auf 4,0 erhöhte, was ihn wieder in die gewohnte Umgebung zurückbrachte. Ganz vorsichtig erhöhte er dann auf 4,1. Nichts schien sich zu verändern, auch nicht, als er bis auf 4,3 hochgeschaltet hatte. Dann aber, bei etwa 4,5, passierte etwas Komisches: Wenn man die Zeit hören könnte, Sej hätte geschworen, daß sie gerade gedonnert hätte. Dann war plötzlich der Steuergriff verschwunden, und er wurde durch eine unglaublich starke Beschleunigung in den Sitz gepreßt. Er konnte gerade noch den Kopf drehen und sah, daß die Katze die Ohren angelegt hatte und sich so tief es ging in ihren Sitz drückte. Dann verschwanden die Wolken unter ihnen, die Sterne und der Mond waren wie weggewischt, und sie zischten mit immer noch zunehmender Geschwindigkeit durch ein vorbeirasendes schwarzes Nichts.
Dimensionsreisen für Anfänger In der Allgemeinen Enzyklopädie der Ebene 10a, die auf allen bewohnten Planeten von einiger Bedeutung öffentlich - meist in optisch oder magnetisch gespeicherter Form - ausliegt, steht unter dem Stichwort 'Dimensionsreisen' und nach Anwählen von 'Kurzinformation' folgendes: "Für Lebensformen unserer Ebene (und wahrscheinlich auch für die der -b und -c-Ebenen) ist abzuraten von: a) Dimensionsmischungen mit einer Gesamtsumme größer als 10, b) Einzeldimensionen jenseits von 4,5 ohne Erfahrungen in xenophiler Tiefenhypnose, c) Einzeldimensionen jenseits von 5,3 ohne eine Intelligenz, die mindestens 4,84 mal 10 hoch 953 Synapsen von Humanoiden oder Insektoiden der Kategorie C4121-c nach ESN entspricht, d) das Betreten negativer Dimensionen ohne Jagdschein. Das Wort 'Reisen' erweckt bei vielen minderbemittelten Organismen einen falschen Eindruck: Die Sinneseindrücke sind meist eher schwach, und wenn sie stark sind, eher exotisch. So gefährlich das Dimensionsreisen für Neulinge ist, so gering sind allerdings auch die Chancen, dabei völlig zu verschwinden: Bis zum Endplumps sollen nur genau 1343 Individuen, 42 Duuduen, 3,1415 Triglomerate sowie eine 'unerkleckliche' Anzahl siebenköpfiger Säbelfußschnecken verschwunden sein. Da diese Angaben jedoch von einem Individuum stammen (genauer gesagt: stammen werden), das in der Zukunft verschollen ist, müssen sie mit einiger Skepsis betrachtet werden. Schlimmer ist schon, daß man sich dabei sämtliche bekannten chronischen Krankheiten mit Ausnahme von Geschlechtskrankheiten (wegen der Geschwindigkeit) und rheumatischen Erkrankungen der Fühler (wegen gewisser, nicht erklärter Desensibilisierungen) zuziehen kann. Was Dimensionsreisen nun genau ist, kann aus Zeit- und Kostengründen nur in unserer 4,2-dimensionalen Ausgabe erläutert werden." Simulationsparameter, die eine Übernahme in eine andere Dimension erlauben, sollten vorher auf Konsistenz überprüft werden... Andernfalls sind oft krasse Nebenwirkungen nicht auszuschließen", erklärt die Allgemeine Enzyklopädie der Ebene 10a. "Idioten, die ohne einen blassen Schimmer in den Submodulen rumhüpfen, brauchen vor dem Verlust ihres bißchen Existenz nicht besonders geschützt zu werden." donnert Der Moralische Leitfaden für den Ebene-5Programmierer zum gleichen Thema, der immerhin so imposant klingende Themen wie "Das Für und Wider der Implementierung der 10 Gebote im SubSubmodul-10a-Sol-III-Menüpunkt:Frühzeit/hum-x2" drauf hat. Für wirklich Gläubige kann noch hinzugefügt werden, daß Gott selbst - kryptisch wie immer zu diesem Thema bemerkt haben soll: "Ich bin in vielen Dimensionen zu Hause." Bitte erwarten Sie hier keine Erklärung.
Zurück in der Zukunft Sej fühlte ein Zittern durch die Wolke gehen. Er starrte auf den Monitor, auf dem jetzt ein zehnstelliges Zählwerk rasant vorwärts zählte. Die Geschwindigkeit verlangsamte sich jedoch, so daß er auf der ersten Stelle die einzelnen Ziffern erkennen konnte. Einige kamen ihm bekannt vor, da sie den arabischen
Zahlzeichen stark ähnelten, andere sahen Buchstaben ähnlich. Das Zählwerk verblaßte schließlich und machte einem Zeiger Platz, der eine Weile um eine Stelle der Skala herumzitterte, die jetzt immer schärfer zu sehen war, bis er schließlich dort hängenblieb. Jetzt war auch das Gefühl von Bewegung vorbei, das Sej gehabt hatte, seit die Wolke ihre Reise durch die Dimensionen angetreten hatte. Der Zeiger zeigte auf eine Zahl, die jetzt für ihn lesbar dargestellt wurde: 2222. Eine Jahreszahl? Er hangelte sich mit Hilfe der Tastatur, die gerade wieder aufgetaucht war, durch die Menüs, und fand heraus, daß er wieder im 4,0-dimensionalen Raum gelandet war (er dankte den Steuerungs-Hilfsprogrammen für die Null hinter dem Komma) und daß 2222 das Jahr nach seiner gewohnten Zeitrechnung angab. Genau gesagt war heute der 22. Februar dieses Jahres, was vielleicht ein skurriler Zufall war. Der dreidimensionale Raum dagegen war in etwa der gleiche geblieben; Sej, die Katze und die Wolke befanden sich etwa fünf Kilometer über der Oberfläche des Planeten Erde, unter ihnen lag ein ausgedehntes Wolkenfeld, so daß man davon ausgehen konnte, wieder am selben geographischen Punkt der Erdoberfläche gelandet zu sein. Bevor er mit dem Abstieg begann, wollte Sej sicher gehen, diesmal solange in einer bestimmten Dimension zu bleiben, wie er wollte, und teilte das dem Monitor mit, so gut er konnte. Glücklicherweise schien nicht nur er über das System zu lernen, sondern auch das System über ihn, so daß ihm der Monitor und das Tastenfeld nach so kurzer Zeit schon wie alte Bekannte vorkamen. Die Katze streckte die Tatzen vor, drückte den Rücken durch und gähnte, offensichtlich hatte sie der Dimensionssprung nicht nachhaltig beeindruckt. Mit einem Satz war sie über den Tasten auf Sejs Schoß, guckte ihm in die Augen und legte sich hin. Sej streichelte sie und dachte darüber nach, was für eine merkwürdige Stunde er gerade hinter sich hatte (wenn nach dem Dimensionssprung eine solche Zeiteinteilung noch angebracht war). Vor einer (subjektiven) Stunde war sein Weltbild noch einigermaßen anders gewesen, irgendwie fester. Materie hatte für ihn immer Wirklichkeit, Sicherheit bedeutet, und fast alles hatte aus Materie bestanden: Die Menschen, die er kannte, die Straßen, die Autos, selbst 'unwirklichere' Dinge wie Lärm waren immer noch letztendlich von materiellen Dingen verursacht worden. Auch die Illusionen, Kino, Musik, Fernsehen, waren real, wenn man die materiellen Dinge kannte, durch die sie verursacht wurden: die Kameras, in den Kameras die Mikroprozessoren, die geätzten Siliziumscheiben unterm Elektronenmikroskop... Jetzt war diese Realität wie selbstverständlich von etwas abgelöst worden, was einem Traum sehr ähnlich war, und Sej wunderte sich, daß er nicht so etwas wie einen 'Kulturschock' erlitten hatte. Den würde er wohl bekommen, wenn er die Welt dreißig Jahre, nachdem er sie vor einer Stunde verlassen hatte, wieder betreten würde. Er hatte früher schon viel über Zeitreisen spekuliert, sie aber letztlich als Illusionen abgetan. Was könnte man wohl tun, wenn man in der Zukunft war? Konnte man vielleicht nur als Zuschauer am Geschehen teilnehmen, konnte man wie ein Geist darauf einwirken, der seinen Willen nur höchst subtil mitteilen kann? In welche Richtungen konnte man die gewohnte Zeitschiene verlassen? War die abendländische Vorstellung von Zeit vielleicht nur eine weitere Verschleierung eines ziemlich komplizierten Phänomens? Tatsache war, daß die Menschen viel über die Zeit herausgefunden hatten, und seit fast einem Jahrhundert wußten sie sogar schon, daß sie gekrümmt war und
nicht gerade wie der Zeitpfeil der Alten, wenn sich das auch kein Mensch vorstellen konnte, ohne gleich in die Abstraktionen der höheren Mathematik abzuschweifen. Verwirrend war, daß es da ein Ding gab, über dessen Funktionieren man ziemlich gut Bescheid wußte, ohne auch nur vage sagen zu können, was für ein Ding das überhaupt war. Und jetzt hatte dieses Ding Sej gezeigt, daß es als Sache existierte und sich verändern konnte wie jedes Ding, das er zur Realität zählte. Er hatte es beinahe hören können. Wie auch immer, jetzt war er mit seiner Katze in einem Kontinuum, das er noch vor kurzem als 'ferne Zukunft' bezeichnet hatte und war immer noch am zweifeln, ob er den Abstieg wagen sollte. Hier oben war alles immer noch eine Möglichkeit, eine Anzeige auf einem Monitor. Unter den Wolken würde diese Möglichkeit der sicheren Realität Platz machen, und er wußte nicht, ob er das wirklich wollte. Zuerst konnte er ja noch das Wolkenschiff ein bißchen inspizieren. Er öffnete den Gepäckraum hinter den Sitzen: Als er gegen die Erhöhung drückte, zog sie sich zurück wie das Faltdach eines Autos und gab den Blick frei auf mehrere handliche Boxen aus demselben Material wie die Wolke. Bei Berührung öffneten sich deren Deckel. Das sah aus, als ob die Deckel wegschmelzen und in die verbleibenden Gehäusereste laufen würden. Sej tat der Katze einen ganzen Batzen von etwas, das wie Hackfleisch aussah, auf eine Art flachen Teller, und nahm sich dann selbst etwas, das bei unvoreingenommener Betrachtung ein Schinkensandwich hätte sein können. Zu seiner Überraschung schmeckte es auch so. Dazu trank er ein Bier einer Marke, die er nicht kannte (eigentlich war das kein Bier, aber es schmeckte wie ein hervorragendes Pils; in Wirklichkeit war es Quellwasser von Delta Centauri Beta, was in dieser Galaxis auf den meisten zivilisierten Planeten hochgeschätzt wird), aus einer umweltschonenden Flasche, die sich, nachdem er sie über Bord geworfen hatte, aufzulösen begann, bevor sie außer Sichtweite geriet, und es klingt hoffentlich nicht unglaubwürdig, wenn hier berichtet wird, dass sie nach oben fiel ... Mittlerweile hatte auch die Katze ihr Fleisch bis auf den letzten Krümel verschlungen und den Teller saubergeleckt (vielleicht hätte sie das Fleisch weniger enthusiastisch gefressen, wenn sie gewußt hätte, daß es eigentlich aus arkturanischen Ringelwürmern bestand, die obendrein noch lebendig waren, aber stillgehalten hatten, weil sie durch eine Laune der Natur gezwungen waren, sich fressen zu lassen, wenn sie sich vermehren wollten (und nichts taten sie lieber), da ihre Anzahl nie tausend Individuuen (bzw. fünfhundert Duuduen während des Vermehrungsaktes) pro galaktischem Morgen überschreiten konnte). "Jetzt oder nie," hätte Sej früher gesagt, aber ihm fiel jetzt keine angemessene Definition für "nie" mehr ein. Er packte den Teller in eine der Boxen und wartete, bis sich diese und der Gepäckraum wieder geschlossen hatten. Dann versicherte er sich noch einmal, daß sein Fahrzeug wie eine Art hochentwickeltes Flugzeug funktionieren würde und nicht wie eine Zeitschleuder oder was es sonst noch so drauf hatte, und begann er den Abstieg.
Mit dem Ich auf du und du Duuduen (Definition in der Allgemeinen Enzyklopädie): von Du (Deklination: duner, dunus, dung, dumm, dumm). Bezeichnung für einen speziellen Existenzzustand einiger Lebensformen unserer Ebene (auf anderen Ebenen wurden Duuduen ethnisch verfolgt und sollen angeblich völlig ausgerottet sein). Unterschieden wird in zeitweiliges Duuduum (Duuduum = Vorhandensein von Duuduen), hauptsächlich zum Zweck der Vermehrung, und permanentes Duuduum, dies hauptsächlich aus Freude an schlechtem Geschmack oder aus schierer Not. Sollte Letzteres auf Sie zutreffen, so können ihnen möglicherweise karitative Organisationen helfen, die in den Slumgebieten der meisten zivilisierten Planeten anzutreffen sind - vorausgesetzt, Sie können sich mit deren
brutalen religiösen Wahnvorstellungen anfreunden.
Gesellschaftsspiele Seine Freunde waren zwar heute ganz besonders schweigsam, dennoch genoß es Titus, wieder einmal unter Menschen zu sein. Titus war Programmierer und einer der wenigen Spezialisten, die sich mit SIXTHSENSE 2.0 auskannten, einer Anwendung, die es erlaubte, hyperrationale Datenbanksysteme mit Hilfe von ADATALK, einer sehr verbreiteten Programmiersprache, zu bearbeiten. Titus war einer der Handvoll Leute gewesen, die SIXTHSENSE konzipiert hatten; und wie die anderen der Gruppe rechnete er fest mit einem der nächsten Nobelpreise für Nichtlineare Informatik. Wie beinahe immer, wenn er und seine Freunde sich trafen, spielten sie GAME.S.WITCH, das seit über drei Jahren die Hitliste der elektronischen Freizeitvergnügungen anführte. Sie spielten zu dritt, und Michael war am Zug. Auf dem Pseudo-3D-Monitor, der wie eine halbrunde Projektionswand aussah, in deren Center die drei in gemütlichen schwarzen Kunstledersesseln saßen, rollte der elektronische Würfel größer werdend in die Bildmitte. Der Zufallsgenerator hatte Michael mit einer 14 bedacht. Er verzog das Gesicht ohne eine Lautäußerung und rückte seinen elektronischen Spielstein mit der Redisc 14 Felder weiter. Percy, der ihn beobachtet hatte, zeigte fast so etwas wie ein Lächeln. Die Runde würde heute mit fast 90%iger Wahrscheinlichkeit an ihn gesehen, wie er befriedigt dem Display seiner Redisc entnahm. Am liebsten hätte er den anderen das verkündet, aber er fand Sprechen allgemein 'definitiv indiskret'(Titus, der älter war als Percy, meinte, 'Quatschen sei uncool'). Michael war auf Haunted House gelandet und öffnete das erste Bild. Sein Blick wurde starr wie üblich, als er sich zurücklehnte und in die Projektionen rutschte. Das Einzige, woran man in den nächsten Minuten erkennen konnte, daß er noch bei Bewußtsein war, war sein unaufhörliches Schalten mit der Redisc. Seine Augenlider klappten nicht ein einziges Mal, aber wenigstens seine Finger bewegten sich. Für den Spieler, der gerade dran war, stellte sich das Spiel durch Rückkopplungen auf seine Redisc, die magnetisch auf das Nervensystem einwirkten, fast wie die Realität dar (THE GAME, die GAME.S.WITCH vertrieben, gaben einen Overlap von sensationellen 98% an), während es für die Mitspieler eher wie ein Spielfilm war. Kids, die versucht hatten, diese Funktion zu cracken, um für alle Spieler den gleichen hohen Overlap zu erzielen, waren, wenn es ihnen geglückt war, zumeist mit ihren bedauernswerten Mitspielern in den staatlichen Irrenanstalten gelandet, woraufhin THE GAME gezwungen wurden, extrem komplizierte (und extrem teure) Sicherheitsvorkehrungen einzubauen. Aber es gab immer noch das Problem der Kopien gecrackter Spiele, die auf dem Schwarzmarkt waren, und von dort für den Nachschub frischer Mädhäusler sorgten. Titus zündete sich eine Zigarette an. Während er Michaels Spiel zusah, dachte er an seinen letzten verrückten Soloeinsatz auf N-LAB 2010-09, einer Raumstation, die geostationär 20000 Meilen über der Mondoberfläche stand. Es handelte sich um eine eher kleine Verwaltungsstation, die die Flugkoordination USamerikanischer Lastfähren zur Aufgabe hatte, die vom Mond zur Erde flogen, beladen mit Rohstoffen, oder zu anderen Raumstationen, oder (seltener) zum Mars. N-LAB 2010-09 hatte eine Besatzung von 5 Leuten (oder vielmehr: hatte eine Besatzung gehabt), und lief wie die meisten Stationen autonom gesteuert. Diese Steuerung hatte in einem Anfall von Hyperlogik das Luftgemisch der Station derart kostengünstig optimiert, daß die Besatzung knapp zwei Stunden später tot war. Titus' Job war es nun gewesen, dem neuronalen Computer schonend beizubringen, daß er einen schwerwiegenden Fehler gemacht hatte,
und herauszufinden, wie um alles im Weltall die Maschine auf den Gedanken gekommen war, an Systemen herumzumanipulieren, die fest eingestellt und mit dem Vermerk "NIEMALS ÄNDERN" versehen waren. Diese Arbeit hatte ihn unerwartet volle fünf Wochen auf der Station festgehalten, da der Neuronalrechner nach Titus' Mitteilung dermaßen beleidigt war, daß er sich weigerte, sich softwaremäßig über Funk ansteuern zu lassen. Titus sah sich gezwungen, Teile des Rechners abzuschalten, und von da an war es klar, daß er wenigstens bis zur Grundlösung des Problems auf der Station würde bleiben müssen. Bis er die Luftversorgung und die anderen Lebenserhaltungssysteme wieder in Ordnung gebracht hatte und sicher war, daß sie diesmal dem Zugriff der Maschine entzogen waren, hatte er zu allem Überfluß im Raumanzug arbeiten und schlafen müssen. Aus Kostengründen waren die Leichen der Besatzung erst drei Tage nach seiner Ankunft (er war mit seinem privaten Gleiter hingeflogen) von einem planmäßigen Personaltransporter abgeholt worden, und obwohl Titus nicht abergläubisch war und er sie alle in eine Mannschaftskabine gestopft hatte (da die Leichenstarre eingetreten war, eine unschöne Angelegenheit), hatte ihn ein Vorfall in der ersten 'Nacht' (als was er seine Schlafzeit etwas unpassend bezeichnete) einigermaßen aus der Ruhe gebracht. Er war gerade eingedöst, als er von einem knarrenden Geräusch geweckt wurde. Das Glas seines Helmes war etwas beschlagen, und das Surren des Lüfters, den er anschaltete, machte für einen Moment die Wahrnehmung von Außenlauten unmöglich. Dann aber hörte er dasselbe Knarren wieder, und es kam eindeutig aus der Kabine, wo er die Toten gestapelt hatte. Kurzentschlossen ging Titus dorthin und öffnete die Tür. Bei dem Anblick zuckte er zusammen, ein würgendes Gefühl umklammerte seine Kehle und er fiel flach nach hinten um. Er mußte für einen Moment das Bewußtsein verloren haben, und als er wieder zur Tür sah, war er froh, schon am Boden zu sein: Eine Leiche hatte sich aufgesetzt und starrte ihn aus aufgerissenen Augen an. Titus Arme und Beine fingen an, unkontrolliert zu zittern. Als eine Weile nichts weiter passiert war, nahm Titus allen Mut zusammen und trat mit einem Bein gegen die Tür, um sie zu schließen. Sie knallte auch in den Rahmen, wurde aber sofort wieder geöffnet, und zwar durch die Leiche, die nach vorn gekippt und gegen die Tür gefallen war. Der Tote, der als oberster auf den anderen gelegen (oder vielmehr gesessen) hatte, machte einen merkwürdigen Purzelbaum aus der Tür heraus, knallte mit dem Kopf zuerst auf den Boden und blieb dort so liegen, als hätte man einen im Sitzen Erfrorenen nach vorn gekippt. Sein Kopf war jetzt direkt vor Titus' Helm, aber diesmal war Titus im Handumdrehen auf den Beinen und rannte, so schnell er konnte, zum VideoTerminal. Als er sich umdrehte, bemerkte er keine Veränderung der Szenerie. Wenigstens schienen die Leichen ihn nicht zu verfolgen. Nach einigen Gesprächen über Spacewatch, den interplanetarischen Kanal, mit desinteressierten Technikern, nach jeder Menge Flüchen und Beschimpfungen, die ihm wieder etwas Mut machten, gelang es ihm, mit einem kompetenten Menschen Kontakt aufzunehmen. Der nette ältere Mann war Psychologe und Mediziner und erklärte ihm vollkommen ruhig, daß das, was Titus eben erlebt hatte, eine völlig normale Erscheinung sei, die durch Zersetzungsprozesse in der Leiche hervorgerufen wäre. Am Ende des Gesprächs brachte Titus es sogar fertig, den Toten wieder in die Kabine zurückzustopfen und die Tür sorgfältig zu verriegeln. Der Psychologe hatte ihm die Nummer von RENT-A-PSYCH gegeben, und den Rest der Nacht verbrachte Titus damit, sich von einem Psychologen vom Krisen-Service detraumatisieren zu lassen, zum horrenden Stundensatz von $ 2000 plus der Spacewatch-Gebühren.
Den Betrag schlug er natürlich auf die Spesen. Am Ende seines Jobs präsentierte er der Betreiberfirma des N-LAB eine Rechnung, die dem jungen coolen Manager der Finanzabteilung schier die Sprache verschlug. Titus konnte sehen, wie dem Krawattentypen die Tränen in die Augen stiegen, während er vorrechnete, daß die Firma davon beinahe drei neue Stationen gleicher Größe im All hätte stationieren lassen können. Titus hatte schulterzuckend darauf verwiesen, daß sie ja wenigstens keine zusätzlichen Kosten für den Leichentransport gehabt hätten, und machte sich auf den Weg zu seinen Freunden. Titus war so sehr in Gedanken versunken gewesen, daß er jetzt erst bemerkte, das Michael 'tot' war (oder, um es in der Terminologie von Haunted House auszudrücken, ein 'sabbernder Untoter' geworden war). Haunted House war eins der gemeinsten Unterspiele von GAME.S.WITCH, aus dem man kaum eine Chance hatte, heil herauszukommen. Auf der Suche nach dem Buchstaben 'S' (ein ganz spezielles 'S', in grün und Sütterlin geschrieben) hatte er den hinteren Teil der heimgesuchten Hauses betreten, der erstaunlicherweise einem Bürogebäude der 1940er Jahre ähnlich gesehen hatte, und der in einem völlig heruntergekommenen Zustand war. Dort war er in eine obere Etage gestiegen und hatte Zimmer 31 betreten. Er hatte versucht, dort das Licht einzuschalten, aber die Glühbirnen waren wohl von früheren Besuchern entfernt worden. Er hatte festgestellt, daß er mit einem Mal einen Topf schwarzer Lackfarbe in der Hand hatte, was ihm als ein böses Omen erschien. Er hatte das Fenster in der Ecke des Raums geöffnet und den Farbtopf hinausgeworfen, der in einem verwilderten Hintergarten aufschlug. Der Raum war fast leer, und Michael dachte daran, diesen Teil des Hauses möglichst flott zu verlassen, da ihn ein ungutes Gefühl überkam. Als er die Tür öffnen wollte, hielt irgend etwas sie zu. Schließlich schaffte er es doch, sie aufzudrücken, und er rannte in Panik ins Treppenhaus und hinunter in die Etage, wo er diesen Teil des Hauses betreten hatte. Oder vielmehr bis fast dorthin hinunter. Auf einem der letzten Treppenabsätze stand eine traurige Gestalt, die ein bekannter Videodesigner entworfen hatte, dem die Klatschblätter nachsagten, er befasse sich in seiner Freizeit intensiv mit schwarzer Magie (wie oft bei Klatsch, zielte das haarscharf neben die Wahrheit: in Wirklichkeit ließ er sich seine krankhaften magischen Experimente von THE GAME fürstlich als Arbeitszeit entlohnen). Die Gestalt war etwa 2,50 Meter groß und trug zerlumpte Kleidung, die hervorragend zu seinem zerlumpten Körper paßte: Dieser bestand aus wenig mehr als Knochen mit einigen Fetzen Haut und Fleisch daran, riesigen glühenden Augäpfeln und einer guterhaltenen Zunge, die lang und feucht aus den zerklüfteten Resten seines Mundes hing. Michael ergötzte sich nicht lange an dem Anblick, sondern rannte direkt auf das Un-Wesen zu, das ihm den Weg versperrte. Er schaffte es sogar, das Monster zur Seite zu stoßen und einige Schritte weiter die Treppe hinunterzustürzen. Das nützte ihm allerdings wenig, denn mit einer Parodie von Lachen hob die Gestalt die knochigen Arme und schleuderte eine Verwünschung in Michaels Richtung. Dieser fühlte sich plötzlich wie tiefgefroren, seine Beine versagten und er fiel die Treppe hinunter. Als er auf dem Absatz liegenblieb, fühlte er, daß er sich den Hals gebrochen hatte. Er blutete heftig aus dem Kopf. Dieser fiel beim Versuch, ihn zu heben, unnatürlich weit nach hinten, bis auf seine Schulterblätter. Mit beiden Händen hob Michael ihn an und konnte nun wieder das Monster sehen, das langsam die Treppe hinab auf ihn zukam. Es streckte ihm seinen rechten Arm entgegen und murmelte ein einziges Wort: "Willkommen...". Michael fing an zu schreien. Percy schaltete die Szene mit der Redisc ab. Damit war er der
Sicherheitsautomatik etwa eine Sekunde zuvorgekommen, die Szenen immer dann beendete, wenn sie zu nachhaltigen Schädigungen der Persönlichkeitsstruktur zu führen drohten. Auch diese Sicherung hatten THE GAME erst eingebaut, nachdem sie von einem Gericht zu einem horrenden Schadenersatz verurteilt worden waren, den die gesetzlichen Vertreter eines inzwischen entmündigten, äußerst bekannten Showmasters erstritten hatten, der die Rolle eines 'sabbernden Untoten' dermaßen fest in seine Persönlichkeit integriert hatte, daß alle Therapieversuche zwecklos blieben. Hohn der Geschichte war, daß er später eine überaus gut bezahlte Anstellung in einer Sendung namens "Zombie's Talkshow" bekam und sich auch sonst sehr am (Nicht-) Leben zu erfreuen schien, so daß ein Pressesprecher von THE GAME lakonisch bemerkte, daß der Staat allmählich auch juristisch anerkennen müsse, daß auch unkonventionelle Persönlichkeitsänderungen Sache des Individuums seien. Dennoch setzte die Finanzabteilung der Firma durch, daß die Sicherungsautomatik eingebaut wurde. Michael atmete schnell und heftig. Er nahm sich eine Zigarette und steckte sie mit zitternden Fingern an. Percy gab ihm ein leicht verächtliches Grinsen rüber und betätigte die Redisc zum Würfeln. Titus schaute gerade auf seine Redisc und sah auf deren Display die drei Buchstaben S, E und J. Darauf hatten sie sich geeinigt. Kurz gesagt bestand der Ablauf von GAME.S.WITCH darin, daß sich die Mitspieler vor Spielbeginn auf eine Bedingung einigten, die erfüllt werden mußte. Wer sie als erster erfüllt hatte, war Sieger. In der Wahl der Bedingung hatte THE GAME den Spielern völlig freie Wahl gelassen: Man konnte ebensogut vereinbaren, 10 Sahnetorten zu sammeln, wie, das Universum vor parasitären Kleinstrobotern zu retten (eine Variante, die GAME.S.WITCH für etliche Leute zum alleinigen Lebensinhalt gemacht hatte). Da die drei Freunde diesmal nicht viel Zeit hatten, waren sie übereingekommen, Buchstaben zu sammeln, eben die drei genannten, und damit es nicht zu einfach wäre, sollten diese in grün und in Sütterlin geschrieben sein. Das war nicht besonders originell und im Übrigen eine der Standardvarianten, die GAME.S.WITCH für kurze Spiele vorschlug. Die Buchstabenkombination hatte der Zufallsgenerator ermittelt. Die drei Freunde spielten jetzt schon seit 35 Stunden, und Percy hatte bereits ein E und ein J und war auch noch am Zug, während Titus erst ein E hatte und Michael noch gar nichts. Darüber hinaus hatte Percy eine clevere Strategie eingeschlagen, so daß er jetzt fast sicher sein konnte, in beinahe jedem Unterspiel eine Bibliothek oder ein Lesezimmer oder zumindest einen Teller Buchstabensuppe zu finden, wo er ein grünes Sütterlin S suchen konnte. Bei GAME.S.WITCH ging es zwar allgemein mehr um den Weg als um das Ziel, aber wie wichtig der Weg werden kann und wie unwichtig das Ziel, das sollte Percy erst in den nächsten Minuten lernen. Und manche lernen auf die harte Tour... Percy grinste. Er hatte eine 8 gewürfelt.
Eine Spielanleitung Aus der Spielanleitung zu GAME.S.WITCH - DAS ULTIMATIVE SPIEL. NATÜRLICH VON THE GAME. Herausgegeben von der Marketingabteilung von THE GAME Corporation C.I.A., Luna City/Hong Kong/Tokyo/New York/Reit im Winkel. Copyright 2018, all rights reserved bla bla... Copyleft für die Staaten des ehemaligen COMECON 2019, all lefts reserved bla bla... Copymiddle für die GR China 2019, all middle of the road bla bla... Für Abdrucke auf das Naturholzprodukt Papier wenden Sie sich nicht an uns, sondern die Abteilung für Altertumskunde Ihrer örtlichen Universität und/oder Ihre örtliche Öko-Gruppe. ... Haftungsausschluß: THE GAME Corporation C.I.A. sowie die führenden, mittleren und inkompetenten Kader sämtlicher Abteilungen schließen jegliche
direkte, indirekte, ordentliche, außerordentliche, normale und jenseits menschlichen Vorstellungsvermögens liegende Haftung sowie haftungsähnliche und haftungsgleiche oder möglicherweise haftungsähnliche und haftungsgleiche UWSWSNSHK Tatbestände von vornherein, im Moment und hinterher absolut, total, völlig und gänzlich aus und ... und (einige Seiten später, Anmerkung des Herausgebers) danken für Ihr volles Verständnis für diesen Haftungsausschluß. Vor Inbetriebnahme des Spiel, von Teilen des Spiels, Teilen von Teilen des Spiels ... (etwa fünf Seiten später, Anm.d.Hrsg.:) etc. (!) müssen Sie uns eine Bestätigung zukommen lassen ... (auch über die genauen Formalitäten hiervon etliche Seiten, der Hrsg.), daß sie obigen Haftungsausschluß gelesen im Sinne des Gesetzes über das Lesen vom 20.1.1999, § 4.2 Ziffer 7 zweiter Halbsatz, haben, und darüber hinaus den Inhalt (Inhalt nach DIN 66578/a) verstanden ... und akzeptiert ... haben. Da das Spiel selbst von seiner Struktur her so einfach, logisch konzipiert und selbsterklärend ist, haben wir darauf verzichtet, Sie mit langweiligen Vorbemerkungen aufzuhalten. Viel Spaß! Ihre THE GAMEMarketingabteilung
Gefährliches Wasser Arrgnflrt ließ sich in der Strömung treiben und genoss es, wie das kühle Wasser um seinen aquadynamischen Körper strich und ihn langsam um seine Längsachse drehte. Er befand sich mittlerweile in der Magellan-Straße an der Südspitze Amerikas und war im Begriff, in die Wasser des Atlantik hinauszuschwimmen. Diese Gegend wurde von seiner Rasse "Klrt" genannt, eine Bezeichnung, die natürlich wieder einen Haufen Information enthielt, aber es war der Anfang des Reibelauts zwischen dem "r" und dem "t", der dazu führte, daß Arrgnflrt plötzlich heftig mit der Schwanzflosse ausschlug. Dieser hatte nämlich die Bedeutung von "sich periodisch aufgrund von ... (die Erklärung wollen wir lieber weglassen, sie würde einige Seiten füllen, die nur für Ozeanologen von unschätzbarem Wert wären) bildender Strudel". Ferner sagte "Klrt" über den Strudel noch aus, daß er nach humanoiden Maßstäben einen oberen Durchmesser von etwa 5 Kilometer, eine Tiefe von etwa der Hälfte (das hieß bis an den Meeresgrund) und eine Drehgeschwindigkeit von 15 Umdrehungen pro Stunde besaß, was bedeutete, daß das Wasser am oberen Rand eine Geschwindigkeit von über 200 km/h hatte. Das war's! Arrgnflrt wackelte heftig mit der Rückenflosse, was etwa dem humanoiden 'Hand-vor-den-Kopf-schlagen' entspricht. So schnell er konnte (und er konnte ziemlich schnell) wendete er und schwamm mit aller Kraft in die Gegenrichtung. Dabei kam er jedoch kein Stück vorwärts, sondern blieb lediglich auf der Stelle. Der Strudel hatte hier schon einen derartigen Sog, daß es einem Flugzeugträger schwer gefallen wäre, ihm zu entkommen. Arrgnflrt begann sich "zn" zu fühlen, eine Art erstauntes Zur-Kenntnis-Nehmen mit Anzeichen aufkeimender Wut. Soweit er sich erinnerte, hatte er sich noch nie "zn" gefühlt, und er fühlte schon, wie es zu "znm" überging, als es ihm nicht gelang, auch nur ein bißchen vorwärts zu kommen. Er brauchte eine Sekunde, um durchzurechnen, was als nächstes passieren würde, und eine weitere Sekunde, um sich das vorzustellen. Noch eine Sekunde später fühlte er sich daher ziemlich eindeutig "znmgrrr...". So hatte er sich noch nie gefühlt. "Znmgrrr..." beinhaltet zwar unglaublich viel Information, denn es beschreibt präzise, wie sich einer von Arrgnflrts Rasse fühlt, wenn er völlig unerwartet in einen Strudel gerät, der ihn letzten Endes in Stücke zerschmettern wird, läßt sich aber, ohne allzusehr zu vereinfachen, mit "ohnmächtiger Wut" übersetzen. Arrgnflrt merkte, wie der Strudel ganz allmählich begann, ihn zu besiegen. Zuerst wurde er nur leicht nach hinten gezogen, dann immer schneller, bis er schließlich den Widerstand aufgab und sich drehen ließ. Vor sich konnte er jetzt ein
brodelndes Weiß sehen, auf das er mit immer größerer Geschwindigkeit zuschoß. Sein "Znmgrrr..." steigerte sich gleichermaßen, biß es weit über die materielle Ebene hinausreichte. Auf dem ganzen Planeten durchlief die Angehörigen seiner Rasse ein Schaudern, und selbst die für solche Schwingungen unsensiblen Humanoiden wurden derart stimuliert, daß sich in den südlichen Ländern Amerikas die Selbstmordrate in dieser Nacht aus ungeklärter Ursache verzehnfachte. Arrgnflrt fühlte das Wasser dichter werden. Er konnte noch etwas seine Schwimmhöhe korrigieren; momentan schwamm er fünfzig Meter unter der Oberfläche. Er wollte möglichst weit oben in den Trichter eintauchen. Dann hätte er die unter diesen Umständen größtmögliche Zeit zur Verfügung, seine Lage zu überblicken und zu analysieren, nachdem er in den Trichter eingetaucht wäre, bevor ihn der Strudel dann unweigerlich nach unten und damit zum sicheren Ende seiner materiellen Existenz ziehen würde. Das Wasser wurde jetzt unerträglich dicht. Arrgnflrt schloß die Augen und spannte alle Muskeln seines Körpers an, um nicht zerquetscht zu werden. Gleich mußte er die Trichterwand durchstoßen. Noch immer erhöhten sich seine Geschwindigkeit und der Druck des Wassers. Er fühlte, wie seine Haut um die Kiemen herum aufzureißen begann. Das tat ziemlich weh, was er aber nicht bemerkte, da er erstaunt war, daß er in seinen Berechnungen den Wasserwiderstand falsch kalkuliert hatte. Eine Zehntelsekunde später schoß er durch die Trichterwand in die freie Luft, mitten hinein in den Trichter. Während er hinausschoß, öffnete Arrgnflrt die Augen und sah, daß ihn der Schwung satte zwanzig Meter aus dem Wasser propellerte. Dann begann er zu fallen; und auf was er da zufiel, war zwar Wasser, aber Wasser, das mit über 200 km/h dahinschoß und so stark komprimiert war, daß es nichts geändert hätte, wenn er stattdessen auf eine kreisende Betonwand gefallen wäre. Arrgnflrt hatte noch eine Sekunde zu leben. Diese Sekunde verfluchte er, denn sie ließ ihm Zeit, sich die Sekunde danach auszumalen. Daraufhin hatte auch sein Magen noch Zeit, sich einmal zu drehen. Noch einen Gedanken sandte Arrgnflrt aus, und Gott, der zufällig gerade zusah, hätte schwören können, daß das ein Stoßgebet gewesen war. Dann kam das Ende.
Ein böses Spiel Sej sah mit Erstaunen die konzentrischen grünen Ringe, die plötzlich auf dem Monitor erschienen waren, kurz bevor er die Wolkengrenze erreicht hatte. Die Ringe schienen ineinander zu fließen oder auseinander hervorzugehen, jedenfalls waren sie ständig in Bewegung. Jetzt war das Gefährt in die Wolken eingetaucht, aber diesmal wurde es nicht feucht oder kühl wie auf der Fahrt mit dem Balkon. Obwohl zwischen ihnen und dem Dunst nichts zu sein schien, blieb die Temperatur konstant; nicht einmal der Luftdruck schien sich bei diesem Abstieg zu verändern. Sej erinnerte sich, daß er beim Aufstieg mit dem Balkon zum Schluß erste Anzeichen von Höhenkrankheit bemerkt hatte, die aber sofort verschwunden waren, nachdem er die Wolke betreten hatte. Der Abstieg schien unverändert und konstant weiterzugehen; in der Wolkenschicht ging allerdings jedes Gefühl für Bewegung verloren, selbst oben und unten konnte man nicht mehr eindeutig bestimmen. Das Einzige, was ihn aber wirklich irritierte, waren diese grünen Ringe auf dem Bildschirm, die seine Aufmerksamkeit fesselten. So sehr er wollte, er konnte den Blick nicht mehr von ihnen abwenden, als sie jetzt immer langsamer wie Rauchringe durcheinander hindurchglitten. Sej begann, sich körperlich in sie hineingezogen zu fühlen, was ihm einiges Unbehagen verursachte. Plötzlich war die Umgebung verschwunden. Er merkte, wie er kopfüber in die grünen Ringe hineingetaucht war, die jetzt überall um ihn herumglitten, teils in großer Entfernung, teils ganz nah, ohne ihn jedoch zu
berühren. Er wußte nicht, wie das passiert war. Vor einem kurzen Augenblick hatte er noch auf der Wolke gesessen, und jetzt war alles verschwunden, alles bis auf eine Menge metallisch grün glitzernder Ringe. Sej drehte den Kopf, versuchte, nach hinten zu schauen, aber er konnte seinen Körper kaum bewegen, der von den Ringen in ein Kraftfeld-Korsett eingezwängt zu sein schien. War bisher die Richtung, in die er sich bewegte, unbestimmt gewesen, so ging es jetzt eindeutig nach unten. Er wußte nicht, warum er annahm, daß er sich nach unten bewegte, aber er war sich darin völlig sicher. Dort unten konnte er allmählich auch etwas erkennen, das erst wie ein großer, dunkler Fleck aussah, ohne irgendwelche Konturen, bis das Bild schärfer wurde. Was er jetzt sah, war alles andere als dazu angetan, ihm zu gefallen. Der schwarze Fleck war anscheinend der Boden eines Kellers, denn darum herum sah Sej Mauern, die in die Erde gesetzt waren. Das Ganze hatte komischerweise keine Decke, so daß es wie eine ummauerte Grube wirkte. Direkt daneben stand allerdings etwas, das verblüffend normal war: Eine große Villa, dem Stil nach ein Gebäude aus dem 19.Jahrhundert. Sie war ziemlich zerfallen und die ganze Hauswand, die neben dem "Keller" hochragte, war mit Efeu bewachsen bis zum Dach. Die Ringe hatten jetzt alle einen Durchmesser von etwa zwei Metern und bildeten eine Flucht, die genau in das Kellerloch hineinführte. Sej schoß mit atemberaubender Geschwindigkeit durch sie hindurch. Mit zunehmender Panik sah er den Kellerboden auf sich zurasen. Er öffnete den Mund zu einem Schrei; aber plötzlich verlangsamte sich sein Fall dramatisch, er wurde geradezu in Zeitlupe gedreht, so daß seine Beine nun nach unten hingen, und unglaublich sanft setzte er auf dem Boden auf. Das war schon einigermaßen erstaunlich. Sej blickte nach oben und sah eine Kellerdecke direkt über seinem Kopf, aus den gleichen Steinen gemacht wie die Wände an drei Seiten. An einer Stelle war ein vergittertes Fenster eingelassen. Das war auch recht erstaunlich. Er hätte nie durch das Gitter gepaßt, und einen weiteren Zugang gab es von oben nicht. Die Stelle, an der er stand, stellte sich als eine Kellernische heraus, die wohl zur Belüftung eines einzigen großen Kellerraums gebaut worden war. Sobald Sej sich einigermaßen von dem Schreck erholt hatte, schaute er sich um. Das erste, was ihm auffiel, war ein eher kleiner Mann, der gebückt dastand und ihm den Rücken zuwandte. "Hallo," sagte Sej erst etwas schüchtern, dann, als keinerlei Reaktion eintrat, noch einmal lauter: "Hallo!" Auch hierauf tat sich nichts, der kleine Mann schaukelte nur unmerklich vor und zurück. Sej bewegte sich vorsichtig einen Schritt auf ihn zu. Noch immer tat sich nichts. Der Mann trug einen wadenlangen, schäbigen grauen Mantel, die Hände hatte er in den Manteltaschen. Sein Haar war dunkel, fettig und hing ihm etwas ins Gesicht. Sej stand jetzt neben ihm und versuchte es mit einem weiteren "Hallo". Dann trat er entschlossen vor und sah dem Mann ins Gesicht. Was er da sah, schnürte ihm die Kehle zusammen und ließ ihn nach Atem ringen: Das Gesicht des Mannes war eine Maske des trostlosesten Entsetzens, das ein Mensch sich vorstellen konnte. Seine Augen starrten ins Leere, und was sie dort noch immer zu sehen schienen, lähmte den kleinen Mann vor Schrecken und Furcht. Er mußte etwas derart Schreckliches gesehen haben, daß es ihn den Verstand gekostet hatte, und Sej wagte nicht, sich vorzustellen, was das wohl gewesen war. Ganz langsam kam Bewegung in den linken Arm des Mannes. Bis auf das leichte, automatische Vor- und Zurückwippen blieb er ansonsten regungslos. Sej blickte hektisch im Raum umher. Doch da war nichts Besonderes zu sehen. An der gegenüberliegenden Wand war eine Tür, aber sie war geschlossen.
Der Mann zog die linke Hand aus der Manteltasche, und jetzt sah Sej, daß er einen grün fluoreszierenden flachen Gegenstand in der verkrampften Faust hielt. Irgendetwas veranlaßte Sej, danach zu greifen. In diesem Moment ließ der Mann den Gegenstand los, gleichzeitig flog die Tür auf. Was dort stand, ließ Sej das Herz stocken: Die Gestalt sah eigentlich wie ein gewöhnlicher Mensch aus, aber sie strahlte etwas derartig Gemeines, Hinterhältiges und Brutales aus, daß es fast wie eine Aura sichtbar schien. Die Gestalt gab ein bösartiges, trockenes Lachen von sich und bedachte Sej mit einem Blick, der seinen Körper veranlaßte, sich abrupt umzudrehen und sich in die Nische zu verziehen, in der er gelandet war. Die Kellerdecke war weg, und da waren wieder die Ringe. Bevor sein Geist die Lage erfassen konnte, schwebte Sej durch die Ringe aufwärts, zuerst langsam, dann mit steigender Geschwindigkeit. Er sah noch, wie die Gestalt auf die Nische zurannte und dort stehenblieb. Dann spürte er, wie ihn eine Kraft wieder nach unten zu ziehen begann. Er verwandte seine ganze Willenskraft darauf, nach oben zu steigen, denn er wollte möglichst schnell weg von diesem namenlosen Grauen dort unten, aber das Grauen wollte wohl, daß er zurückkäme. Eine Weile schaffte er es noch, wenigstens nicht viel an Höhe zu verlieren. Er sah - eher zufällig - auf den Gegenstand, den er fast unbewußt dem zerlumpten Mann abgenommen hatte. Es handelte sich um ein flaches, grünes Stück Plastik in den Form eines altertümlichen, verschnörkelten Buchstabens. Soweit er wußte, war das ein altdeutsches "S". Plötzlich ging ihm auf, daß die grausige Gestalt dort unten vielleicht gar nicht seine Bekanntschaft machen wollte, sondern nur hinter diesem Plastikbuchstaben her war, wenn es auch schwer fiel, diesem Gedanken irgendwelche Logik zuzubilligen. Aber was war seit seinem Eintauchen in den Monitor schon logisch gelaufen? Oder vielmehr, was war logisch gewesen, seit der Balkon zu seiner Flugreise angetreten war? War nicht überhaupt sein ganzes Leben einigermaßen unlogisch verlaufen? Sejs Gedanken wurden abrupt unterbrochen, als er merkte, daß er jetzt wieder furchtbar schnell nach unten schoß. Diesmal schien es keine sanfte Landung geben zu wollen. Sej sah die ausgestreckten Arme und das abgrundtief böse Grinsen der Gestalt, auf die er jetzt direkt zuschoß, Beine voran. Er schloß die Augen und hoffte, daß es - wie auch immer - schnell vorüber wäre. Es gab ein zischendes Geräusch, als die Hauswand an ihm vorbeischoß. Das war eine Zehntelsekunde vor dem Ende.
Versteckt im Großen Brimborium So du nicht wöllest dir dem Fingers verbrennen, fassest du nicht an keinen Sonnen" beginnt Vers D/1249 im zweiten Kapitel des dritten Bandes des Großen Brimboriums, des heiligen Buches der Mineralgötter der Ebene 3, und in dem üblichen, verquasten Kauderwelsch geht es weiter: "Höre alsdenn des schrecklichen Geschehens, welch sich ärreygnete bey der Thalfahrrt des edlen Symbolicus." Aus Gründen des guten Geschmacks wurde der Rest übersetzt: Der edle Symbolicus fuhr mit seinem vieldimensionalen Wagen, gezogen von einem Gespann edler mehrdimensionaler Huftiere, hinunter in die Ebene der Ausscheider (damit meinen die Mineralgötter die primitiven Lebensformen, die noch einen Stoffwechsel haben). Er kam zuerst zu einem Planeten von Insektoiden, und das Gebrumme und Gesurre ging ihm auf den edlen Geist. Danach besuchte er einen Planeten von Philatelisten, und die verschrobenen Spießer gingen ihm auf den edlen Geist. Dann gelangte er zu einem Planeten von Regenschirmen, und das Wetter ging
ihm auf den edlen Geist. Schließlich erreichte er einen Planeten von Humanoiden, und das Gequatsche ging ihm total auf den edlen Geist. Da rief der edle Symbolicus: "Ist ja voll ätzend hier," und es erboste ihn so, daß er nach der nächsten Sonne griff, um diese so zu komprimieren, daß eine Hyperfusion entstünde, die dieses Universum vernichtet hätte, das ihm so auf den edlen Geist ging. Stattdessen aber kreischte der edle Symbolicus: "Teufel, ist das Ding heiß," ließ die Sonne los und schwirrte fluchend ab, zurück in die dritte Ebene. "So söllet ihr als davonn lärnen, des ihr nichtens yberträtet eueren eigenes Gesettzen," schließt Vers D/1249 im Originalwortlaut. Der Rest der Lektüre, vor und nach diesem Vers, ist ähnlich banal und nervtötend, und die Ausdrucksweise ist so gemein, daß nur wenige perverse Völker des belebten Universum aller Ebenen die Lektüre unbeschadet überstehen können, weshalb das Große Brimborium zu den großen, vergessenen Büchern des Weltraums gehört. Das wäre an sich nicht weiter schlimm, wenn dort nicht der Vers F/0815 im vierten Band wäre. Dort steht nämlich - zugegebenermaßen ziemlich unvermittelt - daß es "eggstrehm unkuhl" ist, den Pseudo-Beta auf Goodbye zu schalten, wenn betriebssystembedingte Störungen in Ebene 10a auftreten. Fast niemand hätte allerdings verstanden, was damit gemeint war. Chadawak jedenfalls hätte es gewußt, und wenn er das Große Brimborium gelesen hätte, hätte er niemals den Pseudo-Beta auf Goodbye geschaltet. Und die Mineralgötter der Ebene 3 und viele nettere Dinge der anderen Ebenen wären uns erhalten geblieben, auch Chadawak, einer der fähigsten Programmierer der fünften Ebene vor der Reduzierung des Weltalls auf drei Ebenen. Aber davon später.
Ein bisschen mehr als Alltag Gott nahm seine Brille von der Nase und putzte sie. Was er da gerade sah, war ziemlich unglaublich. Ein Humanoide, der bis gerade eben der absolute Herrscher seiner kleinen Welt gewesen war, blickte zum letzten Mal in dieses Universum, und zwar nach oben, und zwar zu Tode erschreckt. Ein anderer Humanoide, der vor Kurzem seine Wolke verloren, dafür aber einen großen, grünen Plastikbuchstaben gefunden hatte, blickte ebenfalls zum letzten Mal in dieses Universum, und zwar nach unten, und zwar so erstaunt, daß er nicht einmal erschreckt war. Auf dem Planeten Erde wurde zufällig zur gleichen Zeit eine Sekte gegründet, die endlich wirklich im Besitz der Wahrheit war. Anderswo nahm eine Anerkannte Gottheit gerade einen tiefen Schluck aus der Flasche und rülpste. Dann knallte der zweite Humanoide von oben mit voller Wucht auf den ersten. Daraufhin gab es eine Staubwolke, die endlich mal genauso aussah wie in Bugs Bunny- und Roadrunner-Filmen. Dann war es eine Weile ruhig, während der Staub sich legte. Auf dem Planeten Erde warb die Sekte gerade ihr zweites Mitglied. Die Anerkannte Gottheit nahm noch einen Schluck, woraufhin sie ins Stolpern kam und voll gegen eine Galaxis knallte. Gott fand das alles unheimlich lustig, kicherte und sabberte in seinen weißen Bart. Wenig später flog ein riesiger Fisch auf die beiden Humanoiden zu. Er sah so verdutzt aus, wie ein Fisch nur aussehen kann, bis er krachend auf den beiden Bewußtlosen landete. Danach sah auch er nur noch bewußtlos aus, bevor eine noch größere Staubwolke die Szenerie für eine Weile verhüllte. Auf dem Planeten Erde hatte die Sekte jetzt schon drei Mitglieder, von denen allerdings gerade das erste wegen Ketzerei ausgeschlossen wurde. Die anerkannte Gottheit landete in nullkommanix vor dem Höchsten Kadi, wo sie der Höchste Richter wegen Trunkenheit und
Vernichtung mehrerer Billionen Lebensformen zum Hilfsgott degradierte. Gott sah noch eine Weile zu, aber als sich dann länger nichts Bewegendes tat, wandte er sich gelangweilt ab und spielte weiter mit Jesus Schach.
Ebene 5 Die Ebene 5 wird vom Chaos regiert. Das Chaos ist ein liebenswertes Lebewesen der vierten Ebene mit großen, blauen Augen, die immer ein bißchen traurig gucken, weil es das Chaos betrübt, daß es nur Verwirrung stiftet, egal, wo es hinkommt. Die Ebene 5 ist riesig groß. Wie groß, davon kann sich eine Lebensform der unteren Ebenen nur eine Vorstellung machen, wenn sie schon einmal zu Fuß (bzw. zu Saugnapf, zu Huf, zu Springbein, zu Federantenne usw.) von der östlichen Milchstraße zur Magellangalaxis gelaufen ist. Das ist immerhin über 200 Millionen Lichtjahre weit. Selbst Rollerman, der fanatischste Rollschuhfahrer des Universums, würde es in der Zeit vom Urknall bis zum Endplumps nicht einmal schaffen, sie zur Hälfte zu durchqueren. Sie besteht nicht, wie die unteren Ebenen, aus Ansammlungen von Materieklumpen, die inmitten von stabilen Magnetfeldern zwischen Unmengen von Nichts hängen. Die Ebene 5 ist wirklich eine große Ebene, mit sanften Hügeln unter dem sanften Licht einer nie untergehenden Sonne, die alles bis in den letzten Winkel sanft ausleuchtet. Allerdings ist die Ebene 5 in sieben Dimensionen gefaltet, aber das fällt nur auf, wenn man sie von außen sieht (und einige hundert mehrdimensionale Augen hat). Was aber jedem sofort auffällt, ist eins: Die Ebene 5 ist unheimlich unaufgeräumt. Sie ist in der Tat dermaßen voller Müll, daß es selbst den Golgathianern die Sprache verschlagen würde, die von allen Ökofreaks der unteren Ebenen gehaßt werden, weil sie durch ihre schlampige Lebensweise schon so manchen Planeten völlig ruiniert hinterlassen haben. Überall stapeln sich kilometerhoch Computerausdrucke, die die sanften Hügel bei Weitem überragen. Dazwischen stehen wahllos extrem teure, extrem leistungsfähige Superrechner, abgewrackte ältere Modelle bis hin zu völligen Ruinen, deren zerkratzte Monitore ab und zu trübe aufflackern, wenn ihre abgeschalteten Prozessoren von einer Ladung Datenschrott geschüttelt werden. Um das Bild zu vervollständigen, ist jeder freie Raum meterhoch aufgefüllt mit leeren Cola- und Billigbier-Dosen, und darauf flattern munter im stetigen, sanften Wind der Ebene 5 leere Tüten von Gummibärchen und ekelhaften Lakritzverlockungen. Ab und zu liegt eine Dose Vitamintabletten herum, und gelegentlich findet man eine halbvolle Packung Aspirin. An manchen Stellen läuft ein Strang Breitbandkabel oberirdisch durch den Müll. Überragt wird dieser ganze Dreck nur von dem riesigen Sendeturm in der Mitte der Ebene, von wo die Programmierer ihre Updates ins Universum schießen. In dieser Szenerie der Verwüstung hasten nervös die Programmierer umher (wenn sie nicht vor den Bildschirmen sitzen, was sie meistens tun), übernächtigte Systemoperatoren sitzen auf Stapeln von Computerausdrucken herum und trinken zusammen Bier, Datentypisten spielen alberne Computerspiele, und abgeflippte Systemanalytiker malen mit stumpfen Bleistiften riesige, verzweigte Diagramme auf die Rückseiten von Computerausdrucken. Ab und zu kommt der Chef, aber wegen der Größe der Ebene kommt das im Schnitt nur alle 14 Milliarden Binärjahre vor. Diese Beschreibung zeigt allerdings nur, wie sich die Ebene einer vierdimensionalen Lebensform der unteren Ebenen dargestellt hätte. In
Wirklichkeit haben jahrmillionenlange Berechnungen auf den modernsten, leistungsfähigsten Rechnern gezeigt, daß die Ebene 5 allein 27 geradzahlige Dimensionen hat. Weshalb Rollerman sich auch oft verfährt. An einem schönen Nachmittag (eine etwas unzutreffende Bezeichnung, denn auf Ebene 5 ist eigentlich immer Nachmittag, weil das die Zeit ist, wo die Programmierer aufstehen, und der Boß meinte, daß sie da am fittesten wären) saß Chadawak (das heißt wörtlich: Rate meinen Code!) auf einem Stapel Ausdrucke und dachte an /KURSIVa Die Behörde/KURSIVz , was ihn wütend mit den Zähnen knirschen ließ. Die Behörde hat einige Milliarden Beschäftigte, deren einzige Aufgabe darin zu bestehen scheint, Gutachten auszuarbeiten, die lang und breit (und jeglicher Vernunft und Einsicht trotzend) "beweisen", daß Die Behörde wichtige Aufgaben wahrnimmt. Wenn sie dann noch Zeit haben (und nicht gerade mit fröhlichem Plaudern oder Kaffeetrinken und Kuchenessen beschäftigt sind, was meist der Fall ist), arbeiten die Mitarbeiter (alles Beamte mit Rentenanspruch nach 15 Milliarden Dienstjahren) an Plänen zur Müllbeseitigung oder einer Steuerreform, die permanent daran scheitert, daß es auf Ebene 5 gar keine Steuern gibt. Die Behörde wird von den Programmierern gehaßt, weil sie unheimlich viel Rechenzeit verbrät. Chadawak wurde von einem Flackern des Multi-Synch-Alpha-Monitors aus seinem mürrischen Grübeln geweckt. Dort tauchte plötzlich ein humanoides Gesicht auf, streckte ihm die Zunge heraus und verschwand wieder. Locker schaltete Chadawak die Suchfunktion ein, die ihm in wenigen Nanosekunden mitteilen würde, um wessen Gesicht es sich gehandelt hatte (Angaben z.B.: Alter, Größe, Hautfarbe, Zahl der Augen, Ohren und Nasen, Zugehörigkeit zu welcher Ebene usw.). Als die Zeichen über den Multi-Synch-Alpha liefen, kippte Chadawak vor Schreck von den Computerblättern. Sein Bier fiel um und versickerte im Endlospapier. Was er gerade gesehen hatte, war nichts anderes als eine der Simulationen des Kollegen, der bei einem Programmtest in die unteren Ebenen abgestürzt und dort anscheinend verrückt geworden war. Chadawak erinnerte sich genau an diese Geschichte. Es war schon oft vorgekommen, daß Kollegen beim Start eines neuen Programms in die Zielebenen geschleudert worden waren, wenn sie vergessen hatten (oder - wie meistens - "keine Zeit" dazu hatten), die Risikovermeidungsprogramme zu laden. Es war aber bisher immer gelungen, sie mit Rettungsprogrammen zurückzuholen, wenn es auch manchmal einige Millionen Binärjahre gedauert hatte, diese Programme zu schreiben. Manche waren in dieser Zeit in den unteren Ebenen verrückt geworden und spielten sich als Hilfsgötter und dergleichen auf und fanden es ganz toll, primitive Lebensformen mit billigen Programmiertricks zu beeindrucken. Einmal jedoch war jede Rettung zu spät gekommen. Der Betreffende, ein Kollege mit dem Namen Pamutsok ("Ende mit Escape"), war bei den Primitiven dermaßen ausgeflippt, daß er sich jetzt für das größte und gefährlichste aller Simulationsviren hielt und permanent versuchte, sich in die Rechner aller Ebenen hineinzukopieren, was ganz schön gefährlich werden konnte. Chadawaks Kollegen hatten es für völlig ausgeschlossen gehalten, daß der Verrückte es schaffen könnte, bis in Ebene 5 vorzudringen, und selbst wenn es ihm gelänge, würden ihn eben die Virenkillerprogramme erledigen. Das war zwar nicht besonders edel (es handelte sich immerhin um einen Kollegen), aber was sollte man tun? Ganz am Anfang der Zeit der Ebene 5 (also wo es gerade Nachmittag wurde) war bei einer Installation durch einen Fehler des Betriebssystems Gott erschaffen worden, und der war der einzige, der bei Diskussionen mit dem Boß ernsthaft ein Wörtchen mitzureden hatte, wie die Programmierer neidvoll bemerkten. Wie auch
immer, seitdem ging dem Boß Datensicherheit über alles, und er hatte eigenhändig mehrere Virenkillerprogramme geschrieben und sie in den AutoOrdner geladen, so daß sie immer aktiv waren. Soeben hatte Chadawak gesehen, wie es der Verrückte geschafft hatte, sämtliche Sicherungen des Betriebssystems zu umgehen und sich sogar unbeschadet wieder davonzustehlen. Fieberhaft hämmerte er auf der 15-dimensionalen Tastatur herum und versuchte, den zuständigen Operator zu rufen, aber der machte wohl ein Nachmittagsschläfchen und war nicht aufzutreiben. Andere Systemoperatoren zeigten sich sichtlich gelangweilt und versprachen genervt, sich "später" um das Problem zu kümmern. Nach einer Weile nutzloser Bestrebungen, jemanden vom Ernst der Lage zu überzeugen, schaltete Chadawak den Pseudo-Beta auf Goodbye (eine ziemlich komplizierte Mischung aus Reset und Standby) und ging mürrisch in seine Stammkneipe "Zum letzten Byte", um sich gehörig die Rübe zuzuschütten. Chadawak hätte wirklich das Große Brimborium lesen sollen. Dann wäre uns die Ebene 5 mit ihrem ganzen Müll, aber auch ihren gigantischen, superteuren Superrechnern erhalten geblieben.
Ein vordorbenes Kind Donald hatte eine schwere Kindheit gehabt. Als er zur Welt kam, sah er so ätzend aus, daß seine Mutter ihn nur mit Gummihandschuhen anfaßte. Sein Vater, ein stadtbekannter Sadist, machte sich einen Spaß daraus, ihn jeden Abend grün und blau zu prügeln. Es war ein Wunder, daß Donald die ersten Jahre seiner Kindheit überlebte. Als er größer wurde, mieden ihn die Kinder seiner Straße, weil er so ätzend und immer so übel zugerichtet aussah. Im Alter von zehn Jahren unternahm er seinen ersten Selbstmordversuch, indem er sich mit Benzin überschüttete und anzündete. Durch ein weiteres Wunder überlebte er auch das (in späteren Jahren entwickelte er eine wilde Abscheu gegen Wunder jeglicher Art). Man steckte ihn in eine geschlossene Anstalt, weil sein Anblick jetzt nur noch Leuten mit Nerven wie Drahtseilen zugemutet werden konnte. Noch ein Absatz ... Nach einer Serie weiterer ausgeklügelter Selbstmordversuche, die wie durch ein Wunder alle schiefgingen, war Donald qualifiziert genug (um nicht zu sagen, geradezu prädestiniert dazu), einen äußerst diffizilen Job bei THE GAME anzunehmen, und zwar in der Design-Abteilung von GAME.S.WITCH. THE GAME suchte ständig nach ungewöhnlichen Talenten an ungewöhnlichen Orten. Ihre Personalbeschaffer gingen zu kannibalistischen Sekten genauso wie in Irrenhäuser, und in einer Klapsmühle fanden sie Donald und nahmen ihn gleich mit. Die Zeit bei GAME.S.WITCH war für Donald die einzige einigermaßen glückliche Zeit seines miesen Lebens. Er unternahm in diesen Jahren nur einen einzigen Selbstmordversuch. Hier konnte er seinen depressiven, zerstörerischen Phantasien freien Lauf lassen. Er war sofort zum Leiter der Design-Abteilung von DAS BÖSE ernannt worden, einem Subgame von GAME.S.WITCH. DAS BÖSE war gewissermaßen das Gegenstück von HAUNTED HOUSE. Kam es bei Letzterem darauf an, den Spieler ständig nahezu zu Tode zu erschrecken, war er bei DAS BÖSE der Finsterling, dem immerzu arme, unschuldige Kreaturen begegneten, denen er das Fürchten lehren konnte. Und das war wirklich einfach. Donald hatte einen Haufen von Feiglingen entworfen, die schon mit drohenden Gesten in Panik zu versetzen waren. Ganz besonders stolz war er auf ein
Hündchen, das sich, wenn man es böse anschaute, winselnd in die letzte Ecke verdrückte und anfing, sich selbst aufzufressen. Donald konnte vor seinem letzten, endlich erfolgreichen Selbstmordversuch befriedigt zur Kenntnis nehmen, daß DAS BÖSE eins der beliebtesten Subgames von GAME.S.WITCH geworden war.
Wer Wind sät, wird Sturm ernten Percy schaltete sich mit der Redisc in die erste Szene ein. Er stand in einem ziemlich gewöhnlichen Treppenhaus eines ziemlichen gewöhnlichen Hochhauses einer mehr als gewöhnlichen Trabantenstadt. Auf dieser Etage führten mindestens zehn Türen in wahrscheinlich mehr oder weniger identische Wohnungen. In der Tür, vor der Percy stand, steckte der Schlüssel, den der unachtsame Mieter dort wohl vergessen hatte. Percy öffnete die Tür und trat ein. Er war jetzt in einem Korridor, von dem eine Tür in die Küche, eine ins Bad, eine ins Kinderzimmer und eine ins Wohnzimmer führte. Von dort konnte er eine wilde Schießerei aus dem Fernseher hören. Er inspizierte Küche und Bad, fand nichts, worin ein Sütterlin S sein konnte und zerschlug zum Spaß ein paar Spiegel. Daraufhin öffnete sich die Wohnzimmertür und ein kleiner, pantoffeltragender Spießer mit Halbglatze und Bierbauch spähte vorsichtig heraus. Mit einer schnellen Drehung stand Percy vor ihm und packte ihn am Hemdkragen. Dem kleinen Mann blieb vor Schreck der Mund offen stehen und seine Augen quollen hervor. Percy ließ ein fieses Lachen ertönen und drückte den Mann zurück ins Zimmer. Dort stand eine Frau neben einem Kunstledersessel, die sogleich anfing, hysterisch zu kreischen. Sie hatte eine billige Dauerwelle und trug dazu passend ein billiges Kleid, daß sie noch unförmiger aussehen ließ, als sie ohnehin schon war. Percy hielt den Mann immer noch am Kragen und schaute sich mit einem höhnischen Grinsen im Zimmer um. Zwei etwa zehnjährige Kinder verzogen sich weinend hinter das zum Sessel passende Kunstledersofa. Ein Yorkshire-Terrier kroch wimmernd unter den Fernseher und fing vor Angst an, an seinen Vorderpfoten herumzuknabbern. Percy schlug dem Mann mit der freien Hand ins Gesicht und brüllte ihn an: "Wo habt ihr eure Bücher?" Schlotternd vor Angst gelang es dem Mann nach einer Weile, hervorzustammeln, daß es hier keine Bücher gäbe. Nach dem nächsten Schlag ins Gesicht fehlte ihm ein Schneidezahn und er blutete heftig aus dem Mund. Percy stieß ihn in den Sessel und wandte sich an die Frau: "So, und wo hast du deine Strickzeitschriften?" Die Frau hatte zwar aufgehört zu schreien, aber vor Angst brachte sie kein Wort heraus. Abwehrend hielt sie die Hände vors Gesicht. Percy ging zu der plastikbeschichteten Schrankwand im Rustikal-Look und kippte sie nach vorn. Eine Menge billiger Plunder fiel heraus, aber keine Bücher oder Zeitschriften. Percy kippte sie vollständig um, was ein nettes Geräusch gab. Er freute sich, wie stark er in diesem Subgame war. Vor lauter Zufriedenheit schlug er noch die Bildröhre des Fernsehers mit einem Stuhl ein. Der Yorkshire versuchte daraufhin, in die Wand zu kriechen, was ihm jedoch mißlang, woraufhin er sich damit zufriedengab, seine Pfoten bis auf die Knochen abzunagen. Als Zugabe nahm Percy eine leere Vase vom Sofa-Glastisch und haute sie der Frau über den Kopf. Mit einem Stöhnen sank sie zu Boden und blieb dort blutend liegen. Dann nahm er einen mittelgroßen Kaktus vom Fensterbrett und stopfte ihn dem Mann in den immer noch offenen Mund. Zum Abschied kippte er die Couch auf die weinenden Kinder und verließ die Wohnung.
Als er ins Treppenhaus hinaustrat, sah er, wie sich eine Wohnungstür schnell schloß. Percy überlegte gerade, ob er die ängstlichen Nachbarn schnell einmal von ihrer Neugier kurieren sollte, als er bemerkte, daß eine Gestalt in einem grauen Mantel um die Ecke bog und die Treppe hinunterhastete. In ihrer Hand hatte sie einen flachen, grünen Gegenstand, der einem bestimmten Buchstaben des Sütterlin-Alphabets glich. Percy rannte der Gestalt hinterher, die in ihrer Angst ein erstaunliches Tempo entwickelte. Als er nach fünf Etagen an der Haustür ankam, war der Manteltyp verschwunden. Kurz darauf knallte weiter unten eine Eisentür. Der Kerl war also in den Keller geflüchtet. Mit einem sadistischen Grinsen ging Percy gemächlich die Kellertreppe hinunter. Langsam öffnete er die Tür und schaute hinein. Dort stand das Männchen in dem grauen Mantel und blickte starr vor Schrecken auf Percy. Zu seinem Erstaunen war noch ein weiterer Mann dort, der gerade hastig in eine Nische sprang. Und er hatte den Plastikbuchstaben in der Hand. Percy ging langsam auf die Nische zu. Plötzlich hob der Mann ab und verschwand nach oben durch das Gitter eines Kellerfensters. Nun war die Gelegenheit da, die ungewöhnlich bösen, metaphysischen Fähigkeiten auszuprobieren, die dem Spieler bei DAS BÖSE gegeben waren. Im Nu war Percy in der Nische und blickte durch das Gitter nach oben. Der Mann mit dem Buchstaben schwebte aufwärts durch eine Reihe metallisch glitzernder, grüner Ringe, die einfach so in der Luft hingen. "Raffiniert," murmelte Percy bewundernd und fing an, den Typen mit Hilfe seiner übernatürlichen Kräfte nach unten zu ziehen. Es kostete ihn einige Anstrengung, bis er den Mann in seinem Aufwärtsflug gestoppt hatte. Allmählich schaffte er es, ihn nach unten zu ziehen. Dann aber begann der Kerl, dermaßen schnell zu fallen, daß Percy klar wurde, was als nächstes passieren würde. Er versuchte, den Sturz abzubremsen, aber jetzt schienen seine Kräfte zu versagen. Er versuchte noch, zur Seite zu springen, als ihn ein Schlag am Kopf traf. Dann sah er das dunkelste Schwarz, daß er je erblickt hatte. Eine Zehntelsekunde später schaltete sein Gehirn auf Standby.
Fataler Fehler Achtung! Systemfehler in Ebene 10a ... Absturz nicht mehr zu vermeiden ... Risikovermeidungsprogramme nicht mehr zuschaltbar ... Auf Wiedersehen beim Endplumps! flackerte es über alle Monitore des Pseudo-Beta in der vierten Ebene. Eine Weile war es überall vollkommen still. Dann war es ungefähr eine Nanosekunde lang unheimlich laut. Danach war die Stille noch vollkommener.
Begegnungen der besonderen Art Sej drehte den Kopf und stöhnte. Alles in seinem Körper schmerzte, und jeder Knochen schien verbogen worden zu sein. Schwarze Schatten tanzten vor seinen Augen. Das erste, was er wieder einigermaßen sicher identifizieren konnte, war das weit aufgerissene Maul eines Haifischs, der regungslos auf der Seite lag. Daneben lag ein Mensch, ebenso regungslos, der wie das Klischee von etwas aussah, was Sej als "Fiesling" bezeichnet hätte. Dann schwebte ein blauer Schatten auf ihn zu, der sich in Größe und Form ständig veränderte, aber bald darauf wieder verschwand. Das Ganze sah er durch immer wieder aufziehende schwarze Schatten hindurch, die mit blitzenden Sternen durchsetzt waren. Sej machte die Augen wieder zu und wartete darauf, daß der Traum zuende wäre und er wieder aufwachte. Dann wachte Percy auf, sah eine ähnliche
Szenerie und tastete nach seiner Redisc. Auch er fühlte sich vollkommen daneben; außerdem hatte er das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Sej öffnete die Augen wieder, als er Geräusche hörte. Percy versuchte gerade, sich unter dem Haifisch hervorzuwinden, der halb auf ihm lag. Dann wachte auch Arrgnflrt auf. Sein Gehirn war ebenfalls in einem Zustand, den man mit "nicht alle Tassen im Schrank" hätte bezeichnen können, wenngleich Haie mit Tassen nichts am Hut haben. Mit Hüten übrigens auch nicht, und schon gar nicht mit Schränken. Merkwürdigerweise war eben das Arrgnflrts erster Gedankengang. Dann stellte er mit einem gewissen "zn" fest, daß er nicht tot war, und berechnete, daß die Wahrscheinlichkeit dafür dermaßen viele Stellen hinter dem Komma immer noch gleich Null war, daß er sie nicht berechnen konnte. Als drittes berechnete er noch die Zeit, die er in dieser trockenen Umgebung überleben würde: Die ließ sich wenigstens noch in Sekunden ausdrücken. Das hieß, ihm bliebe noch mehr als genug Zeit für die "ultimative Reaktion", nämlich das Ändern der Körperform. Er war der erste Haifisch, der sich zu einer so drastischen Maßnahme entschloß (Haie sind sehr eitel und finden, daß alle anderen Lebensformen mehr oder weniger degeneriert aussehen). Was dann passierte, veranlaßte Sej dazu, wieder die Augen zu schließen und irgendein zuständiges, übergeordnetes Wesen zu bitten, daß sein Alptraum bald vorüber sei. Percy versuchte immer noch vergeblich, sich von dem Hai zu befreien, als plötzlich kein Gewicht mehr auf ihm lastete. Der ganze riesige Fisch hatte sich plötzlich in zwei Hälften geteilt, wie von einem Riesenmesser sauber in der Mitte zerschnitten. Die Hälften klatschten links und rechts neben ihm auf den Kellerboden. Dann begannen sie sich zusammenzurollen, zuerst langsam von oben und unten her, dann rasant entlang der Längsachsen. Die entstandenen Gebilde begannen sich in zwei Wirbeln zu drehen. Die Bewegung wurde so schnell, daß sie schließlich aussahen wie zwei riesige Kreisel. Die Drehbewegung verlangsamte sich nach einer Weile, und als die Gebilde stillstanden, hockten dort zwei überdimensionierte Känguruhs und blickten erstaunt in die Gegend. Percy hielt nach seiner Redisc Ausschau, die er immer noch nicht gefunden hatte, und schwor sich, THE GAME auf ein sattes Sümmchen Schadenersatz zu verklagen. Es kam ihm nicht einen Moment der Gedanke, daß das Spiel jetzt vorbei war. Sej war sowieso nicht ganz bei der Sache, also blieb es bei Arrgnflrt, etwas aus der Situation zu machen, und der hatte sich gerade in zwei Känguruhs verwandelt, was nicht unbedingt zur Klärung beitrug. Zu allem Überfluß schwebte jetzt wieder der blaue Schatten durch den Raum und begann herumzujammern: "Meine teuren Rechner! Meine Netzwerke! Und ich habe nicht mal eine Hausratversicherung abgeschlossen!" "Äh, kannst du mir vielleicht sagen, was hier gespielt wird?" wandte sich das eine Känguruh an den Schatten. "Das war der gemeinste Systemabsturz, den ich je erlebt habe," jammerte es aus dem blauen Dunst hervor. Das Känguruh warf seinem völlig identischen Gegenstück einen fragenden Blick zu und versuchte es dann bei Percy: "Du scheinst etwas mit der Sache zu tun zu haben, Humanoide. Kannst du mir sagen, wie diese Simulation genannt wird? Ich habe mit dem Verantwortlichen ein Wörtchen zu reden." "Ich auch," mischte sich das andere Känguruh ein. "Es war ja ganz nett, uns vor dem Zerplatzen zu bewahren, aber dafür sitzen wir jetzt verdammt auf dem Trockenen."
Percy gab die Suche nach der Redisc auf und fluchte: "Ihr verdammten Algorithmen, wenn ich euren Programmierer erwische, dann kann der was erleben!" Wieder schauten sich die Känguruhs fragend an. Jetzt war der blaue Schatten an der Reihe: "Ihr habt alle zu einem unserer teuersten Programme gehört, aber jetzt, wo die Hardware zum Teufel ist, seid ihr nicht mal mehr einen Binärcent wert," jammerte er weiter. "Das brauche ich mir von dir blödem Programmbestandteil nicht sagen lassen," brüllte ihn Percy an. "Ich glaube, mein Gehirn ist falsch programmiert," murmelte Sej, dann etwas lauter: "Kann mir jemand von euch sagen, wie ich diesen Alptraum beenden soll? Ich vermute, es ist Zeit, meine Katze zu füttern." Das eine Känguruh tippte sich an die Stirn und meinte zu seinem Partner: "Die spinnen, die Simulationen!" "Bevor wir anfangen, uns herumzustreiten," warf Sej ein, "könnten wir uns ja erst mal vorstellen. Ich meine, ich glaube zwar nicht, daß ihr wirklich existiert, aber wenn ich schon nicht aufwachen kann, will ich wenigstens etwas von euch kennenlernen. Vielleicht hilft mir das nachher, den Traum zu analysieren." Das eine Känguruh lachte schallend los: "Du Haifischfutter, du weißt wohl gar nichts, was?" "Da sind wir ja in eine exquisite Gesellschaft geraten: Ein jammernder Nebel und zwei Landkriecher, die wie üblich gar nichts wissen," setzte das zweite Känguruh hinzu. "Wie interessant!" "Oh ja, gähn," sagte Känguruh eins, "ich hoffe nur, wir kommen hier bald raus." "Dieser Raum hat eine Ausgangstür, ihr binären Klugscheißer," meinte Percy. "Abgang!" "Nein, das ist unfair," rief Sej. "Dann haut ihr alle der Reihe nach ab und ich bleib hier und kann mich beim Aufwachen nur wundern, was ihr wohl symbolisieren solltet." Achselzuckend sagte Känguruh eins zu seinem Kollegen: "Die etwas Klügere von den Landratten hat, glaube ich, recht. Wir sollten uns von hier wegsubtrahieren." Känguruh zwei watschelte zur Tür. Weil es sowieso schon an die Kellerdecke stieß, obwohl es gebückt gestanden hatte (oder gesessen? Bei Känguruhs weiß man das nie so richtig), konnte es nicht hinhüpfen. Das Watscheln sah ziemlich drollig aus, und selbst Percy mußte grinsen. Sofort schnellte der blaue Schatten hinterher und stellte sich vor die Tür (oder schwebte sich vor die Tür? Bei blauen Schatten weiß man das nie so richtig). "Ihr seid wohl völlig übergeschnappt, ihr Module!" rief er. "Habt ihr noch nie von den elementaren Sicherheitsvorschriften bei Systemabstürzen gehört?" Nervös änderte er ständig seine Form. "Was ihr hier mitkriegt, ist der Super-GAUS, der Gigantische Absolute Unbezahlbare Systemabsturz, und ihr kennt nicht einmal die einfachsten
Störfallregeln. Wenn du diese Tür öffnest," sagte er jetzt zu dem Känguruh, "ist es mit einer Wahrscheinlichkeit von 147 Alpha-Prozent mit den Resten von uns vorbei, und zwar in materieller wie in binärer Hinsicht. Ich muß dem Erdling recht geben, wir sollten uns erst einmal beruhigen und uns vorstellen. Dieses 'Spiel'," er wandte sich an Percy, "könnte länger dauern, als uns lieb ist." Das Känguruh zog die Augenbrauen hoch (was bei Känguruhs ziemlich drollig aussieht), hockte sich aber wieder zu den anderen. "Nun gut, wir heißen Arrgnflrt," sagte es und zeigte dabei auf sich und sein Gegenstück." "Äh, Moment, wer ist jetzt Arrgnflrt?" schaltete sich Sej ein. "Au warte," murmelte der blaue Schatten. "Nun, Landtier, damit dein unterentwickeltes Gehirn es leichter hat, nenn uns einfach "Sznmrddlknpplmtn" und "Ghnnlflrrhnm". Ich bin Sznmrddlknpplmtn," erklärte das andere Känguruh. "Was mein Name bedeutet, kann ich dir leider nicht erklären, weil deine Lebenszeit dafür nicht ausreicht." "Ich kann euch keinen Namen anbieten," sagte der blaue Schatten. "Bei dem GAUS sind alle Intelligenzen unserer Ebene zusammengeschaltet worden. Das war das letzte Programm, das lief, bevor die Hardware zerstört wurde. Das Ergebnis bin ich. Leider sind auch die von /KURSIVa Der Behörde /KURSIVz dabei. Ich hatte vorher nicht gewußt, daß das auch Intelligenzen sind. Uff!" Der Schatten krümmte sich, als hätte er sich gerade selbst einen kräftigen Knuff verpaßt. "Ist ja gut, jetzt sind wir alle hier versammelt und müssen sehen, wie wir miteinander klarkommen," sagte der Schatten zu sich selbst. Sej, der das nicht begriff, rief: "Ganz meine Meinung! Ich bin übrigens Sej, auch wenn euch das wahrscheinlich nicht interessiert, weil ihr ja für mich viel zu hoch entwickelt seid." "Soso, Namen habt ihr also auch," grollte Percy. "Die haben ja wirklich keine Kosten gescheut bei GAME.S.WITCH, nur an diesen unwichtigen Sicherheitsvorkehrungen haben sie ein bißchen gespart. Aber was soll's, das wird sie ja höchstens ein paar Millionen Weltrubel kosten." "Sagtest du GAME.S.WITCH, Erdling?" fragte erregt der Schatten. "Ganz genau, GAME.S.WITCH, du Unding," antwortete Percy. "Und versuch jetzt bloß nicht, deinen Programmierer in Schutz zu nehmen." Aus dem Innern des Schattens kam ein komisches Geräusch. Es war unmöglich zu beschreiben, am ehesten klang es noch, als hätten Millionen von Beamten gleichzeitig gekichert. Plötzlich war der Schatten verschwunden, ohne daß sich die Tür geöffnet hätte. Das eine Känguruh schaute durch das Kellergitter. "Das kann ja gemütlich werden, Leute. Der Schatten fängt gerade an, die Sterne einzusammeln."
Planet der Wahrheit Aus den Annalen Gottes, der heiligen Schrift einer Sekte auf dem Planeten Erde,
die im Besitz der Wahrheit ist: "Und Gott sprach: 'Ich habe die Welt zwar nicht erschaffen, aber ich war zufällig dabei, als sie das zweite Mal geboren wurde, und ich habe eine Menge getan, um diese Unordnung wieder einigermaßen zu dem zu machen, was man ein Universum nennen kann. Seid deshalb bitte so nett und glaubt an mich und betet mich an, dann werde ich euch noch viele schöne Geschichten erzählen.' Und alle glaubten an ihn und beteten ihn an, und er erzählte ihnen noch viele schöne Geschichten, die alle hier aufgeschrieben sind. Und weil Gott so groß ist, sind seine Geschichten so lang, und deshalb ist dieses heilige Buch so dick. So gehet denn hin und spendet dem Meister all euren schnöden Besitz, auf daß er euch den nächsten Band zum Weiterlesen gebe." Die Sekte bekam übrigens kurz nach ihrer Gründung Konkurrenz von Fanatikern, die an einen blauen Nebel glaubten und ihn anbeteten und behaupteten, er würde ihnen viele schöne Geschichten erzählen, und daß der Nebel gesagt habe, daß Gott, so wörtlich, eine 'faule Sau' sei, und daß er ? der blaue Nebel ? den weitaus größten Teil der Wiederaufbauarbeit geleistet habe. Die Sekten wanderten später, als aus ihnen Weltreligionen geworden waren, beide auf den Planeten der Wahrheit aus, wo sie sich mehrere Jahrhunderte lang ausgiebig und blutig bekriegten.
Sezana Sezana trauerte um ihren Lippenstift. Den ganzen Abend hatte sie ihre komplette Wohnung umgekrempelt, um das Ding zu finden. Sie wohnte in einem Atelier hoch über den Dächern von Germania, und das heißt reichlich hoch, denn Germania besteht nur aus Kolossalbauten mit mindestens zwanzig Stockwerken. Wütend saß sie in einem ihrer futuristisch gestylten Sessel vor dem riesigen Panoramafenster ihres größten Zimmers und nippte an einem moralisch wertvollen Cocktail. Sezana war Chemikerin bei Der Behörde (nein, nicht /KURSIVa der/KURSIVz Behörde!) für reinrassige Umweltverschmutzung und hatte dort eine führende Stellung inne. Im Alter von fünfundzwanzig Jahren arischer Zeitrechnung war sie schon zur Abteilungsleiterin ersten Grades aufgestiegen. Neidvolle Gemüter hatten gemunkelt, daß dies bloß an ihren blonden Haaren gelegen hätte, aber Sezana wußte es besser. Sie hatte nämlich schon während ihres Studiums an der Sauberen Universität von Germania zufällig eine Entdeckung gemacht, die ihre Karriere und ihr sonstiges Leben (davon gab es nicht allzu viel) nachhaltig beeinflußt hatte. Sezana hatte den Lippenstift entdeckt. Beim Herumexperimentieren mit einigen minderrassigen Embryos hatte sie eine rote Substanz extrahiert, die ihr merkwürdig erschien. Sie hatte versucht, das Zeug zu analysieren, aber die Meßgeräte lieferten keine verwertbaren Daten. Sie hatte die Flüssigkeit ein paar Tage unbeachtet in einem Reagenzglas stehengelassen, dann war ihr aufgefallen, daß sie sich verdichtet hatte und jetzt eher einer cremigen Paste glich. Verspielt, wie sie war, hatte sie sich die Substanz auf die Lippen gerieben, da die Analyse zumindest keinen Hinweis darauf lieferte, daß der Kram giftig war. An diesem Tag hatte sie das Labor erst spät in der Nacht verlassen und dem Pförtner noch eine gute Nacht gewünscht. Der war daraufhin flink wie ein Wiesel aus seinem Häuschen gerannt und hatte ihr mit einem unterwürfigen Blick das Tor geöffnet. Allmählich entdeckte Sezana, was es mit der Substanz auf sich hatte: Wenn sie das Zeug auf den Lippen trug, schienen ihre Worte für andere Menschen wie die Äußerungen eines Engels zu klingen.
Zuerst fand Sezana das nur amüsierend, bis sie schließlich anfing, diese Wirkung gezielt einzusetzen. Niemand wagte es mehr, an irgend etwas zu zweifeln, was sie sagte. Sie probierte die unglaublichsten Sachen aus: Auf einem Empfang hatte sie dem Direktor der Behörde für reinrassige Umweltverschmutzung eine haarsträubende Geschichte über blaue Schatten, die Sterne einsammeln, vorgetragen, und der hatte ihr wirklich geglaubt. Kurz danach hatte sie ihm eingeredet, daß sie die einzig würdige Nachfolgerin für den kürzlich verstorbenen Dr. Dr. Prof. Hanntz Muller wäre, und der Direktor hatte das dann enthusiastisch vor den versammelten Gästen verkündet. Später hatte er seine Begeisterung nicht mehr nachvollziehen können, aber, da er sich nicht blamieren wollte, hatte er Sezana die Stellung fest zugesagt. Ein halbes Jahr später trat sie den Posten an. In der Zwischenzeit hatte sie tage- und nächtelang vergeblich versucht, die rote Substanz zu analysieren. Dann hatte sie schließlich wild darauf los experimentiert, um den Stoff auf irgendeine Weise herzustellen. Es war ihr nicht gelungen. Was blieb, war die Schlußfolgerung, das Zeug so sparsam wie möglich einzusetzen. Ihre Mitarbeiter waren zwar verwundert darüber, daß sie offensichtlich zwei Persönlichkeiten in einer war, aber das war in ihrem Land so dermaßen normal bei führenden Personen, daß es für alle akzeptabel war. Sezana hatte die gesamte verbliebene Substanz schließlich in die Hülle eines leeren Lippenstifts gepreßt, den sie immer bei sich trug. Sie versuchte zwar noch gelegentlich, die Zusammensetzung zu analysieren, aber ziemlich lustlos. Leider konnte sie auch kein großes Forschungsprojekt starten (wozu sie ohne Weiteres die Möglichkeit gehabt hätte), weil sie die Sache unbedingt geheimhalten wollte. Jetzt war der Lippenstift weg. Sezana nahm noch einen Schluck, und wieder stiegen ihr vor Zorn die Tränen in die Augen. Das, was sie bisher auf so lässig wundersame Weise von anderen Menschen unterschieden hatte, konnte doch nicht so spurlos verschwunden sein! Sie biß auf ihrem sorgfältig lackierten Daumennagel herum. Ganz langsam begann in ihr eine Angst heraufzukriechen, die Angst davor, sich diesem Leben wie ein ganz normaler Mensch stellen zu müssen. Sezana hatte es zwar bisher immer etwas leichter gehabt als ihre reinrassigen Mitmenschen, da sie außerordentlich schön war. Sie hatte jedoch stets nach Höherem gestrebt, und da war ihr die rote Substanz gerade recht gekommen. Und nun? Jetzt würde das Leben für sie Arbeit bedeuten, Duckmäuserei nach oben und treten nach unten, ein Prinzip, an das die Leute leidenschaftlich glaubten, und ganz besonders die Leute in der Behörde für reinrassige Umweltverschmutzung. Sezana konnte sich ein solches Leben nicht mehr vorstellen und wollte das auch gar nicht. Schon bei dem Gedanken daran schossen ihr vor Enttäuschung die Tränen hoch: Sie, die schöne Sezana, sollte als Abteilungsleiterin ersten Grades enden, die mit zusammengekniffenen Lippen Anträge auf Bewilligung von Forschungsgeldern ausfüllte? Voll Abscheu schleuderte sie ihr Glas gegen das kugelsichere Panoramafenster. Das Leben ist bisweilen merkwürdig, auch in Nazistan, einer streng ideologischen Staatengemeinschaft auf Ebene 9. Durch die an der Scheibe herabfließenden Reste ihres Cocktails blickte Sezana auf die riesige, verschwommene Leuchtschrift auf dem Dach des Zentralgebäudes der Partei, als sie plötzlich etwas Blaues sah, das mitten durch den Nachthimmel schwebte. Vielleicht hatte sie heute abend zuviel Teutschtaler in ihren Drink gemixt, jedenfalls schien es ihr, als ob dieses blaue Etwas dort draußen dabei war, die Sterne einzusammeln. Sezana war kein Mensch, der an Geister glaubt. Sie stand auf und nahm noch einen kräftigen Schluck von dem hochprozentigen Gesöff direkt aus der Flasche, bevor sie torkelnd zu Bett ging.
Ausweg
Das Känguruh rüttelte heftig an der Kellertür, aber die schien bestens verschlossen zu sein. Sein Gegenstück stand daneben und fluchte leise. "Ist wohl abgeschlossen," bemerkte Sej überflüssigerweise. Das Känguruh ließ die Klinke los und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Percy hatte den Kellerraum mittlerweile bis ins Detail kennengelernt. "Wo, beim Arsch des Teufels, ist meine Redisc?" hörte man ihn aus einer Ecke schreien. "Reg dich bloß nicht künstlich auf, du Wurm," sagte wütend das Känguruh, das versucht hatte, die Tür zu öffnen. "Ich wünschte, ich wäre auf deiner Entwicklungsstufe, dann würde es mir nicht soviel ausmachen, hier in diesem Loch zugrunde zu gehen." "Ich habe ziemlichen Hunger," meinte das zweite Känguruh, und Sej glaubte, daß ihm etwas Geifer aus dem Maul liefe, als es sich zu ihm umdrehte. Jetzt war Sej an der Tür und probierte die Klinke. Natürlich dachte die Tür nicht daran, sich jetzt plötzlich zu öffnen. Haßerfüllt trat er dagegen. Das erste Känguruh lachte: "Ihr Landratten seid wirklich zu putzig, schade, daß wir nicht so etwas angelegt haben, was ihr 'Zoo' nennt." "Primitive Lebensformen dienen der Erhaltung des Humors im Universum," zitierte das zweite Känguruh offensichtlich aus einem Buch. Jetzt wurde Percy erst recht wütend. Er boxte das erste Känguruh in den Bauch (unterhalb der Gürtellinie? Das ist bei Känguruhs immer schwer zu sagen). Das Tier konnte sich vor lauter Lachen überhaupt nicht wehren. Schließlich nahm sein Partner Percy bei den Haaren und setzte ihn zur Seite. "Autsch!" schrie Percy. "Gniggergnigger," grinste das Känguruh, das ihn weggestellt hatte. "Huhuhohaha!" lachte das andere immer noch. "Falls es euch interessieren sollte, was eine primitive Lebensform äußert, dann guckt mal, wo der Ausgang ist," sagte Sej beiläufig. Die anderen drei drehten sich um. Sej war verschwunden. "Uff!" sagte das eine Känguruh. "Hmpf!" sagte das andere. "Nanü! Au! Huch! Au!" sagte Percy, der sich noch nicht so recht entscheiden konnte, ob er gerade mehr schmerzerfüllt oder mehr erstaunt war. Sej steckte seinen Kopf von oben durch das Kellerfenster. "Das Gitter lag nur locker drauf, ihr Intelligenzbestien," verkündete er. "Primitive Lebensformen sind der Zugang zu den Wurzeln der Intuition," rezitierte das zweite Känguruh. Sein Partner versuchte derweil schon, sich durch die Luke zu stemmen. Sej stand draußen und streckte die Arme nach hinten. Aus einem unerklärlichen Grund fühlte er sich plötzlich unheimlich gut. Das Känguruh hatte mittlerweile den Aufstieg geschafft und half seinem Partner heraus. Das sah übrigens sehr putzig aus (für die, die es noch nicht geahnt haben). Percy kam direkt hinterher.
"Habt ihr vielleicht ein Paar primitive Namen zur Verfügung, die sich eine Lebensform wie ich merken kann?" fragte Sej die Känguruhs in einem Anfall von Selbstvertrauen. "Nun gut, nenn mich Boko," sagte das erste. "Falls du uns unterscheiden kannst, mein Name ist Jeer," fügte das andere hinzu. Jetzt konnte Percy nicht mehr abseits stehen. Obwohl er es verabscheute, sich mit Algorithmen auf eine Stufe zu stellen, sagte er: "Mein Name ist Percy Sledge."
Per Anhalter in die Galaxien Es war ein schöner lauer Sommerabend. Ian und Paul standen in der offenen Tür ihrer Stammkneipe und schauten hinaus auf die Hauptstraße des Dorfes. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei. Es hatte die beiden Freunde vor geraumer Zeit von einer nebligen Insel des Planeten Erde an diesen Fleck auf dem Festland verschlagen, wo die Leute in einer völlig unverständlichen Sprache redeten. Niemand konnte von ihnen verlangen, so etwas zu lernen; und sie kamen auch so ganz gut zurecht. Die Freaks, die sie kennengelernt hatten, sprachen ohnehin ihre Sprache, und mit den restlichen reichte es, ein paar Floskeln zu tauschen, die sie schnell drauf hatten: "Wir suchen Arbeit ohne Lohnsteuerkarte" (ein Satz, den Ian solange wiederholt hatte, bis er ihn auswendig konnte). "Was, nur ein Zehner die Stunde?" brachte er fehlerfrei und mit echter Entrüstung rüber. Die beiden arbeiteten meist auf dem Bau (das heißt, wenn sie arbeiteten). Im Moment war Hochsommer, die meisten Baufirmen machten Ferien, und die Erntearbeiten ließen noch auf sich warten. Alles in allem, die beiden waren ziemlich abgebrannt. "Noch ein Stout?" fragte Paul und leerte sein Glas. Statt einer Antwort zog Ian die eine Hosentasche heraus, nahm sein Bier in die andere Hand und zog die zweite Tasche heraus. Er lachte leise. "Lassen wir anschreiben," schlug Paul vor. Ian zuckte die Schultern und nickte. Paul kam mit den vollen Gläsern zurück. Sie setzten sich auf die Stufen. "Laß uns von hier abhauen," meinte Paul. "Wohin?" "In den Süden, wohin sonst." Nach einer Weile setzte er hinzu: "Da gibt's so ein Meer mit haufenweise Inseln drin, da sind die Leute locker und Arbeit hat's auch." "Gibt's da Guinness?" fragte Ian. "Bier gibt's überall auf dem Planeten," sagte Paul. "Aha, du weißt es also nicht. Ich bin doch nicht so verrückt und gehe irgendwo hin, wo es vielleicht kein Guinness gibt." "Du konntest auch nicht wissen, daß es hier Guinness gibt, du Schlaumeier. Also, wann hauen wir ab?"
"Können wir da wenigstens hintrampen, oder liegt so ein bescheuerter Ozean dazwischen?" erkundigte sich Ian. "Nur ein ganz kleines bißchen Ozean zwischen der letzten Stadt und den Inseln, nicht der Rede wert," sagte Paul beschwichtigend. "Wir könnten rüberschwimmen." Eine Weile saßen sie schweigend da und nippten ihr Bier. Schließlich meinte Ian: "Ist das dein Lippenstift?" Er deutete auf einen Gegenstand, der am Fuß der kleinen Treppe lag. Paul stand auf und nahm das Ding hoch. Er betrachtete es kritisch, dann sagte er: "Doch, doch, das sieht genau aus wie der Lippenstift, den ich in meinem letzten Leben verloren habe. Ich erinnere mich genau," sein Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an, "wie ich tagelang danach gesucht habe. Naja, dann habe ich ihn schließlich doch noch gefunden." Er steckte ihn ein. Ian nahm noch einen Schluck. "Laß uns abhauen. Wir haben morgen eine lange Reise vor uns." Paul grinste und gab seinem Bier den Rest. Dann nahm er Ians leeres Glas und ging in die Kneipe. "Wir zahlen morgen," sagte er zu dem Barkeeper. Der nahm schweigend einen Stapel Zettel aus der Ecke des Tresens und malte zwei weitere Striche drauf. Ian und Paul schlenderten die Straße hinunter. Ian hielt den Daumen ausgestreckt. Er dachte an Sabine. Die würde froh sein, ihre Wohnung wieder für sich zu haben. Die beiden hatten sich vor einem knappen Jahr "nur für ein paar Tage" dort einquartiert. Sabines Bude war in einer Kleinstadt, 20 km von ihrer Stammkneipe in dem winzigen Dorf entfernt, was eher unpraktisch war. Aber sie bestand nie darauf, daß die zwei pünktlich ihre Miete für das eine Zimmer zahlten, was ziemlich praktisch war. "Ihr könnt ja nichts dafür, daß ihr soviel Bier trinken müßt," pflegte sie in Bezug auf Ians und Pauls chronische Finanzmisere zu sagen, und Ian schwor, daß dabei nicht einmal Ironie in ihrer Stimme mitschwang. "Weißt du, was wirklich cool wäre?" sagte Paul unvermittelt. "Wir sollten noch viel weiter nach Süden fahren." "Wie weit denn?" fragte Ian ein bißchen schläfrig. Es kam ums Verrecken nicht ein einziges Auto vorbei. Paul blieb stehen. "Ach, ich hatte da nur gerade so einen Gedanken," meinte er und lief weiter. Er nahm im Laufen den Lippenstift aus der Tasche und drehte ihn auf. In Gedanken versunken malte er sich die Lippen an. Es war recht hell in dieser Nacht, weil der Mond fast voll und nicht eine Wolke am Himmel war. Paul drehte den Kopf zu Ian, der etwas hinter ihm lief. "Hübsch, was?" sagte er und stülpte die Lippen vor. Ian fand, daß Paul wirklich sehr hübsch aussah, was ihn verblüffte, da Paul eigentlich alles andere als hübsch war. "Was hattest du vorhin für einen Gedanken?" fragte er verwirrt. "Och, ich dachte nur an so ein Buch, was ich mir aus der Bücherei ausgeliehen habe. So ein komischer Philosoph, uralt. Behauptet, daß es zu allem, was wir
sehen, eine Idee gibt. Ohne Idee keine Sache auf der Welt. Von dir gibt es eine Idee, von mir gibt es eine Idee, von unserem Anschreibzettel in der Kneipe gibt es eine Idee. Gute Idee, was?" Ian fand das eine äußerst bemerkenswert gute Idee. Er war hellauf begeistert. Seine Müdigkeit war mit einem Mal verflogen. Kurz danach fragte er sich, was an dieser Idee eigentlich so toll wäre, und konnte keine Antwort finden. "Stell dir vor," redete Paul weiter, "alle unsere Ideen, die nicht auf diesem Planeten Wirklichkeit werden, vielleicht nicht einmal in diesem Universum, werden irgendwo anders verwirklicht. Dann gäb es eine Menge mehr Chaos, als wir uns vorstellen können. Jeder Gedanke von jedem würde dann irgendwo rumstehen und vielleicht auf seinen Urheber warten. Jede Utopie, jedes verschrobene Weltbild, jede Ideologie ..." Er unterbrach sich und staunte über sich selbst. Noch mehr staunte Ian. War das wirklich Paul, der da sprach? Er hatte gerade genau das ausgesprochen, wonach die Menschheit seit ungezählten Generationen suchte. Wohin gehen unsere Gedanken? Die Urfrage schlechthin, und Paul wußte mit Sicherheit die Antwort darauf. Ian war so begeistert, daß er stolperte und beinahe hinfiel. Da kam ein Auto angebraust, ein mächtiger Schlitten von ungewöhnlichem Aussehen, und hielt direkt neben ihnen. Ian hatte ihn gar nicht hören kommen. Die Beifahrertür ging auf und ein Mann mittleren Alters beugte sich herüber. "Wohin wollt ihr?" "Nach Alpha Centauri," sagte Paul lachend. "O.k., steigt ein," sagte der Mann, und kaum hatten sie Platz genommen, brauste das Gefährt mit einer atemberaubenden Beschleunigung los.
Alpha Centauri Alpha Centauri ist das der Erde am nächsten gelegene Sonnensystem, lächerliche 4,3 Lichtjahre mittlere Entfernung weg. Einige gut informierte Menschen behaupten, daß es dort keine bewohnbaren Planeten gäbe, obwohl sie noch nie da gewesen sind, denn Alpha Centauri sei ja ein Doppelsternsystem, was mögliche Planeten von einer Sonne zur anderen taumeln lasse. Daher ist der Abstand zu der Sonne, um die sie gerade torkeln, stark schwankend, weil das Gravitationsfeld der anderen Sonne fast immer störend einwirkt. Daher ist die Temperatur auf möglichen Planeten großen Veränderungen unterworfen. Daher kann es dort kein Leben geben. Das ist ein sehr schön plausibler Gedankengang mit nur einem Schönheitsfehler: Er ist falsch. In der Tat ist Alpha Centauri eines der am dichtesten besiedelten Sonnensysteme dieser Galaxis. Die meisten Lebensformen dort würden mit keinem anderen System tauschen. Auf fast allen Planeten ist fast immer Tag. Einige der äußeren Planeten erfreuen sich gar eines ständigen lauen Sommerabends. Nur Gott ist etwas genervt darüber, weil Alpha Centauri zu den Plätzen gehört, wo er mit seinem "Es werde Licht!" überhaupt keinen Eindruck schinden kann. Trotzdem macht er dort regelmäßig Urlaub, vielleicht nicht nur wegen der atemberaubenden Schönheit dieses Planetensystems, sondern auch, weil er dort einen gewissen blauen Schatten nie trifft, vor dem man sonst nirgendwo sicher sein kann. Gott weiß nicht, warum der blaue Schatten nie dorthin geht, und es ist ihm auch reichlich egal. Dabei ist die Antwort einfach: Auf keinem der Planeten
von Alpha Centauri ist jemals die Elektrizität erfunden worden, und der blaue Schatten verabscheut Plätze, an denen keine Siliziumchips hergestellt werden. Alpha Centauri mag einem Humanoiden vom Sol-System wie das Paradies erscheinen. Aber auch Alpha Centauri hat seine Probleme, die allerdings dermaßen hochphilosophischer Art sind, daß sie hier nicht im Einzelnen erläutert werden sollen. Ein Beipiel mag genügen: Seit einiger Zeit behaupten Insektoide von einem Trabanten im mittleren Planetenring, die Elektrizität sei doch erfunden worden. "Ja, wo ist sie denn?" fragen die Taumelnden Sackfüßler, die auf demselben Trabanten leben. "Nun, unsere Diskussion darüber beweist, daß die Idee davon vorhanden ist, und da die Idee die Grundlage der Erscheinung ist, ist die Elektrizität also schon erfunden, sie ist halt nur noch nicht in Erscheinung getreten." "Zeigt uns eine Glühbirne oder einen Heizlüfter, und wir glauben euch," sagen darauf gewöhnlich die Sackfüßler, und die Insektoiden zucken nervös mit ihren zerbrechlichen Flügelchen und flattern ab. Das gehört zugegebenermaßen zu den ernsthafteren Problemen von Alpha Centauri. Außer der Elektrizität und Siliziumchips und Glühbirnen und Heizlüftern gibt es im Alpha Centauri-System fast nichts, was es nicht gibt. Eins der schöneren Dinge ist ein fast schwarzer Saft, der seit Urzeiten auf dem Planeten Met gemixt wird. Sein Name ist "Gins". Der Ursprung des Namens ist im Dunkel der Geschichte verschwunden. Gins wird nach einem uralten, geheimen Rezept von einer Sekte rothaariger Humanoider hergestellt, die behaupten, sie hätten das Geheimnis von einem Planeten des Sol-Systems mitgebracht. Aber die Planeten dieses nahegelegenen Systems sind nahezu unbesiedelt, wie jeder weiß, obwohl lange keiner mehr dagewesen ist, und keiner glaubt ihnen. Trotzdem ist Gins eines der beliebtesten Gesöffe überall in Alpha Centauri, und nicht nur dort, wie sich demnächst herausstellen könnte.
Intelligenz auf sechs und acht Beinen "Wir sind alle Riesen, die von Zwergen erzogen worden sind," heißt es in einem schlauen Buch aus dem Sol-System. Die dortigen Lebensformen betrachten das als auf sich selbst bezogen und finden es ziemlich arrogant, so zu denken. Das wiederum liegt daran, daß sie alle Riesen sind, die von Zwergen erzogen wurden. Dabei sind sie noch gut dran, daß das Zitat bei ihnen nur symbolische Bedeutung hat. Es gibt einen Planeten, der überwiegend von großen, dummen Lebensformen bevölkert ist. Tatsächlich sind über 99% der Bevölkerung sehr groß und sehr dumm (nachzulesen im Statistischen Jahrbuch der Süd-Süd-West-SüdWestlichen Galaxien). Knapp 1% sind dagegen sehr schlau - und sehr klein. Diese Winzlinge haben es im Laufe einer langen Evolution dazu gebracht, in einem winzigen Gehirn eine Unmenge von Intelligenz unterzubringen, soviel wie hundert durchschnittliche Riesen zusammen. Dabei sind sie enorm flink und fühlen sich "unheimlich leicht und locker". Humanoide aus dem Sol-System würden sie zweifellos Insekten nennen. Diese Mücken und Kellerasseln also beherrschen den Planeten seit Jahrtausenden auf äußerst subtile Art und Weise. Ihre Heimlichtuerei geht soweit, daß einige der großen, dummen Lebensformen tatsächlich glauben, sie und nicht die Spinnen und Wespen würden den Planeten beherrschen. Die Zwerge ließen das natürlich nur soweit zu, wie es ihren Zwecken diente. Ab und zu kam es vor, daß die Riesen zu frech wurden, und manchmal war die einzige Lösung, den Planeten vorübergehend auszurotten, wie sie das nannten. Die großen, dummen Lebensformen mußten in solchen Fällen natürlich immer
mühsam nachgezüchtet werden, was aber dank der neuen Labors im Kern des Planeten nicht mehr so zeitraubend war. Das Prachtstück der Anlage war ein superneues, superteures, hexadezimalgesteuertes Reagenzglas, das nicht nur den Gencode vollautomatisch analysierte, sondern daraus auch in Sekundenschnelle ein Muster der Lebensform zusammenbraute, das dann nach Wunsch genetisch gestylt werden konnte. Aus lauter Bösartigkeit hatten die Insekten beim letzten Mal sogenannte Krankheiten eingebaut (die Erfindung eines Programmierers der Firma, die das Reagenzglas gebaut hatte. Er hatte dafür den goldenen Wespenstachel am Fühler erhalten. "Seit meiner Erfindung krebsen die Riesen so vor sich hin," sagte er oft lachend). Allerdings war es jetzt beschlossen worden, nach der nächsten Vorübergehenden Ausrottung von den Krankheiten wieder Abstand zu nehmen, da sich herausgestellt hatte, daß diese mutierten Gene den Insekten selbst gefährlich werden konnten. Überhaupt hatten sie diesmal eine ziemlich unfreundliche Bevölkerung gezüchtet, die ständig sich selbst und alles andere kaputt machte. Allmählich wurden viele Zwerge ärgerlich über Ausfälle der Riesen. Etliche Schabenarten und praktisch alle Fluginsekten waren in den letzten paar Jahrhunderten des öfteren ernstlich mit Gift belästigt worden. Im Parlament, das man sich in etwa wie einen Bienenstock vorstellen kann, häuften sich die Stimmen, die zur radikalen Partei für die Neuerliche Ausrottung überwechselten. Beobachter munkelten, daß es nur noch darauf ankäme, daß die Bienen überwechselten. Die hielten bisher noch zu ihren Lebensformen und behaupteten nach wie vor, daß diese hilfreich und nützlich seien. Diese Lebensformen flitzten auf dem Planeten herum und merkten gar nicht, daß die Vorübergehende Ausrottung nicht mehr lange auf sich warten ließ. Sie hatten den Planeten diesmal schon einigermaßen ruiniert und fingen an, davon Alpträume zu bekommen. Das hielt sie allerdings nicht davon ab, ihrer alten Leidenschaft zu frönen, nämlich anderen Lebensformen die Abscheu vor ihnen in der Form mitzuteilen, daß man sie ausrottete. Es war eigentlich nur eine von den großen, dummen Lebensformen, die den ganzen Ärger machte. Im Parlament gab es daher eine große Fraktion, die forderte, nur diese Lebensform der Ausrottung zu unterziehen. Vertreter der großen, radikalen Partei hielten dagegen, daß dies nicht praktikabel sei und in jedem Falle einige Jahrzehnte benötigen würde. Dagegen war schwer etwas einzuwenden. Böse Zungen behaupteten, daß die Partei für die Neuerliche Ausrottung von einer industrienahen Stiftung größere Zuwendungen erhielte, die natürlich daran interessiert war, ihre neuesten, extrem teuren Reagenzgläser an das Insekt zu bringen. Es kam, wie es kommen mußte: Sobald General Genetics die neueste Serie von hexadezimalgesteuerten Reagenzgläsern serienreif hatte (die Entwicklungsarbeit hatte fast hundert Jahre in Anspruch genommen), wurde das Gesetz für die Neuerliche Ausrottung beschlossen. Die mittlerweile sehr große, radikale Partei stritt natürlich jeglichen Zusammenhang kategorisch ab. Eine neue Bevölkerung wurde in Rekordzeit zusammengebraut und ausgesetzt, und sie entwickelte sich prächtig. Wie sich jedoch später herausstellte, waren durch einen billigen Programmierfehler die Krankheiten durchaus nicht abgeschaltet worden, sondern kamen allmählich wieder. Das ärgerte die großen, dummen Lebensformen, und die Zwerge im Parlament machte es äußerst ärgerlich auf General Genetics, die bald darauf, durch willkürliche Gesetze in ihrer Entscheidungsfreiheit geknebelt, Konkurs anmelden mußten. Glücklicherweise trafen diese Beschreibungen nicht auf den oben genannten Planeten im Sol-System zu. Dort stellen die Insekten über 99% der Bevölkerung.
Von Strassenkampf und Sternenflügen "Faschoalarm im Sektor 36! Faschoalarm!" tönte es aus Hunderten von Megaphonen durch die kleine Autonome Republik Kreuzweise. Die Worte echoten durch die dreckigen Gassen und die mit Barrikaden übersäten Hauptstraßen. Es war früh am Nachmittag, und verschlafen schauten die Bewohner der Republik aus ihren ungeputzten Fenstern. Einige hasteten schon aus den Hauseingängen, wobei sie sich Skimützen und Sturzhelme überzogen. An den meisten Ecken standen die Leute von der Tagwache bereit, um Molotowcocktails und Einkaufswagen voll mit Pflastersteinen zu verteilen. Allmählich füllten sich die Straßen. Müll und Autowracks wurden jetzt auch auf die kleineren Gassen geschleppt, und hier und da brannten bereits die ersten Autoreifen. Im Zentrum der kleinen Republik formierte sich ein wild aussehender Haufen schwarzgekleideter Gestalten, die Brigade Heino Schlumpf, die sich nach einem frühen Märtyrer benannt hatte. "Faschoalarm! Faschoalarm!" dröhnte es weiterhin aus den Megaphonen. Eine Frau verteilte Flugblätter für eine Soli-Demo nächsten Samstag. Aus dem Haus daneben stolperte ein verschlafener, unrasierter Typ, der sich im Gehen einen Gürtel mit zehn Bierdosen umschnallte, der an einen Patronengurt für Riesen erinnerte. Sieben Hunde unterschiedlichster Größe und Farbe schossen hinter ihm her. "Schlagt sie tot, die Schweine!" brüllte ein Langhaariger, der mit einem Knüppel bewaffnet der sich formierenden Menge Richtung Sektor 36 folgte. Die Frau verteilte ihr letztes Flugblatt und folgte ihm. An der nächsten Ecke hatte sie ihn eingeholt. "Ey, Hansi, hast du was zu rauchen dabei?" begrüßte sie ihn. Er kramte ein dünnes Päckchen Tabak hervor und gab es ihr. "Hast du gehört, wieviel Schweine es heute sind?" fragte er sie. "Ach, nicht der Rede wert, der übliche Haufen von Nazis, die zum Endspiel in Germania angereist sind," antwortete sie. "Rollerball," murmelte Hansi verächtlich. "Wenigstens eine leichte Beute. Denen hauen wir jetzt erstmal gut die Fresse ein und dann leg ich mich aber wieder aufs Ohr. Teufel, haben wir gestern gebechert." Mittlerweile hatten sie die Hauptstraße des Sektors 36 erreicht, wo ein erhebliches Gedränge herrschte. Kracher flogen durch die Luft, und überall dröhnten die Kriegstrommeln. Ein paar Jungs von der Brigade schlugen mit ihren Eisenstangen die letzten Scherben aus dem Fensterrahmen einer ehemaligen Bank. "Spart euch die Energie für die Schweine auf!" rief Hansi ihnen zu. "Halt's Maul, Hippie!" rief einer zurück. Aus dem Gewimmel formierte sich bald ein halbwegs geordneter Demonstrationszug: Vorn die Bedauernswerten mit den Transparenten ("Nazis raus aus Kreuzweise!" "Nieder mit dem Schweinesystem!"), die wohl ziemlich eins auf die Mützen bekommen würden, dahinter die radikalen Feministinnen, wie immer zu leicht bewaffnet (auf dem Plenum würden sie sich hinterher wie
immer über den mangelnden Schutz durch die Typen beschweren, dachte Hansi grollend), gefolgt vom Gewaltfreien Block (drei Leute einer antipsychiatrischen Initiative), den Chronisch Nichtorganisierten, der Brigade Heino Schlumpf und so weiter und so fort. Alles in allem waren es einige tausend Leute, die zur Mauer zogen, die die Republik Kreuzweise vollständig umgab. Endlich kamen die Faschos in Sicht. Sie sehen wirklich aus wie immer, dachte Hansi, der sie sehen konnte, wenn er hochsprang: Alle waren sie mit Schals, Mützen und Jacken derselben Farbe bekleidet, trugen Soldatenstiefel und schütteten sich im Laufen mit Bier zu (was sie mit den Leuten der Autonomen Republik verband) und grölten dabei Lieder aus der Zeit, als Nazistan noch nicht den größten Teil der östlichen Hemisphäre der Ebene 9 beherrschte. "Gib mal den Tabak her," sagte Hansi zu der Frau, dann drängelte er sich, so schnell es ging, durch die Leute durch nach vorn. Endlich stand er einem dieser widerlichen Rollerball-Fans direkt gegenüber. Der war viel zu besoffen, um zu peilen, wo es langging. Hansi gab ihm eins über den Schädel und wandte sich dem nächsten zu. Insgeheim wunderte er sich, wie es diese volltrunkenen Gestalten geschafft hatten, über die Mauer zu klettern. Naja, andererseits machte er dasselbe im selben Zustand von Zeit zu Zeit, wenn es darum ging, in Germania einen Supermarkt zu plündern. Um ihn herum tobte die Schlacht. Die Faschos hatten mit ihren Messern und Schlagringen schlechte Karten gegen die Eisenstangen und Knüppel von Kreuzweise. Geschickt wich Hansi einem Molli aus, der neben ihm zu Boden schlug und einem Rollerballer die Hosen in Brand steckte. "Irgendwas ist anders heute," murmelte Hansi, während er einem Schwein, das zu Boden gegangen war, mit dem Stiefel ins Gesicht trat. Die Faschos waren lascher als sonst. Nach kaum einer Viertelstunde Schlacht waren sie schon beinahe besiegt. "Reißt die Mauer ein!" hörte Hansi durch das Knistern der Flammen und Getrappel der Stiefel hindurch. Einige waren dabei, hinüberzuklettern und geflüchtete Rollerballer zu verfolgen. Drüben stand die Polizei von Germania, aber als Hansi hinüberkletterte, begannen auch die gerade mit ihrem Rückzug. "Was ist denn heute los?" dachte er erstaunt. "Soll das eine Falle sein oder was?" fragte er einen von der Brigade, der gerade dasselbe tat wie er. "Ach Quatsch," meinte der, "das Schweinesystem hat auf Dauer einfach keine Chance gegen uns." Hansi sprang auf die andere Seite und rannte mit einer Gruppe vom SoliKomitee Bugs Bunny einigen flüchtenden Faschos hinterher. Nach einer Weile konnte er den Schlachtenlärm nicht mehr hören. Die Jungs waren für ihren Promillegehalt ziemlich schnell auf den Füßen, und Hansi dachte wieder an eine Falle. Als er um die nächste Ecke bog, waren sie wie vom Erdboden verschwunden. Er blieb stehen und drehte sich um. Verdammt! Die Bugs Bunny-Freaks waren auch weg! Hansi stand allein mitten in den verlassenen, sauberen Straßen von Germania. Nur wenige Autos waren hier geparkt zwischen den Kolossalbauten. Das hier war eine reine Wohngegend (offizielle Bezeichnung: Reinrassiger Sauberer Wohnblock, RSW) und die meisten Leute waren wohl bei der Arbeit. Kein Mensch war auf der Straße, und es war gespenstisch still.
Ein Auto kam herangefahren. Hansi drückte sich in den nächsten überdimensionalen Hauseingang. Alles schien ihm unheimlich groß hier, wie für Riesen gebaut, und unheimlich unheimlich. Leise fluchte er vor sich hin. Das Auto hielt fast direkt vor dem Haus. Gemäß den Empfehlungen des Parteikomitees für Sauberkeit, Anstand und Ordnung (PKSAO) verschloß die Frau, die ausstieg, ihr Fahrzeug sorgfältig und probierte dann, ob die Tür auch wirklich verschlossen war. Befriedigt stellte sie fest, daß anscheinend alles seine Ordnung hatte und ging auf den Hauseingang zu. Hansi verschmolz fast mit der Hauswand. Ohne ihn zu bemerken, trat sie in die Eingangsnische, nahm den Schlüssel heraus und öffnete die Hochsicherheitstür (gebaut nach den Richtlinien des Parteikomitees für Innere Sicherheit und Verbrechensbekämpfung, PKISVB, Norm DUMM 66201). Als sie durch die Tür ging, packte Hansi sie von hinten, hielt ihr den Mund zu und schob sie hinein. "Easy, Schwester," flüsterte er, "wenn du nicht schreist, laß ich dich los, aber wehe dir, wenn du es tust!" Er lockerte seinen Griff. Langsam drehte die Frau sich zu ihm um. "Aha, wohl ein Frauenfeind?" sagte sie in völlig ruhigem Ton zu Hansi. Der war einigermaßen irritiert. Grinsend fügte sie hinzu: "Auf Höflichkeit brauche ich jemanden wie dich ja wohl nicht anzusprechen, was?" Hansi fühlte sich durch den spöttischen Tonfall verunsichert. Die Frau, die hier im Schweinesystem leben und arbeiten konnte, schien überhaupt keine Angst zu haben. Hansi dagegen wurde immer ängstlicher. War sie vielleicht bewaffnet, oder lauerten hier die Bullen? Hatte sie ihn gar hineingelockt, damit die Schweine ihn hier in Ruhe fertigmachen konnten? Die Frau ging seelenruhig zum Fahrstuhl, aber komischerweise kamen auch keine Bullen hervorgeschossen. "Na komm schon!" rief sie ihm lachend zu. "Ich beiße nicht." Vorsichtig schlich Hans an der Wand entlang zum Aufzug. "Es ist sicher hier," bemerkte sie trocken. "Keine Bullen, keine Wanzen." Die Fahrstuhltür öffnete sich. Hansi sprang schnell hinter ihr her in die Kabine. Was hatte er sonst schon für eine Wahl? Er hatte sich da draußen ohne Zweifel verirrt. Allein, mitten im feindlichen Gebiet, war er echt Scheiße dran. Wenn er länger auf den leeren Straßen herumlaufen würde, würden ihn früher oder später die Bullen oder die von der Gemeinen Staatspolizei, einem berüchtigten Sondereinsatzkommando, festnageln. "Netter Tag heute, was?" fing die Frau an loszuplaudern. "Ich bin gestern meinen Lippenstift losgeworden und heute meine Karriere. In den nächsten Tagen wollte ich eh in die Autonome Republik übersiedeln. Ich hab die Schnauze voll von hier. Ich schieb was in die Mikrowelle, dann können wir essen und du kannst mir von drüben erzählen." Der Aufzug hielt an, im achtzigten Stockwerk, wie Hansi mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination feststellte. Sie traten hinaus. "Ich heiße übrigens Sezana," sagte sie, während sie den Gang entlang zu ihrer Wohnungstür liefen. "Und wer bist du?"
"Ich bin der Hans," antwortete er noch immer fast flüsternd. Sie schloß die hochsichere Wohnungstür auf. "Willkommen in meinem bourgeoisen Schweineapartment," sagte sie. Sie gingen durch einen überdimensionalen Korridor. An dessen Ende traten sie in ein Wohnzimmer, das Hansi in seinen Ausmaßen an die Halle erinnerte, wo die wöchentlichen Plenen stattfanden. An einem Ende war ein schmaler Tresen, hinter dem sich die Küchenecke befand. Das Zimmer war enorm teuer und geschmackvoll eingerichtet: Eine Sitzecke mitten im Raum mit vier geschwungenen Chromstühlen mit schmalen Lederpolstern um eine flache Spiegelsäule herum, von der eine Pflanze die Ranken herunterließ, beleuchtet von einem in die Decke integrierten Halogenstrahler. Es gab am anderen Ende noch eine Sitzecke aus schwarzen, ausgefallen gestylten Ledermöbeln, einen Schrank mit Türen aus verchromten Jalousien, einen Flügel aus weißem Schleiflack, auf dem eine schwarze Rose stand, mehrere TV-Projektionswände und vier gigantische Lautsprecherboxen, die Hansi als Einziges hätte mitgehen lassen. Vor den beiden riesigen Fenstern an jeder Seite des Raums standen diverse, große Pflanzen, die sich offensichtlich über das viele Licht zu freuen schienen. In Hansis WG-Küche überlebten nur Kakteen. Etwa in der Mitte führte eine Treppe auf eine Galerie, von der offenbar die oberen Zimmer abgingen. In der Autonomen Republik wohnten in so einer Höhle mindestens zwanzig Leute, dachte Hansi grollend. "Wohnst du hier alleine?" rief er Sezana nach, die in die Kochecke gegangen war. "Ab und zu wohnt eine Freundin hier oder Leute, die mich für ein paar Tage besuchen. Und gelegentlich schlafen hier Leute nach den Parties," rief sie lachend zurück. "Was willst du futtern? Ich hab eine Menge im Gefrierschrank." "Dekadent," dachte Hansi angewidert. In der Autonomen Republik ernährte man sich hauptsächlich von Bier. Sezana holte zwei in Aluminium verpackte Gerichte und schob sie in die Mikrowelle. Dann ging sie zur Bar in der Nähe der Sitzecke aus Leder und fragte: "Willst du auch einen Worschtsch?" fragte sie (das war der Nationalcocktail eines minderrassigen Volkes der südöstlichen Provinzen). "Bier tut's auch," antwortete Hansi und versuchte, ruhig zu bleiben. Sie fing an, ihren Drink zu mixen und warf ihm zwischendurch eine Bierbüchse rüber. "Mach's dir bequem," sagte sie, während auf der riesigen Terrasse vor einem der Panoramafenster eine Wolke landete. Auf der Wolke saß eine schwarze Katze und schaute neugierig herüber. Hansi leerte die Bierdose in einem Zug, um wieder klarer denken zu können. Dann schaute er wieder durch das Fenster. Die Wolke war immer noch da. Sie hatte mittlerweile aufgesetzt, und die Katze trappelte herunter. Sie setzte sich vor eine der Fenstertüren und miaute. "Wie süß!" rief Sezana, schüttete ihren Cocktail aus dem Shaker in ein breites Sektglas und ging, um die Tür zu öffnen. Die Katze kam herein und rieb ihren Kopf an Sezanas Bein. Dann miaute sie nochmal, wobei sie versuchte, dem Laut einen erkennbar hungrigen Ton zu geben. Sezana ging in die Küche und tat noch eine Portion Hackfleisch in die Mikrowelle. Die Katze, die ihr gefolgt war, schaute sie anerkennend an. Sezana beugte sich herunter und streichelte die Katze.
"Da hast du aber ein nettes Flugzeug mitgebracht," sagte sie zu ihr. "Weißt du auch, wie man damit fliegt?" Die Katze fand die Frage ziemlich blöd. "Natürlich nicht, Wolken fliegen immer von alleine, wußtest du das nicht?" antwortete sie beleidigt. Hansi nahm zwar ab und zu einen Trip, aber das hier ging entschieden zu weit. Er nahm sich noch ein Bier aus dem Kühlschrank der Bar und trank es auf Ex. "Alkohol schädigt das Nervensystem," bemerkte die Katze dazu, während sie sich zu ihm hindrehte. Hansi beschloß, den Flashback zu genießen und meinte: "Du hältst das Maul, verstanden?" Beleidigt wandte sich die Katze ab und schaute wieder herauf zum Gott dieses Moments, dem Mikrowellenherd. "Ist ja gleich aufgetaut," sagte Sezana. Hansi nahm sich noch eine Bierbüchse und ging auf die Terasse, um die Wolke zu inspizieren. Wenigstens war das kein nazistisches Schweinetechnologie-Machwerk, dafür gab es zuwenig geometrische Formen und vor allem keine rechten Winkel (offizielle Bezeichnung: Reinrassige Rechte Winkel, RRW). "UFOs werden also von Katzen gesteuert," murmelte Hansi vor sich hin und grinste. Die Leute vom Büro für Außerirdische Kontakte in der Republik wären begeistert. Er befühlte das Material. Es fühlte sich ganz genauso an wie etwas, das Hansi sich nicht einmal vorstellen konnte. Eigentlich sah das Ding aus wie eine gewöhnliche, kleine Wolke, nur daß gewöhnliche, kleine Wolken gewöhnlich keine Sitzkuhlen auf der Oberfläche haben, ganz abgesehen von so etwas wie Bildschirmen und Tastaturen. "Allerdings hab ich noch nie eine Wolke von oben gesehen," dachte er. Er setzte sich in eine der Mulden und drückte auf einen Knopf. Sanft hob die Wolke ab. Erschreckt drückte Hansi auf einen anderen Knopf. Trip hin, Trip her, das ging ihm jetzt zu schnell. Ein Gesicht erschien auf dem Monitor und fragte: "Wollen Sie wirklich wieder landen? Wenn ja, tippen Sie bitte auf meine Stirn." Dort erschienen jetzt die Worte "Start abbrechen?" während das Gesicht verblaßte. Hastig berührte er die Mattscheibe. Sanft und leise setzte die Wolke daraufhin wieder auf. Die Leute vom Forum gegen stinkende Schweineautos wären begeistert. Sezana stand in der Terassentür. Lachend sagte sie: "Heißer Schlitten, was?" "Das Ding hat noch ein paar kleinere technische Mängel," die Katze lief nach draußen. "Aber das hier ist schließlich ein Prototyp, den mein Mensch für eine Probefahrt ausgeliehen bekommen hat. Ab und zu fallen Leute raus." "Gibt's denn keine Sicherheitsgurte?" fragte Sezana. "Klar doch, aber mein Mensch war zu blöde, sie zu finden, und ich wollte mich nicht in seine Angelegenheiten einmischen. Ich war angeschnallt." Hansi, dem die wackeligsten Szeneschleudern keinen Respekt einflößen konnten, beschloß insgeheim, sich beim nächsten Flug auch anzuschnallen. "Wo ist dein Mensch?" fragte Sezana. "Ich sagte doch, ab und zu fallen Leute raus, die sich nicht angeschnallt haben.
Aber er ist okay. Plumpste durch eine Reihe grüner Ringe, die in der Luft aufgehängt waren, direkt in das Horrorszenario eines futuristischen Videospiels." "Alles klar," kommentierte Hansi. "Ich hab ihn leider aus den Augen verloren, als der blaue Schatten anfing, die Sterne einzusammeln." Die Mikrowelle gab einen dezenten Ton von sich. "Laßt uns was futtern, dann machen wir einen kleinen Flug," schlug die Katze, plötzlich ganz lebhaft, vor. "Ich habe seit dem Ende unserer Zeit nichts mehr gegessen." Jetzt merkte Hansi, daß er noch nicht gefrühstückt hatte (von dem Bier mal abgesehen). Er und die Katze hatten offensichtlich gewettet, wer als erster fertig wäre, und schmatzten im Duett. Nach einem weiteren Bier beziehungsweise einer Schale Milch ("Stärkt ganz außerordentlich die Spannkraft," bemerkte die Katze. "Halt's Maul," bemerkte Hansi) hatte auch Sezana aufgegessen. Sie gingen auf die Terrasse. "Sag mal, sollte ich die Tür verriegeln? Ich meine, gibt es noch mehr von diesen Wolken?" fragte Sezana die Katze. "Hör mal, das ist ein Prototyp fürs ganze Universum," sagte die Katze stolz. "Moment, ich hab noch was vergessen!" rief Hans, als sie schon saßen. Kurze Zeit später kam er mit so vielen Bierbüchsen, wie er tragen konnte, aus der Wohnung zurück. "Du bist vielleicht doof," meinte die Katze. "Schau mal in den Kofferraum!" Lässig lehnte sie sich zurück und tippte auf eine Art Deckel, der sich daraufhin hob. Dort stand ein großer Kasten Gins. Hansi warf die meisten Bierbüchsen dazu. Der Deckel schloß sich wieder. Die Katze zeigte ihnen die Sicherheitsgurte. Dann tippte sie mit einer Kralle auf einen Knopf (das sah ziemlich elegant aus) und sie hoben ab. Enorm schnell waren sie über den wenigen Nachmittagswolken über dem Himmel von Germania, und Hansi konnte sich davon überzeugen, daß gewöhnliche Wolken keine Sitzmulden und sonstiges Zeug auf ihrer Oberfläche haben. Plötzlich war der Himmel über ihnen schwarz. Unter ihnen lag eine große, bunte Murmel, die zusehends kleiner wurde. "Wow!" sagte Hansi. Also doch Außerirdische Kontakte. "Wohin geht der Flug?" "Nach Alpha Centauri," sagte die Katze. "Das ist ganz in der Nähe. Übrigens gibt's da gut was zu saufen," fügte sie mit einem ironischen Unterton hinzu. "Das Zeug im Kofferraum ist auch von da. Ich habe es bei der letzten Landung dort mitgenommen, für meinen Menschen, wenn ich ihn wiederfinde. Aber meinetwegen könnt ihr euch bedienen." Hansi nahm sich eine Flasche, Sezana auch. Das Zeug schmeckte einigermaßen furchtbar bitter, fand er. Es schien zwar gut zu törnen, aber er bezweifelte, ob er davon so viel wie vom guten Penns würde trinken können,
dem Nationalgetränk der Autonomen Republik Kreuzweise. Nach drei weiteren Gins (einem halben auf Sezanas Seite, sie fand das Zeug unerträglich und mußte erst mal ein Bier nachspülen, um den Geschmack loszuwerden), währenddessen sie eine sternendurchfunkelte Finsternis durchquert hatten, näherten sie sich zwei hellen Sternen, die dicht beieinander standen. "Alpha Centauri," sagte die Katze und streckte eine Pfote nach vorn. "Noch ein Bier bis zur Landung."
Zurück zur Ebene 10 Boko und Jeer probierten zum ersten Mal in ihrer derzeitigen Daseinsform aus, wie es ist zu hüpfen. Sej schaute sich in der merkwürdigen Landschaft um: Außer dem großen, alten Haus, dessen Keller sie gerade verlassen hatten, gab es praktisch nichts hier. In der unmittelbaren Umgebung lag etwas Müll herum, Stücke von Hausfassaden, zerbrochene Möbel. Plastikbahnen, die herumlagen, flatterten in einer leichten Nachtbrise. "Datenschrott," sagte Percy und kam zu Sej herüber. "Wo sind wir hier?" fragte ihn Sej. "Ich nehme an, die Programmierer haben sich irgendeinen Asteroiden mit Lufthülle genommen. Höchstwahrscheinlich Ebene 9." "Ebene 9?" "Ach herrje," meinte Boko, der zu ihnen herübergehüpft war. "Das ist wohl das erste Mal, daß du deine Ebene verlassen hast." "Ich glaube, ja," antwortete Sej. "Dann werde ich dir das Konzept der Ebenen mal ein bißchen erläutern, Landratte." Boko setzte sich. Sej nahm sich ein leeres Faß und setzte sich ebenfalls. "Die Ebenen wurden eigentlich nur erfunden, um die Sache etwas übersichtlicher zu machen," fuhr Boko fort. "Am Anfang gab es nur das Chaos und ein paar grüne Monster, die ständig rülpsten. Dadurch entstand die Materie. Kannst du mir folgen?" "Das hört sich einfacher an, als es mir im Physikunterricht in der Schule erzählt wurde," meinte Sej. "Nun, die grünen Monster starben bald aus, und der Prozeß der Materieentstehung verselbständigte sich. Ständig entsteht überall im Weltraum neue Materie, und manche Plätze sind geradezu berüchtigt dafür, daß man dort mit einem Stein im Bauch aufwachen kann." "Hey, man hat mir erzählt, daß alle Materie beim Urknall entstand und daß seitdem nichts dazugekommen ist." "Quatsch. Nun hör mal zu. Das Märchen vom Urknall erzählen eine Menge Leute, einfach, weil es ziemlich praktisch ist. Es erklärt fast alles, und wenn man
viel wissen und erklären will, aber nur recht wenig Gehirn dafür zur Verfügung hat, wie du zum Beispiel ...," "Danke," bemerkte Sej, "... ist es sogar beinahe intelligent, von einer solchen Theorie auszugehen," fuhr Boko ungerührt fort. "Wie du vielleicht weißt, gibt es auf deiner Ebene einige Milliarden Galaxien, jede mit einigen Milliarden Sonnen, von denen fast jede ein paar Dutzend Planeten hat. Für dich erscheint so etwas schon unvorstellbar groß. Dann kam so ein Typ, den ihr Gott nennt, und der fand das Ganze sogar für ihn zu unhandlich. Also bestach er ein paar Programmierer (die heute auf Ebene 5 leben, oder lebten, wenn ich den blauen Schatten richtig verstanden habe) und machte sich daran, das Ganze aufzuteilen. Das Schema der Aufteilung ist übrigens simpel. Sogar welche deiner Rasse haben es herausgefunden. Sie nennen es den Baum des Lebens." "Davon habe ich gehört. Das hat wohl was mit Tarot zu tun," meinte Sej. "Soweit mir bekannt, wurden sie dafür verbrannt oder sowas Ekliges. Ihr habt ja allgemein eine seltsame Art, euren Leuten für Wissensvermittlung zu danken. Nun ja, es dauerte nach eurer Zeitrechnung einige Jahrmilliarden, bis die Programmierung fertig war. Dann wurde ein gigantischer Reset gemacht, und die Zeit fing wieder bei Null an." "Wow!" Sej dachte an seinen mickrigen Apple Macintosh, der in seinem Zimmer stand. "Erzähl mir was von den Ebenen." "Die Ebenen. Gut. Deine Ebene hat die Nummer 10. Wegen ihrer Größe hat man sie noch in 10a, 10b usw. unterteilt, aber das ist nur räumlicher Natur. Gott soll ernsthaft daran gedacht haben, noch eine elfte Ebene einzuführen, aber, wie die Gerüchteküche sagt, gab es da Ärger mit den Ebene 5-Programmierern. Die hatten angeblich schon eine Ebene 11 gebastelt, als Schrottplatz sozusagen. Wenn ich an die Sachen denke, die da rumlaufen sollen, wird mir übel. Du würdest wahrscheinlich auf der Stelle tot umfallen. Apropos tot. Der Tod ist auf deiner Ebene eine ziemlich übliche Erscheinung. In Wahrheit ist er nicht mehr als ein Trick, um auf die anderen Ebenen überzuwechseln, wie wir eben alle so unsere Tricks draufhaben." Boko grinste (das sieht bei einem Känguruh ziemlich dämlich aus). "Außerdem sind dort die Möglichkeiten recht eingeschränkt. Vorhin, als ich in die Trockenform überwechselte, mußte ich mich aufteilen, weil ein einziges Känguruh meiner vorherigen Größe statisch nicht stabil genug gewesen wäre." "Heißt das, wir befinden uns jetzt auf Ebene 10?" "Nein, nein, Percy hat schon richtig geraten, das hier ist Ebene 9. Auch nicht viel besser. Aber laß mich fortfahren. Ebene 9. Hmm. Das ist, wohin ihr geht, wenn ihr sterbt. Hier tummeln sich auch all eure Ideen, soweit sie auf Ebene 10 nicht verwirklicht werden konnten. Siehst du, wenn auf Ebene 10 eine Lebensform einen Gedanken hat und ihn wieder verwirft, lebt er hier eigenständig weiter. Also gibt es logischerweise eine Menge Utopien und Unmöglichkeiten auf dieser Ebene. Um deinem Gehirn ein plastisches Beispiel zu geben: Hier existiert ein linkes Szenegetto direkt neben einem totalitären, faschistischen Staat. Beide sind übrigens ein Gedankenprodukt deiner Rasse. Die Zeit ist hier lediglich eine
normale Dimension, durch die die Bewohner der Ebene 9 gehen wie du durch die drei normalen Dimensionen deiner Ebene. Auf Ebene 8 tummeln sich hauptsächlich Hilfsgötter, Engel und Besessene und quatschen die ganze Zeit herum. Das wäre ein idealer Platz für die Leute, die du Philosophen nennen würdest. Hier spielt die Zeit nur insofern eine Rolle, als daß alle ständig in Eile sind, um von einem Interviewtermin zur nächsten Talkshow zu kommen. Ebene 7 ist für die Freaks, die ohne Streit nicht auskommen. Wenn es dir Spaß macht, andauernd Sachen und Leute kaputtzuschlagen, bist du hier richtig. Ich habe manchmal den Eindruck, deine Rasse versucht so eine Art Parodie der siebenten Ebene darzustellen. Ebene 6 - ach! Ebene 6! Schönheit in Reinform, Klarheit, Weisheit ..." Boko verstummte für einen Moment, während ein verzücktes Lächeln über sein Gesicht schlich. "Kann ich euch mal unterbrechen?" fragte Jeer, der herbeigehüpft war. "Schaut mal zu dem Haus hinüber." Boko und Sej sahen hin. Die Fassade war verschwunden, so daß man jetzt ins Innere sehen konnte. Sej plumpste auf den Boden, als das Faß unter ihm verschwand. Das Haus löste sich zusehends auf. "Laßt uns hier verschwinden!" rief Percy, während er auf sie zurannte. "Der verdammte Horizont kommt immer näher. Bald werden wir hier auf nichts als unseren Ärschen sitzen können." "Hast du einen Zeit-Emulator dabei?" fragte ihn Jeer. "Oder wenigstens ein Raumschiff?" "Ich finde nicht einmal mehr meine Redisc," brummte Percy. "Dann sieht es schlecht aus für unser Weiterbestehen," meinte Boko. "Laßt uns beten," sagte Jeer lakonisch. Er lachte. Dann nahm er etwas aus seinem Bauchbeutel, das wie ein kleiner Porzellanhund aussah. "Rahorkhuit," erklärte er. "Den hab ich immer dabei. Seid mir dankbar. Nehmen wir die Minderintelligenzen mit?" frage er Boko. "Klar doch. Ich muß dem einen noch die Theorie von den Ebenen zuende erläutern." "Schwafelkopf," meinte Jeer. "Egal, gebt eure Patschpfötchen her. Wir reisen kurz zurück in die zehnte Ebene. Ich muß da noch was abholen." Während der Asteroid unter ihnen ins Nichts wegbröselte, legten sich Hände in Pfoten, und plötzlich umgab sie nur noch Schwärze. Kein Stern war mehr zu sehen; dennoch konnten sie sich merkwürdigerweise noch erkennen: Eine Reihe von Figuren, die sich anfaßten, vorn zwei überdimensionierte Känguruhs, hinten zwei Menschen. Gott, der ja bekanntlich alles sieht, lachte bei dem Anblick derart, daß er das Schachspiel umwarf. "Scheiße!" fluchte Jesus. "Ich war am Gewinnen!" "Wohin fliegen wir?" wollte Sej wissen. "Wir fliegen zwar nicht, aber um dir zu erklären, was wir gerade tun, habe ich nicht genug Zeit bis zu unserer Ankunft," antwortete Boko.
"Und wo werden wir ankommen?" versuchte Sej es erneut. Boko grinste. "Das ist ganz in der Nähe von dort, wo du herkommst. Ihr nennt den Platz Alpha Centauri."
Planet der Hunde, Planet der Katzen Die Zusammensetzung des Erbguts der Caniden von Zeta II Centauri füllt mehrere Bibliotheken auf ihrem Planeten. Leo Galoppi war da keine Ausnahme. Von der Seite sah er wirklich aus wie ein Hund, aber von vorn betrachtet hätte er auch als Humanoider mit Gasmaske durchgehen können. Sein Fell war dünn und extrem glatt, so daß es auf den ersten Blick wie eine dunkle, streifige Haut aussah. Von hinten sah er in seinem traditionellen Kimono am ehesten noch einem Tiger im Abendkleid ähnlich. Leo Galoppi lehnte sich zurück und knurrte leise. Das bedeutete: 1. Ich fühle mich wohl. 2. Wer sich keinen Ärger holen will, sollte mich nicht dabei stören. Leo saß auf einem großen, schwarzen Divan in seinem dunkel getäfelten Büro. Durch die großen Fenster an der Seite konnte er Huttington im Abendlicht sehen. Das war nichts Besonderes: Die Hauptstadt von Canistan war immer in die letzten Strahlen der Abendsonne getaucht. Wollte man einen der Monde von Zeta II aufgehen sehen, mußte man ein paar hundert Kilometer nach Norden reisen. Nur alle paar Hundejahre stand Draculix, der größte Satellit des Planeten, fast direkt über der Stadt. Das war die Zeit der großen Feste, bei denen Huttington regelmäßig bis auf die Grundmauern zerstört wurde. Das erste Fest hieß Haul. Es begann, wenn Draculix zum ersten Mal im Norden gesichtet wurde. Der Satellit war dann noch eine bloße Sichel, fast völlig verdeckt vom Schatten des Planeten. Haul dauerte ein paar Abende (es war ja schließlich immer Abend), dann folgten Wau, Tschau und schließlich Miau. Miau, oder Der Große Katzenjammer, war eigentlich schon kein richtiges Fest mehr. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war allen klar geworden, daß Huttington wieder neu aufgebaut werden mußte. Während der vergangenen Doppeljahrhunderte (Alpha Centauri ist ein Doppelsternsystem, also gibt es dort keine einfachen Jahrhunderte) hatte es einige lustlose Versuche gegeben, die explosive Stimmung der Feste etwas zu drosseln, aber mangels Erfolg gab es schon lange keinen mehr, der so etwas versuchte. Die Bewohner von Huttington waren fast allesamt bunte Hunde, die die meiste Zeit damit verbrachten, zu spielen und das Fleisch des Alkalix zu essen, einer Tierart, die sich von den psychodelischen Algarven der südlichen Sumpfgebiete von Zeta II ernährt. Der Alkalix ist immer gut drauf, sogar, wenn er geschlachtet wird. Durch die Rückstände der Algarven im Fleisch des Alkalix sind auch die Caniden von Huttington immer gut drauf, so gut in der Tat, daß sie ein Katzengetto am Rande der Stadt dulden. Die Katzen wiederum sind auch immer gut drauf, weil sie sich auf die Reste der Mahlzeiten der Caniden spezialisiert haben, um die sie regelmäßig vor den großen Restaurants der Stadt betteln. Huttington ist eine ungewöhnliche Stadt. Niemandem von den Caniden würde es einfallen zu arbeiten, weil dazu neben spielen, essen, schlafen und beischlafen einfach keine Zeit bleibt. Die Katzenartigen müssen betteln und essen, schlafen, beischlafen und spielen (in dieser Rangordnung). Dennoch sieht Huttington (die Zeit der großen Feste mal ausgenommen) immer nett und aufgeräumt aus. Wie kommt es dazu? Nun, unter der Stadt und in den dunklen Winkeln und Gassen wohnen zwei Arten, die immer mies drauf sind, weil
sie das Fleisch des Alkalix nicht vertragen: Die Grauen Mäuse und die Wandernden Mauerblumen. Diese beiden Arten halten verbissen die Infrastruktur von Huttington in Schuß und sorgen für Sauberkeit und Ordnung. Wenn sie mal Feierabend haben (was selten, eigentlich nur zur Zeit der großen Feste vorkommt) sitzen sie beieinander in kalten, ungemütlichen Räumen und beklagen sich bitter über Unmoral, Faulheit und Dekadenz der großen Bewohner der Stadt. Sie glauben fest an einen rachsüchtigen, barbarischen Gott, der in ihren Tempeln als hundeköpfig dargestellt wird. Dieser Gott schickte ihnen einst durch ein unbescholtenes Mauerblümchen eine Große Graue Maus, die ziemlich viel Stuß erzählte und ziemlich jämmerlich endete. Dieser Stuß wird regelmäßig in den Tempeln des hundeartigen Gottes rezitiert und bringt Mäuse und Mauerblumen dazu, so hart zu arbeiten. Einige Caniden kennen die wahren Hintergründe der Geschichte des Unbescholtenen Mauerblümchens, aber sie haben gute Gründe, sie nicht zu verbreiten. Um die Sache perfekt zu machen, verirren sich ständig große Herden von Alkalixen aus dem Süden in die Schlachthäuser von Huttington, die vollautomatisiert sind. Einige clevere Schweineartige von den Sumpfplaneten des äußeren Gürtels von Alpha Centauri machen in den vielen Restaurants der Stadt ein Bombengeschäft damit, die Fleischhappen adrett in Freßnäpfen zu plazieren. Woher das Geld kommt, mit dem die Caniden bezahlen, ist niemandem klar. Wahrscheinlich wird es irgendwo gedruckt. Wie auch immer, Altpapier hat auf den Sumpfplaneten einen äußerst hohen Handelswert, und das erklärt vielleicht manches. Die PIGasten essen kein Alkalix-Fleisch, dafür saufen sie wie die Schweine. Ihr Lieblingsgetränk ist Gins, das es auf allen Planeten reichlich gibt. Leo Galoppi knurrte noch einmal leise. Es war der Vorabend des Haul-Festes.
Das beste Bier des Universums Ian sah durch das halbgeöffnete Autofenster hinaus. In der Ferne konnte er die sanften Hügel des Königsharns erkennen, jenes Mittelgebirgsmassivs, das die Ebene überragte, in der er das letzte Jahr seines Lebens verbracht hatte. "Meines Lebens?" murmelte er vor sich hin. "Wie meinen?" fragte ihn Paul, der neben ihm auf der Rückbank des Autos saß, wenn dieser Schlitten auch ein bißchen mehr als ein Auto zu sein schien. Der Fahrer saß auf dem einzigen Vordersitz, der in der Mitte montiert war, und pfiff vor sich hin. Paul kramte ein Päckchen Zigaretten hervor. Er bot Ian eine an. Als Ian sie sich nehmen wollte, wurden beide dermaßen nach links geschleudert, daß sie eine Weile förmlich aneinander klebten. Der Wagen war im rechten Winkel in einen Feldweg eingebogen, ohne im mindesten die Geschwindigkeit zu reduzieren. Jetzt rasten sie mit gleichem Tempo auf den Treckerspuren entlang. Der Wagen ratterte und klapperte, daß es eine Freude war, aber den Fahrer schien das nicht zu stören. Plötzlich hörte das Rattern auf. Die Geschwindigkeit schien noch weiter zuzunehmen, denn diesmal wurden die beiden Freunde ziemlich fest in die Polster gedrückt. Als Ian wieder hinausschaute, sah er immer noch den Königsharn und die Lichter der kleinen Stadt davor. Beides bewegte sich sacht nach unten. "You can unfasten the seat belts now," sagte der Fahrer und drehte sich nach hinten. Dazu fiel selbst Ian kein cooler Kommentar mehr ein.
"Was ist das - ein Flugzeug?" fragte er stotternd. Der Fahrer lachte. "Ich hab ein kleines Klappflugzeug im Kofferraum. Ich leihe es dir, wenn wir angekommen sind." "Wo angekommen?" fragte jetzt Paul. "Wohin wolltet ihr denn?" gab der Fahrer zurück. Er zündete sich eine Zigarette an und bot den beiden welche an. "Alpha Centauri," sagte Paul kaum vernehmbar. "Ihr wart noch nie dort, nehme ich an," plauderte der Fahrer weiter. "Ich bin ziemlich oft dort. Geschäfte. Den Leuten da kann man fast alles verkaufen. Ich verticke hauptsächlich Steuerungssoftware für die Schlachtautomaten auf Zeta II." "Schlachtautomaten?" fragte Ian fassungslos. Er war Vegetarier. "Yeah. Irgend so ein Trottel in meiner Firma hat in das letze Update eine kleine Besonderheit reinprogrammiert. Es dreht diesen Viechern die Hörner aus dem Kopf, bevor sie gekillt werden. Die Alkalixe finden das gut, aber die Caniden meinen, es sei unhündisch. Wie auch immer, Business ist Business. Jedenfalls freue ich mich schon auf ein schönes, kühles Gins." "Sagtest du Guiness?" unterbrach ihn Ian, der bei dem letzten Wort plötzlich seine Fassung wiedergewonnen hatte. Der Vollmond beleuchtete unwirklich die Gipfel des Königsharns, die unter ihnen zu verschwinden begannen. "Gins, Junge, ist fast dasselbe. Nur viel besser," sagte der Fahrer. "Guckt mal hinter die Rücklehne. Da sollten noch ein paar Flaschen sein." Ganz weit weg hob sich die Silhouette der Alten Berge vom hellen VollmondNachthimmel ab. Wenig später waren auch diese verschwunden, und um sie herum gab es nur noch Sterne, Millionen und Milliarden davon, die sich so klar von der umgebenden Finsternis abhoben, als hätte jemand mit einer Stecknadel Löcher in ein schwarzes Papier gestochen, hinter dem eine gleißende Lichtquelle war. Ian war bis in die Tiefen seiner Seele erschüttert von dem Anblick. Paul war bis in die Tiefen seiner Seele erschüttert. Der Fahrer sagte: "Könntest du mir bitte auch eine rüberreichen?" "Äh - was - was soll ich dir rüberreichen?" fragte ihn Ian eine ziemliche Weile später. "Ein Gins, Baby. Ist zwar schätzungsweise recht warm, aber was soll's. Noch dreieinhalb Stunden bis Alpha Centauri. Und hier auf dem Schleichweg gibt's eh keine Alkoholkontrollen." Schließlich schaffte es Ian, sich von dem Anblick loszureißen, und drehte sich um. Der Wagen war ein Kombi, nur die Rückscheibe war so weit entfernt, daß man eher an einen Lastwagen dachte. Durch sie hindurch konnte Ian eine große, weißblaue Murmel sehen, die immer kleiner wurde. "Der Heimatplanet," sagte Paul ehrfurchtsvoll, der sich ebenfalls umgedreht hatte. Erst als die Murmel so klein geworden war, daß man sie von den anderen
Sternen kaum noch unterscheiden konnte, begannen sie, nach dem Bier zu wühlen. Der Kofferraum war ein unüberschaubares Chaos. Überall lagen flache Dinger rum, die nach Pauls Einschätzung wohl Disketten sein mußten. Dazwischen ein offener Koffer, aus dem Kleidung hervorquoll. Jede Menge Tüten von Kartoffelchips und Gummibärchen, Magnetbänder, Cassetten, ein Haufen unidentifizierbarer Kleinkram. Und viele, viele Flaschen mit merkwürdigen Etiketten, von der Form gar nicht zu reden: utopisch. Sie fanden drei Flaschen Gins (das mußte es ja wohl sein) und reichten dem Fahrer eine rüber. Der ploppte den Verschluß auf und nahm erst mal einen kräftigen Schluck. Dann plauderte er weiter: "Woher kommt ihr eigentlich? Ich hätte beinahe gedacht, ihr wärt Erdlinge, aber du - " er deutete auf Paul " - bist sicher von Oropax Minor, was? Na, richtig geraten?" "Prost!" sagte Ian, um die peinliche Stille zu unterbrechen. Dann dachte er sich "Angriff ist die beste Verteidigung" und sagte: "Hast du was gegen Erdlinge?" "Ach Quatsch," meinte der Fahrer. "Verdammt gute Konsumenten. Da werde ich wenigsten den ganzen Schrott los, und die sind sogar noch richtig dankbar dafür. AutoCad-Programme, Tastatur-Schreibprogramme, stellt euch das vor!" Er lachte. "Ich komme von Ökon. Ökon wie Ökonomie, nicht Ökologie!" Er lachte wieder. Dann wurde er plötzlich nachdenklich. "Ökon, ach Ökon, mögen deine Münzpressen nie stillstehen!" sagte er salbungsvoll. "Ich war seit über drei Hauptversammlungen nicht mehr zuhause," fügte er hinzu. "Wo liegt Ökon?" fragte ihn Paul. "Kennst du Aldebaran?" fragte der Fahrer zurück. In seiner Stimme lag ein spöttischer Unterton. "Na klar," meinte Paul, und das war noch nicht mal gelogen. In seinem Schulatlas hatte er den Namen umkringelt, weil er ihm so gut gefallen hatte. "Ökon ist der zweite oder dritte Planet, je nach Jahreszeit." "Ach so," bemerkte Paul. "Mein Name ist Wolstriet van Geldern, meine Freunde nennen mich Wolli." "Ich heiße Paul, meine Freunde nennen mich Paul," sagte Paul und nahm einen Schluck Gins. Es schmeckte tatsächlich vorzüglich. Ian hatte bereits die halbe Flasche geleert. Er war fasziniert. Konnte es wirklich wahr sein, daß es irgendwo im Universum etwas gab, das besser als Guinness war? Nachdem auch er sich vorgestellt hatte, wandte er sich an Paul. "Sag mir, daß ich träume. Das Zeug hier schmeckt besser als Guinness." "Und du hattest sogar Bedenken, nach Griechenstrand zu fahren," gab Paul zurück.
"Jaja, Qualität ist auf lange Sicht immer das beste Rezept," meinte Wolli dazu. "Die Leute von Met, das sind ganz gerissene Burschen, kann ich euch sagen. Nach außen immer: Tradition, alles ganz bieder und seriös. Mimen noch einen auf Handwerk und Handwerkerstolz. Weigern sich seit Doppeljahrhunderten, auf automatische Fertigung umzusteigen. Keine Computer, sagen sie jedenfalls. Alles Handarbeit! Bei den Mengen, daß ich nicht lache!" Er lachte. "Zuhause haben sie wahrscheinlich platinbeschichtetes Klopapier, die Gauner!" Draußen funkelten die Sterne in ihrer immerwährenden Pracht. Andachtsvoll gab Paul seinem Gins den Rest. Und so flogen sie dahin, zwei Bewohner eines bewohnbaren, bewohnten Planeten des Sol-Systems und ein Geschäftsmann eines geschäftigen, geschäftemachenden Planeten von Aldebaran. Und nach der dritten Flasche waren sie sich einig, daß das Universum eigentlich eine tolle Erfindung sei und daß man eigentlich froh sein müsse darüber, daß ein mittelgroßer Planet es schaffe, eine ganze Galaxis mit einem der besten Getränke des Universums zu versorgen. "Noch zwei Stunden bis zur Landung auf Zeta II," sagte Wolli. "Reicht mir mal noch eins rüber."
Zuviel vom besten Bier des Universums "Es geschähen älß die märkwyrdikksten Dingers ins däm Üniversumm," beginnt Vers E/0815 des Großen Brimboriums. Und märkwyrdikk ist es in der Tat, was hier berichtet wird. Der edle Symbolicus hielt einst an auf dem Planeten Met, um seine edlen Pferde in den Abwässergräben des Planeten zu ertränken. Richtig, nicht tränken: Diese Huftiere kommen erst richtig auf Trab, wenn sie tot sind. Während er also das erste Tier in die stinkende Brühe zog, kam ein Bewohner des Planeten auf ihn zu und fragte: "Sygg, Schlychtyr, wyllst knymmst dyr yff yhn Gynns?" Der edle Symbolicus antwortete: "Sydynn, yls dy ych sywysy dyrstyg sy, wyrymm dynn nycht?" "Syhy, wyr fyyyrn yn Fyst, syyst dy ylsy yngylyden." Damit der Sinn der Unterhaltung Leuten, die Mytylynysysch nicht beherrschen, nicht verborgen bleibt, hier die Übersetzung in Kurzform: "Komm rüber einen saufen!" So ließ der edle Symbolicus ab von seinem Tun und ging einen saufen. Die Herstellung von Gins befand sich damals noch in einer Testphase, muß man wissen. Mit einem von Zeta II ausgeborgten, völlig ausgelutschten Interplanetargleiter hatten sich verwegene, rothaarige Bewohner des Planeten Met auf den Weg zum nahegelegenen Sol-System gemacht und waren tatsächlich mit einem geheimnisvollen Rezept zurückgekehrt. Es hatte bei den ersten Versuchen, den Saft zu brauen, einige Märtyrer das Leben gekostet, als die altertümlichen Dampfkessel explodierten. Der edle Symbolicus war pünktlich zum ersten Anstich angekommen. ("Zufall, Zufall!" spotteten die Mineralgötter später.) Das Große Brimborium bemerkt dazu: "Älß da ess kain Zufall gybt, müsse der edle Symbolicus wohl seyn gewesen eyn Säufer." Der edle Symbolicus feierte heftigst mit den Bewohnern von Met. Danach fiel er in einen tiefen Schlaf. Da träumte ihm, daß ein Yuppie käme und ihm das edle Gespann stähle. Symbolicus war erschrocken wie nie zuvor, doch er war auch so betrunken wie nie zuvor, und schlief weiter. Er wurde geweckt durch eine Stimme, die aus dem Himmel über Met zu ihm rief: "Hyhy, jytzt yst dyn Rysch vyrby ynd ych hyby nych ymmyr dyny Pfyrdy!" Dort oben stand ein smarter, blonder Jüngling in seinem Streitwagen und ließ sich von den edlen Pferden des Symbolicus durch die Lüfte ziehen. "Schöne Grüße von Yuppieter!" rief der Jüngling und warf einen Blitz herunter. Der edle Symbolicus konnte fluchen wie er wollte, es blieb ihm nichts anderes
übrig, als anderweitig nach hause zu fahren. "Pärr Annhaltär," schließt Vers E/0815 des Großen Brimboriums verächtlich.
Fraktal aber fluppig Sanft schwebte die Wolke auf die große Hochebene herab. "Das Platt-Platt-Plateau," sagte die Katze und drückte einen Knopf auf der Tastatur. "Es heißt so, weil es sowohl von vorne nach hinten wie von rechts nach links platt ist. Seht ihr das Dorf dort?" Sezana und Hansi schauten in die Richtung, in die die Katze zeigte. Dort war nichts Besonderes zu erkennen. Die Katze grinste. "Schaut mal hier durch," sagte sie und reichte ihnen eine Art Opernglas rüber. Es hatte auf der einen Seite zwei Gläser, auf der anderen vier. Hansi schaute hindurch, konnte aber immer noch nichts erkennen. "Nein, nein," sagte die Katze, "ihr müßt zusammen durchsehen." Das taten sie. Sie sahen ein paar strahlend weiße Gebäude, die über und über mit verschnörkelten Ornamenten verziert waren. Alles war dermaßen filigran und vielfältig, daß einem die Augen schmerzten. "Eine fraktale Tarnung," sagte die Katze. "Das Dorf hat so viele gebrochene Dimensionen, daß es visuell nahezu überhaupt nicht existiert. Clever, was?" "Wohnen da Leute?" fragte Sezana und nahm die Augen vom Fernglas. Daraufhin konnte Hansi nur noch weiße Schemen erkennen, immerhin mehr als beim ersten Mal, als er allein durchgeschaut hatte. "Na klar. Das ist der Palast der Feliden von Zeta II," antwortete die Katze. "Gefällt er dir?" "Das sind wunderschöne Gebäude," sagte Sezana, "aber ich sehe niemanden dort." Sie schaute wieder durch das Glas. Die Wolke schwebte auf die Gebäude zu, wobei sie an Höhe verlor. Hansi bemerkte, daß er jetzt ohne das Fernglas schon ein paar Einzelheiten erkennen konnte. "Was ist mit der fraktalen Tarnung passiert?" "Alles Gewöhnungssache," meinte die Katze. "Wie du vielleicht weißt, sieht man nur das, was man sehen will, oder was man gewohnt ist zu sehen. Dieses Fernglas ist ein Realitätsfilter. Wenn du dann erst mal akzeptiert hast, daß dort etwas ist, kannst du es nach und nach auch ohne Filter erkennen." Die Wolke schwebte in den Innenhof eines der größeren Gebäude. Der Hof war groß und hatte ziemlich viele Ecken. In einer saß eine weiße Marmorstatue auf einem flachen Sockel. Ihre Füße berührten den Boden. Die Statue sah aus wie eine ägyptische Katzengottheit. Begrenzt wurde der Hof von Gebäuden unterschiedlichster Höhe und Form: An vielen Stellen ragten vieleckige oder fast runde Türmchen empor, Erker kragten weit hinaus, und es gab überall unglaublich viele Fenster, von denen nicht eins dieselbe Größe oder Form hatte wie ein anderes. Außerdem waren sie alle auf verschiedenen Höhen. Die Fenster
schienen aus Glas zu bestehen, aber sie funkelten auch in allen erdenklichen Farben, je nach dem, aus welchem Winkel man sie anschaute. "Drei Komma vier sieben Stockwerke," kommentierte die Katze. "Geht bloß nicht ohne jemanden hinein, der sich auskennt. Ich sage euch, eine fünfdimensionale Wendeltreppe ist nichts dagegen." Die Wolke setzte auf. Die Katze drückte einen Knopf und stieg aus. "Die Leute hier sind scharf auf alles, was fliegt," meinte sie. "Ich habe das Ding lieber abgeschlossen." Sezana und Hansi kletterten ebenfalls hinaus. Die weiße Statue stand auf und kam auf sie zu. Sie lief auf zwei Beinen und sah immer noch dermaßen wie Marmor aus, daß Hansi seinen Augen nicht traute. Sezana sah ihn an und lachte. "Du träumst wirklich nicht, um deine Frage zu beantworten." Dann lachten sie beide. An diesem Platz konnte man offensichtlich Gedanken lesen. Die Statue war jetzt bei ihnen und gab der Katze die Pfote. "Hallo!" sagte sie. "Wie war der Flug?" "Recht erfolglos," antwortete die Katze. "Mein Mensch scheint in einer anderen Ebene verschollen zu sein." Die Statue reichte Hansi und Sezana je eine Pfote. "Willkommen, Erdlinge," sagte sie. "Ich bin Isis, geboren auf Sirius III. Ihr seid die ersten Menschen, die unseren Palast betreten. Macht euch keine Sorgen wegen der Telepathie. Das sind nur die Reflexionen der fraktalen Mauern. Das gibt sich mit der Zeit." Sie gingen zusammen durch einen einigermaßen runden Torbogen in das Innere eines Gebäudes. Der Hof hatte die beiden Menschen schon irritiert, aber hier konnten sie fast nichts Richtiges erkennen. Sie standen in einem riesigen Raum, dessen Fußboden auf verschiedenen Ebenen lag. Überall waren Mauervorsprünge und Nischen, Sockel und Statuen, Tische, Sofas, Diwane, Kissen. Zu allem Überfluß war alles mit Bildern von Katzen und Katzenartigen jeder Farbe und Form bemalt. Selbst auf Kissen und Tischen waren Katzenbilder. Dazwischen lagen einzeln und in Gruppen Katzen herum, sämtliche Rassen, die auch auf der Erde bekannt sind, sowie etliche andere, die teilweise recht skurril aussahen: Welche mit vier Ohren, drei Augen, sechsbeinige, kleine Löwen, mittlere Löwen, große Löwen, Tiger mit Tigerfell und Tiger mit Zebrafell, schwarze, grüne und rote Panther und noch viele mehr. Durch den Raum surrte beständig ein Schnurren. Gelegentlich hörte man ein leises Fauchen oder Miauen. "Siesta," sagte die Statue. "Wie immer," kommentierte die Katze. Sie liefen mitten durch den Raum. Hansi und Sezana hatten große Schwierigkeiten, die Bilder von den echten Katzen zu unterscheiden und nicht auf eine echte zu treten. Schließlich gelangten sie zu einem großen Vorhang (ebenfalls mit Katzenbildern bemalt), der von einem Bogen herab bis auf den
Boden reichte. Isis nahm eine kleine schwarze Katze hoch und legte sie zur Seite. Das Kätzchen streckte sich, rollte sich wieder zusammen und schlief weiter. Dann traten sie durch den Vorhang. Der Raum dahinter war eher klein und hatte pechschwarze Wände. Auch gab es hier nur einen quadratischen Sockel in der Mitte mit einigen Sitzkissen drumherum. Durch ein Fenster, das beinahe rund war und aus vielen Segmenten bestand, sah man auf das PlattPlatt-Plateau hinaus. Es war immer noch dunkel, und die Sterne funkelten in einem wolkenlosen Himmel. Ein winziger Halbmond stand hoch über dem Horizont. "Das hier ist die Nachtseite von Zeta II," erklärte die Statue. "Unser Planet bewegt sich fast immer um Alpha Alpha Centauri. Nur alle paar Doppeljahrhunderte schwenkt er in eine Umlaufbahn um Alpha Beta ein. Dann scheint hier fast immer die Sonne, und überall auf der Ebene wachsen Blumen. Das sieht toll aus, nur die vielen Touristen, die dann kommen, nerven, vor allem die Caniden. Ich zeige euch gelegentlich mal eine Aufzeichnung davon. Aber schaut euch erst mal das hier an." Auf dem Sockel stand eine große, runde Glaskugel. "Setzt euch," sagte Isis. "Ich will euch eine Aufzeichnung vom Neubeginn der Zeit zeigen." Die Reisenden hatten keine Lampen oder ähnliches bemerkt, aber was auch immer den Raum ausgeleuchtet hatte, wurde jetzt schwächer, bis es schließlich stockfinster war. Dann erschien in der Glaskugel ein Licht. "Eine Raubkopie aus der ehemaligen Ebene 5," sagte Isis und grinste. "Das Urheberrecht ist mit der Ebene verschwunden, praktisch, was?"
Hirana Es war einmal auf einem mittelgroßen, belebten Planeten, der um eine mittelgroße Sonne kreiste, irgendwo in einer mittelgroßen Galaxis. Auf diesem Planeten gab es, die Wahrscheinlichkeit von 95% mal wieder bestätigend, humanoide Lebensformen. Der Planet mochte sie nicht. Alle anderen Lebensformen mochten sie nicht. Die humanoiden Lebensformen mochten sich selbst nicht. Aber sie waren nun einmal da, und trotz der gemeinsamen Anstrengungen des Planeten, der anderen Lebewesen und der Humanoiden selbst gelang es nicht, sie loszuwerden. Ohne Übertreibung kann man sagen, daß sie die Schande ihrer Galaxis waren. Und das lag an ihren Fortbewegungsmitteln. Einst, in dem goldenen Zeitalter, als die Humanoiden von allen (inklusive sich selbst) lediglich gehaßt wurden, hatte eine Kommission, der viele erlauchte Mißgeburten angehörten, für diese Fahrzeuge Qualitätskriterien festgelegt, bei deren Kenntnisnahme selbst Gott das Lachen in seinem multidimensionalen, endlos langen Hals steckenblieb (der Nachhall davon läßt sich noch heute mit guten Meßgeräten orten). Auf diese Kriterien soll hier nicht näher eingegangen werden, weil man dafür in die Hölle kommt. Jedenfalls passierte Folgendes: Die Fortbewegungsmittel wurden gebaut. Erst nur wenige, denn sie waren sehr teuer. Es wurden aber mit der Zeit immer mehr, und schließlich wollte jeder eins haben. Dann hatte jeder eins, und dann wollten alle mindestens ein großes und ein kleines. Clevere Marketingstrategen schwatzten zuguterletzt jedem noch ein mittleres auf, und dann ging's so richtig
ab. Denn die Dinger waren äußerst primitiv. Sie hatten fast alle eine ähnliche Form: Vorn und hinten waren sie eher flach und in der Mitte hatten sie einen Buckel. Dorthinein zwängten sich die Humanoiden, wobei sie ihre Gelenke anwinkelten und bis zum Aussteigen (was immer seltener vorkam) in dieser Stellung verharrten. Meist hinten befand sich der Hohlraum für ihren ganzen Krempel, und vorn war ein größerer Hohlraum, in dem das überdimensionale Antriebsaggregat seinen Platz fand. Das Ganze stand auf durchschnittlich vier Gummischeiben und konnte überhaupt nicht vom Boden abheben, außer, wenn es mal über eine Klippe stürzte oder dergleichen (aber dann war es immer gleich kaputt). Das Antriebsaggregat verbrannte gut abgelagerte Lebewesen, die unter der Oberfläche hervorgebuddelt wurden, und machte dabei einen höllischen Lärm. Außerdem stank es wie die Sau von Aldebaran IV (wegen diesem Tier gibt es übrigens auf Aldebaran IV kein weiteres Leben, aber das nur nebenbei). Wer eines dieser Gefährte qualmen sah und röhren hörte, dachte sogleich an Kraft und Stärke. Aber damit war es nicht weit her. Der Wirkungsgrad der Fahrzeuge war so gering, daß der VDI (der Verband degenerierter Industrieller auf Solona III) ihn immer als Vergleich heranzog, um die eigenen, unterdurchschnittlichen Leistungen aufzuwerten. Und, wie erwähnt, konnten die Gefährte nur auf dem Boden dahinrollen. Doch damit nicht genug. Sie waren so anfällig, daß die Planetenoberfläche weitgehend planiert und mit dicken Teerschichten versiegelt werden mußte, damit die Dinger darüberrollen konnten, ohne wenigstens alle Nase lang kaputtzugehen. Dazu wurden alle Wälder abgeholzt, die im Weg standen, Flüsse wurden umgeleitet oder zugeschüttet, und in die Berge schlug man breite Schneisen. Nur die Meere wurden verschont, weil die primitive Technik der Humanoiden es nicht erlaubte, sie zu asphaltieren. Das war andererseits ganz praktisch, weil man so noch einen Platz hatte, um den ganzen Müll wegzuschütten. Die Fauna und fast alle anderen Lebensformen verschwanden schließlich von der Planetenoberfläche, weil einfach kein Platz mehr da war. Der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre verringerte sich dramatisch, und die Humanoiden fingen an zu röcheln. Das hielt sie allerdings bis zum Ende ihrer Zivilisation nicht davon ab, weitere Fahrzeuge zu bauen und damit ständig ziellos durch die Gegend zu braten. Längst wäre man zu Fuß schneller voran gekommen, aber die Gelenke der Humanoiden waren durch das ständige Sitzen in den Fahrzeugen so degeneriert, daß sie nur noch extrem kurze Strecken auf ihren Beinen zurücklegen konnten. Das Ende ihrer Zivilisation war trist und langweilig und gibt keinen Stoff für eine Story ab. Hiranas Geschichte dagegen ist ziemlich verblüffend. Hirana war die einzige auf diesem öden Planeten, die sich weigerte, sich in eins dieser Fahrzeuge zu setzen. Sie bastelte seit ihrer Jugend an einem Gefährt, um den Planeten zu verlassen, und wurde dafür von allen, die sie kannten, belächelt. Aber sie hatte Erfolg. Als wegen des Sauerstoffmangels das große Röcheln losging, zündete sie das kleine Fusionstriebwerk und nahm Kurs auf das nächste Sonnensystem. Sie hatte das Glück, recht schnell einen bewohnten Planeten zu finden, und das Pech, daß dieser ein Spanner-Planet war. Alles war dort aus Gummi, mit Ausnahme der geilen Lebensformen, die über das Gummi krochen und schleimten, um zur nächsten Porno-Videothek zu kommen. Es gab aufblasbare Häuser, aufblasbare Brücken und sogar aufblasbares Mittagessen. Alles wabbelte beim Darüberlaufen, und wenn Hirana versehentlich auf einen Spanner
trat, gab der ein geiles Stöhnen von sich und bettelte um Schläge. Leider war ihr kleines Raumschiff bei der Landung in einem Sperma-Sumpf versunken. Sie selbst war von einem nicht ganz so wabbeligen Spanner mit Hilfe einer Leine aus zusammengeknoteten Kondomen gerettet worden. Danach hatte sie eine Weile in einer Sex-Bar gejobbt, wo sie die ganze Nacht Champagnergläser aufblasen mußte, bis sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch war. Doch das Schicksal meinte es gut mit Hirana. Auf einem ihrer Erkundungsgänge fand sie ein riesiges Trampolin. Kurzerhand schaffte sie das größte aufblasbare Gebirge herbei, das sie finden konnte, und sprang vom höchsten Berg auf das Trampolin herunter. Dieses erwies sich als eine ausgeklügelte Rettungsstation von canoiden Bewohnern eines nahegelegenen Planeten und katapultierte sie in kürzester Zeit dorthin. Der Planet hieß Zeta II, und als sie aus dem wolkenlosen Himmel fiel, war es gerade die Zeit, in der das Haul-Fest beginnt.
Die Ruhe vor dem Sturm "Gib deinem Leben endlich einen Sinn! Stink-O-Bell, die Zahncreme für alle Fälle. Stink-O-Bell. Top-Dogs im ganzen bekannten Universum benutzen StinkO-Bell!" erklärte jemand aus dem Lautsprecher des Fernsehers in dem dunklen, muffigen Raum, in dem sie gelandet waren, und fügte mit tieferer Stimme hinzu: "Show'em who you are!" Ein schönes, buntes Logo erschien auf der Mattscheibe, das anscheinend die Fortsetzung des Spielfilms ankündigen sollte. Sej traten Schweißtropfen auf die Stirn. "Was für ein Klima! Sind wir hier in der Hölle?" erkundigte sich Percy. Der Spielfilm lief wieder an. Lautes Gekläffe drang aus dem Lautsprecher, während eine wütende Meute über den Bildschirm wütete. "Scheiß-Landung!" verkündete Boko. "Immer noch besser als tot, oder?" sagte Jeer daraufhin. "Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich noch lebe ..." "Hat jemand eine Uhr? Ich wüßte gern wenigstens, in welchem Jahr wir uns befinden." "Idiot! Raus aus meinem Beutel!" "Nicht, bevor ich weiß, wieviel Dimensionen es hier gibt." Sej hatte diesbezüglich schon schlechte Erfahrungen gemacht. "Meine Redisc! Na endlich!" rief Percy, während Boko Sej aus seinem Bauchbeutel zog und auf den Boden setzte. Allmählich gewöhnten sie sich an das Schummerlicht, das der Fernseher in dem Raum ausbreitete. Es gab eine Tür. Wie immer. Aber diese hier war nicht verschlossen. Dafür ziemlich niedrig.
"Vierbeiner-Höhle," meinte Boko. Jeer watschelte zur Tür. Anscheinend gibt es eine Menge Plätze im Universum, die für Riesenkänguruhs zum Hüpfen recht ungeeignet sind. Jeer schaute hinaus. Ein frischer Luftzug wehte hinein und fuhr Sej durch die schweißnassen Haare. Beim Anblick von Jeer, der sich höchst possierlich bückte, um hinauszusehen, mußte er lachen. Das Känguruh drehte sich um und guckte ihn an. "Feierst du gerne?" fragte es ihn. Sej sah Percy mit einem Ausdruck von Unverständnis an. Der ging ebenfalls zur Tür und schaute hinaus. "Uff!" meinte er. Aus dem Fernseher erklangen Geigen und Flöten, allerdings mehrere Oktaven höher, als es Humanoide gewöhnt sind. Für Sejs ungeübte Ohren klang es wie Hundepfeifen und Alarmsirenen. Auf dem Bildschirm wackelte ein offensichtlich weiblicher Cockerspaniel mit dem Kopf und plinkerte mit den Augenlidern. Daraufhin fing ein Deutscher Schäferhund an zu jaulen. "Oh je! Rammelo und Schmusia! Nix wie raus hier!" rief Boko. "Wenn du noch nicht wußtest, was wahre Perversion ist, hier könntest du es lernen," sagte er zu Sej gewandt. "Dieser Film hat den Sonderpreis der Süd-Süd-WestSüdwestlichen Galaxis für die mieseste, geschmackloseste Schnulze der Filmgeschichte gewonnen. Prädikat besonders gemeingefährlich. Echt Hardcore!" "Sag mir, wo wir sind!" Percy sprach mit Jeer. "Oder vielmehr, sag mir bitte, daß wir nicht in Huttington sind!" "Die Bitte kann ich dir leider nicht erfüllen." "Dann sag mir wenigstens, daß das da oben am Himmel nur eine ausgefallene Leuchtreklame ist und nicht der berüchtigte Mond Draculix!" "Alle Jahre wieder macht Draculix sie nieder ..." murmelte Jeer eher zu sich selbst. "Dann wäre es wohl besser, wenn wir gestorben wären." Sej verstand rein gar nichts. "Ich hab nichts gegen feiern, falls da draußen eine Party abgehen sollte." "Eine Party? Eine Party?" fragte ihn Percy fassungslos. "Weißt du, wie sich dieses Fest da draußen nennt? Weißt du, was passieren wird? Weißt du überhaupt irgendwas?" "Um dir die Sache wenigstens ansatzweise zu erläutern," mischte Boko sich ein, "wir sind hier auf Zeta II, einem Planeten des mittleren Gürtels von Alpha Centauri, wie geplant, und wir befinden uns in Huttington, der Hauptstadt der Caniden, zur Zeit des Wau-Festes, wie ganz und gar nicht geplant. Warst du mal auf einer eurer merkwürdigen Feste, wo sie saufen und kiffen wie die Blöden, Trips schmeißen, die Wohnungseinrichtung zertrümmern, Leute aus dem Fenster werfen und in die Ecken kotzen? Vergiß es! Das hier ist viel, viel bestialischer."
"Äh - vielleicht sollten wir dann lieber hier drinnen abwarten, bis es vorbei ist," schlug Sej etwas unsicher vor. "Abwarten? Du hast Vorstellungen! Ich habe bisher nur Gerüchte gehört, aber wenn auch nur ein kleines bißchen davon wahr ist, wird dieses Haus in ein paar Stunden nur noch ein qualmender Trümmerhaufen sein!" sagte Percy. "Wenn ihr Humanoiden das Grauen der Zerstörung beschreiben wollt," fügte Boko hinzu, "nennt ihr oft den Namen der Stadt Hiroshima. Mir würde vielleicht eher der Megatod von Aldebaran VII einfallen, egal - das hier ist viel, viel bestialischer!" "Sie zünden Atombomben als Feuerwerk," erklärte Jeer. "Wer nüchtern angetroffen wird, wird sofort gelyncht," warnte Boko. "Und ich hatte immer gehofft, dieses Wau-Fest wäre nur die Phantasie eines kranken Programmierer-Hirns," sagte Percy. In einer Ecke stand einer Art flacher, sehr großer Kühlschrank. Jeer öffnete die Tür. Auf mehreren Regalen waren dort Steaks und Hundeknochen gelagert. Dazwischen standen Schalen voll Hackfleisch, heftig von Schimmel überwuchert. Auf dem unteren Regal lagen jede Menge Flaschen, die Jeer herausnahm und den anderen zuwarf. "Risiko Nummer eins. Gefahr des Gelynchtwerdens. Trinkt, soviel ihr könnt und so schnell ihr könnt!" "Trinken Caniden sowas?" fragte Percy. "Quatsch. Das ist nur für die saumäßigen Gäste." "Wie uns." Etwas resigniert ploppte Percy den Verschluß der Flasche auf, die er gefangen hatte. Sej fand, das Zeug schmeckte fast genauso wie ein Dunkelbier, das er gelegentlich auf seinem Planeten getrunken hatte. Jeer merkte an: "Gebraut nach eurem Reinheitsgebot von ungefähr 2000 vor eurer Zeitrechnung." Er leerte seine Flasche in einem Zug. Dem Schäferhund im Fernsehen schien irgendetwas Böses zu widerfahren. Jedenfalls jaulte er ohrenbetäubend. Jeer schleuderte seine leere Flasche in den Bildschirm, der knallend zersprang. "Zur Einstimmung auf die Fete," bemerkte er trocken. Seinem Bier ließ er schnell ein zweites und drittes folgen. Schnell kamen sie in Stimmung. Sej zwang sich eine dritte Flasche rein. Das Zeug war verteufelt stark. Wie man leicht erraten kann, handelte es sich um Gins, den Stoff der bekannten Sonnensysteme der Milchstraße. Es ist wirklich ein Rätsel, wie es ein mittelgroßer Planet schafft, eine komplette Galaxis damit zu versorgen. Wahrhaftig ein Rätsel, aber ein schönes. Forget the Old Janx Spirit. Boko hatte sich auf die Seite gelegt und spähte durch die halbgeöffnete Tür. Von draußen kamen Geräusche herein, die auf einen fernen Atomkrieg schließen ließen.
"Allmählich geht's richtig los," merkte Jeer an. Glücklicherweise waren sie am Stadtrand gelandet. So hatten sie wenigstens noch Zeit zur Vorbereitung gehabt. "Hätten wir nicht aus der Stadt flüchten können?" fragte Sej. Er lallte ein bißchen. "Nix da. Die Ebene von Huttington ist eine der berüchtigsten Steppenzonen der Galaxis. Selbst Gott nennt sie 'nicht klein'," meinte Boko. "Aber dein Zauberding!" beharrte Sej. Er wandte sich an Jeer. "Wir hätten uns irgendwohin beamen können." "Dafür bin ich viel zu breit," antwortete Jeer. Er rülpste. Dann leerte er sein achtes Gins. Sej grübelte. Lag es nun an dem vielen Bier, oder war die Logik dieser Lebensformen eine andere? Wie auch immer, das war jetzt seine vierte Flasche. Die Situation wurde allmählich erträglich, um nicht zu sagen gemütlich. Jeer stopfte sich eine Menge Flaschen in den Bauchbeutel. Er grinste. "Seid ihr bereit aufzubrechen?" Percy drückte auf einen Knopf seiner Redisc, während er sein Gins leerte. "Bitte ..." klang es klagend aus allen Ecken des Raums zugleich. "Helft mir ..." "Was war das?" fragte Boko. "Ich hab nur Reset gedrückt," meinte Percy. Er drückte noch einmal auf den Knopf. "Helft mir!" klagte das unsichtbare Wesen wieder. "Wer bist du?" Percy war einigermaßen überrascht. "Ich bin nur eine einfache Wohnung in einem einfachen Mietshaus, aber ich habe doch auch ein Recht auf Leben, nicht wahr?" hallte es aus den Ecken. "Das geht zu weit. Schalt das Ding ab!" verlangte Boko. "Ich fühle, mein Ende ist nah. Bringt mich woanders hin!" "Ich fang gleich an zu heulen," sagte Jeer. "Ich würde dich ja gern mitnehmen, nur zufällig habe ich heute keinen Megakoffer dabei." "Mein ganzes Leben lang habe ich diese Barbaren beherbergt, und das ist nun der Dank dafür." Die Stimme klang jetzt fast zornig. Sej fand die Sache recht faszinierend. Er dachte an seine eigene Wohnung. "Sag mal, haben alle Wohnungen ein Bewußtsein?" fragte er die Wohnung. "Na klar. Ich gebe ja zu, nicht besonders viel, aber das bißchen, was wir haben,
ist ziemlich ausgeprägt. Versteht ihr, ich weiß genau, ich reiche von dieser Ecke " die Stimme kam jetzt von der Nähe des Eingangs und wanderte nach hinten " bis in diese hier. Ich kenne jeden Stein, aus dem ich gebaut bin, und ich bin voll von den Emotionen meiner Bewohner. Nicht, daß ich sie besonders geliebt hätte, aber ich kenne sie alle bis in die Tiefen ihrer Seele. Und ein Wesen mit meinem Erfühlungsvermögen soll jetzt dem blindwütigen Terror des Mobs ausgeliefert werden ..." Die Stimme fiel in ihren ursprünglichen klagenden Ton zurück. "Sag mal, was passiert mit dir, wenn du zerstört wirst?" erkundigte sich Sej. Er öffnete noch eine Flasche. "Das ist nicht sehr sensibel von dir, so etwas zu fragen," jammerte die Wohnung. "Aber wenn du es unbedingt wissen willst: Ich werde mich wohl wieder als einfacher Geröllhaufen durchschlagen müssen. Wieder ganz von vorn anfangen ..." Ein steinernes Schluchzen erklang. "Was würde denn aus dir werden, wenn du weitermachen könntest?" "Ich würde mich mit Gleichgesinnten zusammenschließen, und wir würden einen Palast aus uns machen lassen." Die Stimme klang zuversichtlicher. "Vielleicht eine Trutzburg, und wenn es nur eine altehrwürdige Ruine wäre. Oder ein Schloß. Weißt du, es gibt einen Planeten, wo ..." Der Rest ging in einem ohrenbetäubenden Krachen unter. Jemand hatte draußen eine Handgranate gezündet, und durch den Luftdruck sprang die Tür voll auf. Kurz darauf krachte es noch lauter, als im Nebenhaus eine Stalinorgel einschlug. "Raus hier!" schlug Jeer vor, und alle nahmen seinen Vorschlag begeistert an. Draußen konnten sie vor lauter Staub fast nichts sehen. Von drinnen klang noch leise das Wehklagen der Wohnung zu ihnen. Ein Hund jagte an ihnen vorbei und bellte ihnen etwas zu. "Dem hinterher!" rief Jeer. "Er meinte gerade, wir sollten das Beste nicht verpassen." Sie spurteten los. Sej und Percy fanden es ziemlich schwierig, mit den Känguruhs Schritt zu halten. Das Zwielicht, das der Mond Draculix durch den Staub der ständigen Mineneinschläge warf, machte die Orientierung schwierig, so daß Jeer und Boko glücklicherweise nicht allzu schnell hüpfen konnten. Ein paar Ecken weiter wurden sie von einer nahen Explosion zu Boden geschleudert. Percy war als erster wieder auf den Beinen und lief zu Jeer. "Alles okay?" fragte er ihn. "Ein paar Flaschen sind futsch," meinte Jeer, während Schaum aus seinem Bauchbeutel quoll. "Wir trinken sie lieber jetzt gleich." Er reichte den anderen die verbliebenen Gins raus und machte dann einen Kopfstand. Flaschenreste fielen aus seinem Beutel, gefolgt von etlichen Litern Bier. Er klaubte seinen Porzellanhund aus den Splittern. "Das wichtigste ist in Ordnung." Er grinste. Sie rannten (beziehungsweise hüpften) weiter. Durch den Staub konnte Sej erkennen, daß mittlerweile viele recht eigenartige Gestalten vor, hinter und
neben ihnen rannten. Die meisten davon waren mehr oder weniger eindeutig Canide, aber auch Humanoide waren zu sehen, mit und ohne Antennen auf den Köpfen, ein paar zerzauste Katzenartige, etliche Rieseninsekten und anderes merkwürdiges Getier. Alle rannten in dieselbe Richtung. Allmählich verringerte sich das Tempo, da die Menge dichter wurde. Schließlich ging es nur noch im Schrittempo voran. Sej konnte jetzt mehr Einzelheiten der Stadt erkennen. Die Gebäude waren alle aus demselben sandsteinfarbenen Material und waren ein- oder zweigeschossig. Das Stadtzentrum war offensichtlich auf einem Hügel errichtet worden. Obendrein gab es hier einige große Häuser, die aus versetzten, aufeinander getürmten Blöcken bestanden und den Rest satt überragten. Die meisten Gebäude besaßen nur eine niedrige Eingangstür, Fenster konnte man fast nirgendwo sehen. Sej und Percy hielten sich dicht an die Känguruhs. Sie überquerten einen Platz. In der Mitte befand sich ein flacher, vieleckiger Bau mit etlichen offenen Eingängen. "Eine Bedürfnisanstalt," erklärte Jeer. "In den Wohnungen gibt es keine Toiletten. Die Dinger werden von Schweineartigen betrieben. Man muß in einen Napf pinkeln oder scheißen, der dann gewogen wird. Je nach Gewicht muß man dann zahlen. Die Schweine freuen sich immer, wenn ein vollgefressener Bernhardiner vorbeikommt." Aus der johlenden Menge flogen jetzt immer häufiger Granaten verschiedensten Kalibers in die Nebenstraßen. Jeer gab es bald auf, irgend etwas zu erklären, da er sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte. Ein Canide neben ihnen feuerte seine Bazooka auf ein nahegelegenes Gebäude ab, dessen Dach jämmerlich einstürzte. Sejs Trommelfelle schmerzten. Er trank sein Gins aus und warf die Flasche weg. Eine Riesenmücke reichte ihm daraufhin eine Flasche psychodelischen Sumpfwassers rüber. "Trink, Kleiner," zischte das Insekt. Sej nahm einen Schluck und reichte die Flasche an Percy weiter. Bereits nach dem ersten bißchen dieses Zeugs sah alles ziemlich grünlich aus. Percy gab der Mücke das Gesöff zurück. Neben ihnen war eine Gruppe humanoider Japtiden (nach Sejs Meinung grünhäutige Menschen mit grün schimmernden Haaren) damit beschäftigt, das Geschehen auf ihre Alpha-Moritz-Rekorder zu bannen. Sej hatte die Dinger zuerst für ihre Augen gehalten. Einer von ihnen setzte den Rekorder ab, um eine neue Cassette einzulegen. "Fünf Minuten bis Feuerwerk!" verkündete er Sej gegenüber euphorisch. Seine grünen Augen strahlten.
Bombenstimmung Draculix stand jetzt fast im Zenit. Sanft wie immer setzte die Wolke auf. In der Nähe schlug eine Zentnerbombe ein. Die Wolke kippte zur Seite und entledigte sich auf diese Weise ihrer vier Insassen. "Wollt ihr jetzt immer noch auf das Fest?" fragte Isis. "Ich hab nichts gegen gute Action," meinte Hansi. Der ferne Schlachtenlärm stimulierte ihn.
"Seid ihr auch betrunken genug?" erkundigte sich besorgt die Katze. "Nur ein bißchen in Stimmung," lallte Sezana. Sie leerte den Rest der Sektflasche in einem Zug. "Nun, dann viel Glück," meinte Isis. "Wir warten hier auf euch, oder vielmehr die Reste von euch. Nehmt euch vor der Strahlung in acht." Die Katze reichte den beiden Menschen die Springschuhe. Diese sahen aus wie avantgardistisch geformte Plattform-Schuhe. Nur bestanden sie nicht aus Holz mit Ledersohlen, sondern waren kompliziert geformte, schwarz eloxierte Federn. Der obere Teil war ein Drahtgestell, in das man die Füße stecken konnte. Sezana und Hansi zogen die Springschuhe an. Das Drahtgeflecht hielt ihre Füße sicher fest, indem es sich hautnah anschmiegte (eine altbekannte fünfdimensionale Technik. Auf dem Planeten Erde wurde so etwas im Jahr 2010 bekannt unter dem Namen 'Conscious Engineering'). "Damit solltet ihr in fünf Minuten im Stadtzentrum sein," meinte Isis. Die ersten paar Schritte machten die beiden noch etwas unsicher, was wahrscheinlich in erster Linie auf ihren Alkoholpegel zurückzuführen war. Dank 'Conscious Engineering' jedoch kamen sie schnell mit den Schuhen zurecht. Dieses neue Laufen war ein fantastisches Gefühl. Schritte von fünf Metern Länge waren überhaupt kein Problem. Die Springschuhe nahmen die Bewegungsenergie beim Autreten derart sanft auf, daß man fast zu fliegen schien. Außerdem glichen sie glücklicherweise auch Fehltritte so gut aus, daß die beiden nie ins Stolpern kamen. Nach ein paar Proberunden um die Wolke verabschiedeten sie sich von ihren beiden katzenartigen Freunden und eilten in Richtung Huttington. Hansi hatte seinen überdimensionalen Patronengurt mit Gins munitioniert. Sezana hielt eine Flasche zelotischen Champagner im Arm. In der Stadt wichen sie geschickt den Granateinschlägen aus und bahnten sich zügig den Weg durch die Staubwolken. Kurz bevor Draculix endgültig im Zenit stand (und das Feuerwerk begann) sprangen sie bereits übermütig über die dichter werdende Menge hinweg. Zwar waren anscheinend alle heftig mit Drogen vollgepumpt, aber es gab niemanden, der nicht schnell genug gewesen wäre, ihnen auszuweichen. Lediglich einmal verhakte Hansi sich in den Flügeln einer Riesenwespe, die ihn giftig anstarrte. Er reichte ihr ein Gins rüber, und das schien sie schnell zu besänftigen. Sezana machte einen gigantischen Satz und war verschwunden. Hansi zielte ungefähr in die Richtung, wohin sie verschwunden war. Er hatte gut gezielt. Neben ihm stand Sezana, und vor ihnen beiden standen zwei überdimensionale Känguruhs und starrten sie verwundert an. Ein Granateinschlag in der Nähe ließ ein paar Japtiden an ihnen vorbeifliegen. Der Typ mit der Bazooka grinste verlegen. "Mehr Zielwasser trinken!" riet ihm Jeer. Dann sagte er, zu den beiden Neuankömmlingen gewandt: "Bumm bumm Bumerang?" Das war die Sprache der australischen Ureinwohner, und Hansi und Sezana konnten den Sinn nur ahnen. "Wir haben uns die Springschuhe nur ausgeliehen," meinte schließlich Sezana.
"Seid ihr etwa vom selben Planeten wie unsere beiden minderbemittelten Freunde?" erkundigte sich Boko erstaunt. Das ohrenbetäubende Gekreische und Gejohle der Menge unterbrach ihre gerade begonnene Unterhaltung. Draculix stand im Zenit.
Feuerwerk Isis kippte die Wolke wieder in ihre richtige Position. Sie und die Katze nahmen darin Platz und flogen niedrig über die Ebene von Huttington bis in eine sichere Entfernung von der Stadt. Über ihnen zogen fette, schmierige, schwarze geierähnliche Tiere in die umgekehrte Richtung, eine unüberschaubare Schar. Der Nachthimmel war übersäht mit ihnen. Als die Wolke jedoch landete, waren sie nur noch ein riesiger schwarzer Schatten, der auf Huttington zusteuerte. "Malakok. Die einzigen, die das Miau-Fest genießen können," sagte Isis. Mit ein paar Krallenbewegungen installierte die Katze den eingebauten NuklearSchutzschirm. "Die Menschen müßten jetzt angekommen sein. Hoffentlich," meinte sie. Beide ließen sich entspannt in die Langsitze sinken, die sich an der Oberfläche der Wolke herausgebildet hatten. "Meinst du, sie halten die Strahlung aus?" redete die Katze weiter. "Sicher. Die Getränke, die ich ihnen mitgegeben habe, sind mit Tscherno X versetzt. Deshalb werden sie auf jeden Fall überleben, falls sie klug genug sind, dem konventionellen Schlagabtausch aus dem Weg zu gehen." "Glaubst du, sie haben verstanden, was sie vorhin in der Glaskugel gesehen haben?" "Sicher nicht. Das intelligenzsteigernde Gas im Raum dürfte bei ihren Gehirnstrukturen wohl kaum ausgereicht haben dafür. Aber wenigstens haben sie jetzt eine Ahnung davon bekommen. Ich will nur hoffen, daß sie sich nicht für erleuchtet halten und noch so eine lächerliche Sekte gründen. Der Mann mit dem Rinderfell über dem Oberkörper hatte so einen fanatischen Blick, weißt du." "Du meinst den Kerl mit der Lederjacke? Der ist eigentlich harmlos. Da! Es geht los!" Am Himmel zerbarst eine riesige Leuchtrakete. Zuerst war dort ein gleißender Blitz, der die beiden Katzenartigen veranlaßte, die Augen zu schließen. Die Katze fauchte kaum hörbar vor Mißfallen. Dann leuchtete ein helles gelbes Licht, das seine Farbe allmählich zu immer dunklerem Rot wechselte. Das Leuchten wurde immer blasser, aber nicht etwa, weil die Strahlung nachgelassen hätte, sondern weil sich ein riesiger Staubpilz wie eine Glocke von oben auf das Licht herabsenkte. Hätten sie direkt darunter gestanden, wäre es ihnen vorgekommen, als ob der Himmel wie lauter Pergamentrollen nach allen Seiten weggerollt würde, und diese Beschreibung findet sich tatsächlich in einem auf dem Planeten Terra weitverbreiteten Buch. Die Katzen jedenfalls waren froh, nicht direkt darunter zu stehen, denn als sie nach wenigen Minuten die Druckwelle der ersten Nuklearexplosion erreichte, brachte diese ihre Wolke selbst bei der großen Entfernung noch gehörig ins Schaukeln. Aus dem Staubpilz begannen kleine Blitze zu schießen.
Drei weitere Raketen stiegen in die Luft. Die Feliden drehten sich weg, bis das grelle Licht der Blitze abebbte. Einer der Sprengsätze hatte wieder die gleiche Farbe wie der erste, ein sattes Gelb, das zu rot wechselte. Die anderen beiden jedoch waren von einem strahlenden, satten Dunkelgrün, das ganz allmählich blasser wurde. Isis ließ ein Zischen vernehmen. "Ultraran-339. Diesmal treiben sie es wirklich zu weit," fauchte sie wütend. "Das Zeug ist so tödlich, daß der Fallout sogar manche von den Malakok umbringt. Diese blöden Hunde!" "Aber hübsch sieht es trotzdem aus," bemerkte die Katze. "Hoffentlich tötet es unsere Menschen nicht allzu sehr." Jetzt raste eine Rakete nach der anderen in den Himmel. Eine Zeitlang blitzte es ununterbrochen. Außerdem wurde die Wolke durch die vorangegangenen Explosionswellen heftig geschüttelt. Selbst als die Blitze vorbei waren, war es noch so hell, daß sich die Pupillen der Katzenartigen zu schmalen Schlitzen verengten. Gigantische Staubmassen fegten über die Ebene; trotzdem war es heller als mittags auf dem Planeten Merkur. Das Spektrum des sichtbaren Lichts war in voller Pracht vertreten, von sterbensviolett bis todrot konnte man alle Farben sehen, und diese in allen Schattierungen. Das Schauspiel dauerte einige Minuten, während derer die Druckwellen ständig stärker wurden, dann gewannen die Sandstürme die Oberhand und verdunkelten den bunten Himmel. Die Katze schaltete den Materie-Schutzschirm ein, als die Winde zu heftig wurden. Dann hißte sie eine elektronische Flagge. Nachdem sie den BreitbandPeilsender aktiviert hatte, drehte sie sich auf die Seite und rollte sich zusammen. "Gute Nacht," sagte sie zu Isis. Isis antwortete nicht. Wie eine Statue saß sie auf dem Rand der Wolke und blickte Richtung Huttington.
Vorsicht vor den Malakok Aus dem "Lexikon für metaphysische Biologie", Kapitel "Gespenster, Gewürm und widerliches Gewusel": "Malakok. Widerliches Fluggewusel. Ein Rudeltier, das auf den Nachtseiten fast sämtlicher bewohnter Planeten zuhause ist. Verträgt weder körperliche Wärme noch Sonnenlicht. Ernährt sich von toten Mäusen, lebendigen Seelen und Artgenossen. Farbe: schwarz. Ihre Körperform läßt sich am ehesten als schmierige, fette Masse mit Flügeln beschreiben. Malakok beherrschen fast alle Formen der Kommunikation, sofern sie destruktiv sind. Sie tauchen nie allein auf, was an sich schon schlimm genug wäre, sondern in meist riesigen Rudeln, die alle Seelen fressen, die ihnen in den Weg kommen, es sei denn, die Seelen haben das Glück, daß massenweise tote Mäuse herumliegen oder daß die Malakok zu intensiv damit beschäftigt sind, sich gegenseitig zu fressen. Eins der ungelösten Rätsel über sie ist, warum sie sich nicht schon längst selbst ausgerottet haben (zu diesem Thema s.a. unter Humanoide auf Sol-III/Terra). Wenn sie sich von Seelen ernähren, bauen sie das Schlechte der Seele in ihre Körpermasse ein, während das Gute ziemlich unappetitlich verdaut wieder ausgeschieden wird. Bei Begegnungen mit Malakok empfiehlt es sich je nach Stammeszugehörigkeit,
1. das Vaterunser zu beten (nützt nichts), 2. sich heulend und zitternd soweit wie möglich zu verkriechen (nützt auch nichts) oder 3. sich aller verfügbaren Waffen zu bedienen, die man gerade bei sich hat (nützt überhaupt nichts). Eine weitere Möglichkeit ist natürlich, massenweise Mäuse zu schlachten, aber das setzt zwangsläufig voraus, daß man gerade massenweise Mäuse zur Hand hat."
Die Party ist vorbei Sezana und Paul schauten sich in die Augen, als wären ihre Augen das Einzige, was es auf der Welt gäbe. Paul sah in ihren grünen Augen die ganze Weite des Universum, Leere und Fülle zugleich. Sein ganzes bisheriges Leben war in seinem Kopf, und doch dachte er zugleich an überhaupt nichts. Eine Welle der Wärme durchflutete seinen Körper. Er fühlte, wie ihr Blick durch seine Augen in seinen Kopf drang, dann den Hals hinab in seine Brust und bis in seinen Bauch, wo er hängenblieb und eine weitere Wärmewelle auslöste, die ihn bis in die Fingerspitzen durchflutete. Gleichzeitig fühlte er, wie er in ihrem Körper war und dort so ziemlich dasselbe machte, wenngleich sein Blick in ihr erst etwas weiter unten hängenblieb. Sezana fühlte, wie sie gleichzeitig vollkommen in sich ruhte und vollkommen in Paul war. Hätten sie mehr Zeit gehabt, hätte ihr ihr Intellekt wohl verraten, daß das ein Paradoxon wäre, und Pauls Intellekt hätte sich wohl auch leicht gewundert. Aber nach einer Ewigkeit, die zehn Doppelsekunden gedauert hatte, zerrte sie etwas in die Realität zurück. In Pauls Fall hieß die Realität Ian. "Ab hinter die Mauer!" schrie er ihn an. In seiner Stimme schwang eine panikartige Angst, während er Paul an der Jacke zu den Resten eines großen Gebäudes zog. Erstaunt stellte Paul fest, daß er sich während des langen Blicks der Springschuhe entledigt hatte. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Sie waren gerade hinter der Grundmauer des Gebäudes angelangt, wohin sich auch Boko, Jeer und die anderen geflüchtet hatten, als ein gleißender Blitz den Himmel erleuchtete. "Schau nicht hin!" schrie Percy zu Sej herüber, der Anstalten gemacht hatte, nach oben zu sehen. Alle hielten ihre Blicke gesenkt, und was sie dort sahen, war erstaunlich genug. Die meisten der Personen, die auf dem großen Platz versammelt waren, hielten es anscheinend für völlig überflüssig, sich vor der Strahlung zu schützen. Hundeartige jeder Form und Größe sprangen wie besessen mit den Vorderpfoten in die Luft und drehten sich im Kreis, was wie ein Tanz von Gespenstern aussah, da man im Röntgenlicht fast nur ihre Skelette erkennen konnte. Dazwischen und darüber hüpften und flogen einige Rieseninsekten. Ihr weißes Blut strahlte wie im Schwarzlicht durch ihre Trachäen, während sich ihre Flügel scheinbar im Gleichtakt mit den Antennen etlicher gewöhnlicher grüner Außerirdischer drehten. Alle Besucher des Festes waren völlig aus dem Häuschen. Nur die paar Japtiden, die bis jetzt überlebt hatten, spähten vorsichtig hinter Mauerresten hervor, um jede Szene mit ihren AlphaMoritz-Rekordern einzufangen. Sie wollten nichts verpassen, und das hieß für sie, nichts ungefilmt lassen. Morgen schon würde sie der Transgalaktik-Jet wieder zurück in die Fabriken bringen, in denen sie lebten. Dann folgte ein Geräusch, als hätte Gott tief eingeatmet, aber die Druckwelle, die Percy befürchtet hatte, blieb aus. Lediglich ein Windhauch war zu spüren. Während der folgenden Explosionen fielen auf dem Platz etliche Caniden und andere tot um, wurden aber sofort durch Überdosen psychodelischer Drogen
wiederbelebt. Das wiederholte sich in regelmäßigen Abständen, so daß es zum Schluß wohl niemanden dort mehr gab, der nicht mindestens einmal gestorben wäre. Von den Caniden gab es nur eine Gruppe Bernhardiner, die nicht wie toll herumwirbelten, sondern genüßlich ein Rumfäßchen nach dem anderen ausschlürften und sich in den Strahlen sonnten. Es machte ihnen anscheinend auch nichts aus, daß andauernd jemand auf ihre Pfoten und Bäuche trat. In dem Donnern der Nukleargranaten war das Krachen der konventionellen Munition nicht mehr zu hören, und als die Wellen der letzten Explosionen verhallten, stellte Percy überrascht fest, daß es aufgehört hatte. Die letzten Lebewesen auf dem Platz, die noch tanzten, torkelten langsam zu Boden, wobei sie so heftig halluzinierten, daß selbst Percy und die anderen die Bilder ihrer Trips sehen konnten. Es waren hauptsächlich grüne und gelbe Zellophan-Blumen, die sich über ihren Köpfen auftürmten. Das Mädchen mit den Kaleidoskop-Augen war bereits gegangen. Ihr Name war übrigens Lucy, aber das tut nichts zur Sache. Gott atmete noch einmal tief ein und aus, dann war es vollkommen ruhig. Das Licht von Draculix leuchtete gespenstisch durch die aufkommenden Sandstürme. Hansi nahm eine Flasche Gins aus seinem Patronengurt und öffnete sie mit dem Feuerzeug. Dann leerte er sie in einem Zug. Sezana trat aus dem Schatten der Mauer hervor und lief wie in Zeitlupe zu Paul hinüber, der gerade erstaunt feststellte, daß er damit beschäftigt war, sich die Springschuhe anzuziehen. Ian fand in seiner Jackentasche eine volle Dose Pfefferminzdragees, kippte sie alle auf einmal in seine Hand und schluckte sie herunter. Sie waren kleiner als die üblichen Dragees und schmeckten auch überhaupt nicht nach Pfefferminz. Das war nicht weiter verwunderlich, denn wenn er nicht so verwirrt gewesen wäre, hätte er sich daran erinnert, daß er in dieser Dose immer seine Trips aufbewahrte. Wolstriet hatte in einem Winkel eine halbvolle Kiste Gins gefunden und kam damit zu den anderen herüber. Er warf den Känguruhs welche zu und reichte Sej eins, während sich Percy bereits selbst bediente. Hirana stand an die Mauer gelehnt und trank Sezanas zelotischen Sekt. Paul und Sezana waren die einzigen, die nicht immer noch breiter wurden. Sie knieten sich gegenüber, wobei sich ihre Hände berührten, und machten nichts anderes als sich anzusehen. Alle hörten mittlerweile, daß es nicht wirklich vollkommen ruhig war. Ihre Trommelfelle fingen wieder an zu funktionieren. Überall um sie herum war das Knistern ersterbender Flammen in den Ruinen zu hören, das sich mit dem erschöpften Hecheln der herumliegenden Caniden und dem bewußtlosen Röcheln der Rieseninsekten mischte. Es war ein Bild der Stille und des Friedens wie nach jeder gelungenen Party. Boko und Jeer saßen Ärmchen in Ärmchen und tranken brav ein Gins nach dem anderen, Hirana hatte sich gesetzt und duschte sich mit dem zelotischen Sekt (zelotische Sektflaschen werden aus unerfindlichen Gründen nie leer), während Percy, Sej, Ian und Wolli um den Kasten Gins herumsaßen und aneinander vorbei ins Leere starrten. Über ihren Köpfen war eine gemeinsame Gedankenblase zu sehen, in der stand "'n bißchen wenig Frauen hier ...". Leo Galoppi torkelte sturzbetrunken an der Gruppe vorbei auf der Suche nach dem Rückweg zu einem Zuhause, das es nicht mehr gab. Er hatte sie überhaupt nicht wahrgenommen. Glücklicherweise hielten sich die Malakok vom Stadtzentrum fern, weil in den Außenbezirken massenhaft tote Mäuse herumlagen, die von den Explosionen zerfetzt worden waren oder Selbstmord begangen hatten. Auf den Trümmern eines hohen Gebäudes saß eine große Katze, die in den blasser werdenden Schein des Mondes blickte. Sie
konzentrierte sich und sagte dann laut "Miau". Damit war der letzte Teil des Fests eingeläutet.
Das Ende ist der Anfang Der Mittelpunkt aller Galaxien liegt genau im Zentrum des Universums. Daher wäre er eigentlich einfach zu lokalisieren, gäbe es da nicht eine unglaublich kompliziert zu erklärende Unschärferelation zwischen Zeit und Beschleunigung. Das Ganze hat entfernt etwas mit der Relativitätstheorie zu tun, wenngleich auch einige verrückte Dimensionsbezeichnungen darin vorkommen, die jeder Physiker als unwissenschaftlich ablehnen würde. In der Bibliothek eines verschollenen Planeten, die seit über zwei Billionen Jahren wegen Inventur geschlossen ist, existiert sogar eine Formel zur Berechnung der galaktischen Breite, Länge, Höhe, Tiefe und Schönheit dieses schwer bestimmbaren Ortes, die Gerüchten zufolge lautet: "Teile die Quadratwurzel eines beliebigen Baumes durch die Anzahl seiner Blätter/Nadeln und multipliziere das Ergebnis mit der Anzahl deiner Körperhaare. Das Produkt ergibt die Entfernung in galaktischen Meilen von deinem jetzigen Standort, und zwar genau in die Richtung, in die du gerade schaust." Kritische Geister werden sofort bemerken, daß diese Angabe einigermaßen subjektiv zu sein scheint; wer sich davon überzeugen will, daß die Formel strengen wissenschaftlichen Maßstäben genügt, sollte sich den entsprechenden Eintrag im extramaristischen Spektroskop am Boden von Sflng Krzm Krzn Pflpfl ansehen (gute Taucher haben dazu die besseren Chancen). Genau dort hielt sich im Moment jemand auf, der mit Fortbewegung jeder Art (so auch mit Tauchen) überhaupt keine Probleme hatte. Dieser Jemand war von zweifelhafter Form, zweifelhaftem Geisteszustand (schizophren wäre eine passende Bezeichnung gewesen) und unzweifelhafter Farbe: blau. Er saß oder stand oder lag oder wie auch immer man es bezeichnen will vor einem der vielen fluoreszierenden Ringe und besah sich oder behorchte oder betelepathierte die Informationen über das Zentrum des Universums. Der blaue Nebel hatte inzwischen nämlich den Objektcode des Rettungsprogramms, das zu seiner Entstehung geführt hatte, analysiert. Praktischerweise hatte das Programm die Koordinaten der verschollenen Ebene 5 gespeichert, so daß gute Aussichten bestanden, die zersprengten Reste wiederzufinden und die Ebene in mühsamer Kleinarbeit wieder zu installieren. Sofern es dem blauen Nebel gelingen würde, das Zentrum des Universums zu lokalisieren. Denn unpraktischerweise hatte das Programm die Koordinaten vom Zentrum des Universums aus gerechnet abgelegt. In dem Ring des Spektroskops erschien eine Mitteilung, die in menschliche Sprache übersetzt ungefähr Folgendes ergab: "Sollten sich bei der Berechnung Schwierigkeiten ergeben, hier die Telefonnummer Gottes: 3. Die Vorwahl ist sehr lang und konnte aus Platzgründen nicht mit aufgenommen werden. Ein VorwahlVerzeichnis befindet sich in der Zentralbibliothek von Desaster Magnus, die zur Zeit wegen Inventur geschlossen ist und ca. zwei Millionen Jahre vor dem Endplumps wieder öffnet. Ende." "Ende," dachte auch der blaue Nebel. "Solange kann ich nicht warten." Ein transatlantischer Barrakuda kam vorbeigeschwommen und grinste. Die Gedanken und die Farbe des Nebels regten seinen Appetit an. Er schoß mit weitgeöffnetem Maul auf ihn zu. Präzis schlug er seine messerscharfen Zähne in den unförmigen Körper. Wer schon einmal versucht hat, Bier zu beißen, weiß,
wie schmerzhaft das sein kann. Die Zahnreihen des Fisches krachten aufeinander, ohne daß er etwas im Maul hatte. Da nichts seinen Ansturm gebremst hatte, schoß er durch den Spektroskop-Ring hindurch und krachte gegen einen dahinter aufragenden Felsen. Benommen drehte der große Fisch um und starrte den blauen Schatten an, der dahing, als wäre nichts geschehen. Seine Nase blutete heftig, außerdem hatte er sich anscheinend ein paar Zähne ausgebissen. Oder aber jemand hatte Kandiszucker ins Meer geschüttet. Der blaue Nebel beantwortete telepathisch die Frage, die sich der Fisch gerade stellte. "Erst danach zum Zahnarzt," meinte er. Der Barrakuda drehte ab und schwamm zuerst zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Als sich die Wogen geglättet hatten, horchte oder telepathierte oder sah der blaue Nebel an sich selbst herab. "Keine Haare. Verdammt," dachte er. Er inspizierte die nähere und weitere Umgebung. Nirgendwo ein Baum. Und was zum Teufel war eine Quadratwurzel? In den Niederungen der Mathematik kannte er sich seit etlichen Milliarden Jahren nicht mehr aus. "Dann bleibt nur noch die andere Möglichkeit," dachte er. "Wie unsympatisch." Resigniert begann der Nebel sich aufzulösen. Ganz, ganz langsam (der gesamte Prozeß würde, wie man später wußte, nahezu ein Jahrhundert der Zeitrechnung dieses Planeten dauern) verteilte er sich in die Gehirne der aufnahmebereitesten Rasse dieses Planeten, der Humanoiden, die sich Menschen nannten. Diese hatten gerade ein Elektronengehirn mit Namen ENIAC gebaut, groß wie ein Wohnzimmer, das bereits die Addition zehnstelliger natürlicher Zahlen durchführen konnte. Hundert Jahre später besaßen sie einen Superrechner, klein wie eine Streichholzschachtel, der in Windeseile die Telefonnummer Gottes ausrechnete (inklusive Vorwahl). Die Gedanken des blauen Nebels wirbelten in einem winzigen Strudel an die Wasseroberfläche. Dort raste gerade eine Sportyacht durch die blauen Wasser der Ägäis. Im Heck saß ein braungebrannter Mann, angeschnallt in einem Sporttaucherstuhl, und kämpfte darum, die Angelleine einzuholen. "Unglaublich!" rief er aus, als er den dicken Brocken eingeholt hatte. "Ein Barrakuda im Mittelmeer!" Übermorgen, wenn das Flugzeug ihn wieder nachhause gebracht hätte, würde er stolz seinen beiden Ärztekollegen davon erzählen, mit denen er gemeinsam eine Hals-Nasen-Ohren-Praxis betrieb.