Freizeitpark Im Fernsehsessel

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1999 freyermuth.com

Reprint

Freizeitpark im

Fernsehsehsessel Vom Theater über das Kino zum Fernsehen; vom Konzert zu Schallplatte, Radio und CD – Unterhaltung zu privatisieren, ist ein Dauertrend. Führt nun ein Weg von den Attraktionen der Freizeitparks und Arkaden über die Games der Gegenwart zu immersiven Mitspielfilmen? Fakten und Fiktionen aus Vergangenheit und Zukunft der Heimunterhaltung Weiter>

von Gundolf S. Freyermuth iss. 1.00

vol. 2008.02

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Inhalt 1 Weltenbaumaschine......................................................3 2 Diese Zukunft: Vision oder Wahn? .................................. 10 3 Wachstumsbranche Heimunterhaltung ............................. 13 4 Abtauchen in die Fiktion .............................................. 16 5 Mehr Ton ................................................................. 19 6 Mehr Bild ................................................................. 21 7 Mehr Gefühl ............................................................. 24 8 Daten zum Anfassen ................................................... 27 9 Gestalt gesucht ......................................................... 31 Impressum .................................................................. 35

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1

Kapitel

Weltenbaumaschine Heinrich hat Geburtstag. Den wievielten, daran möchte er bitteschön nicht erinnert werden. Der Besuch ist gegangen, der Rest der Familie liegt im Bett. Heinrich blickt zum Wohnzimmertisch, auf den kleinen Berg an Geschenken. Die schönste Überraschung hat er sich freilich selbst bereitet. Er greift seine Datenbrille und dreht sich um: Da steht es, das schwarze Monstrum! Im virtuellen Schauraum des Versandhauses sah der E-Pod erträglich aus. Hier im Reihenhaus-Wohnzimmer wirkt er ein wenig überdimensioniert, fast fehl am Platze. Heinrichs rechte Hand gleitet über das weiche Plastik des neuen Geräts. Leder wäre reine Verschwendung gewesen, denn dass der E-Pod in spätestens zwei Jahren gegen eine leistungsfähigere Version ausgetauscht werden muss, kann wohl keiner bezweifeln. Jedenfalls keiner, der mal Informatik studiert hat und von seinen frühverkalkten und fortschrittsfeindlichen Freunden spöttisch Hightech-Heini genannt wird.

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Mit leichten Gliederschmerzen und einer ewigjugendlichen Vorfreude auf das, was nun kommen wird, sinkt Heinrich in die Polster. Bequem fühlt es sich an, das gute Stück, trotz der zwei Dutzend Elektromotoren, die sich in seinem Innern verstecken. Zufrieden rutscht Heinrich hin und her, bis er die beste Position gefunden hat. Sein Allerwertester, denkt er dabei grinsend, sitzt auf mehr Rechenkraft, als die gesamte NASA zu Zeiten der ersten Mondlandung besaß. Automatisch will er die drahtlose Datenbrille über die Augen schieben. Doch dann zögert er. Sein Glas steht noch auf dem Tisch. Mit einem Stöhnen wuchtet er sich hoch. Der Toast aufs eigene, zunehmend gebrechliche Wohl ist Tradition, genauso wie die Tatsache, dass er zu jedem Geburtstag sich selbst mit dem neuesten, halbwegs erschwinglichen Stück Technik beschenkt. Die Abfolge von Geräten markiert so sein Leben, wie Jahresringe das Altern von Bäumen speichern: Schallplattenspieler, Kofferradio, Kassettenrecorder, Farbfernseher, am Ende der Siebziger ein Videorecorder, die tragbare Elektrische mit Löschfunktion. Das nächste Jahr schon der erste Computer, ein Apple II, schwarzweiße Spielkonsolen, ein Walkman, der Anrufbeantworter. Heinrich leert die Flasche Prosecco in sein Glas und geht zurück zu seinem Zaubersessel. 1984, im Orwell-Jahr, kam der Macintosh, dann der tragbare Tandy, das schnurlose Telefon, das Faxgerät, das erste Modem, 300 Baud, gepaart mit einem Abo bei Compuserve. Im Jahr, als die Mauer fiel, ein Funktelefon.

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Schließlich der ultimate Luxus: ein Desktop-PC mit Farbmonitor, Soundkarte, CD-Rom und rasantem Modem … 9600 Baud. Welch ein weiter Weg, denkt Heinrich, war es von den ersten Multimedia-Computern zu der interaktiven Weltenbaumaschine, die er sich jetzt geleistet hat! Und eigentlich sind doch nur ein paar Jahre vergangen … „Programm!“ befiehlt er und setzt die Datenbrille auf. Vor seinen Augen erscheint die Kanalauswahl, dreidimensional und bonbonbunt. „Zeitreisen …“, murmelt Heinrich gedankenverloren. Zeitreisen findet er eigentlich am schönsten. Wozu wäre die ganze Technik gut, wenn sie einem nicht zurückbringen könnte, was man schon verloren glaubte? „Kommando nicht verstanden“, meldet sich Lara, seine Programmführerin. „Erläutere bitte den Wunsch Zeitreisen!“ Ganz automatisch greift Heinrich zum Glas. Den Rausch der langen Geburtstagsnacht erinnert er noch gut, als er sich mit Mosaic, seinem ersten Browser, vorsichtig klickend ins World Wide Web wagte. In den frühen Neunzigern muss das gewesen sein. Um diese Zeit herum hörte er auch zum ersten Mal, dass es so etwas wie das schwarze Ungetüm, in dem er jetzt saß, eines Tages zu kaufen geben könnte. Spätestens am Ende des 21.

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Jahrhunderts, hatte Nicholas Negroponte behauptet, werde es multimediale und multisensuelle Heimunterhaltung geben, die sich nicht nur sehen und hören, sondern auch fühlen und riechen lassen werde. Die Leute hielten den legendären Gründer des Media Lab am MIT damals für einen Phantasten. Dabei ist alles viel eher so gekommen … „Kein Gestank bitte“, sagt Heinrich. „Vor allem kein Parfüm in Fahrstuhlszenen!“ „Der olfaktorische Output des E-Pod ist deaktiviert“, versichert Lara.

Multimediale und multisensuelle Heimunterhaltung, die sich nicht nur sehen und hören, sondern auch fühlen und riechen lässt Heinrich seufzt unwillkürlich. Die sanfte, leicht rauchige Stimme erinnert ihn an längst vergessene Regungen. Soweit aber, dass künstliche Kreaturen wie Lara echte Partnerinnen sein können, soll es erst in ein paar Jahren sein. Hunde, Katzen, Roboter und Fabelwesen – ja, mit denen kann man sich schon die Zeit totschlagen, sie trainieren, füttern, pflegen und sich von ihnen virtuell über die Hand lecken lassen. Doch mit Mädels wie Lara ist in der 1.0-Version des E-Pod bestenfalls Pingpong-, aber noch kein

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Dingdong-Spielen. Weshalb Heinrich auch die Anschaffung der entscheidenden Zusatzperipherie aufs nächste oder übernächste Jahr verschoben hat. Angeblich gefühlsechte Unterwäsche, die ist normalen Menschen sowieso noch schwer zu erklären. „Wenn’s keine Zeitreisen gibt“, fragt Heinrich, „dann vielleicht historische Exkursionen?“ „38 Angebote. Caesar und Kleopatra, Römischer Reigen -“ „20. Jahrhundert!“ unterbricht er. „Zweite Hälfte, gegen Ende …“ „Bangen und Balzen in LA, Pariser Plattitüden, Das Y2K-Massaker.“ „Nichts richtig Deutsches?“ fragt Heinrich und erinnert sich zugleich mit Grausen daran, dass er selbst ja damals aus Datenschutzgründen gegen die totale 3-D-Erfassung der Städte gewesen ist. Nun fehlt das Material für die übliche Sorte von historischen Mitspielfilmen. Die letzten Jahre seiner Jugend mussten heute im Zweifelsfall genauso aufwendig animiert werden wie die letzten Tage von Pompeji. „Das Y2K-Massaker“, unterbricht Lara seine Gedanken, „beginnt in Deutschland, mit den Glatzen-Unruhen …“ „Okay, ich seh‘s mir an.“

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Vor Heinrichs Augen wird es schwarz. Seine Füße schlüpfen automatisch in die Datenschlappen auf der Fußbank, seine Oberarme stoßen die beiden drahtlosen Fühlbandagen an, die an den Seiten des Pods bereit hängen und deren Polster an Blutdruckmesser erinnern. Sie schließen sich automatisch. Zuletzt gleiten Heinrichs Hände in die beiden TastTaturen, die sich in den breiten Lehnen verbergen. Fast wie Bowling, denkt er. Dann lässt ihn ein ohrenbetäubender Knall aus den Lautsprechern zusammenzucken. Kalter Wind fegt um seine Ohren. Durch die Winternacht hallt, was wie Maschinengewehrfeuer klingt. Der Himmel erhellt sich zu einem gewaltigen Feuerwerk. In seinem Schein wird das Brandenburger Tor sichtbar. Den Blick auf die Quadriga freilich blokkiert ein Hüne mit seinem kahlen Schädel. Heinrich schiebt ihn beiseite. „Pack mich nich‘ an, Alter …“ Das hört Heinrich gar nicht gerne. Die Glatze greift grob nach ihm, kriegt seinen rechten Arm zu fassen. Heinrich muskulöser Körper spürt den Druck kaum, aber es reicht, um ihn wütend werden zu lassen. Mit einer schnellen Bewegung schüttelt er seinen Gegner ab.

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Das Geburtsdatum habe ich wohl in meinem Rollenprofil zu korrigieren vergessen, denkt Heinrich dabei. Die Glatze muss ihn für einen wehrlosen Opa halten. Doch seine Kampfkraft hat er vor Betreten der 3-D-Welt auf Sieger-Niveau gebracht. Eine beiläufige, aber blitzschnelle Links-Rechts-Kombi haut den Hünen zu Boden. Die Sicht ist jetzt einwandfrei. Zufrieden fährt Heinrichs Rechte aus der TastTatur und greift zum Prosecco. Früher, wenn er solch asozialen Aggressivlingen in der U-Bahn begegnet war, überfiel ihn immer schiere Angst. Heute mag das Unheil seinen Lauf nehmen, er ist unverwundbar. Das zumindest ist ein Fortschritt …

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Kapitel

Diese Zukunft: Vision oder Wahn? Wird die Zukunft der Heimunterhaltung tatsächlich, wie dieses Szenario sie ausmalt? Und wenn ja, wann in etwa wird der gute Heinrich derlei Hightech-Heldentaten virtualiter vom Wohnzimmer aus vollbringen können? Vor jeder Antwort ist zu bedenken, dass Spekulationen darüber, was die Durchschnittsmenschheit wohl mit neuen Kommunikations- und Unterhaltungstechniken anfangen werde, mit größter Vorsicht zu genießen sind. Denn sie pflegen regelmäßig weit danebenzuliegen. Das Telefon sei als Kommunikationsmittel nicht ernst zu nehmen und allenfalls zur Übertragung von Gottesdiensten geeignet, meinten die Herren, die in den 1870er Jahren das lukrative Telegrammgeschäft dominierten. Ein Jahrhundert später war sich das Management von AT&T nicht minder sicher: Der Normalbürger brauche kein Funktelefon. Lieber investierte der Telefongigant ein paar Milliarden in eine mehr Erfolg versprechendere Technik: das Videophon, das sich nach einschlägigen Vorhersagen der 1970er Jahre längst millionenfach durchgesetzt haben müsste. Diese Zukunftsblindheit ist keineswegs eine Besonderheit der Telekommunikationsbranche. „Wer zum Teufel will schon Schauspieler sprechen hören?“ fragten sich mit H. M.

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Warner noch 1927 alle Bosse der Hollywoodstudios. 16 Jahre später schätzte Thomas Watson, Vorstandsvorsitzender von IBM, den Weltmarkt für Computer auf vielleicht fünf Exemplare. Und noch 1977 meinte DEC-Gründer Ken Olson: „Es gibt keinen Grund, warum irgend jemand einen Computer bei sich zu Hause haben wollte.“

Historischer Trend zur

Privatisierung traditionell öffentlicher Unterhaltung

Der Erfolg neuer Kommunikations- und Unterhaltungstechniken scheint daher traditionell recht unvorhersehbar. Direkte Hochrechnungen, die den jeweiligen Status quo leicht modifiziert nach vorne verlängern, muten den Zeitgenossen zwar oft plausibel und viel versprechend an, leiden aber unter äußerst kurzen Halbwertszeiten. Wer konnte schon, von der Gegenwart ausgehend, Mitte der achtziger Jahre den globalen Siegeszug eines graphischen Internet vorhersehen? Um sich beim Versuch von Prognosen nicht allzu erbärmlich zu blamieren, bietet sich freilich ein perspektivischer Umweg an – über die Geschichte. Und gerade im Falle der

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Unterhaltungstechnik ist ein historischer Trend kaum zu übersehen. Er läuft auf die Privatisierung traditionell öffentlicher Erlebnisse hinaus. Die Entwicklung ging beispielsweise von Konzertsaal und Leierkastenmann zum Heimradio oder vom Theater übers Kino und den Gastraum mit Fernseher zum privaten Gerät. Es erlaubt, Theaterstücke und Filme vom eigenen Sofa aus zu sehen, und es erlaubt die Teilhabe an einer Vielzahl anderer Live-Ereignisse wie Sportveranstaltungen, Parlamentsdebatten oder Gerichtsverhandlungen. Einen nächsten Schritt zur Privatisierung der Verfügung und Personalisierung der Nutzung vollziehen dann Geräte und Medien, die das Maß an Fremdbestimmung weiter reduzieren, indem sie Unabhängigkeit vom Angebots- und Termindiktat der Konzert-, Theater-, Radio- und TV-Programme schaffen: Spieluhren, Schallplatten- und CD-Spieler, Videorekorder, Laserdisc-Player, stationäre und mobile DVD-Laufwerke. In der langen Reihe dieser Maschinen steht der Computer.

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Wachstumsbranche Heimunterhaltung Werden PCs so als Teil eines Prozesses permanenter Privatisierung öffentlicher Kommunikation und Unterhaltung begriffen, versteht es sich gewissermaßen von selbst, dass sie erst in den letzten Jahren mit immer schnelleren Internet-Anschlüssen zu ihrer wahren Bestimmung gefunden haben. Aus dem Datenraum bringen sie nun Institutionen und Serviceleistungen ins Wohnzimmer, deren Nutzung zuvor das Verlassen der eigenen vier Wände erforderte: Banken und Verwaltungen, Bibliotheken, Museen, Läden aller Arten. Die stark steigende Akzeptanz des Heimcomputers verdankt sich denn auch wesentlich diesem neuen Angebot. Mit ihm wandern PCs und Laptops aus den Arbeits- und Kinderzimmern in die gute Stube und damit von der Peripherie der privaten Existenz in deren Zentrum. Ist der Computer aber erst einmal zum Element der Heimunterhaltung geworden, profitiert er von der kaum zu bremsenden Bereitschaft der Konsumenten, sich ihren Spaß etwas kosten zu lassen. Unterhaltung ist, wie Michael J. Wolfe in seiner Studie über die Entertainment Economy gezeigt hat, die weltweit wichtigste Wachstumsbranche. Im Vergnügungs-Vorreiter-Land USA liegen die einschlägigen Ausgaben privater Haushalte bereits über den Aufwendungen für Ernährung und Gesundheitsfürsorge. Das Gros

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des Geldes dient dabei häuslicher Unterhaltung. Nur etwa 15 Prozent der Dollar, die eine amerikanische Familie jährlich ausgibt, um Spielfilme sehen zu können, fließen beispielsweise in die Kinokassen; 85 Prozent hingegen gehen für Videomiete und –kauf sowie für Pay-TV drauf. Als entscheidendes Movens in der Geschichte der Heimunterhaltung zeigt sich so ein Massenbedürfnis nach allzeitiger privater Verfügbarkeit von Erfahrungen, die zuvor nur öffentlich und in Abhängigkeit von anderen Menschen zu haben waren. Dieses Interesse an Privatheit und Souveränität bestimmt die Adoption neuer Technik, ihre Integration in die häusliche Umwelt. Ob Wort, Bild oder Ton, ob Kunst, Sport oder Spiel – alles wurde „heimgeholt“, sobald es technisch und ökonomisch machbar war. Wer also die Zukunft der Heimunterhaltung erkunden will, muss sich zwei Fragen stellen: • Welche Unterhaltungsformen sind gegenwärtig besonders erfolgreich, aber nur öffentlich und kollektiv zu haben? • Und inwiefern lässt sich ihre Privatisierung und Personalisierung, ihr virtueller Transport ins Wohnzimmer praktizieren? Die offensichtliche Antwort weist auf einen markanten Mangel analoger Heimunterhaltung: Sie bietet Töne und Bilder, aber kaum Interaktion mit diesen Tönen und Bildern

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und erst recht keine physischen Sensationen. Die beiden wesentlichen Wachstumsbranchen der Gegenwart arbeiten denn auch mit genau den Reizen, die traditionelle audiovisuelle Geräte und Programme dem Publikum vorenthalten. Da ist zum einen die Game-Industrie. In ihr hat der Wandel vom öffentlichen zum Heimspiel begonnen. Die leistungsfähigsten Konsolen und PCs sorgen heute für einen Realismus der künstlichen 3-D-Ton- und Bildwelten wie noch vor fünf, sechs Jahren einzig teure Arkaden-Spiele. Entsprechend atemberaubend verlief das Wachstum der Branche. 1998 nahm die US-Spieleindustrie mit 5,5 Milliarden Dollar nur unwesentlich weniger ein als Hollywood, das auf 5,7 Milliarden kam. Dieses Jahr (1999), sagen die Experten voraus, werden interaktive Video- und Computerspiele zum ersten Mal höhere Umsätze als passive Spielfilme erzielen. Und da sind zum zweiten die Jahrmarktsattraktionen der Themenparks, die mit avancierten physischen Sensationen aufwarten; vom Erlebnis vierfacher Schwerkraft bis zur Schwerelosigkeit. Die Zahl der Parks ist weltweit auf über 800 angewachsen. Allein die erfolgreichsten 50 nordamerikanischen zählten 1998 über 270 Millionen Besucher und erzielten einen Rekordumsatz von acht Milliarden Dollar. Auch ihr Erfolg hat bereits Privatisierungsbestrebungen ausgelöst und zum Boom einer neuen Form von HightechCentern geführt, zum so genannten Location Based Entertainment (LBE).

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Abtauchen in die Fiktion Der Begriff meint lokale Installationen, die auf digitales und Virtual-Reality-Entertainment spezialisiert sind. Die Bandbreite der Versionen reicht von vergleichsweise bescheidenen Arkaden in Einkaufszentren über technisch bahnbrechende Einzelattraktionen wie Star Trek: The Experience (vgl. c’t 18/99) bishin zu jenen wuchernden Ketten extrem aufwendiger Spielzentren, die zahlreiche Unterhaltungskonzerne gegenwärtig rund um die Welt einrichten; u.a. Disney (DisneyQuest), Sega (SegaWorld) und Spielbergs Dreamworks-Studio (GameWorks). Ein jüngstes Beispiel ist Sonys Metreon, das - 85 Millionen Dollar teuer und 33 000 Quadratmeter groß – gerade in San Francisco eröffnete. Gemeinsam ist diesen LBEs, dass sie physische Sensationen, wie sie sonst nur in abgelegenen Themenparks erlebt werden können, mit Hilfe computergesteuerter Bewegungsplattformen und entsprechender 3-D-Programme simulieren. In ästhetischer Hinsicht lassen sich die virtuellen Ritte als Konvergenzform von Spiel und Film verstehen. Teils gleichen sie Video-und Computerspielen, in die man gewissermaßen eintreten kann, teils ähneln sie einem 3-D-Kino, in dem nicht nur die Bildern, sondern auch die Sessel das Laufen gelernt haben.

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In sozialer Hinsicht wiederum stellen die LBEs – wie das Kino und wie die Spielarkaden - eine vorläufige Kompromissleistung im Prozess der Privatisierung dar. Die Attraktion löst sich vom materiell-aufwendigen Themenpark-Environment ab und kommt dem Publikum entgegen, in seine unmittelbare Nachbarschaft. LBEs sind, wie ein Beobachter schrieb, „Themenparks, die man in den Saal verlegt hat“ – was einen großen Schritt in Richtung Wohnzimmer bedeutet.

Trend: weg von rein audiovisueller Unterhaltung, hin zur Privatisierung multisensueller Attraktionen Die Betreiber von LBEs sehen sich denn auch in direkter Konkurrenz mit der Heimunterhaltung und bemühen sich, stets einige Produktzyklen vor dem zu liegen, was die besten Video- und PC-Spiele leisten. Auf längere Sicht können sie das technische Wettrennen mit der Heimunterhaltung jedoch nur verlieren. Experten geben den LBEs maximal 20 Jahre, bis sie das Kinoschicksal ereilt und ihre typischen Erfahrungen mehr oder weniger gleichwertig daheim zu haben sind.

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Aus dieser Einsicht hat Sony in seinem Metreon-Komplex in San Francisco eine interessante Konsequenz gezogen: Privaträumen nachgebildete Kulissen locken die Besucher, neue Sony-Produkte in einer „vertrauten“ Umgebung auszuprobieren und sich so mit dem anzufreunden, was eher früher als später im eigenen Wohnzimmer stehen wird. Dieselbe „Aufklärungsabsicht“ verfolgt der microsoftSF store im Metreon, das weltweit erste Einzelhandelsgeschäft des Softwaregiganten. Die fortgeschrittene Technik, die Produktpräsentationen wie diese popularisieren, kündet von der grundsätzlichen Tendenz: weg von der rein audiovisuellen Unterhaltung und hin zur Privatisierung multisensueller Attraktionen. Solch immersive Unterhaltung will sinnliche Erfahrungen realistisch simulieren. Ihr ästhetisches Ziel, die Immersion, bedeutet das Eintauchen in die Fiktion, das komplette Versinken der Zuschauer beziehungsweise (Mit-) Spieler in den künstlichen Welten und ihrem abenteuerlichen Geschehen. In dieser Absicht, die Grenzen zwischen Daten- und Wohnraum zu verwischen, konvergieren verschiedenste technische Durchbrüche der vergangenen Jahre.

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Mehr Ton Töne können in leidlicher Qualität seit 1877 reproduziert werden. Das erste Verfahren zur stereophonen Aufzeichnung wurde freilich erst ein halbes Jahrhundert später patentiert, und ein weiteres Vierteljahrhundert verging, bis 1958 die ersten Stereoschallplatten erschienen und 1961 Radiostationen in Stereo zu senden begannen. Seitdem allerdings beschleunigte sich die Entwicklung rasant, wobei die größten Fortschritte zu räumlich-realistischeren Hörerlebnissen im vergangenen Jahrzehnt erzielt wurden. Experten sprechen von nichts weniger als einer Audio-Revolution. Experimente mit „digitalen Ohren“ haben die menschlichen Besonderheiten dreidimensionalen Hörens erkundet und geholfen, mathematische Formeln wie die Head-RelatedTransfer-Function (HRTF) zu entwickeln. Höreindrücke lassen sich so mit ausreichender Genauigkeit kalkulieren. Im Verein mit der Berechnung virtueller Schallwellen erlauben digitale Filter- und Steuerungstechniken Echtzeit-Simulationen der typischen Charakteristika dreidimensionaler Hörumwelten – von der Höhle bis zum Konzertsaal, vom Dschungelfluss bis zur Großstadtstraße, vom Innern einer Kutsche bis zum Cockpit eines Düsenjägers.

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Diese künstlichen, auf sechs oder mehr Kanälen erzeugten Geräuschwelten lassen sich, solange entsprechende Ausgabe-Hardware nicht oder nicht preiswert genug zur Verfügung steht, mittels spezieller Virtualisierungs-Algorithmen auch in nur zwei Lautsprechern oder in einem Stereo-Kopfhörer emulieren. Zur Popularisierung der neuen 3-D-Audio-Techniken haben zudem Initiativen wie Microsofts DirectSound3D-Standard beigetragen. Er umfasst auch positionsabhängige Audioeffekte – also Geräuscheindrücke, die der imaginierten Position des menschlichen Zuschauers/Spielers innerhalb der virtuellen Umwelt entsprechen. Bislang beschränkt sich die Nutzung der revolutionären Gestaltungsmöglichkeiten für 3-D-Hörräume zwar wesentlich auf Computerspiele. Und auch sie verfahren kaum kreativ. Meist eskalieren sie bloß vorhandene Effekte – das allerdings nicht ohne Wirkung. Wer in ein Spiel vertieft vor seinem Monitor sitzt und plötzlich hört, wie direkt an seinem Hinterkopf eine Pump Gun durchgeladen wird, vergisst das so schnell nicht. Einfallsreichere und ästhetisch subtilere Effekte bieten sich überdies an und werden gewiss in den nächsten Spiele-Generationen folgen. Ebenso dürfte es bloß eine Frage der Zeit sein, bis sinkende Preise und neue Programmierhilfen zum Einsatz von 3-D-Audio auch in nicht-kommerziellen Werken führen, etwa in interaktiven On- und OfflineFiktionen, in der Installationskunst oder der CyberArt.

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Mehr Bild Bei der Adaptation der ebenfalls neuen visuellen 3-D-Verfahren, dem zweiten Innovationsbereich, der in den vergangenen Jahren die künstlichen Computerwelten realistischer werden ließ, steht die Bildende Kunst denn auch kaum mehr zurück. Von Kritikern und Künstlern wird diese jüngste Eroberung dreidimensionaler Bildlichkeit bereits mit einer „digitalen Renaissance“ verglichen. Wie die Entdeckung und Entwicklung der Perspektivik durch Filippo Brunelleschi, Leon Battista Alberti und Leonardo da Vinci der Malerei eine neue Dimension eröffnet habe, so stelle nun die Erweiterung von 2- zu 3-D alle traditionellen Vorstellungen von künstlerisch gestalteter Räumlichkeit in Frage. Die breite Durchsetzung der diversen und konkurrierenden 3-D-Experimente garantierte der 1996/97 etablierte Virtual-Reality-Markup-Language-Standard (VRML). Als Schlüsselereignis, das die bis dahin esoterische Technik Millionen Menschen bekannt machte, gilt der bahnbrechende Live-Einsatz auf der NASA-Site während der Pathfinder Marsmission. Heute arbeiten die aktuellen Chip-Generationen bereits mit speziellen Instruktionssets, die 3-D-Kalkulationen beschleunigen. Im Handel sind zudem Programme, die das Konstruieren von 3-D-Fiktionen vereinfachen, indem sie digitalen Welten und Wesen spezifische Eigenschaften und Verhaltensweisen einbeschreiben, dabei etwa Erkennt-

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nisse der Robotik und der Echtzeit-Prozesskontrolle nutzend. 3-D-Bildräume finden sich derweil in fast allen Bereichen, von Internet-Chat-Rooms über Börsenprogramme bis zu wissenschaftlicher Simulationssoftware. Das Gros der kommerziellen Anwendungen betrifft freilich wiederum den Spiele-Sektor. Ihm kommt die Rolle des ökonomischen Motors zu. Die möglichen Profite in diesem zahlenmäßig größten und lukrativen Segment bewegen die Hersteller von Soft- und Hardware zu immer neuen Investitionen. Einfache stereoskopische Datenhelme sind für wenige hundert Mark im Handel. Aufwendigere Systeme mit motion tracking kosten noch vierstellige Beträge. Sie registrieren jede Kopfbewegung und schaffen so die Voraussetzung für eine Echtzeit-Umrechnung der 3-D-Szenen entsprechend der jeweiligen Perspektive des Betrachters – dass man sich also zum Beispiel umwenden und um eine fiktive Ecke gucken kann. Alternativ zu fotorealistischen 3-D-Kunstwelten wurden auch Verfahren zu einer besseren dreidimensionalen fotografischen Reproduktion der Realität entwickelt. IPIX, nach eigenen Werbeworten „die Zukunft der Fotografie“, erlaubt die Herstellung von kugelförmigen, 360-Grad-mal-360-Grad-Bildern. Auf den über 4000 Websites, die IPIXVerfahren verwenden, kann man gewissermaßen in die Fotos hineintreten und in ihrem Bildraum frei navigieren. Ähnliches auch für bewegte Bilder strebt das RoundAbout

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Immersive Video System an. Elf hochauflösende Kameras, die in alle Himmelsrichtungen schauen, nehmen das jeweilige Geschehen gleichzeitig auf. Aus diesen Bildströmen konstruiert Software eine Videosphäre, die der Zuschauer nach eigenem Willen durchwandert und deren Ablauf er steuert. Der Einsatz kann angesichts der Datenmengen bislang ausschließlich im so genannten closed loop über Speichermedien erfolgen, etwa in der Forschung oder für virtuelle Besichtigungstouren durch Fabriken und Museen. So verwendete Intel Bilder dieses Systems bei der Einführung des Pentium III, um die 3-D-Leistungsfähigkeit des neuen Chips zu demonstrieren. Die Herstellerfirma Immersive Media denkt jedoch bereits an die Anwendung im connected loop für interaktive Live-Heimunterhaltung und hat sich dafür den Begriff „Telemmersion“ schützen lassen. Sobald die Übertragungskapazitäten reichen, sollen Sportveranstaltungen oder Popkonzerte als navigierbare 3-D-Räume ins Wohnzimmer gelangen – was dem Zuschauer die Möglichkeit bieten würde, sich etwa in einem Fußballstadion so frei zu bewegen, als befände er sich vor Ort; besser noch: als stünde er selbst mit auf dem Feld.

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Mehr Gefühl Die existierenden 3-D-Verfahren simulieren – begrenzt nur durch die Leistungsfähigkeit aktueller PCs und durch den Mangel an Bandbreite - eine virtuelle Teilhabe an fiktiven wie dokumentarischen Geschehnissen, die sich in audiovisueller Hinsicht immer weniger von „wirklichen“ Erlebnissen unterscheidet. Der Mensch allerdings besteht nicht nur aus Augen und Ohren. Gerade im Hinblick auf die Jahrmarktsattraktionen, die Themenparks und LBEs bieten, fehlt ein entscheidendes Moment: die physische Sensation. An ihrer Simulation wird bereits seit den achtziger Jahren gearbeitet. Je realistischer wissenschaftliche und militärische Computersimulationen wurden, desto störender machte sich das Fehlen einer physischen Rückkopplung bemerkbar. Chirurgisches Training an virtuellen Körper etwa bleibt ohne „Körpergefühl“ wesentlich behindert. Ähnlich problematisch ist physische Widerstandslosigkeit bei Fahr- und Flugsimulationen. Es lag daher nahe, die Kommunikation zwischen Mensch und Computer um eine Dimension zu erweitern und den Datenraum fass- und fühlbar zu machen. Solches Force Feedback funktioniert nach einem rechenintensiven Prinzip: Den 3-DModellen werden Informationen über die Materialeigenschaften der virtuellen Objekte beigegeben, aus denen sich ihr Verhalten in bestimmten Situation kalkulieren lässt. Bei

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Benutzer-Zugriffen muss dieses gesetzte Verhalten dann kalkuliert werden; bis zu 1000 mal pro Sekunde, da Fingerspitzen empfindlich sind und einen Mangel an Realismus weniger verzeihen als Augen, denen 30 Einzelbilder pro Sekunde als Bewegungsillusion hinreichen.

Erste Schritte zur multisensorischen Immersion in virtuelle Welten SensAbles Phantom, die erste kommerzielle Fühlmaschine, die 1993 auf den Markt kam, verwendete ein von drei Elektromotoren getriebenes, Fingerhut-artiges Greifgerät. In der billigsten Ausführung kostete sie 20 000 Dollar. Heute ist Phantom verbessert für weniger als die Hälfte zu haben. Bahnbrechende Produkte produzierten auch Cybernet Systems, Virtual Technologies oder Haptic Technologies, unter anderem Stifte, Mäuse und Datenhandschuhe, mit denen blinde Benutzer Menuleisten, Dateien und Texte erfühlen können. Den Durchbruch zum Massenmarkt bereitete allerdings eine andere Firma vor: Immersion Corporation in San Jose. Sie stellte 1995 mit dem I-Force-Koprozessor einen spezi-

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ellen Chip für Force Feedback-Peripheriegeräte vor. Er liefert Hilfsmittel zur Simulation von Oberflächentexturen und Materialeigenschaften und erleichtert so die Kreation komplizierter physischer Sensationen wie etwa die Erzeugung des Gefühls von Meereswellen. Für die vollständige Standardisierung sorgte dann 1997 die Integration von Force Feedback in Microsofts DirectX. „Die Sensation des Fühlens im Umgang mit dem PC zu erzeugen“, schwärmte damals Jim Pappas, Chef-Innovator bei Intel, „bedeutet einen aufregenden nächsten Schritt auf dem Weg zur Vermittlung wahrhaft immersiver Computer-Erfahrungen.“

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Daten zum Anfassen Gänzlich realistische Simulationen über sechs Achsen, die zudem nicht wie virtual rides vorprogrammiert sind, sondern interaktiv und in Echtzeit entstehen, existieren zwar bis heute erst in der Forschung. Was zu erschwinglichen Preisen auf dem Markt ist, kommt mit zwei oder drei Bewegungs- beziehungsweise Fühlachsen aus. Den wenigen professionellen Produkten – etwa Malgeräten und Skalpellen – steht dabei eine Flut von wackelnden, stoßenden und vibrierenden Billigprodukten zu Unterhaltungszwecken gegenüber. Angeboten werden Dutzende von Joysticks, die den Rückschlag virtueller Waffen oder den Widerstand eines Jet-Steuerknüppels erzeugen, sowie Lenkräder, die auf virtuellen Straßenwiderstand und Schlaglöcher reagieren. Den Höhepunkt an Force-Feedback-Luxus versprechen rüttelnde, schüttelnde, massierend dröhnende und sich steil neigende Spielstühle wie der hydraulische Rock’n’Ride oder der Intensor. Für nur 180 Dollar dehnt er, was die Hand am Joystick spürt, auf den ganzen Körper aus. Schlaglöcher in Rennstrecken lassen sich so voll auskosten. Demnächst sollen die Intensor-Reize noch durch eine Fühlweste erweitert werden. Und zu Weihnachten hat Logitech für 99 Dollar gar eine von Elektromotoren getriebene USB-

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Fühlmaus angekündigt. Sie lässt Online-Immaterialitäten virtuell ertasten: Gegenstände in künstlichen Chat- und Spielwelten, Waren in Online-Schauräumen und natürlich begehrenswerte Formen, die sich jeder, der den Phantasien seiner Pubertät die Treue gehalten hat, selbst vorstellen mag. Force Feedback versucht so, den Prozess der Entmaterialisierung, der mit der digitalen Simulation realer Verhältnisse bislang zwangsläufig einherging, ein Stück weit rückgängig zu machen. In der Kombination mit akustischem und visuellem 3-D-Realismus und der Interaktivität, die Computer und Internet gegenüber analogen Medien bieten, werden nun neue, immersive Formen der Heimunterhaltung denkbar. Zahlreiche Innovationen künden bereits von dieser Zukunft: • Internet-Sites wie Quokka Sports Immersion, die auf ein interaktives Miterleben realer Ereignisse aus der Perspektive der Teilnehmer zielen. Quokka konzentriert sich dabei auf Sportereignisse, die sich im Alltag sinnlicher Anschauung und unmittelbarer Teilhabe entziehen; etwa monatelange Regatten rund um die Welt oder Autorallyes, die über Tausende von Kilometern gehen. • Shopping-Angebote, die über Verfahren wie die Virtual Model Technology ein „Anprobieren“ diverser Kleidungsstücke erlauben; wenn nicht am eigenen Leib,

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so doch an dem des nach dem eigenen Bilde geschaffenen Modells. Zu den ersten Anwendern gehört Lands‘ End. • Immersive Online-Spielwelten wie Ultima Online oder Sonys 3-D-EverQuest. Ihr Reiz besteht wesentlich in der über Virtualität vermittelten zwischenmenschlichen Interaktion und der Produktion einer sozialen Gemeinschaft, zu der man gehören kann, ohne die Wohnung verlassen zu müssen.

Sind Mitspielfiktionen und virtuelle Reisen durch Raum und Zeit die Zukunft der Unterhaltung? • Interaktive Sportgeräte, die Real- und Datenraum verbinden; zum Beispiel Tennisschläger, deren Bewegungen von Sensoren gemessen und im virtuellen Raum repräsentiert werden. • Projekte wie die 3-D-Kartograpierung diverser europäischer und amerikanischer Großstädte sowie die virtuelle Rekonstruktion nicht mehr existierender Bau- und Kunstwerke. Für das Getty Museum in Los Angeles wurde etwa Trajans Forum,

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das im Jahre 850 einem Erdbeben zum Opfer fiel, archäologisch exakt nachprogrammiert. Und im Innovation Center von Disneys Epcot-Park lässt sich nicht nur die heutige, sondern auch die im 15. Jahrhundert zerstörte Version der St. Peters Basilika besichtigen. Die Erfahrungen, die derlei Simulationen bieten, laufen bereits auf Mitspielfiktionen, virtuelle Reisen und auch Zeitreisen von der Art hinaus, wie sie eingangs Heinrich unternahm. Die Frage, wann eine Heimunterhaltung, die mit physischen Sensationen aufwartet, marktreif werden könnte, lässt sich insofern jetzt beantworten: Einer Verwirklichung stehen grundsätzliche technische Probleme kaum noch entgegen. Der E-Pod - dessen Design und Eigenschaften übrigens weitgehend von Mort Heiligs sechziger Jahre Sensorama abgekupfert wurden – ist eine realistische Fiktion. Seine Zukunft hat längst begonnen.

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Gestalt gesucht Mit den multisensuellen Erfahrungen, die die Realität bietet, können die realexistierende Interaktivität und die bescheidenen Force-Feedback-Angebote natürlich noch nicht ernsthaft mithalten; geschweige denn mit den durch Inszenierung aufgeladenen und mit Hightech-Gerätschaften hochgerüsteten Kunst-Realitäten von Themenparks. Harvard-Professor Robert Howe vergleicht unsere bisherigen Fähigkeiten, den Datenraum fühlend zu erfahren, dementsprechend mit der Genauigkeit und Sensibilität, die das Stochern mit einem Stock produziert. Doch mithalten konnten auch die ersten Schellackplatten mit keinem Konzert, und kein winziges Schwarzweiß-TV konkurrierte je in der Qualität des Erlebnisses mit Oper, Theater oder Breitwandkino. Nicht die bescheidene Qualität der Simulationen selbst ist es daher in erster Linie, die heute dem Durchbruch einer neuen interaktiven und immersiven Form von Heimunterhaltung entgegensteht. Hinderlich sind vielmehr konzeptionelle Mängel der Hard- und Software. Da ist zum einen die fehlende Systemintegration. Sie erinnert an den Stand der „Kraftfahrzeugindustrie“ Mitte der 1880er Jahre, als einzelne Erfinder Benzinmotoren an Dreirad- und Kutschwagen schraubten. Im Prinzip war das Auto damit erfunden. Um mit

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diesen rudimentären Gefährten umzugehen, brauchte es jedoch einigen Enthusiasmus. Eine Windschutzscheibe, ein Paar Türen, gar ein Dach, schließlich luftgefüllte Gummireifen, gefederte Achsen oder Scheibenwischer – irgend etwas fehlte bei jedem der frühen Modelle noch. Die Bestandteile oder zumindest die Materialien und Technologien standen, als um die Jahrhundertwende die ersten Automobile auf den Markt kamen, zwar zur Verfügung. Es brauchte jedoch Jahrzehnte, bis die diversen Elemente mit dem Basiskonzept vom Auto in Einklang gebracht waren. Derselbe Weg zur Systemintegration steht den Konstrukteuren interaktiver Unterhaltungsgerätschaften bevor. Das zweite Manko, das die Vorstellung immersiver Massenmedien noch ein wenig absurd erscheinen lässt, betrifft die Software. Es ist ein intellektueller und ästhetischer Mangel, wie er auch die Anfänge des Kinos prägte. Die Filmer verfügten in den 1890er Jahren über die Gerätschaft zur Produktion laufender Bilder, aber ihnen fehlte die rechte Vorstellung, was sie damit anfangen sollten. Ihre Kurzstreifen hielten schlicht dokumentarische oder inszenierte Szenen fest. Die Kamera verharrte dabei statisch. Visuelle Dynamik oder wechselnde Perspektivik waren unbekannt. Bewegung fand nur innerhalb des Bildinhalts statt. Der wiederum war sklavisch an die Reproduktion von Realraum und Echtzeit gebunden – bis zu jenem Nachmittag im Herbst 1896, als Georges Méliès eine Pariser Straßenszene filmte und seine

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Kamera plötzlich klemmte. Méliès setzte sie wieder in Gang und arbeitete weiter. Als er später den Film entwickelte, sah er zu seiner Verblüffung, wie sich vor seinen Augen ein Leichenwagen in einen Omnibus verwandelte.

Was die Zukunft verlangt: Integration der Hardware-Systeme und ästhetische Innovation interaktiver Software Die klemmende Kamera hatte das Echtzeitkontinuum gesprengt, in dem die filmische Reproduktion von Realität bis dahin konzeptionell gefangen war. Zwar behalf man sich danach noch einige Zeit damit, Kameras einfach anzuhalten, wenn man die Szene wechseln wollte. Kreativen Filmschnitt führte erst D. W. Griffith 1915 ein. Doch mit Méliès éliès liès èss klemmender Kamera war die Möglichkeit zur Manipulation von Filmzeit und Filmraum prinzipiell entdeckt. Der Spielfilm, wie wir ihn heute kennen, war imaginierbar geworden, die Transformation der reinen Reproduktionstechnik zu einer erzählenden Kunst begann.

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Für die Zukunft interaktiver Fiktionen und speziell immersiver Heimunterhaltung kann man nur hoffen, dass sich möglichst bald ein ähnlich kreativer Betriebsunfall ereignet. Sobald nämlich die heute vorhandenen Einzelgerätschaften zu ihrer systematischen Gestalt und zu ihrer ästhetischen Form finden, dürfte die Durchsetzung von Mitspielfilmen und anderen multisensuellen Vergnügungen allemal so rasant voranschreiten, wie es bei Kino und Fernsehen der Fall war. Das erste, spätestens zweite Jahrzehnt des neuen Jahrtausends würde dann den massenhaften Triumph interaktiv-haptischer Heimunterhaltung bringen - und damit die Themenparks und wohl auch Sex- und Sportcenter ins Wohnzimmer.

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info Dieses Werk ist unter einem Creative Commons

Impressum

Namensnennung-Keine

DRUCKGESCHICHTE

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Erstdruck in: C’T - MAGAZIN FÜR COMPUTERTECHNIK, 13. September 1999,

Keine Bearbeitung 2.0

S. 236-241.

Deutschland Lizenzvertrag

Auszugsweiser Nachdruck als: Sensation auf dem Sofa. In: ZEITUNG ZUM

lizenziert. Um die Lizenz

SONNTAG, 30. Januar 2000, S. 35.

anzusehen, gehen Sie bitte

Auszugsweiser Nachdruck als: Sturzflug im Wohnzimmer. In: SÜDWEST-

zu http://creativecommons.

PRESSE, 3. Februar 2000.

org/licenses/by-nc-nd/2.0/

Auszugsweiser Nachdruck als: Der Erlebnispark im Wohnzimmer. KÖLNER STADTANZEIGER, 17. Februar 2000

de/ oder schicken Sie einen Brief an Creative Com-

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ÜBER

DEN

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Gundolf S. Freyermuth ist Professor für Angewandte Medienwissenschaften an der ifs - Internationale Filmschule Köln (www.filmschule.de). Weitere Angaben finden sich auf www.freyermuth.com.

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