Wochenendausgabe 31.März/1.April 2007
1977 - das deutsche Terrorjahr Mit der Ermordung von Generalbundesanwalt Buback begann der Versuch der RAF, ihre Führungsspitze freizupressen
Tatort Karlsruhe: Generalbundesanwalt Siegfried Buback und zwei Begleiter werden am Morgen des 7. April 1977 von einem Kommando der terroristischen RAF erschossen (Foto oben). Es ist der Auftakt zum Versuch der Roten Armee Fraktion, ihre Gesinnungsgenossen in deutschen Gefängnissen freizupressen.
Im „Volksgefängnis“: Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer (Foto links) wird am 5. September 1977 in Köln entführt, seine vier Begleiter ermordet. Als nach 43 Tagen erkennbar wird, dass die Freipressungsaktion der RAF gescheitert ist - inzwischen hat die Bundesgrenzschutz-Einheit GSG 9 ein von Palästinensern entführtes Flugzeug befreit wird Schleyer mit drei Kopfschüssen kaltblütig liquidiert. VON WOLFGANG BLIEFFERT
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ründonnerstag 1977, die Nation freut sich aufs Osterfest. So auch Generalbundesanwalt Siegfried Buback (57), der mit seinem Fahrer Wolfgang Göbel (30) und Justizhauptwachtmeister Georg Wurster (43) auf dem Weg ins Büro ist. Ihr Wagen muss an der Ecke Lin-
kenheimer Allee/Moltkestraße an einer Ampel stoppen. Ein mit zwei Personen besetztes Motorrad der Marke Suzuki GS 750 hält neben dem Dienstmercedes. Als die Ampel auf Grün springt, zieht der Mann auf dem Sozius eine Maschinenpistole aus einem Aktenkoffer und eröffnet das Feuer. Die drei Insassen haben keine Chance.
Der Staat ist nicht erpressbar - Bundeskanzler Helmut Schmidt in einer Fernsehansprache nach der Schleyer-Entführung. Fotos: dpa
Die Rote Armee Fraktion (RAF) hat zugeschlagen. Was die erschütterte Nation noch nicht ahnt: Es wird noch schlimmer kommen. Denn die „zweite Generation“ der RAF hat sich vorgenommen, mit noch brutalerer Gewalt durchzusetzen, was ihr bei der Stürmung der deutschen Botschaft in Stockholm 1975 missglückt war: die Befreiung der RAFFührer Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe, die in Stuttgart-Stammheim einsitzen. So folgen im Jahr 1977 • die Ermordung des Bankiers Jürgen Ponto, der sich seiner geplanten Entführung widersetzt, • der Versuch, die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe mit einem Raketenwerfer zu attackieren, • die Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer, bei der seine vier Begleiter erschossen werden, • die Kaperung der Lufthansamaschine „Landshut“ mit Mallorca-Urlaubern an Bord, die Ermordung von Flugkapitän Schumann, schließlich die Befreiung der Geiseln durch die Bundesgrenzschutzeinheit GSG 9 auf dem Flughafen von Mogadischu (Somalia), • daraufhin der Selbstmord der Stammheim-Häftlinge
Baader und Raspe durch eingeschmuggelte Schusswaffen sowie der Selbstmord von Ensslin, die sich am Zellenfenster erhängt, • sowie quasi als Schlussakt die Ermordung Hanns-Martin Schleyers irgendwo im Elsass. Seine Leiche wird im Kofferraum eines abgestellten Autos in Mühlhausen gefunden.
Techniker des Terrors Was knapp zehn Jahre zuvor mit eher symbolischen Brandstiftungen in zwei Frankfurter Kaufhäusern (als Protest gegen den Vietnamkrieg der Amerikaner) begonnen hatte, erreicht in diesem Deutschen Herbst 1977 seinen blutigen Höhepunkt. „Techniker des Terrors“ hat der Publizist Ulrich Greiner die „zweite Generation“ der RAF um Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar kürzlich genannt. Echte politische Ziele hatten diese Gewalttäter nicht mehr, ihnen ging es nur noch um Gefangenenbefreiung - und dieser Zweck heiligte alle Mittel. Der Staat und an seiner Spitze der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) hatten dieser bis dahin größten Herausforderung erfolgreich widerstanden. Zwar wurden Verteidigerrechte beschränkt, immer neue Anti-
Terror-Gesetze verabschiedet und der Fahndungsapparat modernisiert. Doch die Regierenden gingen den Terroristen nicht auf den Leim, die gehofft hatten, der Staat werde seine demokratische Maske verlieren und sein wahres, sein faschistisches Gesicht zeigen. Wie leicht man in einem Anti-Terror-Kampf auf die schiefe Bahn geraten kann,
war zuletzt in den Vereinigten Staaten nach den Attacken vom 11. September 2001 zu besichtigen. Die Beschäftigung mit dem Terror der RAF, der 34 Menschen das Leben gekostet hat, kann vielleicht helfen, gewappnet zu sein, wenn andere, heute möglicherweise noch brutalere Extremisten zuschlagen.
SONNTAGSZEIT SPEZIAL
Der Terror der Roten Armee Fraktion (RAF) In diesem Sonntagszeit-Spezial beleuchten wir verschiedene Aspekte des RAF-Terrorismus und seiner Folgen. Vor allem beschäftigen wir uns mit Aspekten, die mit Ereignissen und Personen unserer Region zu tun haben. Lesen Sie unter anderem: • „Man hasste oder man liebte ihn“ - der Kasseler Dokumentarfilmer Klaus Stern über Andreas Baader. SEITE 2 • Die Geburtshelferin - Astrid Prolls Weg aus dem beschaulichen Kassel in die Welt der Gewalt. SEITE 3 • „Ich bin stolz auf meinen Vater“ - der Göttinger Chemieprofessor Michael Buback über den ermordeten Generalbundesanwalt. SEITE 4 • Streit über die „klamm-
heimliche Freude“ - der Nachruf des Göttinger Mescalero und seine Folgen. SEITE 5 • Das Superhirn auf der Todesliste - Karl Heinz Beckurts, vom Kasseler Musterschüler zum RAF-Ziel. SEITE 6 • Die RAF bedrohte Sicherheit und Ordnung - Interview mit Verfassungsschutzpräsident Heinz Fromm. SEITE 7 Welche Erinnerungen ha-
ben Sie an den RAF-Terrorismus? Wie beurteilen Sie die Ereignisse vor 30 Jahren heute? Diskutieren Sie mit uns im HNA-Forum unter www.hna.de/forum
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Ein Schuss in viele Köpfe: Der Student Benno Ohnesorg wird am 2. Juni 1967 bei einer Anti-Schah-Demo in Berlin von einem Polizisten erschossen.
Zur Person • Andreas Baader (1943 1977), gebürtiger Münchner, bei Großmutter und Mutter aufgewachsen, schon als Jugendlicher straffällig; 1968 verurteilt wegen Brandstiftung in Frankfurter Kaufhäusern. Am 14. Mai 1970 Befreiung aus der Haft durch bewaffnete Helfer - die Geburtsstunde der terroristischen Roten Armee Fraktion (RAF). 1972 Verhaftung in Frankfurt, 1977 in Stuttgart-Stammheim Verurteilung zu lebenslanger Haft. Nach der Befreiung des Lufthansa-Jets „Landshut“ Selbstmord am 18. Oktober 1977 mittels einer eingeschmuggelten Pistole. • Gudrun Ensslin (1940 - 1977), viertes von sieben Kindern einer evangelischen Pfarrersfamilie, in Tuttlingen aufgewachsen. Studium in Tübingen und Berlin; gemeinsam mit Baader als Kaufhausbrandstifter verurteilt. 1977 in Stammheim Selbstmord mit einem Telefonkabel. In einem Grab gemeinsam mit Baader und Jan-Carl Raspe in Stuttgart beigesetzt. • Klaus Stern (38), aufgewachsen in Schwalmstadt-Wiera, Ausbildung zum Briefträger, Studium der Wirtschaftspädagogik und Politik. Erster Dokumentarfilm 1999 über die Lorenz-Entführung 1975. Grimme-Preis 2006 für „Weltmarktführer - Die Geschichte des Tan Siekmann“.
Klaus Stern
Archivfoto: dpa
1968 - die Zeit der Außerparlamentarischen Opposition (APO): Weltweit begehrt die Jugend auf. Links: Studentenführer Rudi Dutschke.
Dutschkes Fahrrad am Straßenrand: Ein aufgehetzter Rechtsradikaler verletzt den Studenten am 11. April 1968 mit Schüssen lebensgefährlich.
Jux auf der Anklagebank: (von links) Thorwald Proll, Horst Söhnlein, Andreas Baader und Gudrun Ensslin werden wegen Brandstiftung verurteilt, nachdem sie 1968 Brandsätze in Frankfurter Kaufhäusern gezündet hatten - aus Protest gegen den Vietnamkrieg.
„Man liebte oder hasste ihn“ Der Kasseler Dokumentarfilmer Klaus Stern im Interview über den RAF-Gründer Andreas Baader V ON M ARK -C HRISTIAN
VON
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ür sein Porträt des RAFTerroristen Andreas Baader hat der Kasseler Dokumentarfilmer Klaus Stern 2003 den Deutschen Fernsehpreis erhalten. Mit Jörg Herrmann hat er im Dezember bei dtv die Biografie „Andreas Baader. Das Leben eines Staatsfeindes“ veröffentlicht. Sie schildern Baader als attraktive wie abstoßende Figur. Zunächst: Worin bestand seine Faszination? KLAUS STERN: Ihn umgab eine Aura. Er war charmant und furchtlos. Er hat den Mund sehr weit aufgerissen und Taten folgen lassen. Das war sowieso eine großmäulige Zeit ... ... und Baader hat sich in Szene gesetzt. STERN: Dafür gibt es viele Anekdoten. Baader ist 1965/66 wie ein Schauspieler über den Ku’damm geschlappt, mit langem Ledermantel, Sonnenbrille und zwei Hunden. Er hat sich in der Schwulenszene wohlgefühlt und Schwule für sich begeistert - ohne eigenes sexuelles Interesse. Er war mittelpunktsüchtig. Dann hat der ziellose Bohemien Baader die Studentenbewegung entdeckt? STERN: Viele sagen, Baader war völlig unpolitisch, ein kleiner Ganove. Das stimmt für die Zeit bis 1967 im Grunde auch. Dann hat er die Bühne genossen, die sich mit dem Protest geboten hat - und das Vorbild war die Kommune 1, die monatelang praktisch jeden Tag in der Bild-Zeitung vorkam.
STERN: Und die Gefängnisleitung hatte den Verdacht, dass er mit einer Anwältin was gehabt hat. Die erschien nach der Besprechung öfters mit zerzausten Haaren. Baader konnte auch in der Haft Menschen hervorragend instrumentalisieren. Was hat Sie selbst am Thema RAF fasziniert? STERN: Mich interessiert, wenn Dinge vordergründig auf der Hand liegen, man sie aber trotzdem nicht verstePariser Idylle: Gudrun Ensslin und Andreas Baader im November 1969 in einem Bistro. Das Foto entstammt dem hen kann, weil es keine einfachen Fotobuch „Hans und Grete - die RAF 1967 - 1977“ von Astrid Proll (Steidl-Verlag, Göttingen). Deutungsmuster Baader war vulgär, hat andere Baader und Ensslin waren 1969 STERN: Er hat sich nirgends un- gibt. Man will immer noch die dabei, als im Beiserhaus in tergeordnet. Er hat alles hin- wahrste Wahrheit über die brutal ausgenutzt ... STERN: Die schoben alle eine al- Rengshausen (Schwalm-Eder- terfragt. Dafür liebte oder RAF finden. Jetzt sollen die, truistische Fassade vor sich Kreis) die Jugendlichen vom hasste man ihn. Ob er überfor- die rauskommen, endlich reher. Sie sagten: Wir wollen das „Heimterror“ befreit wurden. dert oder hochbegabt war, den. So will es die publizierte Gute und Gerechte. Aber auch STERN: Baader hat bei einer Ver- schulisch war Baader jeden- Öffentlichkeit. Wie war das Ulrike Meinhof, die als fein- sammlung, als dessen Auflö- falls ein Versager. Er ist vater- möglich, dass diese scheinbafühlige, intelligente Frau galt, sung gefordert wurde, unge- los aufgewachsen, „Zucht und ren Desperados für die größhat als Redakteurin Sekretä- duldig gesagt: Das hat alles Ordnung“, wie damals im ten Polizeieinsätze der Bunrinnen oft nach Gutsherrin- keinen Sinn. Hier gehört ’ne Schulzeugnis formuliert wur- desrepublik gesorgt haben? nen-Art behandelt. Alles ande- Bombe rein und fertig. Das ist de, fehlten. Aber deshalb muss Warum waren die so? Diese man natürlich nicht Terrorist Naivität zu glauben, mit so eire als fair und demokratisch. nicht passiert ... ner vermeintlichen Robinwerden. Es klingt, als sei die RAF ein Pro- Aber das machte Eindruck. jekt zur Befriedigung eigener STERN: Wer so entschieden Wie verhielt sich Baader 1973/ Hood-Geschichte die Welt verändern zu können! Aber auch Bedürfnisse gewesen, Aner- war, war der Allergrößte. Das 74 in der JVA Schwalmstadt? kennung, Selbstdarstellung ... war Baader. Der hat am dicks- STERN: Eher unauffällig. Er saß der Staat hat sich alles andere STERN: Das ist sicherlich ein ten aufgetragen und auch ver- in einer Einzelzelle, wo ohne als mit Ruhm bekleckert. Ein bal keine Gefangenen ge- Unterlass die Schreibmaschi- Spielfilmregisseur könnte sich Aspekt. macht. Das hat die Heimkin- ne klapperte. Er empfing An- so was nicht ausdenken. Diese Und Baader? unglaublichen Geschichten wälte ... STERN: Dessen Befreiung war der extrem angezogen. der Gründungsmythos. Wie Baader war selbst schon als ... und hat über Kassiber die würden als unrealistisch verKind aufsässig. worfen. RAF dirigiert. beim Mao-Tse-tung-Kult.
Ein Klima der Verdächtigungen Zwei Übernachtungsgäste beim SPD-Politiker Horst Peter entpuppten sich als RAF-Mitglieder VON WOLFGANG BLIEFFERT
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eutschland, Anfang der 70er-Jahre: Im Gefolge der gewaltsamen Befreiung des Kaufhausbrandstifters Andreas Baader verändert sich das Klima im Land. Wo Kanzler Willy Brandt (SPD) eben noch selbstbewusst angekündigte hatte: „Wir wollen mehr Demokratie wagen“, beginnt der Staat nun, sich gegen echte und vermeintliche Verfassungsfeinde zu wappnen. Der Radikalenerlass zur Überprüfung von Beamtenanwärtern erzeugt eine Atmosphäre des Verdachts, bei der Fahndung nach der Roten Armee Fraktion und vermeintlichen Sympathisanten stehen Linke und Liberale unter Generalverdacht. Auch in Kassel. Einer der das am eigenen Leibe erfahren hat, ist Horst Peter, bekennender Linker. Damals SPD-Stadtverordneter und Lehrer an der Albert-Schweizer-Schule, spä-
ter Bundestagsabgeordneter (1980 bis 1994). Es ging um eine Fußnote der RAF-Geschichte, die im Kasseler Biotop aber Wellen schlug und für einige Tage auch die deutschen Medien beschäftigte. Der Reihe nach: Horst Peter und seine Ehefrau, sie studiert Sozialarbeit an der Gesamthochschule, sind in der Schönfelder Straße mit einer geräumigen Wohnung gesegnet. Am 28. Dezember 1970 lassen sie dort auf Bitten aus dem Bekanntenkreis eine Frau und einen Mann übernachten. Sie stellt sich als Rosi, er als Ben vor. Nach den Nachnamen wird in jenen Jahren nicht unbedingt gefragt. Und spontane Übernachtungsgäste sind damals im studentischen Milieu nichts Ungewöhnliches, sechs Wochen vorher beherbergten die Peters einen Göttinger Jura-Studenten namens Gerhard Schröder. Beim Frühstück wird mit Rosi und Ben über antiautoritäre Erziehung
gesprochen, dann sind die beiden wieder weg. Bei den Ermittlungen nach den beiden Kasseler Banküberfällen vom 15. Januar 1971 stößt die Polizei auch auf Horst Peter. Denn bei Rosi handelte es sich um Astrid Proll, nach der unter anderem wegen der Befreiung des Kaufhausbrandstifters Baader gefahndet wird, Ben ist wahrscheinlich der gesuchte Holger Meins gewesen, damals noch unbekannt, 1974 starb er im Hungerstreik der RAF.
Polizeischutz für den Sohn Kaum wird der Name Horst Peter in der Presse genannt, beginnt der Telefonterror. „Ist da das Hotel Peter?“, ist da noch die harmloseste Frage eines anonymen Anrufers, andere stoßen wüste Beschimpfungen aus, wieder andere drohen mit Mord und Brandstiftung. „Unser Sohn erhielt Polizeischutz und wurde von Beamten zwei Wochen lang zum
Kindergarten in Wehlheiden begleitet“. Peter empört sich noch heute: „Erklären Sie das mal einem Sechsjährigen.“ Ermittlungen gegen Peter stellt die Bundesanwaltschaft wenige Monate später ein. Kein Tatverdacht. Genugtuung für Horst Peter, der immer betont, Astrid Proll persönlich nicht gekannt zu haben. Sie war die Tochter eines Kasseler Architekten, er selbst Sohn eines Bauarbeiters. Zwei verschiedene Milieus, sagt Peter, da musste man sich auch in einer Stadt wie Kassel nicht unbedingt über den Weg gelaufen zu sein. Die Verdächtigungen gegen seine Person sieht Peter denn auch zu einem Großteil als Ablenkungsmanöver der politischen Gegner. Dass ein Brandstifter (Thorwald Proll) und eine Bankräuberin (Schwester Astrid) aus der eigenen Schicht stammten, sei für die bürgerlichen Eliten der Stadt Kassel eine Grenzüberschrei-
tung gewesen, die wie ein Schock gewirkt habe. Da seien die Anschuldigungen gegen Horst Peter Horst Peter (heute 70), SPD-Bundestagsabgeordeine will- neter von 1980 bis 1994. kommene Horst“ wird gefordert: „Heute Entlastung gewesen. Er selbst hatte mit Terror brauchen wir Wähler alle Innie etwas am Hut. Unser The- formationen über die Kandima waren Erziehungsfragen, daten. Heute sind wir zum Urnicht der bewaffnete Kampf, teilen aufgefordert. Und vorsagt er heute. Und im Übrigen her zum Nachdenken.“ Doch der infame Schuss hätten die RAF-Leute „uns damals doch für revisionistische geht nach hinten los. Innerhalb weniger Tage solidarisieA...löcher gehalten“. Die Hoffnung, die leidige ren sich hunderte Bürger in RAF-Geschichte von 1971 sei Anzeigen mit dem Angegriffeerledigt, trog allerdings. Weni- nen. Auch zahlreiche CDU-Ange Tage vor der Bundestags- hänger distanzieren sich von wahl 1980 veröffentlicht die der CDU-Anzeige. Und so wird Kasseler CDU eine Anzeige in Peter erstmals in den Bundesder HNA, in der das Bild Peters tag gewählt. Mit einem noch neben das von Astrid Proll ge- besseren Ergebnis als sein lestellt wird. Und unter der gendärer Vorgänger Holger Überschrift „Rosi, Ben und Börner (SPD).
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Das erste RAF-Opfer: Polizeimeister Norbert Schmid wird am 22. Oktober 1971in Hamburg bei einer Festnahmeaktion erschossen.
Als Starjournalistin bewundert, als RAFMitglied gejagt: Ulrike Meinhof. Im Juni 1972 wird sie festgenommen (Foto), in der Haft nimmt sie sich 1976 das Leben.
Hungerstreik der RAF: Holger Meins geht bis zum Äußersten. Für seinen Tod am 9. November 1974 macht die Sympathisantenszene den Staat verantwortlich.
Mit modernsten Fahndungsmethoden gegen die RAF: Horst Herold, Chef des Bundeskriminalamtes.
Astrid Proll aus Kassel war bei der Befreiung Baaders dabei - der Beginn der RAF
Um 9.33 Uhr kam der Doppelschlag
VON TILL SCHWARZE
1971 raubte die RAF zwei Sparkassenfilialen aus
Die Geburtshelferin
VON BASTIAN LUDWIG
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ie war von Anfang an dabei. Schon 1969 in Paris, bevor sich die Entwicklung zur Roten Armee Fraktion (RAF) wirklich erahnen ließ. Gudrun Ensslin und Andreas Baader waren auf der Flucht, auf dem Weg in den Untergrund, und Astrid Proll begleitete sie. Auch mit der Kamera. „Es war mir damals nicht klar, dass ich eigentlich Bilder gemacht habe, die die RAF bei ihrer Entstehung zeigen“, sagte sie vor zwei Jahren in einem Interview. Bilder, die die Stunde null der RAF und zugleich Astrid Prolls Einstieg in die Illegalität zeigen. „Die Sache hat mich zehn Jahre gekostet“, hat Proll im Jahr 2000 unserer Zeitung gesagt. Die Sache, das waren zwei Jahre terroristische und kriminelle Aktionen in der RAF, fast vier Jahre Haft und fünf Jahre Abtauchen in den Untergrund. Ein weiter Weg der 1947 in Kassel geborenen Tochter des Architekten Konrad Proll.
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Als Fotografin Astrid Proll 2000
interviewt: Archivfoto: Fischer
Ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich so sehr, dass der Prozess gegen sie 1974 unterbrochen wird. Proll kommt auf freien Fuß und nutzt die Chance, um erneut unterzutauchen: Sie zieht nach London, wo ihr stillschweigender Abschied von der RAF beginnt. Als Senta Gretel Sauerbier baut sie sich eine neue Existenz in einer Autowerkstatt auf, lernt ihre heutige Lebenspartnerin kennen und heiratet zur Tarnung den Briten Robert Puttick. 1978 wird die international
Spurensuche damals: Die Polizei nahm mit Hunden die Verfolgung der Täter auf. Foto: Archiv sen. Die Wirtin der rustikalen Kneipe „Wagen-Runge“ weiß von dem RAF-Raub nichts. Als Vollmar ihr erzählt, dass dort, wo sie heute Bier zapft, Deutschlands meistgesuchte Terroristen standen, kann sie es erst nicht glauben. Dass es eine RAF-Terroristin war, die ihre Pistole auf ihn richtete, hat der Mann von der Sparkasse allerdings erst zwei Tage nach der Tat aus dieser Zeitung erfahren. Wenn der Banker heute in der Zentrale an der Wolfsschlucht arbeitet, hat er keine Angst vor einem Überfall mehr. „Einige Jahre hat es mich schon begleitet. Traumatisiert bin ich aber nicht“, sagt er über diesen Morgen, an dem sich ein „Kinderstreich“ als RAF-Überfall entpuppte.
KA S S EL W i l h e l m sh ö h e r A llee
Kohlenstraße
Tischb e
instr aße RAF-Banküberfalle am 15. Januar 1971
M Lud on wi d- gSt r.
Park Schönfeld
Akademiestraße
Str.
Erneut untergetaucht
gesuchte Terroristin doch noch von der Polizei entdeckt und ein Jahr später nach Deutschland ausgeliefert. Hier wird sie 1980 wegen Urkundenfälschung und Raub zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt, die sie aber nicht mehr antreten muss. Proll baut sich eine Existenz als Fotografin auf, arbeitet unter anderem als Bildredakteurin für das Magazin „Tempo“ und die „Wochenpost“. „Ein schlechtes Gewissen ist unnötig, aber was einen lange verfolgt, ist das Schuldbewusstsein, überlebt zu haben“, hat sie einer Zeitung gesagt, nachdem sie 1998 den Bildband „Hans und Grete – Die RAF 1967-1977“ veröffentlichte. Deutliche Reue sucht man in ihren Texten und Interviews vergeblich, ihr Verhältnis zur RAF bezeichnet sie „als Wechselspiel von Distanz und Nähe“. Zu einem erneuten Interview war Proll nicht bereit, vor sieben Jahren sagte sie aber unserer Zeitung: „Ich war nicht das Ungeheuer, für das man mich gehalten hat.“
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schließend nicht geklärt werden. Fest steht, dass Proll eine Bank in Berlin mit ausraubte und 1971 in Hamburg festgenommen wurde, während sie eine weitere Bankfiliale observierte. Sie kam in den so genannten Toten Trakt der JVA Köln-Ossendorf, eine Zeit der totalen Isolation, in der sie gesundheitlich stark abbaute. „Ich hatte schreckliche Angst, verrückt zu werden“, sagte sie einmal im Rückblick.
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on gilt gemeinhin als Geburtsstunde der RAF. Sie folgte dem Befreiten in ein Trainingscamp der PLO in Jordanien, wo sie das Schießen lernte. Nach Kassel kam Proll im Dezember 1970 zurück. Als „Rosi“ getarnt, spähte sie zusammen mit Holger Meins alias „Ben“ möglicherweise die beiden Filialen der Kasseler Sparkasse aus, die im Januar 1971 von der RAF überfallen wurden. Ob Astrid Proll an der Tat beteiligt war, konnte ab-
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Zur Fahndung ausgeschrieben: Astrid Proll 1970 Archivfoto: dpa
Als der Terror noch weit weg war: Diese Aufnahme aus dem Jahr 1964 zeigt Astrid Proll in einem gepunkteten Kleid umgeben von ihren Partnern bei einem Abschlussball in Kassel. Archivfoto: Eberth
F ra
Im Gegensatz zu ihrem Vater, der mit Gebäuden wie dem AOK-Haus am Friedrichsplatz das Nachkriegsbild Kassels prägte, zog es Tochter Astrid weg aus „der Provinzstadt“, wie sie sagte. Ihr Bruder Thorwald lebte in Westberlin, die Mischung aus Kommunen, Drogen und Rebellen wirkte nach eigenen Worten faszinierend auf die damals 20-Jährige. Sie zog zu ihm und lernte bald darauf auch Andreas Baader kennen. Auf Gudrun Ensslin traf Proll, nachdem Ensslin zusammen mit Baader und ihrem sechs Jahre älteren Bruder Thorwald 1968 wegen Brandstiftung in zwei Frankfurter Kaufhäusern festgenommen worden war. Doch während es für den Bruder der Anfang vom Ausstieg war – er wandte sich ab und stellte sich 1970 der Polizei – bedeutete es für Astrid Proll den Beginn ihrer militanten Zeit. Am 14. Mai 1970 half sie bei der Befreiung von Andreas Baader – die bewaffnete Akti-
Kirchweg
Zum Bruder nach Berlin
as soll das denn! Lasst doch den Unsinn!“, hört Wolfgang Vollmar Stimmen hinter sich. Er steht mit dem Rücken zum Tresen, um Kontoauszüge für einen Kunden der Sparkassenfiliale am Kasseler Georg-Stock-Platz rauszusuchen. Der 19-Jährige dreht sich um und blickt in einen Pistolenlauf. Einen halben Meter vor ihm steht eine zierliche, schwarz gekleidete Gestalt, die ihr Gesicht hinter Kapuze und Maske verbirgt. Es knallt. Die Kugel fliegt an seinem Kopf vorbei und schlägt in der Decke ein. Vieles von dem, was sich am 15. Januar 1971 um 9.33 Uhr ereignete, hat der heute 56-jährige Mitarbeiter der Kasseler Sparkasse nie vergessen. Erst seit wenigen Tagen arbeitete er als Auszubildender im ersten Lehrjahr in der Filiale. Es gab viel zu tun an diesem Freitagmorgen. Es war ein 15. und im Schalterraum warteten viele Hausfrauen, die den Lohn ihrer Männer abholen wollten. Die Kassen waren voll, als es losging. Was Vollmar zu dem Zeitpunkt nicht wusste: die Zweigstelle in der Akademiestraße wurde zeitgleich ausgeraubt, Punkt 9.33 Uhr. Ein Doppelüberfall, bei dem insgesamt 114 715 DM erbeutet wurden. „Bis der Schuss fiel, glaubten die Kunden an einen dummen Jungenstreich. Die waren alle so klein. Man hat's im ersten Moment nicht ernst genommen“, erinnert sich Vollmar. Doch es waren keine Kinder, sondern bewaffnete RAFTerroristen. Drei bis vier schwarz Vermummte bauten sich an der Rückwand der Filiale auf. Einer hielt die Tür zu, und ein anderer sprang über den Kassentresen, der nur mit Glas abgetrennt war, und raffte das Geld zusammen. Alles ging ganz schnell. „Nach anderthalb, vielleicht zwei Minuten waren die wieder verschwunden“, sagt Vollmar. Alles schien auf die Sekunde geplant. Einen Tag zuvor
war Hauptwachtmeister HansJoachim Lehmann ein Mann in einem schwarzen Mercedes vor der Filiale aufgefallen - es war Andreas Baader, der das Ziel ausspähte. Lehmann meldete seine Beobachtung der Kripo, die offenbar nicht schnell genug reagierte. Der Erste, der nach dem Schock die Bank verließ, war der Auszubildende. Er sollte der alarmierten Polizei signalisieren, dass sich die Täter nicht mehr in der Bank aufhielten. „Zwei Polizisten fuhren im Streifenwagen vor. Die schienen völlig überrascht und fragten, was hier los sei“, beschreibt Vollmar das damalige Durcheinander. An Vollmars altem Arbeitsplatz steht auch heute ein Tre-
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36 Jahre danach: Wolfgang Vollmar hat den RAF-Banküberfall am Georg-Stock-Platz Foto: Ludwig nicht vergessen.
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In den Händen der Bewegung 2. Juni: CDU-Politiker Peter Lorenz. Die Bundesregierung gibt nach, lässt fünf Terroristen ausfliegen. Lorenz kommt frei.
Brennende Botschaft: Am 24. April 1975 scheitert der Versuch eines RAF-Kommandos in Stockholm, inhaftierte Gefangene freizupres- Gründonnerstag, 7. April 1977, Karlsruhe: Generalsen. Bonn bleibt hart. Zwei Diplomaten sterben, bundesanwalt Siegfried Buback und zwei Begleiter zwei Terroristen ebenfalls. werden von einem RAF-Kommando erschossen.
Schusswechsel ohne Schutzwesten
Beim Entführungsversuch erschossen: Jürgen Ponto, Vorstandschef der Dresdner Bank, wird am 30. Juli in Frankfurt ermordet.
„Ich bin stolz auf Vater“ Michael Buback über den vor 30 Jahren ermordeten Generalbundesanwalt
Zwei Kasseler Polizisten waren 1972 dabei, als Andreas Baader festgenommen wurde VON AXEL WELCH
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arl-Heinz Fischer ist in den frühen Morgenstunden des 1. Juni 1972 völlig übermüdet. Vier Tage lang haben der 27-Jährige und ein Kollege eine Garage in Frankfurt beobachtet. Nach einem Hinweis aus der Bevölkerung wissen die beiden Polizeibeamten: Es handelt sich bei dem Objekt um ein Terroristen-Versteck. Gegen 4 Uhr ahnen die Männer noch nicht, dass es wenig später um Leben und Tod geht. Sie packen gerade ihre Maschinenpistolen ein und wollen, ganz erschöpft, ihren Dienst beenden. Da ereilt sie über Funk die Nachricht, dass es eine Bombendrohung gibt. An der Frankfurter Hauptwache soll ein Sprengsatz gezündet werden. Fischer und sein Kollege entschließen sich, die Garage weiter zu beobachten. Dann geht plötzlich alles ganz schnell. Ein schwarzer Porsche fährt vor. Drei Männer steigen aus. Dass es die Terroristen Jan Carl Raspe, Holger Meins und Andreas Baader sind, wissen die Polizisten nicht. Als sie ihr Auto verlassen, eröffnen die RAF-Leute das Feuer. Etwa 15 Schüsse fallen aus knapp 20 Metern Entfernung. Wie durch ein Wunder bleiben die Terroristenjäger unverletzt. Während Baader und Meins in die Garage und damit in die Falle flüchten, rennt Raspe in einen nahegelegenen Park. Er will sich dort verstecken, doch das Frankfurter Überfallkommando mit dem 22-jährigen Kasseler Polizeimeister Bernd
Schäfer greift zu. „Der war körperlich ausgemergelt“, erinnert sich Schäfer. Ein anderes Polizeiaufgebot mit Karl-Heinz Fischer vom Mobilen Einsatzkommando bereitet unterdessen den entscheidenden Schlag vor. Baader zeigt sich kurz vor der Garage, macht Mätzchen, fuchtelt mit der Pistole umher aber es fällt kein Schuss. Fischer schleicht sich an die Rückseite der Garage, nimmt zwei Glasbausteine aus der Wand und zündet Tränengas. Kurz darauf öffnet sich die Flügeltür der Garage, es qualmt, die Polizei teilt dem RAF-Duo über Lautsprecher mit, dass alles umstellt sei. Im Schatten eines Panzerwagens will Meins flüchten die Polizei eröffnet das Dauerfeuer. „Das waren bestimmt 300 Schüsse“, sagt Fischer. „Wir haben in Kauf genommen, ihn tödlich zu treffen, das war auch so von oben abgesichert.“ Eine Kugel trifft Meins in die Kniekehle. Seine Flucht ist beendet. Zehn Minuten später ist auch Baader kampfunfähig. Ein Scharfschütze trifft ihn im Hüftbereich. Baader schreit vor Schmerzen, sein Komplize Meins brüllt mit Handschellen immer wieder „Mörder“ und „Schweine“. Einige Stunden später erfahren Fischer und Schäfer, wen sie gefasst haben. „Es war mein gefährlichster Einsatz“, sagt Karl-Heinz Fischer heute. Und Bernd Schäfer erinnert sich: „Wir waren mit dem Überfallkommando gar nicht vorbereitet, hatten noch nicht einmal Schutzwesten an.“
Schuss in den Hüftbereich: Andreas Baader wird am 1. Juni 1972 zusammen mit Holger Meins und Jan Carl Raspe in Frankfurt überFoto: dpa wältigt und festgenommen.
Bernd Schäfer (57) arbeitet heute als Erster HauptkommisFotos: Welch sar in Kassel.
Karl-Heinz Fischer (62) ging als Kriminalhauptkommissar im Juni 2004 in den Ruhestand.
Vater und Sohn: Siegfried Buback, der damalige Generalsbundesanwalt, und Michael Buback, Professor aus Göttingen. VON HEIDI NIEMANN
V
or 30 Jahren wurde sein Vater, Generalbundesanwalt Siegfried Buback, von der RAF ermordet. Wir sprachen mit seinem Sohn Michael, Chemie-Professor in Göttingen.
Wie haben Sie und Ihre Familie die Ermordung Ihres Vaters damals erlebt? BUBACK: Wir waren beim Skifahren in der Schweiz. Meine Frau erhielt die telefonische Nachricht von ihrem Vater. Sie war an diesem Tag früher zum Hotel zurückgekehrt. Wir lebten 1977 noch in Karlsruhe. Ich stand kurz vor dem Abschluss meiner Habilitation. War Ihnen bewusst gewesen, dass Ihr Vater zu den besonders gefährdeten Personen in Deutschland gehörte? BUBACK: Das war uns bewusst. Wenn wir uns am Heiligabend in der Kirche trafen, hatte er ein kleines Täschchen mit der Pistole dabei. Gegen die Brutalität, die wir dann erlebten, war das natürlich eine eher anrührende Maßnahme. Diejenigen, die für die Planung und Durchführung der Sicherheitsmaßnahmen für meinen Vater zuständig und verantwortlich waren, wurden von dem grausamen Vorgehen der Terroristen überrascht. Welche Gefühle hat es bei Ihnen hervorgerufen, dass die RAF Ihren Vater nur als Repräsentanten des Staates, nicht aber als Individuum betrachtete? BUBACK: Es ist erschreckend, wenn Menschen wegen ihrer Funktion ermordet werden. Natürlich denkt man dann, wie viel besser es gewesen wäre, wenn mein Vater nicht
Generalbundesanwalt geworden wäre. Andererseits war ihm dieses Amt wichtig. Er hat es mit all seiner Kraft vorbildlich ausgefüllt, und unter den vielen Gefühlsregungen, die das schreckliche Geschehen bei uns ausgelöst hat, ist auch Stolz auf ihn und auf die Begleiter, die mit ihm starben. Hat der Staat gegenüber den Hinterbliebenen ausreichend Unterstützung und Solidarität gezeigt? BUBACK: Die Möglichkeiten des Staates sind da sehr begrenzt. Die Angehörigen müssen mit der Situation letztlich doch allein fertig werden. Das ist für die Einzelnen unterschiedlich schwer. Ich bin in meinem Beruf sehr ausgelastet und denke nicht ständig an das damalige Geschehen. Für meine Mutter ist die Situation viel härter. Sie hat seit 30 Jahren eine enorme Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen hinzunehmen, und diese wird für sie lebenslänglich andauern. Dasselbe gilt für manche der anderen Angehörigen. Die Chancen des Staates, Solidarität zu zeigen, wurden nicht im Übermaß genutzt. So verwundert es mich doch, dass meines Wissens keine Straße und kein Weg nach meinem Vater benannt wurde. Erst jetzt, nach 30 Jahren, gibt es in Karlsruhe einen konkreten Plan, einen Platz nach ihm zu benennen, eigentlich ein bisschen spät. Wie haben Sie damals auf die Veröffentlichung des so genannten „Mescalero“ reagiert? BUBACK: Der „MescaleroNachruf“ war schrecklich, vor allem traf er uns in einer Phase, in der wir doch sehr am Boden waren. Wir waren fassungslos, als wir von den „Killervisagen wie die Bubacks“ la-
sen, davon, dass man nun das Gesicht meines Vaters nicht mehr in das kleine rot-schwarze Verbrecheralbum der meistgesuchten und meistgehassten Vertreter der alten Welt aufnehmen könne, die nach der Revolution zur öffentlichen Vernehmung vorgeführt werden sollen. Belastend war auch, dass nur wir als Angehörige Strafantrag stellen konnten wegen der Verunglimpfung des Andenkens Toter, und uns wurden zahlreiche solche Vorgänge vorgelegt. Der Autor des „Nachrufs“ hat mir etwa 20 Jahre später erst seit der Zeit kenne ich seinen Namen – geschrieben, dass ihm die auf meinen Vater gemünzten Passagen leid tun.
Fotos: dpa
Ich habe ihm geantwortet, und sein Beitrag ist damit für mich abgeschlossen. Allerdings akzeptiere ich es auch weiterhin nicht, wenn andere nicht die Kraft finden, sich entgegen ihrer früheren Einstellung von diesem „Nachruf“ zu distanzieren.
Zur Person Prof. Michael Buback (62), geboren in Nobitz bei Altenburg (Thüringen), Abitur in Karlsruhe, lehrt am Institut für Physikalische Chemie der Georg-AugustUniversität Göttingen. Buback ist seit 1971 verheiratet mit der Gymnasialrätin Elisabeth Buback, sie haben zwei Kinder.
DOKUMENTATION
Der umstrittene Buback-Nachruf Auszüge aus dem BubackNachruf des „Göttinger Mescalero“: „Mir ist bei dieser BubackGeschichte einiges aufgestoßen, diese Rülpser sollen zu Papier gebracht werden, vielleicht tragen sie ein bißchen zu einer öffentlichen Kontroverse bei (...) Meine unmittelbare Reaktion, meine „Betroffenheit“ nach dem Abschuß von Buback ist schnell geschildert: ich konnte und wollte (und will) eine klammheimliche Freude nicht verhehlen. Ich habe diesen Typ oft hetzen hören, ich weiß, daß er bei der Verfolgung, Kriminalisierung, Folterung von Linken eine herausragende Rolle spielte.“ Später im Text heißt es dann: (...) Unser Zweck, eine Gesellschaft ohne Terror und Gewalt (wenn auch nicht ohne Aggression und Mili-
tanz), eine Gesellschaft ohne Zwangsarbeit (wenn auch nicht ohne Plackerei), (...) dieser Zweck heiligt eben nicht jedes Mittel, sondern nur manches. Unser Weg zum Sozialismus (wegen mir: Anarchie) kann nicht mit Leichen gepflastert werden. Warum liquidieren? Lächerlichkeit kann auch töten (...) Um der Machtfrage willen (o Gott!), dürfen Linke keine Killer sein, keine Brutalos, keine Vergewaltiger, aber sicher auch keine Heiligen, keine Unschuldslämmer. Einen Begriff und eine Praxis zu entfalten von Gewalt/Militanz, die fröhlich sind und den Segen der beteiligten Massen haben, das ist unsere Tagesaufgabe. Damit die Linken, die so handeln, nicht die gleichen Killervisagen wie die Bubacks kriegen (...) Ein Göttinger Mescalero“
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Tatort Köln: Bei der Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer werden am 5. September 1977 seine vier Begleiter erschossen.
Tod in Aden: Flugkapitän Jürgen Schumann wird am 16. Oktober von den palästinensischen Entführern des Lufthansa-Jets „Landshut“ ermordet. Auch sie fordern die Freilassung der RAF-Spitze.
Operation Feuerzauber: Die GSG 9 stürmt am 18. Oktober in Mogadischu (Somalia) die „Landshut“ und befreit alle Geiseln. Sie kehren noch am selben Tag zurück (Foto).
Selbstmord in Stammheim: Baader, Ensslin und Raspe nehmen sich das Leben (Foto: Beisetzung in Stuttgart), Schleyer wird im Elsass ermordet aufgefunden.
Trauerfeier in Stuttgart: Bundeskanzler Helmut Schmidt kondoliert Waltrude Schleyer, der Frau des ermordeten Arbeitgeberpräsidenten.
Diskussionen im Morgengrauen Ex-Terrorist Peter-Jürgen Boock: Die RAF scheiterte auch am entführten Hanns-Martin Schleyer VON WOLFGANG BLIEFFERT
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as letzte Kapitel des Deutschen Herbstes schrieb die RAF selbst. „Wir haben nach 43 Tagen Hanns-Martin Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet“, hieß es im letzten Kommuniqué des RAF-Kommandos Siegfried Hausner. Der Arbeitgeberpräsident war mit drei Schüssen in den Kopf getötet worden. Damit endete die bleierne Zeit (Filmtitel), jene dramatischen Wochen im Herbst 1977, als sich Staat und Gesellschaft einer bis dahin nie gekannten terroristischen Herausforderung gegenübersahen. Nicht genug damit, dass die Rote Armee Fraktion mit der Entführung Schleyers die Freilassung der RAF-Gründer Andreas Baader, Gudrun Ensslin und mehrerer Gesinnungsgenossen forderte, ein palästinensisches Kommando erhöhte noch den Druck auf die Regierung durch die Entführung des Lufthansa-Jets „Landshut“. Dass die RAF schließlich unterlag, ist in der harten Haltung der Bundesregierung begründet, meinte einige Jahre später ein Mann, der es wissen muss. Die RAF sei aber auch an der Person Schleyer gescheitert, schrieb Peter-Jürgen Boock, der damals zu den Entführern und Bewachern Schleyers gehörte, in einem
Das Drama spitzt sich zu: Am 13. Oktober 1977 entführt ein palästinensisches Kommando den Lufthansa-Urlauberjet „Landshut“. Die Terroristen unterstützen die Forderungen des RAF-Kommandos Siegfried Hausner nach einem Austausch des entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer (Foto) gegen die inhaftierten RAF-Terroristen. Foto: dpa
1977 Entführer und Bewacher Hanns-Martin Schleyers, heute Buchautor: Peter-Jürgen Foto: dpa Boock.
2002 veröffentlichten Buch. Im Grunde hätten die die Verhörversuche und Gespräche mit Schleyer das vorwegnehmend gespiegelt, was die RAF erst 20 Jahre später in ihrer Auflösungserklärung einzugestehen vermochte. Es müssen merkwürdige Gespräche zwischen Mitternacht und Morgengrauen gewesen sein, die zunächst in einer Wohnung in Erfstadt-Liblar abliefen. Eine unwirklich ruhige Atmosphäre, so Boock, während draußen in Deutschland die Fahndung auf Hochtouren lief und die Hysterie zunahm. Von den Diskussionen sei eine Faszination ausgegangen, „der sich auch jene unter uns kaum entziehen konnten, für die der Gefangene anfangs nur die Inkarnation alles Bösen war“. Boock: Schleyer zwang uns durch seine Antworten mit jedem Tag mehr, von unseren Vorstellungen und Vorurteilen Abschied zu nehmen. Denn Schleyer, die so genannte Charaktermaske, der vermeintliche Erzkapitalist, erwies sich seinen Entführern intellektuell als haushoch überlegen. Boock, ohne Frage ein Zeuge von begrenzter Glaubwürdigkeit, weil er seine Beteiligung an Mordtaten zunächst stets bestritten und auch über den Zeitpunkt seiner Lösung von der RAF mehrfach die Unwahrheit gesagt hatte. Aber sein Buch aus dem Jahr 2002 schien doch das ehrliche Bemühen zu sein, mit der Vergangenheit endgültig zu brechen. Und er räumte auf mit der Legende von der Ermordung der RAF-Spitze in Stammheim.
DOKUMENTATION
„Seine korrupte Existenz beendet“ Am Mittwoch, 19. Oktober, klingelt bei der Deutschen Presseagentur in Stuttgart das Telefon. Eine Frau sagt: „Hier RAF“ und diktiert der verblüfften Sekretärin eine Botschaft, die noch einmal den Zynismus der RAF zeigt: „Wir haben nach 43 Tagen Hanns-Martin Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet. Herr Schmidt, der in seinem Machtkalkül von Anfang an mit Schleyers Tod spekulierte, kann ihn in der Rue Charles Peguy in Muhlhouse in einem grünen Audi 100 mit Bad Homburger Kennzeichen abholen. Für unseren Schmerz und unsere Wut über die Massaker von Mogadischu (gemeint war die Geiselbefreiung, die Redaktion) und Stammheim (gemeint waren die Selbstmorde von Baader, Ensslin und Raspe, d.R. ) ist sein Tod bedeutungslos. Uns überrascht die faschistische Dramaturgie der Imperialisten (...) nicht.“
Scheel: Wir bitten um Vergebung Bei der Beerdigung des ermordeten Arbeitgeberpräsidenten sagte Bundespräsident Walter Scheel: „Hanns-Martin Schleyer ist gestorben. Für uns alle (...) nicht nur für uns Deutsche ist die Chance erhalten geblieben, die Gefahr des Terrorismus zu bannen. Wir verneigen uns vor dem Toten. Wir wissen, wir sind in seiner Schuld. Im Namen der deutschen Bürger bitte ich Sie, die Angehörigen von Hanns-Martin Schleyer, um Vergebung.“
Empörung über die „klammheimliche Freude“ Buback-Nachruf eines unbekannten „Göttinger Mescalero“ rief die Justiz auf den Plan - Autor gab sich 20 Jahre später zu erkennen VON HEIDI NIEMANN
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ohl nie hat ein Beitrag in einer Studentenzeitschrift ein solches Echo hervorgerufen wie ein Text, der am 25. April 1977 - rund zwei Wochen nach der Ermordung des Generalbundesanwalts - in den „Göttinger Nachrichten“ erschien. Die Zeitung, die der Allgemeine Studentenausschuss (AStA) herausgab, erregte bundesweites Aufsehen. Ein namentlich nicht genannter Autor hatte darin unter dem Titel „Buback – Ein Nachruf“ die von Terroristen der Roten Armee Fraktion verübte Tat kommentiert. Unterzeichnet war der Text mit „Ein Göttinger Mescalero“. Der Text entfachte einen Aufschrei der Empörung und
rief auch die Justiz auf den Plan. Diese ermittelte sowohl gegen den Göttinger AStA als auch gegen andere Studentenzeitungen, die den Artikel nachdruckten. Die Entrüstung entzündete sich vor allem an einem Satz: „Ich konnte und wollte (und will) meine klammheimliche Freude nicht verhehlen.“ Dass sich der Autor in späteren Passagen von der Gewalt distanzierte, wurde dagegen in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.
Autor nicht ermittelt Ein Jahr nach Erscheinen des Nachrufes kam der Fall vor das Landgericht Göttingen. Die Staatsanwaltschaft hatte vier Studentenvertreter wegen Volksverhetzung angeklagt. Den Autor selbst hatte die Strafverfolgungsbehörde
nicht ermitteln können. Der Prozess wurde von Medienvertretern aus ganz Deutschland verfolgt. „Es war eine unglaublich aufgeheizte Stimmung damals“, erinnert sich Reiner Finke. Der heutige Vorsitzende der Schwurgerichtskammer des Göttinger Landgerichts war Berichterstatter in dem Prozess. Vor dem Gerichtsgebäude stand stets ein massives Polizeiaufgebot, an allen sieben Verhandlungstagen war der Saal brechend voll. Sogar niederländische Vertreter von Amnesty waren als Beobachter nach Göttingen gekommen. „Die waren aber schnell wieder weg“, so Finke. Insgesamt sei der Prozess von einer sachlichen Atmosphäre geprägt gewesen. Seitens der Verteidigung wurde
versucht, das Pamphlet zu einem literarischen Werk zu stilisieren und den Schriftsteller Erich Fried als eine Art Sprachgutachter laden zu lassen. Die Kammer sah dafür jedoch keine Not- Peter wendigkeit. Brückner Sie kam zu dem Ergebnis, dass keine Volksverhetzung vorliege. Der Artikel erfülle aber den Tatbestand der Verunglimpfung des Staates und des Andenkens Verstorbener, weil er herabwürdigende Aussagen über den Ermordeten und eine ungerechtfertigte Beschimpfung der Bundesrepublik Deutschland enthalte.
Das Gericht verurteilte zwei leitende Redakteure zu einer Geldstrafe von je 1800 Mark. Die zwei anderen Angeklagten wurden frei gesprochen, weil es keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür gab, dass sie an der Veröffentlichung mitgewirkt hatten.
Mäßigender Akzent Mit seinem Urteil setzte das Gericht mäßigende Akzente in der bis dahin erregt verlaufenen Debatte. Und das Gericht sorgte zudem dafür, dass der „Mescalero“-Artikel öffentlich zugänglich wurde: „Alle redeten darüber, kaum einer hatte ihn gelesen“, meint Finke. Deshalb veröffentlichte es das Urteil mitsamt dem kompletten Text in einer Fachzeitschrift. Schon im Frühsommer
1977 hatten 48 deutsche Professoren, darunter der Sozialpsychologe Peter Brückner (Hannover), den Nachdruck veröffentlicht. Auch die Professoren wurden strafrechtlich verfolgt, letztlich aber frei gesprochen. Besonders Brückner hatte es schwer. Erst 1981 wurden alle Disziplinarmaßnahmen aufgehoben. 1982 starb er an Herzversagen Erst mehr als 20 Jahre nach dem Erscheinen des „Nachrufs“ wurde die Identität des „Mescalero“ bekannt. Der heutige Literaturwissenschaftler Klaus Hülbrock gab sich selbst gegenüber Michael Buback, dem Sohn des Toten, zu erkennen. In einem 2001 veröffentlichten Brief erklärte er, dass ihm „die damals persönlich auf Ihren Vater gemünzten Worte heute weh tun“.
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„Wir müssen raus aus den Gräben“ - Dialogversuch zwischen Ex-RAF-Terrorist Horst Mahler (links) und Innenminister Rudolf Baum (FDP), 1980.
HINTERGRUND
Literatur zum Thema RAF-Terror Zahlreiche Autoren sind in den vergangenen Jahren dem Thema RAF auf der Spur gewesen. Dabei sind zum Teil lesenswerte und höchst informative Beiträge entstanden. Eine Auswahl: •Stefan Aust: „Der Baader Meinhof Komplex“ (Hoffmann und Campe) gibt es jetzt als erweiterte und aktualisierte Ausgabe des Standardwerkes über die RAF aus dem Jahr 1985. • Angelika Holderberg: „Nach dem bewaffneten Kampf“ (PsychosozialVerlag) ist der Versuch einer internen Aufarbeitung des Terrorismus, den die ehemaligen RAF-Mitglieder Karl-Heinz Dellwo, Monika Berberich, Knut Folkerts und andere nun öffentlich machen. • Wolfgang Kraushaar: „Die RAF und der linke Terrorismus“ (Hamburger Edition). In zwei Bänden sind die Beiträge verschiedener Autoren zum Thema RAF versammelt. • Kurt Oesterle: „Stammheim. Der Vollzugsbeamte Horst Bubeck und die RAFHäftlinge“. (Heyne) Bubeck schildert den Alltag in Stammheim und die dramatischen Ereignisse im deutschen Herbst 1977. • Anne Siemens: „Für die RAF war er das System, für mich der Vater. Die andere Geschichte des deutschen Terrorismus“ (Piper, 2007). 30 Jahre nach der Ermordung von HannsMartin Schleyer, Jürgen Ponto und der Entführung der „Landshut“ kommen die Angehörigen der Opfer zu Wort. Denn bislang sei nur Tätergeschichte geschrieben worden, die Opfer blieben weit gehend ungehört. (bli)
Doch der Terror geht weiter: Nach der Verhaftung von Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt 1982 attackiert die „dritte RAF-Generation“ 1985 unter anderem die Frankfurter US-Airbase: Drei Tote.
Und es wird weiter liquidiert: Am 10. Oktober 1986 stirbt in Bonn der Diplomat Gerold von Braunmühl.
Mord in Bad Homburg: Eine RAF-Bombe tötet am 30. November 1989 den Deutsche-BankChef Alfred Herrhausen.
Das Superhirn auf der Todesliste Karl Heinz Beckurts - in Kassel zur Schule gegangen, als Siemens-Manager von der RAF ermordet Schwester Marie-Luise im zerstörten Kassel ankam, hatte die Familie bereits einige bewegte Jahre hinter sich. Über Rheydt, wo Beckurts am 16. Mai 1930 geboren wurde, Merseburg (Sachsen), Meiningen (Thüringen) ging es nach Weimar. Zunächst unberührt von den Wirren des Krieges, wurde auch der Schüler Beckurts ab Herbst 1944 zu verschiedensten Kriegsdiensten gezwungen. Anfang 1945 kam Beckurts zum Gaunachrichtenstab Thüringen - „bei dieser interessanten Tätigkeit wurde meine Aufmerksamkeit auf technische Fragen gelenkt“, schrieb der Oberprimaner Karl-Heinz Beckurts 1949 bei der Bitte um Zulassung zur Reifeprüfung in seinem Lebenslauf.
VON BURGHARD HOLZ
S
traßlach vor den Toren Münchens, eine ruhige Wohnsiedlung. Der Wagen, der das Siemens-Vorstandsmitglied Karl-Heinz Beckurts am Morgen des 9. Juli 1986 zur Arbeit bringen soll, kommt nur 800 Meter weit. Dann zünden die Attentäter von der RAF ihre Bombe. Beckurts (56), für seine Mörder ein Vertreter der militärisch-imperialistischen Systems, ist sofort tot. Er hinterlässt Frau und drei Kinder. Das Entsetzen über den Mord, dem Beckurts Fahrer Eckart Groppler (42) ebenfalls zum Opfer fällt, ist groß. Auch in Kassel und Göttingen. Denn dort ist er zur Schule und auf die Universität gegangen. Dieter Meibert, damals Verwaltungsleiter beim Gesundheitsamt der Stadt Kassel, zu unserer Zeitung: „Was, der KarlHeinz Beckurts?“ Meibert hatte 1949 zusammen mit Beckurts am Realgymnasium Kölnische Straße, der heutigen Albert-Schweitzer-Schule, die Reifeprüfung abgelegt. Vom 1. Mai 1946 an hatte Beckurts die Kasseler Schule besucht, die Familie fand für mehrere Jahre im Haus Westfalenstraße 10 eine Bleibe. Als wir die Klassenkameraden des Ermordeten vor elf Jahren befragten, waren sie immer noch angetan von den naturwissenschaftlichen Begabungen des jungen Mannes. Walter Müller, Professor an der Gesamthochschule Kassel (GhK) und früher erfolgreicher Fußballtrainer beim KSV Hessen, saß während der Schulzeit eine Zeit lang neben Beckurts: „Ich habe viel von ihm in Mathe und Physik profitiert und gerne abgeschrieben. Er war ein naturwissenschaftliches Genie.“ Den gleichen Eindruck
Klare Konturen
Die Attentäter warteten am Straßenrand: Eine Bombe zerfetzte am 9. Juli 1986 das Auto von Siemens-Manager Karl Heinz Beckurts. Fotos: dpa muss wohl auch der Mathematik-Lehrer der damaligen Klasse OIb, „Männe“ Gensch, gehabt haben: In der mündlichen Abiturprüfung stoppte
das prüfende Kollegium den laut Walter Müller „Formeln an die Tafel knallenden“ Abiturienten mit den Worten: „Hören Sie auf, da können wir nicht mehr folgen.“
Treffen in der Stadthalle
Ermordet: Karl-Heinz Beckurts, Manager.
Die Oberprima des Klassenlehrers Karl „Charly“ Balzer hielt auch nach dem Abitur noch Kontakt zueinander. Ein Klassentreffen fand etwa acht bis zehn Jahre nach der Reifeprüfung statt - im Stadthallenrestaurant, erinnert sich Meibert. Damals war auch Beckurts mit von der Partie. Auch in der Nachbarschaft löste die Nachricht vom gewaltsamen Tod des Managers damals Betroffenheit und lebhafte Erinnerungen aus. HansUlrich Füllhase, dessen Fami-
lie zusammen mit Beckurts mehrere Jahre im selben Haus wohnte, war die „ungewöhnliche Begabung“ und die Leidenschaft, mit der Beckurts in jenen Jahren seinem Hobby Radiotechnik frönte, im Gedächtnis haften geblieben. Als Beckurts 1946 mit seinen Eltern und seiner älteren
Ermordet: Fahrer.
Eckart
Groppler,
„Da war eine unsichtbare Schranke“
Sein beruflicher Werdegang nahm in jenen Wochen vor der Reifeprüfung klare Konturen an - Beckurts, der als Hobbys die Musik, Sport (Schwimmen) und Lesen angab, hatte seine Begabungen erkannt und schrieb: „... Daher möchte ich Physik und Mathematik studieren und mich als Physiker in der Forschung oder in der Industrie betätigen.“ Er fing im Wintersemester 1949/50 in Göttingen an zu studieren. Schon damals befasste sich der später als überzeugter Befürworter der Kernenergie bekannte Physiker schwerpunktmäßig mit Atomphysik. Von seinen wissenschaftlichen Arbeiten profitieren bis heute viele Physikstudenten. Entsprechend zerfleddert, weil häufig gelesen, sieht denn auch seine Dissertation aus, die er in der Zeit von 1954 bis 1956 im Max-Planck-Institut für Physik geschrieben hat. Das Thema: „Nichtstationäre Neutronenfelder“.
Zur Person
Kassels früherer Gefängnisdirektor Carl-Ludwig Geißler erinnert sich an gefangene RAF-Frauen VON THOMAS STIER
A
uch mehr als 20 Jahre nach seiner Begegnung mit vier des RAF-Terrors verdächtigter Frauen läuft Carl-Ludwig Geißler bei der Erinnerung an seine Zeit im Frankfurter Frauengefängnis Preungesheim ein kalter Schauer über den Rücken: „Zwei Jahre lang kein einziger Satz, kein Blick. Sie schauten durch mich hindurch, als wäre ich aus Glas. Ich war für sie nur der Vertreter des Schweinestaates. “ Der heute 53-jährige Geißler - von 1992 bis 1998 Chef der JVA in Kassel-Wehlheiden - war im Oktober 1984 als stellvertretender Anstaltsleiter
nach Preungesheim gekommen und sofort mit der Betreuung der vier Frauen beauftragt worden, die hier unter dem Vorwurf, Mitglieder einer terroristischen Vereinigung zu sein, in Untersuchungshaft saßen. Die Namen der Frauen darf er aus Datenschutzgründen nicht nennen. Alle vier gehörten zur bestenfalls dritten Ebene der RAF. Dass die RAF-Gefangenen Isolationshaft oder gar Isolationsfolter ausgeliefert gewesen seien, ist nach Geißlers Einschätzung nur eine Legende: „Es gab die übliche Tätertrennung, das heißt, es konnte sich immer nur eine der vier Frauen frei auf der Station be-
wegen. Gemeinsam mit 200 anderen Gefangenen.“ Die meiste Zeit verbrachte die Terrorverdächtige, die nicht weggeschlossen blieb, vor der Zellentür einer ihrer Kumpaninnen, erinnert sich Geißler. Für die anderen Häftlinge seien die RAF-Frauen selbstverständliche Mitglieder der Gefangenengemeinschaft gewesen. Sie selbst grenzten sich aber von den „normalen“ Kriminellen ab. Geißler: „Da war immer eine unsichtbare Schranke, eine überhebliche Art und keine Solidarität mit der in ihrem Weltbild unterdrückten Unterschicht.“ Gleichwohl genossen die vier RAF-Frauen wohl die Vorteile der Knastgemeinschaft.
Als zum bundesweiten Hungerstreik der RAF-Mitglieder in den Gefängnissen aufgerufen wurde, verweigerten auch die Frauen in Preungesheim die Nahrung. Seltsam nur: Auch nach wochenlangem Hungern konnte der Anstaltsarzt nicht den typischen Acetongeruch feststellen. Geißler: „Die haben zwar ihr Essen nicht angerührt, sind aber wohl von den anderen Gefangenen versorgt worden.“ In den zwei Jahren, die Geißler in Preungesheim war, haben sich die Frauen nach seiner Erinnerung so gut wie nicht darum bemüht, den Knastalltag für sich und ihre Mitgefangenen zu verändern. Geißler: „Das interessierte die
nicht, die schwebten in anderen Sphären.“ Da gab es keine Reden, keine Revolution, keinen Klassenkampf, nichts. Geißler vermutet, dass den vier RAF-Frauen einfach die Reibungsfläche fehlte, die erwartete Knechtung durch den Unterdrückerstaat: „Im Frauengefängnis ist es anders als im Männerknast, da gibt es mehr menschliche Beziehungen, sogar zwischen Gefangenen und Bediensteten.“ Seine Einschätzung: Den RAF-Frauen wäre es wohl lieber gewesen, ihr Gefängnisaufenthalt hätte mehr dem Klischee des Folterknasts entsprochen. Ein Gefängnis mit menschlichem Antlitz - das passte nicht ins enge RAF-Weltbild.
Carl-Ludwig Geißler (53) studierte Jura in Mainz und arbeitete in den Justizvollzugsanstalten (JVA) Darmstadt, Butzbach und Preungesheim. 1986 kam er nach Kassel, wo er zunächst bis 1992 die Sozialtherapeutische Anstalt leitete. Bis 1998 war er Direktor der gesamten JVA Kassel-Wehlheiden. Seit 1998 arbeitet Geißler als Staatsanwalt in Kassel.
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Opfer eines RAF-Scharfschützen: Detlev Karsten Rohwedder, Chef der Treuhand, ermordet am 1. April 1991 in Düsseldorf.
Anschlag in Weiterstadt: Eine Bombe der RAF verwüstet am 27. März 1993 den vor der Vollendung stehenden Gefängnisneubau nahe Darmstadt.
Fahndungsdesaster in Bad Kleinen: Der GSG-9Beamte Michael Newrzella und der RAF-Terrorist Wolfgang Grams (Foto) kommen am 24. Juni 1993 ums Leben.
Abgetaucht in die Anonymität Viele entlassene RAF-Mitglieder gehen heute normalen Berufen nach VON ANSGAR HAASE
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ann ein früherer RAFTerrorist, der mehr als 20 Jahre eingesperrt war, jemals wieder ein normales Leben führen? Der Freiburger Strafrechts-Experte Prof. Hans-Jörg Albrecht hat dazu anlässlich der Freilassung der RAF-Rädelsführerin Mohnhaupt Stellung genommen. Verelendung oder Verwahrlosung - das sind oft die Folgen von langer Haft, vor allem bei Menschen, die erst im hohen Alter freikommen. „Nach so langer Zeit der Unselbstständigkeit können Sie nicht erwarten, dass jemand sein Leben in die eigenen Hände nimmt“, sagt Albrecht. Nicht selten endeten die Entlassenen als Betreuungsfälle. Für Ex-Terroristen scheint das Leben nach der Haft zumindest auf den ersten Blick etwas einfacher zu sein. Das zeigen die Lebensläufe zahlreicher entlassener RAF-Mitglieder. Viele sind in die Anonymität abgetaucht. Inge Viett, die 1981 in Paris auf einen Polizisten schoss und ihn verletzte, arbeitet heute als Autorin. Karl-Heinz Dellwo, einer der Geiselnehmer von Stockholm, ist als Dokumentarfilmer in Hamburg tätig.
Die Auflösungserklärung der RAF „Und natürlich kann geschossen werden“, hieß es in einer Schrift der RAF-Mitbegründerin Ulrike Meinhof. Fast 30 Jahre später löst sich die RAF auf. In ihrer Erklärung heißt es unter anderem: „Vor fast 28 Jahren am 14. Mai 1970 entstand in einer Befreiungsaktion die RAF. Heute beenden wir dieses Projekt. Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte. Wir, das sind alle, die bis zuletzt in der RAF organisiert gewesen sind. Wir tragen diesen Schritt gemeinsam. Ab jetzt sind wir - wie alle anderen aus diesem Zusammenhang ehemalige Militante der RAF. Wir stehen zu unserer Ge-
schichte. Die RAF war der revolutionäre Versuch einer Minderheit - entgegen der Tendenz dieser Gesellschaft zur Umwälzung der kapitalistischen Verhältnisse beizutragen (...) Wir wollen heute besonders an alle erinnern, die sich hier dafür entschieden, im bewaffneten Kampf alles zu geben und in ihm gestorben sind. Unsere Erinnerung und unsere ganze Achtung gilt denen, deren Namen wir nicht nennen können, weil wir sie nicht kennen, und (es folgen 26 Namen). Die Revolution sagt: Ich war, ich bin, ich werde sein.“ Rote Armee Fraktion im März 1998
Verfassungsschutzchef Heinz Fromm über die Rote Armee Fraktion und Gefahren heute VON WOLFGANG BLIEFFERT
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ar die Rote Armee Fraktion (RAF) wirklich eine Gefahr für die Demokratie? Dazu befragten wir Heinz Fromm, den Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Köln.
In den 80er-Jahren allgegenwärtig: Die Fahndungsplakate, mit denen die Terroristen der RAF gesucht wurden. Von denen auf diesem Plakat sitzt nur noch Christian Klar ein. Foto: dpa
Die Helden von Mogadischu
Keine Gefahr mehr Eine Gefahr der Rückkehr zum Terrorismus sehen die meisten Fachleute bei den Entlassenen nicht. Seitdem die RAF nicht mehr existiere, gehe von den Ex-Mitgliedern auch keine Bedrohung mehr aus, sagt Prof. Albrecht, Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht. Das gilt sogar für ehemalige RAF-Täterinnen wie Irmgard Möller. Auch wenn die 59-Jährige bis heute die These propagiert, Baader, Ensslin und Raspe seien in Stammheim umgebracht, sie selbst von staatlicher Seite überfallen worden. (dpa)
DOKUMENTATION
„Ordnung in hohem Maß bedroht“
Musterbeispiel Maier-Witt Als Musterbeispiel für die Wiedereingliederung gilt die an der Schleyer-Entführung und an Banküberfällen beteiligte Silke Maier-Witt. Sie studierte Psychologie und arbeitete von 2000 bis 2005 für das von der Bundesregierung finanzierte „Forum Ziviler Friedensdienst“ als Friedensfachkraft im Kosovo. Susanne Albrecht, die 1977 zusammen mit Klar und Mohnhaupt an der Ermordung von Dresdner-Bank-Chef Ponto beteiligt war, soll laut Medienberichten heute unter anderem Namen in Norddeutschland als Lehrerin arbeiten. Sie war erst kurz nach der Wiedervereinigung gefasst und zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden.
2007 nach einem Vierteljahrhundert aus der Haft entlassen: Brigitte Mohnhaupt (Fahndungsfoto), Anführerin der „zweiten Generation“ der RAF.
Gabi von Lutzau und Ulrich Wegener bei einem Pressetermin im Jahre 2002. Fotos: dpa
2005 gestorben: Ex-Staatsminister Wischnewski.
Mischt sich ein: Ex-Copilot Jürgen Vietor.
Für einige Wochen hatten sie Helden-Status: Ulrich Wegener, der Kommandeur der Grenzschutz-Einheit GSG 9, die in Mogadischu die „Landshut“-Geiseln befreite; Gabi von Lutzau, die tapfere Stewardess; Jürgen Vietor, der Copilot, der nach der Ermordung von Flugkapitän Schumann die „Landshut“ fliegen musste. Und Staatsminister und Krisenmanger Hans-Jürgen Wischnewski, der in Mogadischu mit Somalias Regierung und den Geiselnehmern verhandelte. „Ben Wisch“ ist inzwischen gestorben, Wegener im Ruhestand. Von Lutzau und Vietor meldeten sich kürzlich in einem Interview-Band zu Wort.
Die RAF hat sich selbst für aufgelöst erklärt. Gehen Sie davon aus, dass dem tatsächlich so ist? FROMM: An der Urheberschaft der Roten Armee Fraktion hinsichtlich der Auflösungserklärung vom März 1998 bestehen keine Zweifel. Die damals erklärte Beendigung des „Projekts RAF“ hat sich bestätigt. Im Übrigen würden terroristische Aktionen, wie sie früher von der RAF verübt wurden, wohl derzeit im linksextremistischen Spektrum weder eine Basis noch breite positive Resonanz finden. Ist die RAF wirklich eine Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung gewesen? FROMM: Die RAF hatte das Ziel, Staat und Gesellschaft durch Morde und andere Gewalttaten grundlegend zu verändern. Sie war über Jahrzehnte die gefährlichste terroristische Organisation in Deutschland. Die innere Sicherheit und Ordnung in unserem Land war über viele Jahre im hohen Maß bedroht. Welche Gruppen im Linksterrorismus müssen heute und warum - als besonders gefährlich gelten? FROMM: Linksterroristische Strukturen, die mit der früheren RAF oder den „Revolutionären Zellen“ vergleichbar wären, sind in Deutschland derzeit nicht vorhanden. Es gibt jedoch einzelne Kleinstgruppen, die vor allem An-
schläge auf Sachen ausüben und damit die Grenze zu terroristischem Gewalthandeln überschreiten. Es ist dabei nie ganz auszuschließen, dass auch Menschen zu Schaden kommen - auch wenn dies nicht beabsichtigt ist. Die Täter versuchen offenbar, das zu vermeiden, weil sie befürchten, dass ihr Anliegen damit diskreditiert und der staatliche Verfolgungsdruck erheblich zunehmen würde. Welche Organisation ist da zu nennen? FROMM: Die bekannteste dieser Gruppierungen ist die im Großraum Berlin operierende „militante gruppe“, die seit dem Jahr 2001 bereits 24 Brandanschläge verübt hat allein 8 davon im Jahr 2006. Für alle diese Gruppen gilt, dass Militanz unverzichtbarer, unmittelbarer Ausdruck ihrer Gegnerschaft zum „System“ ist. Aktuell zeigt sich dies bei den militanten Aktionen im Zusammenhang mit dem bevorstehenden G8-Gipfel im Juni in Heiligendam.
Zur Person
Heinz Fromm (58), in Frieda (Werrra-Meißner-Kreis) geboren, ist seit Juni 2000 Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Zuvor war der Jurist Leiter der Justizvollzugsanstalt Kassel I. Foto: dpa