Tahir

  • May 2020
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  • Words: 1,003
  • Pages: 6
E

in kalter Windstoß fegte über die weite weiße Ebene, der den

frisch gefallenen Schnee in wirbelnden Schwaden über den Boden tanzen ließ. Die Sonne war im Begriff unterzugehen, ihr rötliches Licht verlieh der Landschaft einen magischen Glanz. In der Ferne heulte ein Wolf.

Die Nüstern leicht blähend witterte Schneefall in den Wind hinein. Sie warf einen kurzen Blick auf Tahir, wie um ihn um Erlaubnis zu fragen. Das rechte der spitzen Ohren zuckte vor Freude. Schneefall hatte lange Zeit keine anderen Wölfe gesehen, war sie doch mit ihrem neuen, zugegebenermaßen kleineren, Rudel auf die Jagd gegangen. Dieses Rudel umfasste sie und Tahir. Sie hatten sich vor langer Zeit, als beide noch Welpen waren, zum ersten mal getroffen. Schneefall war sofort von den Augen des Menschen beeindruckt gewesen, sie hatten etwas seltsam Vertrautes an sich. Es war vor etwa 5 Jahren, als die weiße Wölfin sich zum ersten mal aus der Obhut der Mutter stahl. Sie hatte am Tag ein paar Gerüche wahrgenommen, die sie nicht wieder vergessen konnte. Auch wenn ihre Mutter sie darauf hingewiesen hatte, dass man sich besser von auf diese Art riechenden Orten fernhält, trieb die Neugier die kleine Wölfin zu dieser Stelle. Es sollte der erste Kontakt mit einem Menschen werden, der ihr ganzes Leben lang eine wichtige Bezugsperson werden sollte. Mit einem müden Grinsen zuckte Tahir mit den Schultern. Schneefall wusste, dass sie nicht um Erlaubnis fragen musste, schließlich war sie das Alphaweibchen in ihrer kleinen Jagdgemeinschaft. Die raubtierartigen gelben Augen guckten müde über die Ebene hinweg, aber im Nebel des aufgewirbelten Schnees konnte Tahir nichts ausmachen außer rötlich schimmerndes Licht. Schneefall trat ein paar Schritte aus dem Wäldchen, dass sie sich als Nachtlager ausgesucht hatten, heraus. Sie hob ihren Kopf und setzte zu einem lang gezogenen Heulen an, das, zunächst leise,

schnell an Intensität gewann und sich über den Wind erhob. Tahir schloss die Augen und lauschte der nach ein paar Sekunden eintreffenden Antwort. Die Wölfe mussten mindestens 3 Stunden strammen Fußmarsch Richtung Süden sein, zu viel um heute noch aufzubrechen. Außerdem war Tahir in seinem momentanen Zustand auch nicht darauf aus, in eventuell eintretende Reviekämpfe zu geraten. Auch wenn es Schneefall enttäuschte, Tahir war froh darüber, dass das andere Rudel nicht in unmittelbarer Nähe war.

Mit einem Stock prüfte der schwarzhaarige Mann das Stück Fleisch, welches in einem kleinen Feuer vor sich hin brutzelte. Heute war ein guter Tag gewesen, sie hatten einen großen Elch erlegt und nun für Tage genug zu essen. Schneefall hatte ihre Portion schon verspeist, sie legte im Gegensatz zu Tahir nicht viel wert auf gebratenes Fleisch. Etwas besorgt sah Tahir sich seine Ausrüstung an. Der alte Bogen hatte die besten Jahre hinter sich, die Sehne war auch mal wieder verschlissen und die Pfeile gingen langsam aus. Auch seine Kleidung

hatte in der Zeit der Jagd sehr gelitten, der Vorrat an Flickwerk war schon längst dezimiert. Er würde wohl wieder in die Zivilisation zurückkehren müssen, in das kleine Dorf, in dem er aufgewachsen war. Wenn er es denn fand, schließlich waren seine Ziehväter und -mütter Nomaden, die ihre Zelte an immer anderen Orten des hohen Nordens aufschlugen. Er könnte natürlich auch weiter in den Süden gehen, das hatte er sich schon vor einiger Zeit überlegt. Zwar war er mit seiner Wahlheimat sehr zufrieden, jedoch wollte er auch mal den Rest der Welt sehen. Und wenn es nur dazu diente, ihm zu beweisen, dass dieses Leben, so hart es auch sein konnte, das beste in ganz Aventurien war. Schneefall riss ihn aus seinen Gedanken, als sie sich leise von hinten anschlich und ihn sanft mit der Schnauze anstupste. Fast schon peinlich berührt ob seiner Unachtsamkeit kraulte er die Wölfin im Nacken. Sie testete ihn gerne, zeigte ihm seine Schwächen und half ihm dabei, diese zu überwinden. Es kam Tahir schon immer ungerecht vor, dass er als Mensch so von der Natur benachteiligt wurde, dass er auf Waffen und Werkzeuge angewiesen war. Andererseits hatte er mit Hilfe dieser Schneefalls Leben gerettet.

Vor einem halben Jahrzehnt. Sie steckte in einer Schlingenfalle, nicht weit von der Zeltsiedlung seiner Fanilie. Bis heute war ihm nicht ganz klar, warum sich ein so junger Wolf, fast noch Welpe, so nah an ein Menschenlager begeben sollte. Die weißen Wölfe der Region mieden Menschen, umgingen sie weiträumig. Mit den abstrakten Riten um ihre Gestalten hatten sie nichts zu schaffen, Religion und Anbetung waren ihnen fremd. Außerdem gab es genug Menschen, die sie ihrer Felle wegen töteten. Wäre sie zu diesem Zeitpunkt schon ausgewachsen gewesen, hätte sie die Falle einfach ausgerissen, mit ihrer damaligen Körpergröße war sie jedoch gefangen. Tahir, zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt, hatte an diesem Tag allein die Fallen überprüft und schon zwei tote Kaninchen über der Schulter hängen. Er war zu Recht überrascht, als er die Wölfin in der Schlinge sah. Die Augen der Wölfin glichen den seinen, so wie er sie schon ein paar mal im Spiegel von Seen und Flüssen gesehen hatte. Diese Augen jagten nicht nur Tieren sondern auch Menschen Schauer über den Rücken, sie waren ganz eins mit der Identität des Raubtieres. Als er die junge Wölfin mit Hilfe seines großen Jagdmessers aus der Falle befreit hatte, wich sie zunächst nicht von seiner Seite. Er hatte erwartet, sie würde sich sofort in die Wälder flüchten, sobald sie wieder frei beweglich war. Statt dessen guckte sie Tahir direkt in die Augen. Daraufhin hatte er sich hingesetzt, ein Feuer entzündet und sich daran gemacht, eins der Kaninchen zuzubereiten. Das andere warf er der Wölfin hin, die es gierig verschlang. Tahir musste schmunzeln, als er an diese Situation dachte. Er hatte seinen Zieheltern bis heute nichts davon erzählt, sie hätten es damals bestimmt nicht in Ordnung gefunden, dass er das wertvolle Kaninchenfell vom Wolf zerreißen ließ. Mit einer kurzen Bewegung zog er seinen Dolch und spieste das Fleisch auf, welches inzwischen gar geworden war. Kauend an Schneefall gelehnt nahm er sich vor, am nächsten Morgen nach

Süden aufzubrechen. Er hoffte, Schneefall würde ihn begleiten, ein guter Gefährte war für so eine Unternehmung nicht zu unterschätzen.

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