1. Einleitung Geiselnahmen, insbesondere von Kindern oder Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, erregen in besonderem Maße die Gesellschaft. Sie fokussieren das öffentliche Interesse auf sich und sind Fixpunkt medialer Arbeit; durchgeführt von Tätern, die nicht nach bloßer Aufmerksamkeit streben, sondern durch ihre Tat bestimmte Ziele verfolgen, sei es Geld, politisches Gehör oder Amnestie. Geiselnahmen stellen die betroffenen Opfer vor große Probleme. Ihre Existenz wird von fremden Menschen bedroht, die sich ihrem Dasein bemächtigen, um es als Nötigungsmittel einzusetzen. Abgeschottet von der Außenwelt, auf die Gutmütigkeit der Täter angewiesen, unwissend, was im nächsten Augenblick passieren wird, durchleiden sie Todesängste. Viele ehemalige Geiseln versuchen, sofern es ihnen möglich ist, das Trauma Geiselnahme zu verarbeiten, indem sie Bücher über die Zeit während und nach der Geiselnahme verfassen. Inhalt dieser Traumabewältigung ist nicht nur lediglich eine chronologische Nacherzählung der Ereignisse. Die Opfer beschäftigen sich meist ausführlich mit vielen Komponenten, die die Geiselnahmen ausmachten. Sie berichten über angebliche Solidarisierungen mit ihren Peinigern. Sie hinterfragen kritisch ihr eigenes Verhalten während der Geiselnahme. Mitunter tadeln sie die mediale Berichterstattung während und nach der Geiselnahme, sprechen von Diffamierungen in der Gesellschaft durch die falsche Berichterstattung. Diese Hausarbeit wird nach einem kurzen geschichtlichen Abriss über die Entwicklung von Geiselnahmen aus strafrechtlicher Sicht den Schwerpunkt auf die Täter-Opfer Beziehungen legen, die bei Geiselnahmen vermehrt auftreten. Es werden unter Berücksichtigung des Stockholm-Syndroms die möglichen Ursachen für Solidarisierungseffekte, emotionale Hinwendungen und die mitunter auftretende Ablehnung der Polizei durch die Geiseln erörtert. Es folgt eine Abhandlung über die Verarbeitung traumatischer Ereignisse der Geiseln. Dabei wird untersucht, welchen Einfluss die mediale Berichterstattung auf die Viktimisierung der Geiseln und die Verarbeitung der Erfahrungen durch die Geiseln hat. Darauf aufbauend wird dargestellt, inwieweit Pressearbeit auf den Ablauf der Geschehnisse Einfluss haben kann. Als Illustration dafür werden die Erlebnisberichte von ehemaligen Geiseln herangezogen.
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2. Entwicklung der Geiselnahme aus strafrechtlicher und sozialwissenschaftlicher Sicht Die Geiselnahme zählt zu den Archetypen des Rechts und reicht bis in die Frühgeschichte zurück. In der früheren Privatrechtsgeschichte wurden die Geiseln als Pfand angesehen, die mit ihrem Leib und ihrem Leben für Verbindlichkeiten hafteten. Grundlage der Vergeiselung waren meist freiwillige Verträge zwischen den betreffenden Personen. Die Folge eines Nichteinhalten von vertraglichen Verbindlichkeiten war, dass die Geisel dem Gläubiger verfiel. Hierbei spielte es keine Rolle, ob die Geisel für ein eigenes oder für ein drittes Rechtsgut bürgte. Diese Garantie mit dem Leib oder Leben für eine Forderung verlor im Mittelalter an Bedeutung. Die sich dort entwickelte Bürgschaft könnte Folge der freiwilligen Vergeiselung gewesen sein. Im Kriegs- und Völkerrecht hingegen behielt die Geiselnahme ihre Rolle noch bis zum 18. Jahrhundert bei. Hier dienten die Geiseln als Sicherheit, die für die Einhaltung von politischen Vereinbarungen bürgen sollten. Letztmals wurden politische Geiseln beim Friedensvertrag von Aachen im Jahre 1748 zwischen Frankreich und Großbritannien gestellt. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts verdrängten die einseitigen Geiselnahmen die vertraglichen zunehmend. Besonders exzessiv vollzogen dies die deutschen Besatzungstruppen im zweiten Weltkrieg in der Balkanregion, geduldet von der herrschenden Meinung im Völkerrecht. In der heutigen Zeit spielt die Geiselnahme im internationalen Terrorismus, auf den gewissen kriegerischen Charakter reflektiert, eine bedeutende Rolle. Auf die exemplarisch ausgewählten Fallbeispiele wie unter anderen die Entführung des Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyer im Jahre 1977 durch die R.A.F. und die Geiselnahme von mehreren Europäern in Jolo werde ich im Verlaufe meiner Ausführungen näher eingehen. Die „klassische“ Geiselnahme, die Geiselnahme im Zwei-Personen-Verhältnis, bekam erst im letzten Jahrhundert ihre gesellschaftliche und somit auch strafrechtliche Würdigung. Grundlage für die gesellschaftliche Ächtung waren stets spektakuläre Bemächtigungen anderer Personen wie 1932 die Entführung des Lindbergh Kindes
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(Grundlage für die Einführung des § 239a StGB) und dessen anschließende Tötung sowie die Einführung des § 239b StGB mit Blick auf das Münchener Geiseldrama.1
3. Täter-Opfer Beziehungen Bei Geiselnahmen besteht zwingender Weise eine räumliche Nähe zwischen Geiselnehmer und Opfer. Die Personen, deren Situationen unterschiedlicher nicht sein können, treten zwangsläufig in eine Interaktion, sei es auf verbaler, kommunikativer Ebene oder lediglich nonverbal. Diese Interaktion legt den Grundstein für das Herausbilden von Verhaltensmustern. Schon häufig wurde bei Geiselnahmen, die über einen längeren Zeitraum hinausgingen festgestellt, dass Täter und Opfer plötzlich harmonieren, sich solidarisieren und sogar eine emotionale Bindung aufbauen. Eine Verhaltensweise, die für den außenstehenden Rezipienten auf den ersten Blick nicht nachvollziehbar ist. Im Folgenden sollen, anhand von Berichterstattungen ehemaliger Geiseln, die Facetten solcher Täter-Opfer-Beziehungen dargestellt und die möglichen Ursachen für die sich entwickelnde Beziehungsdynamik erörtert werden.
Jan Philipp Reemtsma Der Soziologe und Zigarettenerbe Jan Philipp Reemtsma wurde am 25.März 1996 vor seinem Haus niedergeschlagen und verschleppt. Die folgende Geiselnahme dauerte 33 Tage. In dieser Zeit hielten ihn die Täter ausschließlich in einem Keller, angekettet an einer Wand, fest. Die Entführer forderten erst 20 Millionen, später gar 30 Millionen DMark Lösegeld. Während seiner Zeit im Keller schrieb Jan Philipp Reemtsma ein kleines Tagebuch, welches die Grundlage für sein nach der Freilassung verfasstes Buch sein sollte2. Er schreibt in diesem Buch, dass die Geiselnehmer ihm täglich frisches Wasser brachten, ihn mit regelmäßigen Mahlzeiten versorgten und auf sein Bitten ihm sogar Bücher zum Lesen gaben. Die Täter bezeichneten diese Entführung immer wieder als „DeluxeEntführung“. Sie achteten während der Geiselnahme regelmäßig darauf, dass die „Außenwelt“ Lebensbeweise von Reemtsma erhielt, indem sie ihn aufforderten, Briefe an seine Frau zu verfassen.
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Vgl. dazu Zschieschack, Geiselnahmen und erpresserischer Menschenraub. S 19ff Siehe Reemtsma, Im Keller, S.206
3
Reemtsma fühlte sich in seinem Keller wie aus dem Leben gefallen3. Mit jedem Tag länger in der Isolation litt seine Psyche. Da die Entführer bei den ersten drei Versuchen der Geldübergabe vermuteten, dass die Polizei, deren Mitwirken sie ausdrücklich untersagt hatten, sich in der Nähe des Ortes der Geldübergabe befand, scheiterten diese. Reemtsma glaubte, dass der vierte Versuch der letzte sein könnte und wies seine Ehefrau in einem weiteren Brief an, die Polizei aus deren Wohnhaus zu schicken und Bekannte mit der Geldübergabe zu beauftragen. Er begann sogar damit, eigene Pläne für die Geldübergabe zu entwickeln4. Doch die Geldübergabe glückte und Reemtsma wurde zwei Tage später aus seiner Gefangenschaft entlassen und kehrte zu seiner Frau zurück. Während der Gefangenschaft stellte sich bei ihm ein merkwürdiges Phänomen ein. Obwohl er tiefsten Hass und Abneigung nach der Freilassung gegenüber seinen Peinigern empfand und auch während der Gefangenschaft hätte empfinden müssen gab es Momente während der Zeit in der Gefangenschaft, in denen er sich nichts Sehnlicheres gewünscht hatte, als die Stimmen seiner Peiniger zu hören. Es ging sogar so weit, dass er insgeheim danach verlangte, dass der Brite (so nennt Reemtsma einen seiner Entführer in seinem Buch) zu ihm komme, um dessen Hand auf seine Schulter zu legen und ihn zu trösten. Zu dem Briten hatte Reemtsma eine besondere „Beziehung aufgebaut“. Er war der Einzige, der sich mit Reemtsma unterhielt. Ein Gespräch empfand Reemtsma sogar als das Angenehmste, was er in dem Keller erfahren hatte5.
Susanne Siegfried und Nicola Fleuchaus Die Entführung der beiden Frauen fand am 1. Januar 1996 auf Costa Rica statt. Zusammen mit Freunden feierten sie Sylvester, als mehrere Befreiungskämpfer auftauchten und sie entführten. Es folgte eine Odyssee von 72 Tagen. Die beiden Frauen zogen mit ihren Geiselnehmern in dieser Zeit durch den Urwald, von Camp zu Camp, immer auf der Flucht vor der Armee, die die Frauen befreien sollte. In dieser Zeit, geprägt von vielen Gesprächen entwickelte sich eine Art „Beziehung“ zwischen Nicola Fleuchaus und einem der Entführer (Talamanca). Kurz nach deren Freilassung tauchte ein Foto in der Presse auf, das um die Welt ging. Nicola Fleuchaus küsste einen ihren Entführer6.
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Hierzu Reemtsma, Im Keller S.73ff Vgl. Reemtsma, Im Keller S. 139 ff 5 Siehe Reemtsma, Im Keller, S.170 6 Siehe Siegfried/Siegfried, Entführung in Costa Rica, S 210 4
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Susanne Siegfried beschreibt in ihrem Buch chronologisch und detailliert deren Entführung. Wie sie von Camp zu Camp zogen, mithalfen, die Lagerplätze zu säubern, um keine Spuren zu hinterlassen. „Wir waren über jede Handreichung dankbar“7, so Siegfried. Nach einiger Zeit begannen beide zu Talamanca Vertrauen aufzubauen, sie betrachteten ihn als Beschützer, fühlten sich bei ihm sicher. Immer wenn Talamanca eines der Camps verlassen musste, um Nahrung zu besorgen, hofften sie, dass er zurückkommen würde. Talamanca selbst fühlte sich zu Nicola Fleuchaus ebenfalls hingezogen. Er machte ihr Komplimente und bezirzte sie. Es entwickelte sich eine Romanze zwischen den beiden. Auch nach der Festnahme ihrer Entführer empfinden beide Opfer keinen Hass und schwelgen auch nicht in Rachegedanken gegenüber ihren Peinigern.
Paradoxe Phänomene In beiden Berichterstattungen werden Phänomene geschildert, die auf den ersten Blick paradox erscheinen. Reemtsma fühlt sich plötzlich zu seinem Peiniger hingezogen, möchte Zuneigung von ihm erhalten. Auch Fleuchaus, bei der dieses Phänomen noch weitaus stärker auftritt, entwickelt eine emotionale Bindung zu ihrem Entführer. Talamanca fragt sogar, ob Nicola es sich vorstellen könne auf Costa Rica zu leben8. Es besteht somit seitens des Entführers eine emotionale Bindung seinem Opfer. Aber auch Susanne Siegfriede wendet sich von den Tätern nicht ab, entwickelt Verständnis für deren Handlungen und fühlt sich bei ihnen sicher, wenn die Armee wieder anrückt um zu versuchen sie zu befreien9. In der Wissenschaft nennt man dieses Phänomen, wenn Täter und Opfer eine emotionale Beziehung aufbauen, das Stockholm-Syndrom. Nachdem dieses Syndrom dargestellt worden ist, werden die psychologischen Mechanismen erläutert, die für die Verhaltensweisen, die das Syndrom beschreibt, verantwortlich sein können.
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Zitat aus: Siegfried/Siegfried, Entführung in Costa Rica, S 84 Vgl. Siegfried/Siegfried, Entführung in Costa Rica, S.121 9 Vgl. Siegfried/Siegfried, Entführung in Costa Rica, S. 142 8
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3.1 Stockholm-Syndrom Hintergrund: Am 23. August 1973 überfielen zwei Geiselgangster eine Bankfiliale in der Stockholmer Innenstadt und nahmen vier Angestellte als Geiseln. Die Geiselnahme dauerte fast sechs Tage an. Die Geiseln, festgehalten in einem Tresorraum, hatten lediglich über die Presse Kontakt mit der Außenwelt. In den gegebenen Interviews berichteten die Geiseln zur Verwunderung vieler, dass es sie bedrücke, dass die Polizei vielleicht angreifen würde und dabei nicht nur die Geiselnehmer, sondern auch sie selbst töten könnte. Die mitgelieferte Beruhigung stieß auf noch weniger Verständnis. So gab eine Geisel an, dass sie dennoch kaum Angst hätten, denn einer der Geiselnehmer würde sie vor der Polizei beschützen. Im Verlauf der Geiselnahme unterhielten sich die Geiseln mit den Tätern mehrfach. Sie duzten sich und bauten eine persönliche Beziehung zu ihnen auf. Im Nachhinein berichteten die befreiten Geiseln, dass sie keine Angst gegenüber ihren Peinigern empfunden hätten, sondern vielmehr Dankbarkeit darüber, dass die Täter sich als sehr großzügig erwiesen und ihnen das Leben geschenkt hätten. Diese emotionale Bindung an die Täter ging soweit, dass sie jene noch lange Zeit nach der Befreiung im Gefängnis besuchten. Eine Geisel verlobte sich gar mit einem der Täter10. Da dieses Verhalten von Geiseln bis dahin unbekannt war, erhielt es den Begriff Stockholm-Syndrom. Das wohl extremste Beispiel für das Vorliegen eines Stockholm-Syndroms liefert die Entführung von Patricia Hearst aus dem Jahre 1974 Sie wurde von einer politisch revolutionären Gruppe entführt und zwei Monate lang mit verbundenen Augen in einem kleinen Keller festgehalten. In dieser Zeit, in der sie nach ihren Angaben die Zeit gehabt hatte, sich der Gruppe anzuschließen oder exekutiert zu werden, avancierte sie von dem Geiselopfer zur Terroristin. Erst nach mehreren Anschlägen und Attentaten wurde sie im Jahr 1975 festgenommen.11
Merkmale des Stockholm-Syndroms Dem Wortlaut nach, handelt es sich bei dem Stockholm-Syndrom um ein Psychopathologisches Phänomen. Dieser Begriff drückt aus, dass die Personen, die darunter leiden, in ihrem Verhalten und Agieren sowie in ihrem Wahrnehmen und Denken soweit von der Norm abweichen, dass eine krankhafte Störung vorliegt. Es 10 11
Vgl. Wieczorek, Das sog. Stockholm-Syndrom; Kriminalistik 7/03 S.429 Dazu http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/11/0,18722042091,00.html Autor unbekannt
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handelt sich bei den Geiseln um ein Verhalten, „dass sie unter normalen Bedingungen mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit nie zeigen würden“ so der Dipl.-Psych. Wieczorek.12 Kennzeichnend für das Stockholm-Syndrom sind folgende Merkmale: -
Die Geiseln entwickeln positive Gefühle gegenüber den Tätern und nehmen sie vor der Polizei in Schutz.
-
Geiseln entwickeln negative Gefühle gegenüber der Polizei, sodass sie die Täterforderungen gegenüber der Polizei vertreten und auch wie die Täter gegenüber der Polizei agieren.
-
Aber ebenfalls die Täter können positive Merkmale gegenüber den Geiseln entwickeln.
Die Symptome stellen dar, dass die kognitive Wahrnehmung des Opfers verzerrt ist. Dies äußert sich darin, dass die Geiseln ihr eigenes Werte- und Normensystem gänzlich verlassen und sich mit der Täterseite identifizieren, eine Art des Wir-Gefühls wird herausgebildet. Es kommt zu einer tatsächlichen emotionalen Verbindung seitens der Geiseln zum Täter. Wie im Falle der Stockholmer Geiselnahme kann die Annahme der Werte des Entführers bis hin zu Heiratswünschen reichen.13
3.2 Ursachen für die Entwicklung emotionaler Beziehungen; Erklärungsansätze 3.2.1 Traumatisierung der Opfer Für die Opfer stellt sich eine Geiselnahme häufig als ein traumatisches Ereignis dar. Ein Trauma ist ein Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß, das bei nahezu jedem tief greifende Verzweiflung auslösen würde.14 Eine Geiselnahme stellt zweifellos ein derartiges Ereignis dar. Ursache für die Traumatisierung ist das Vorliegen von immensem Stress. Stress entsteht, wenn der Organismus die auf ihn einströmenden äußeren Einflüsse nicht mehr mit seinen eigenen Bedürfnissen vereinbaren kann.15Im Falle einer Geiselnahme hat der Organismus meist gar keine Kontrolle mehr über die Regulierung der eigenen Bedürfnisse. Diese Regulierung hat nun der Täter übernommen. Reemtsma bekam sein Essen regelmäßig in den Keller gebracht. Dennoch war es möglich, dass seine Entführer die Versorgung stoppten, dass sie ihn verhungern ließen.
12
Vgl. Wieczorek, Das sog. Stockholm-Syndrom; Kriminalistik 7/03 S.429 Vgl. Wieczorek, Das sog. Stockholm-Syndrom; Kriminalistik 7/03 S.430 f 14 Vgl. Litzcke, Ausarbeitung über Angststörungen f.d. St.-Jahrgang 46/II/03, S.1ff 15 Siehe Zimbardo/Gerrig, Psychologie, S.562 13
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Fleuchaus und Siegfried waren immer darauf angewiesen, dass sie etwas Nahrung von ihren Entführern erhielten. Wurde die Nahrung im Camp knapp, waren sie die ersten, die weniger erhielten16. Sowohl Reemtsma als auch Fleuchaus und Siegfried waren sich darüber im Klaren. In ihren Aufzeichnungen waren diese Überlegungen ein bedeutender Bestandteil. Sie stellen diese Ängste als eine ihrer größten Bedrohungen dar. Immer wieder haben sie sich darüber Gedanken gemacht, dass sie nichts mehr zu essen zu trinken haben könnten. Es machten sich Ängste breit, dass die Geiselnehmer sie nicht mehr versorgen würden. Es führte soweit, dass Reemtsma Wasser versteckte und Rechnungen anstellte, wie lange er ohne Wasser und Trinken auskommen könnte17. Es wird deutlich, dass die Täter nicht nur die Versorgung der Bedürfnisse übernommen hatten, sondern auch diese nach Belieben hätten einstellen können. „Dieses höchste Stressniveau, in Zusammenhang mit der akuten Lebensgefahr“, so Dipl.-Psych. Arnold Wieczorek, „kann zu besonderen Formen der Anpassung an bestimmte Situationen führen“.18 Die von Wieczorek genannte Situationsanpassung stellt eine psychische „Rückentwicklung“ der betroffenen Person auf eine frühe kindliche Stufe dar. Auslöser dieser Rückentwicklung ist das so genannte „Coping“. Es handelt sich hierbei um einen Prozess des Organismus, mit den inneren und äußeren Anforderungen umzugehen, die die eigenen Kräfte übersteigen. Nach der kognitiven Bewertung, dass keine Alternativen vorhanden sind verfällt der Organismus in eine solche Rückentwicklung.19 Es stellt eine Art Schutzmechanismus dar. Das Opfer leugnet die Gewalttätigkeit seiner Peiniger, um so die existenzielle Abhängigkeit von diesen ertragen zu können. Indem das Opfer sich mit dem Peiniger gut stellt, hoffe es, dass er sie auch gut behandle. Laut Wieczorek „schützt das Opfer somit auf psychischer Ebene das eigene Ich vor dem Zusammenbruch während auf physischer Ebene das eigene Überleben gesichert wird“20. Diese Überlegungen spielen in der Erklärung und im Verständnis des StockholmSyndroms eine zentrale Rolle. Die Rückentwicklung auf eine frühe kindliche Stufe aufgrund des immensen Stress, der ein Trauma nach sich zieht, ist bisweilen ein
16
Vgl. Siegfried/Siegfreid, Entführung in Costa Rica, S.134 Siehe Reemtsma, Im Keller, S. 156 ff 18 Vgl. Wieczorek, Das sog. Stockholm-Syndrom; Kriminalistik 7/03 S.431 19 Siehe Zimbardo/Gerrig, Psychologie, S.574 f 20 Vgl. Wieczorek, Das sog. Stockholm-Syndrom; Kriminalistik 7/03 S.431 17
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Erklärungsansatz für die mit dem Stockholm-Syndrom beschriebene Identifikation mit den Werten des Täters21. Mit diesem Erklärungsansatz ist eine emotionale Hinwendung der Opfer zu den Tätern verständlich.
3.2.2 Weiterführende Erklärungsansätze Der Dipl.-Psych. Arnold Wieczorek sieht die Rückentwicklung auf eine frühe kindliche Stufe nicht als alleinige Ursache für das Vorliegen einer emotionalen Hinwendung der Opfer zu den Tätern. Unter der Berücksichtigung der folgend erläuterten Punkte plädiert er darauf, die emotionalen Beziehungen zwischen Tätern und Opfern als ein dynamisches Beziehungsgeflecht anzusehen, das psychologischen Prozessen und Merkmalen, die für sich genommen nichts Pathologisches darstellen, unterliegt.22 Des Weiteren wird an dem Beispiel der Aggressionsverschiebung eine, von emotionalen Beweggründen unabhängige, Möglichkeit dargestellt, warum die Opfer die Polizei als Gegenspieler ansehen könnten.
Annäherung durch Kommunikation Nicola Fleuchaus (F) und Susanne Siegfried (S) unterhielten sich oft mit ihren Entführern. Auch Reemtsma wünschte sich, mit seinen Peinigern zu kommunizieren. Die Kommunikation spielt bei Geiselnahmen und der Entwicklung von emotionalen Hinwendungen eine bedeutende Rolle. Ursache für das Herbeiführen von Gesprächen kann der noch immer andauernde hohe Stresspegel sein. Durch Kommunikation erfahren die Opfer eine Form der sozioemotionalen Unterstützung. Diese Unterstützung führt den Abbau von Stress herbei. Folglich liegt nahe, dass die Opfer derartige Gespräche aufrecht halten wollen23. Folge des kommunikativen Austausches ist es, dass die Opfer Einblicke in die Motivlage der Täter bekommen. Einer der Entführer von F. und S. erzählte, er würde das nur machen, weil das Militär sein Dorf überfallen hätte und die Armen auf Costa Rica ausbeuten würden. Aufgrund der hohen Belastungen kann es nun dazu führen, dass die Opfer die Sichtweisen der Täter annehmen und verstehen24.
21
Vgl. Wieczorek, Das sog. Stockholm-Syndrom; Kriminalistik 7/03 S.429ff Vgl. Wieczorek, Das sog. Stockholm-Syndrom; Kriminalistik 7/03 S.432 23 Siehe Zimbardo/Gerrig, Psychologie, S.579 24 Vgl. Wieczorek, Das sog. Stockholm-Syndrom; Kriminalistik 7/03 S.433 22
9
Gruppendynamische Prozesse Im Falle der Stockholmer Geiselnahme und auch bei der Entführung auf Costa Rica waren die Geiseln mit den Geiselnehmern häufig auf engsten Raum beieinander. Wie eingangs erläutert traten auch hier die Personen untereinander in Kommunikation und Interaktion. Logische Konsequenz hieraus ist, dass sich soziale Geflechte herausbilden. Desto länger eine Geiselnahme andauert, desto stärker prägt sich das Rollengeflecht aus25. Beleg für Rollenverteilung stellt die Geiselnahme mehrerer Europäer auf der philippinischen Halbinsel Jolo26 dar. Die Geiselnahme dauert fast ein halbes Jahr. Nach seiner Befreiung gab eine der Geiseln, Marc Wallert, dem Spiegel ein Interview. „Wir haben denen Essen gekauft, Rohre repariert, ihr Leben organisiert“, berichtete Marc Wallert. „Wir haben mit ihnen Frisbee gespielt und ihnen von Deutschland erklärt, dass es dort die DM als Währung gäbe und nicht den Dollar. Ich stellte eine Art Bindeglied zwischen uns und den Tätern dar, 27“ so Marc Wallert weiter. Hier wird deutlich, dass eine Rollenverteilung stattgefunden hat. Durch diese „Unterstützung“ machten sich die Geiseln nützlich. Dass Rohre verlegt worden sind diente auch den Geiseln, denn die Wasserversorgung war in ihrer Gegend dürftig. Es stellte sich für die Geiseln die Situation, dass sie in diesen Momenten „in einem Boot mit den Entführern saßen“28. Des Weiteren diente das Frisbee spielen auch als Entspannung der stressigen Situation. So macht es nach Außen den Anschein, dass die Geiseln ihre Entführer unterstützen, aber vielmehr ist es ein Handeln der Geiseln im eigenen Sinne gewesen.
Dissonanzreduktion Ein weiterer Erklärungsansatz, der die emotionale Zuwendung an den Täter erklären könnte, ist die Dissonanzreduzierung. Ein Dissonanzgefühl, ein unangenehmes Gefühl, tritt dann auf, wenn ein eigenes Verhalten im ständigen Gegensatz zu den eigenen Einstellungen steht.29 An dem Beispiel von Jan Philipp Reemtsma wird dieses Phänomen deutlich. Der Hass gegenüber seinen Peinigern war immens. Dennoch kam es zu Situationen, in denen er 25
Vgl. Wieczorek, Das sog. Stockholm-Syndrom; Kriminalistik 7/03 S.433 Philippinische Glaubenskrieger entführen im Jahr 2000 mehrere europäische Urlauber. Sie fordern die Errichtung eines muslimischen Gottesstaates. Erst nach der Zahlung von Lösegeld kommen die Geiseln wieder frei. 27 Zitat aus: Brinkbäuer, die ewigen Geiseln, Der Spiegel vom 22.12.2000 28 Siehe 24 29 Vgl. Wieczorek, Das sog. Stockholm-Syndrom; Kriminalistik 7/03 S.434 26
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Selbstekel empfand. Erregt durch das Verlangen, die Stimme seiner Peiniger zu hören. Selbst die mit einem seiner Peinigern geführten Gespräche hat er genossen 30. Es lag folglich eine innere Ablehnung gegenüber den Tätern vor, dennoch hat er sich ihnen emotional verbunden gefühlt. Es kam somit zu einer Dissonanz zwischen dem positiven Verhalten gegenüber den Tätern und seiner inneren Ablehnung ihnen gegenüber. Dieser Zustand drängt darauf, beseitigt zu werden. Die daraus resultierende Dissonanzreduktion bedeutet, dass die negative Einstellung weitestgehend aufgegeben wird und dem Verhalten angepasst wird. Dies kann laut Wieczorek soweit gehen, dass diese „Kooperation mit den Tätern um des Überlebenswillen bis zur totalen Unterwerfung und völligen Aufgabe der eigenen Autonomie und Kontrolle geht“31
Operante Konditionierung Viele
Verhaltensweisen
der
Geiseln
können
auch
anhand
der
operanten
Konditionierung erläutert werden. Versucht eine Geisel z.B. die Flucht, so kann es zu Bestrafungen kommen. Die Bestrafungen können sich in Form der Bestrafung 1. Art und in der Bestrafung der 2. Art handeln. Nach Ergreifen der flüchtigen Geisel wird sie körperlich misshandelt oder gar getötet (Bestrafung erster Art). Weitere Sanktionen können z.B. sein, dass die Versorgung der Geisel unterlassen wird oder sie wieder angekettet wird. (Bestrafung 2. Art)32. Es besteht nicht die Notwendigkeit, dass die Geiseln ein derartiges Verhalten zeigen und sie als Folge dessen bestraft werden. Vielmehr das Wissen um die Bestrafungen kann zu einem Unterlassen von Fluchtversuchen und dem Fügen des Willens der Täter führen. Ebenso kann auf ein Verhalten ein positiver Reiz folgen (positive Verstärkung). Verhält sich eine Geisel gegenüber dem Täter loyal und nach dessen Vorstellungen, so kann es dazu führen, dass der Täter in seinem Verhalten bestärkt wird. In dem Wissen darüber, dass dies Sympathieeffekte seitens des Täters zum Opfer auslösen kann, wird sich das Opfer auch so verhalten, um diese Position aufrecht zu halten. Jan Philipp Reemtsma kniete sich jeden Tag, wie von seinen Entführern befohlen, mit dem Rücken zur Tür auf sein Bett. Dies führte dazu, dass die Entführer häufig in den Keller kamen und sich mit ihrem Opfer unterhielten. Es führte sogar so weit, dass die Täter sich nicht mehr vermummten, wenn sie zu Reemtsma in den Keller gegangen 30
Siehe Reemtsma, Im Keller, S.177f Zit. aus: Wieczorek, Das sog. Stockholm-Syndrom; Kriminalistik 7/03 S. 434 32 Vgl. Zimbardo/Gerrig, Psychologie S.265 ff 31
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sind. Durch sein loyales Verhalten hat Reemtsma folglich Situationen geschaffen, in denen die Spannungen abgebaut worden sind. Ihm wurden in Folge seine Lesewünsche erfüllt und auch sein Essen wurde mehr an seine Wünsche angepasst. Nicht umsonst bezeichnete ein Entführer diese Entführung als „Deluxe-Entführung“.33
Aggressionsverschiebung Die Stockholmer Geiseln sahen im Verlaufe der Geiselnahme plötzlich nicht mehr die Geiselnehmer als Feind an, sondern wandten sich sogar von der Polizei, ihren vermeintlichen Rettern ab. Sie sahen in den Einsatzkräften ihre Gegenspieler34. Hierfür kann es mehrere Erklärungsansätze geben. Wie schon dargestellt können die Opfer sich mit den Tätern emotional verbunden haben und wechselten dadurch sozusagen die „Fronten“. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass es sich hierbei um den Mechanismus der Aggressionsverschiebung handelte. Aggression ist ein Verhalten, das einem anderen Individuum psychischen oder physischen Schaden zufügt. Geht man von der Theorie der „Aggression als provozierte Bereitschaft35“ aus, versucht das provozierte Individuum, hier die Geisel, dessen Aggressionen gegen den Provokateur, in diesem Falle der Geiselnehmer, zu richten. Im Falle einer Geiselnahme kann eine Geisel unter den gegebenen Umständen ihre Aggression nicht gegen den Täter richten. Ihr stehen nicht die Mittel zur Verfügung. Ein aggressives Verhalten gegenüber den Tätern zu zeigen, könnte schlimme Folgen haben. Da sich die Geisel dieser Situation bewusst ist, kommt es zu einer Verschiebung der Zielperson für die Aggression. Es folgt somit eine Verschiebung der Aggression in Richtung der Polizei, obwohl sie kein Provokateur darstellt. Sie stellt sich nur als geeignetes Objekt dar.
3.2.3 Reflektion und kritische Auseinandersetzung mit dem Stockholm-Syndrom Die Beteiligten in den exemplarisch dargestellten Geiselnahmen von Reemtsma und Fleuchaus & Siegfried weisen Verhaltensweisen auf, die häufig mit dem StockholmSyndrom erklärt worden sind. Nimmt man Abstand von der eigentlichen Bedeutung des Wort Syndroms und geht man davon aus, dass das Stockholm-Syndrom eine Vielzahl der oben genannten psychologischen Prozesse und Mechanismen umfasst, kann man bei dieser Bezeichnung für die beschriebenen Verhaltensweisen bleiben. 33
Siehe Reemtsma, Im Keller, S.86ff Vgl. Wieczorek, Das sog. Stockholm-Syndrom; Kriminalistik 7/03 S.429 35 Siehe hierzu Litzcke, Ausarbeitung über Aggressionen f.d. St.-Jahrgang 46/II/03, S.1ff 34
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Bleibt man aber bei dem Wortlaut, dass es sich hier um eine Krankheit handelt, kann man nicht davon ausgehen, dass dieses Syndrom bei den dargestellten Geiselnahmen herausgebildet worden ist. Es sind zwar Ansätze vorhanden, wie die Romanze zwischen Fleuchaus und Talamanca, oder der Wunsch Reemtsmas, von seinem Peiniger getröstet zu werden. Aber eine echte Identifikation mit den Werten und eine emotionale Verbundenheit auf Dauer mit den Tätern sind nicht zu erkennen. Vielmehr liegen kurze Erscheinungsformen von psychologischen Prozessen und Mechanismen vor. Hier möchte ich mich dem Plädoyer Wieczoreks anschließen und bemerken, dass ein voll ausgeprägtes Syndrom wie in Stockholm die Ausnahme ist und die Solidarisierungen vielmehr auf rationale Denkweisen der Opfer oder durch einzelne, für sich genommene nicht pathologische, psychologische Mechanismen zu begründen sind. Im Verlaufe des Studiums der Erlebnisberichte von Geiselnahmen (Reemtsma/ Siegfried/Bennefeld-Kersten/Rosskamp/Lorenz/Wallert) habe ich festgestellt, dass alle ihr Verhalten mit einer rationalen Denkweise erklärt haben. Mitunter waren sie sich sogar bewusst, insbesondere Reemtsma, welche psychologischen Prozesse sich in ihnen abspielten. Aber eine wirkliche Identifikation mit ihren Peinigern, wie es das Stockholm-Syndrom nun mehrfach dargestellt, beschreibt, lag nach meiner Ansicht, bei keinen vor.
4. Folgen für Opfer von Geiselnahmen 4.1 Primäre Viktimisierung und Posttraumatische Belastungsstörungen Wie dargestellt, handelt es sich bei Geiselnahmen meist um traumatische Ereignisse. Einige
Menschen
reagieren
darauf
emotional
mit
einer
Posttraumatischen
Belastungsstörung (PTBS)36. Die posttraumatische Belastungsstörung ist eine Stressreaktion, bei der Menschen unter ständigem Wiedererleben des traumatischen Ereignisses in Form von Schlafstörungen, Flash-Backs und Träumen leiden. Es folgt eine emotionale Abgestumpftheit und das Opfer einer Geiselnahme kann nicht mehr uneingeschränkt an dem alltäglichen Leben teilnehmen. Mitunter führt dieses Syndrom sogar dazu, dass die eigentlichen Opfer sich die Schuld für die eingetretenen Ereignisse geben37. Ein besonders eklatantes Beispiel liefert die Geiselnahme an Renate Wallert. Sie war wie ihr Sohn Marc Wallert ebenfalls unter der Gruppe Europäer, die von philippinischen Glaubenskriegern entführt worden ist. 36 37
Vgl. Zimbardo/Gerrig, Psychologie, S.671 Langkafel, Die Posttraumatische Belastungsstörung, S.5
13
Während
der
Geiselnahme
erlitt
sie
drei
Nervenzusammenbrüche.
Häufige
Verlegungen der Camps zehrten an ihren Nerven. Sie sollte eins der schwächsten Glieder in der Gruppe der Entführten darstellen. Sie musste bei Märschen getragen werden, konnte sich nicht an den Arbeiten für die Geiselnehmer beteiligen. Sie wurde sogar eine Belastung für die anderen Geiseln. Aufgrund ihres physisch und psychisch labilen Zustandes ließen die Entführer sie vorzeitig frei. In einem Bericht der Zeitschrift „Spiegel“ berichtete sie über ihre Lebensumstände in der neu gewonnenen Freiheit. „Renate Wallert ist schreckhaft geworden. Neulich stand sie mit ihren Büchern vor dem Audi-Kombi, und da hat sie jemand von hinten angesprochen - sie ließ die Bücher fallen. Sie kann nicht alleine einkaufen, und im Ratskeller (Restaurant) schafft sie es nicht, etwas von der Speisekarte zu wählen, “ heißt es in dem Spiegel Bericht. Weiter heißt es „dackele sie nur noch ihrem Mann hinterher. Sie habe all ihre Freunde weggeschickt. Am meisten Angst habe sie vor dem Geräusch der Schüsse.“38 Sie erzählt in diesem Bericht, dass sie immer wieder von diesem Ereignis Träume, an ihn denke. Dieser Bericht zeigt, wie intensiv Renate Wallert unter dem PTBS leidet. Bei ihr sind die unter dem Syndrom gefassten Symptome voll ausgeprägt. Es besteht die Gefahr, dass sich, besonders im Fall Renate Wallert, dieses Syndrom zu einem residualen Belastungssyndrom entwickeltet. Bei dieser Ausprägung des PTBS handelt es sich um eine chronische Ausprägung dessen. Die betroffene Person könnte noch eine lange Zeit unter den Syndromen des PTBS leiden39.
4.2 Sekundäre Viktimisierung Bisweilen findet eine sekundäre Viktimisierung, der Opfer statt. Bei der sekundären Viktimisierung geht es um Schäden, die erst nach der Straftat durch Reaktionen von Unbeteiligten verursacht werden.40 Verantwortlich hierfür ist in einem bedeutenden Umfang die Berichterstattung der Medien über die Geiselnahmen. Häufig kommt es vor, dass Medien verzerrt über den Ablauf der Geiselnahmen berichten. Insbesondere die ausführlich erläuterten Solidarisierungseffekte stoßen bei Unbeteiligten auf Unverständnis. Meist werden die Verhaltensweisen der Geiseln akribisch erläutert. Es scheint mitunter so, dass die
38
aus: Brinkbäuer, die ewigen Geiseln, Der Spiegel vom 22.12.2000 Vgl. Zimbardo/Gerrig, Psychologie, S.571 40 Aebersold, Kriminologie, S.3 39
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Schuld für die Situation auch bei dem Opfer gesucht wird. Dieses Phänomen in der Gesellschaft lässt sich anhand der Vergewaltigung von Frauen illustrieren. Kommt es zu einer Vergewaltigung von Frauen ist im strafrechtlichen Sinne die Frau als Opfer zu bezeichnen und der (meist) Mann als Täter zu klassifizieren. Doch häufig wandelt sich ein wenig die Sichtweise der Gesellschaft. Es werden mitunter auch der Frau Schuldzuweisungen gemacht. „Sie hätte ihn ja nicht so angucken müssen, warum hat sie auch so ein kurzes Kleid getragen“, oder „selbst Schuld, sie wollte das ja auch“ sind Auszüge von möglichen Reaktionen41. Reflektiert man diese Haltung auf die Geiselnahme, so besteht für die Geiseln ein immenses Problem, wenn sie sich wieder in die Gemeinschaft integrieren wollen. Die Anstaltsleiterin
Katharina Bennefeld-Kersten wurde über drei Stunden von einem
Inhaftierten festgehalten. Während der Geiselnahme kam es auch zur Vergewaltigung durch den Geiselnehmer42. Jahre später verfasste sie ein Buch über das Ereignis. Darin berichtet sie unter anderem über diese sekundäre Viktimisierung. Ihr Gesicht war durch die Presse gegangen, jeder kannte sie. Sie war „die“ Anstaltsleiterin. Sie merkte, wie andere, ihr vorher völlig unbekannte Personen, ihr Schuldzuweisungen machten. „Ich sollte in eine Schublade gesteckt werden, in die ich nicht hineinwollte“, so Bennefeld-Kersten.43 Bennefeld-Kersten konnte sich eine zweiten Viktimisierung erwehren, mag es daran gelegen haben, dass sie sich diese Phänomene erklären und darauf vorbereiten konnte, da sie als Psychologin solche Prozesse kannte. Renate Wallert hatte weitaus mehr mit solchen Vorwürfen zu kämpfen. Dass sie früher aus der Gefangenschaft freigelassen worden ist, dass sie mehr Aufwand und Mühen als alle anderen gekostet hat, nahm ihr so mancher Übel. Sie wurde sogar schon in der Geiselhaft von den anderen Geiseln als Simulantin bezeichnet. Hier kommt es zu einer Viktimiserung, die die eigentliche durch die Geiselnahme verursachte verstärkt. Renate Wallert wurde folglich zweimal mit einem traumatischen Ereignis belastet. Auch Jan Philipp Reemtsma musste sich dem Medieninteresse stellen. Obwohl das von den Entführern gefertigte Foto zur Veröffentlichung nicht freigegeben worden ist,
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Vgl. hierzu Baurmann/Schädler, Das Opfer nach der Straftat-seine Erwartungen und Perspektiven S. 199 42 Vgl. Bennefeld-Kersten, Die Geisel, S.53 43 Vgl. Bennefeld-Kersten, Die Geisel, S.143 ff
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wurde es dennoch von einem Verlag erworben und auf der Titelseite einer großen Tagespresse veröffentlicht. Reemtsma empfand die Zurschaustellung als schmerzhaft abstoßend. Als es zu einer Einladung dieses Verlages zur Verleihung eines, von der Geiselnahme unabhängigen, Preises kam, war das Gefühl wieder da, er fühlte sich wieder im Keller. All die Erfahrungen der Hilflosigkeit, Angst und Furcht stiegen in ihm wieder hoch.44
4.3 Bewältigung der Erlebnisse von Geiselnahmen Traumatische Ereignisse bedürfen der Verarbeitung. In den von mir exemplarisch aufgeführten Geiselnahmen stellte das Schreiben eines Buches mit Sicherheit einen Teil der Bewältigung der Ereignisse dar. Doch nicht alle Geiselnahmen fanden solch nachhaltige Betrachtung in der Presse, so dass es sich auch aus wirtschaftlichen Gründen gelohnt hätte, ein Buch zu schreiben. Demnach muss es auch andere Möglichkeiten der Traumabewältigung geben. Wie dargestellt, stehen Personen, die unter einem PTBS leiden unter permanentem Stress. Die Mechanismen, diesem entgegenzuwirken (coping) wurden ebenfalls dargestellt. Tritt nun der Stress auch nach dem eigentlichen Ereignis in Form von Flash-Backs oder Träumen wieder auf, so tritt das in der Literatur genannte „coping-behaviour“ ein. Es handelt sich hierbei um ein „assimilatives“ Bewältigungsverfahren in der eine Person bewusst handelt. Dieses Verhalten stellt sich so dar, dass das Opfer versucht, jegliche Reize, die in Verbindung mit der Geiselnahme stehen, zu vermeiden. Desto weniger Reize vorliegen umso eher kann es zu einer Extinktion (Löschung) der mit dem Reiz verbunden Verhaltensweise, hier z.B. Flash-Backs kommen45. Dieses coping-behaviour äußert sich z.B. darin, dass die Opfer die Orte meiden, an denen sich das Verbrechen ereignet hat oder sie ihr Sozialverhalten ändern. Beispielhaft ist hier das Verhalten von Renate Wallert aufzuführen. Das Wegschicken der Freunde stellt einen Abwehrmechanismus dar, der bezweckt, dass ihr eine mittelbare Konfrontation mit dem Ereignis erspart bleibt. Ein weiteres Beispiel der Bewältigung der Opfererfahrungen beschreibt BennefeldKersten in ihrem Buch. So habe es ihr sehr geholfen, dass sie Unterstützung aus ihrem sozialen Umfeld erhalten habe.46 44
Vgl. Reemtsma, Im Keller, S.211 Siehe hierzu Steller/Volbert, Psychologie im Strafverfahren,ein Handbuch, S.217 46 Siehe Bennefeld-Kersten, Die Geisel, S.146f 45
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Eine Studie hat ergeben, dass die Reaktionen der nächsten Angehörigen eine wichtige Rolle für die meisten Opfer spielt. In vielen Delikten, insbesondere bei schweren Delikten wie Vergewaltigungen, Raub oder Geiselnahmen besteht das Bedürfnis, vorrangig mit Menschen aus dem sozialen Nahraum über das Erlebnis zu sprechen. 47
5. Auswirkungen der medialen Berichterstattungen auf die Geiselnahme Wie schon unter dem Punkt der sekundären Viktimisierung angesprochen, wurden nahezu alle Geiseln durch die Qualität und Quantität der Berichterstattung in der Bewältigung der Erfahrungen durch die Geiselnahme beeinträchtigt. Aber auch während der Geiselnahme kann das Verhalten der Pressemitarbeiter für die Geiseln zu Problemen und neuen Gefahren führen. Geiselnahmen sind von besonderem Interesse für die Öffentlichkeit. Der Informationsanspruch jener ist immens. Die Informationsplattformen Radio, Fernsehen und Internet lassen einen Informationsaustausch just in time zu. Längst dient die Presse nicht nur dem regen Austausch von Informationen in der Bevölkerung, es ist auch ein bedeutender Wirtschaftsmarkt aus ihr erwachsen. Der Konkurrenzdruck ist immens und es bedarf Sensationen um ihm entgegenzustehen. Die Gier nach Sensationen überschreitet bisweilen auch die Grenze des moralisch vertretbaren. Klaus Bresser, ehem. Chefredakteur des ZDF, schreibt in einer Stellungnahme über die LiveÜbertragung einer Hinrichtung, dass das Recht der Öffentlichkeit an der Information mitunter höher angesiedelt werde als die Würde des einzelnen. Der Voyeurismus wäre ein „Rückschritt in die Barbarei des Mittelalters“, so Bresser.48 Wird diese Sensationslust auf die stattgefundenen Geiselnahmen reflektiert wird folgend eine Problematik dargestellt die vermieden werden kann.
5.1 Pressekodex Unter Ziffer eins des Pressekodex49 heißt es, dass die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit das oberste Gebot der Presse sind. Weiter unter Ziffer elf lautet es, dass die Presse auf unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt und Brutalität verzichtet.
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Vgl. hierzu Baurmann/Schädler, Das Opfer nach der Straftat-seine Erwartungen und Perspektiven S. 173 48
Vgl. Bresser, Schauder und Schaulust, unter http://www.message-online.com/arch3_01/31_bresser.html Vom deutschen Presserat in Zusammenarbeit mit den Presseverbänden 1973 erstellt und dem Bundespräsidenten Gustav W. Heinemann übergeben. 49
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In seinem Einleitungssatz zur Stellungnahme gibt Klaus Bresser an, dass „die Presse von einem Kodex weiter denn je entfernt“ sei. 50
5.2 Medienshow bei Geiselnahmen 5.2.1 Gladbeck Am 16. August 1988 wurde die Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck von zwei Männern überfallen. Die Folge der daraus resultierenden Verfolgungsjagd waren zwei durch die Geiselnehmer getötete Menschen sowie ein tödlich verunglückter Polizist, der bei der Verfolgungsfahrt verunfallte. Die Verfolgung der Geiselnehmer wurde nicht durch die Polizei vollzogen, sondern Journalisten setzten den Entführern in Hubschraubern und in PKW nach. Die Entführer machten die Presse zu ihrem Sprachrohr. Sie teilten ihre Forderungen über ein Radiointerview mit51. Die aus polizeitaktischer Sicht kontraproduktive eigenmächtige Involvierung der Journalisten gipfelte darin, dass ein Journalist sich in das Fluchtfahrzeug zu den Geiselnehmern setzte und sie durch die Kölner Innenstadt lotste. Das Geiseldrama von Gladbeck avancierte somit zu einem nicht kontrollierbaren Medienereignis in dem die Sicherheit der gefährdeten Personen gegenüber der Sensationslust der Journalisten zurücktreten musste. Nebeneffekt dieser Medialisierung der Geiselnahme war, dass es bei den Rezipienten jener aus Hubschraubern, Fahrzeugen sowie Live-Interviews gefertigten Bildern ein Realitätsverlust eintrat. „Die Wirklichkeit wurde zum Krimi“52 Die Folgen für die Geiseln und unbeteiligten Personen waren rückblickend gravierend. Durch das Mitwirken der Presse wurden einsatztaktische Grundsätze der Polizei unterlaufen (siehe Verfolgungsfahrt). Die Ausführung der Geiselnahme wurde im Nachhinein von den Journalisten gefördert und zu diesem Ende geleitet. Folge dieser Eskalation der Geiselnahme war ein Übereinkommen zwischen Polizei und Presse, die ein Stillhalteabkommen beinhaltete.53 Gegenstand dessen war, dass die Presse zwar informiert wird, die Polizei somit ihrer Pflicht der Information der Öffentlichkeit nachkam, aber die gelieferten Informationen Seitens der Presse zurückgehalten werden und nicht veröffentlicht wurden, solange dadurch Einfluss auf die laufende Geiselnahme genommen werden könnte. 50
Bresser, Schauder und Schaulust, unter http://www.message-online.com/arch3_01/31_bresser.html abgerufen am 22.07.2005 51 Vgl. Weischenberg: Neues vom Tage. Die Schreinemakerisierung unserer Medienwelt , S.78 52 Zit. nach Bresser: Was nun? Über Fernsehen, Moral und Journalisten. S.99 53 Vgl. Bresser Was nun? Über Fernsehen, Moral und Journalisten, S.100 f
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5.2.2 Jolo Ein weiteres Beispiel des Übereifers der Presse bei solch kritischen Situationen stellt die bereits dargestellte Geiselnahme auf Jolo dar. Die intensive Medienpräsenz nahe dem Geschehen nahm nicht nur Einfluss auf das Geschehen, sondern war direkter Bestandteil der Geiselkrise. Öffentliche Stellen befassten sich mit dem Problem der Journalisten vor Ort. In einem Appell mahnte das französische Außenministerium die Medien, mit Rückblick auf das Gladbecker Geiseldrama, zu mehr Zurückhaltung und Verantwortungssinn. Rudolf Balmer, Korrespondent diverser Zeitungen in Paris, kritisierte den französischen Fernsehsender TF1 „einigen „Rebellen“ ein Plattform für ihre Forderungen zu stellen Der damalige französische Außenminister Hubert Védrine rief sichtlich verärgert die Redaktionsverantwortlichen zur Ordnung, dass bei allem Verständnis für den Wunsch zu informieren, es nicht zulässig sei den Entführern eine Tribüne zu gewähren, damit sie ihre Thesen verbreiten können54. Paradoxe Konsequenz des Wunsches der Journalisten so nah wie möglich am Geschehen zu sein, war, dass der deutsche Spiegel Reporter Andreas Lorenz die Torturen einer Geiselnahme am eigenen Leib spüren sollte. Er recherchierte über Unterhändler zeitnah über die laufende Geiselnahme der europäischen Touristen. Als er sich direkt mit dem Entführer, Robot, treffen wollte, „schnappte die Falle zu“ so Lorenz in seinem Tagebuch. Weiter schrieb er, dass „er Pech hatte“ und, dass das jedem passieren könne, der „nicht darauf verzichten will, aus Krisengebieten zu berichten“.55 Dass die Geiselnahme für ihn am 2.07.2000 ohne Blutvergießen endete, hatte er dem couragierten Intervenieren zweier Kollegen desselben Verlages zu verdanken. Hilfe von der dortigen Regierung konnte nicht erwartet werden, da sie keine Informationen über die Entführung besaßen. Dieses Beispiel veranschaulicht, dass auch hier die Presse als Sprachrohr missbraucht wurde und diese als Gegenleistung eine „hautnahe“ Story liefern konnte. In einer infolge des Geiseldramas von Jolo geführten Diskussion des Deutschen Journalisten Verbandes (DJV) erklärte der Vorsitzende, Siegfried Weischenberg, dass „Journalisten nicht in die erste Reihe gehören“ und forderte Journalisten bei Geiselnahme zur Zurückhaltung auf. Er mahnte, dass seit der Gladbecker Geiselnahme
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Vgl. Balmer,: Medienshow mit echten Geiseln. http://perso.wanadoo.fr/balmer/archiv.html Vgl. Lorenz: Spiegel Interview vom 31.07.2000
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der Pressekodex verschärft worden sei. Insbesondere Interviews mit Tätern wurden darin sanktioniert. Andreas Lorenz rechtfertigte sein Verhalten mit der Äußerung: „Eine vergessene Geisel ist eine tote Geisel“. Er habe lediglich versucht „direkt vor Ort zu berichten, um den Standpunkt der Geiseln zu vermitteln und damit sie nicht vergessen wurde“.56
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Vgl. Hansen: taz Bericht vom 22.03.2001 S. 16 unter http://www.taz.de/pt/2001/03/22/a0143.nf/textdruck
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6. Fazit Im Verlaufe des Studiums der Erlebnisberichte ehemaliger Geiseln musste ich feststellen, dass je länger eine Geiselnahme dauerte desto intensiver entwickelten sich die oben genannten psychologischen Prozesse und Mechanismen. Selbst Jan Philipp Reemtsma, ein Soziologe, der sich über solche Prozesse bewusst war und auch immer wieder gegen sie ankämpfte, musste am Ende unter Selbstekel resümieren, dass er während der Geiselnahme manches Mal Sympathien für die Entführer empfand. Alle Opfer der exemplarisch aufgeführten Geiselnahmen berichten über diese emotionalen Hinwendungen. Häufig wird dies mit dem Begriff des Stockholm-Syndroms in Verbindung gebracht. Ob es sich bei den beschriebenen Prozessen im Täter-OpferVerhalten jedoch um diese Krankheit handelte, ist fraglich. Vielmehr hat meine Recherche ergeben, dass die Geiseln sich den Wünschen und Interessen der Entführer unterordnen um so für sich eine bessere Position zu erlangen. Dieses Verhalten ist meist gewollt und somit auch rational erklärbar. Ein wirklich voll ausgeprägtes Stockholm-Syndrom konnte ich bei den dargestellten Geiselnahmen nicht erkennen. Es treten vielmehr nur vereinzelt die Symptome des Stockholm-Syndroms auf. Aber nicht das Trauma „Geiselnahme“ und dessen Bewältigung, auch die Berichterstattung nach der Freilassung stellt die Geiseln vor vergleichbare Probleme. Bemerkenswerter Weise ist zu beobachten, dass sich alle Geiseln in ihren Büchern mit diesem Aspekt beschäftigten. In allen Berichten ist eine deutliche Kritik an der Berichterstattung zu erkennen. Die Opfer fühlen sich bloßgestellt, diffamiert und in eine Schublade gesteckt. Dem ist das treffende Argument von Andreas Lorenz entgegenzuhalten, dass eine vergessene Geisel eine verlorene Geisel sei. Gerade die Berichterstattung durch die Medien leistet einen wichtigen Beitrag dazu, das Interesse der Gesellschaft an dem Leben der Geiseln aufrecht zu halten. Es bleibt somit die Frage, ob der ständige Informationsaustausch überhaupt notwendig ist. Nach bisherigen Erfahrungen wäre es sinnvoll, eine Geiselnahme nicht derart Publik zu machen, denn die Geiseln sind der Gefahr ausgesetzt, durch Medien und Umfeld ein zweites Mal zum Opfer werden. Geiselnahmen führen zu außergewöhnlichen psychischen Verletzungen bei den Opfern. Sie durchleiden Todesängste, fühlen sich als Mensch verachtet. Nur um zu überleben kommt es bisweilen zur totalen Unterwerfung. Ihnen wird Ehre und Achtung geraubt. Wenn das eigentliche Ereignis vorbei ist, dauert diese Tortour für die Menschen an. 21