Schattenwacht-zyklus 2: Preis Der Unsterblichkeit

  • July 2020
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  • Words: 104,408
  • Pages: 504
UMWELTHINWEIS Gedruckt auf holz-, säure- und chlorfreiem Papier

Deutsche Erstausgabe 1. Auflage Copyright © 2008 SCRATCH Verlag Simon Czaplok, Hamburg Printed in Germany 2009 Umschlagsillustration: Klaus Scherwinski, Bielefeld Innenillustration: Flavio Bolla, Wil SG (Schweiz) Karte und Symbole: Lydia Schuchmann, Weiterstadt Layout und Satz: Thorsten Göde, Hamburg Lektorat: André Krieg, Hamburg Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen ISBN 978-3-940928-01-6 http://www.scratch-verlag.de Das vorliegende Werk einschließlich aller seiner Bestandteile ist urheberrechtlich geschützt. Jede urheberrechtsrelevante Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Recht der mecha­ nischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und der Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitungen und Zeitschriften, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Textteile.

Michael Thiel

Preis der Unsterblichkeit Phantastischer Roman - Aus der Welt der Erben von Theb Nor -

Band 2 des Schattenwacht-Zyklus

Bereits erschienen

Böses Erwachen In Vorbereitung

Spiel mit dem Feuer Sühne der Könige Sturz eines Gottes Ende der Nacht Hiermit wird der Schattenwacht-Zyklus enden

SCRATCH Verlag Simon Czaplok

Jedem gewidmet, der den Mut und die Kraft aufbringt, gegen den Strom toter Fische zu schwimmen.

„Be your own disciple, fan the sparks of will“ MANOWAR

Was bisher geschah Laura lag in der Gästehöhle der unterirdischen Stadt Quirmó. Die junge Halbelfin war von ihrem Erzfeind Melek gedemütigt und fast zu Tode geprügelt worden. Jetzt war sie so schwach, dass sie wie ein Stein schlief und von den Alarmrufen in der Ferne nicht aufwachte. Ihr blonder Lockenkopf ruhte auf ihrem Rucksack. Bienenwachs schützte die Nähte vor Regen, duftete nach Heimat und tröstete sie. Laura drehte sich im Halbschlaf, um die Druckstellen gleichmäßig zu verteilen. Nur in eine Wolldecke gerollt auf Felsen zu schlafen, war sie nicht gewöhnt. Sie sog den Wachsduft ein. Alle schönen Erinnerungen schienen jedoch vor ihrer gegenwärtigen Lage zu fliehen. War sie wirklich im Begriff, in der Begleitung von Helden und Halbgöttern den Imperator der feindlichen Chimärier zu stürzen? Ein Traum hatte sich erfüllt: Sie hatte ihr behütetes Dorf verlassen und Geschehnisse überlebt, die sie vorher als große Abenteuer bezeichnet hätte. Laura hatte diesen Traum lange gehegt und schließlich gegen alle Widerstände wahr werden lassen. Immerhin war sie die beste Kämpferin ihres Elfendorfs. Doch naiv und von falschem Stolz geblendet, hatte sie nicht erkannt, dass sie einem Albtraum verfallen war. Ihr Wunsch nach Anerkennung als Halbelfin unter Elfen, ihr Streben nach Bedeutung, um ihre Gleichwertigkeit zu beweisen, hatten sie jede Vernunft verdrängen lassen. Die Wirklichkeit indes hatte keine Rücksicht auf ihre

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Illusionen genommen, hatte ihr Lachen erstickt und war mit tödlichem Ernst über sie hereingebrochen. Was sie für Stärke und Willenskraft gehalten hatte, war als jugendliche Torheit entlarvt worden. Ihre Menschenhälfte ließ sie mit den zaghaften Elfenmännern eines friedlichen Dorfes mithalten. Aber dass ihre Körperkraft gegen echte Kämpfer lächerlich gering war, hatte sie erst in der Niederlage erkannt. Obwohl sie verstanden hatte, dass ihre Muskeln nicht ihr Überleben sichern würden, wollte sie sich nach wie vor um keinen Preis den Normen ihres Dorfes unterwerfen und ein stilles, graziles Mädchen werden, das als Lebensinhalt musizierte und mit Tieren sprach. Eine kriegerischere Natur tobte in ihr. Wenn es der Elfenkultur ernst damit war, unverbogene Wesen hervorzubringen, so durfte sie Laura nicht dazu zwingen, gegen ihr Inneres zu leben, ihr Verhalten einer Schablone anzupassen, die sie nie richtig füllen konnte. Entweder war die Freiheitskultur der Elfen eine verlogene Fassade oder sie musste Laura erlauben, so zu wachsen, wie die Natur es vorgesehen hatte. Ihre Mutter Jade, die Laura für die größte Kriegerin aller Elfen gehalten und die in einem Krieg gegen viel stärkere Männer gekämpft hatte, schien ein perfektes Vorbild zu sein, so vehement sie selbst dies auch bestritten hatte. Mit ihrer Mutter war eine weitere Illusion Lauras gestorben: Jade war vom Schergen eines unbekannten Feindes getötet worden – bei der Verteidigung einer falschen Göttin, wie Laura gedacht hatte.

Das verklärte Wunschdenken über ihre Stärke und ihre kommenden Heldentaten war ins Lächerliche verkehrt worden. Laura lebte nur noch, weil jemand dem Menschenjäger Melek gefolgt war und ihn dabei gestört hatte, seine Finger in ihre Haut zu graben und ihr die Kehle durchzuschneiden. Ohne fremde Hilfe hätte sie keinen Tag jenseits ihres Dorfes überlebt. Dumm und nichtig fühlte sie sich jetzt, nicht als Heldin. Melek, ein Mensch in Lauras Alter, war bei seinem Volk als vagabundierender Mörder und Schänder berüchtigt. Woher die Kraft kam, mit der sie sich im Kampf gegen ihn immer wieder auf die Füße zurückgequält hatte, erkannte sie noch nicht. Doch unmöglich hatte sie dem Gegner erlauben können, mit seinem Wahnsinn zu triumphieren: Er verstand die Menschenjagd als naturgemäßen Sport, der große Zufriedenheit verhieß und nicht über Sesshaftigkeit und Kulturtrieb vergessen werden durfte. Obwohl Melek seine Ansichten mit niemandem teilte, redete er sich die stillschweigende Zustimmung vieler Gleichgesinnter ein und hielt sich für ruhmreich. Noch immer lauerte er in der Dunkelheit der Gänge und Höhlen, in die es Laura verschlagen hatte. Als sie besiegt in Meleks Arm gesackt war, hatte sie sich nur noch zurück in ihr Dorf gewünscht, um wie zuvor von Ruhmestaten ohne Blut und Schmerzen zu träumen. Sehnsucht wäre dann ihre einzige Qual gewesen, neben der Rolle als Außenseiterin, die nie ganz dazugehören konnte. Aber nicht einmal dieses unerfüllte Leben konnte sie zurückbekommen. Ihre Mutter war tot. Nichts würde

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so sein wie früher, selbst wenn sie zu ihrem elfischen Ziehvater Endáruel und ihrer kleinen Schwester Lishárial zurückkehren würde. Sie führte nun ein neues Leben, ohne Heimat und Familie, ohne dass das Schicksal Lauras Zustimmung abgewartet hätte. Ihr Traum von Selbstbestimmung hatte sich erfüllt und jede weitere Selbstbestimmung fortgenommen. Es warteten Aufgaben auf sie, vor denen sie nicht fliehen konnte, ob ihr die Voraussetzungen fehlten oder nicht. Egal wie sehr sie Melek verabscheute – davon verschwand er nicht aus der Welt. Egal wie sehr sie sich heitere Tage und einen anderen Körper wünschte, eine andere Rolle im Kreislauf der Natur, sie musste sich ihrer Zukunft stellen. Zudem spürte Laura, dass sie auch beim Kampf gegen den feindlichen Imperator der Chimärier eine Funktion erfüllen musste, gegen Schattenwacht, den letzten Drachen. An der Seite zweier Halbgötter und des alten Kriegshelden Athónon zog sie diesem Feind entgegen. Ihre Mutter Jade war für dieses höhere Ziel bereits gestorben. Laura stöhnte im Halbschlaf. Zuerst würde sie Melek finden und töten. Am liebsten würde sie ihn genussvoll zu Tode foltern, doch würde sie sich auch mit jeder anderen Form seines Ablebens begnügen. Danach würde sie den Verantwortlichen am Tod ihrer Mutter aufspüren und ihn ebenfalls töten, den, der das Kopfgeld auf die ganze Gruppe ausgesetzt hatte. Die Alten sagten, Rache mache nichts besser. All die altklugen, unbequemen Phrasen drohten zu stimmen, erkannte Laura, so wie die Warnungen vor

ihrer Torheit, die sie bestritten hatte und wegen der sie beinahe getötet wurde. Doch der Hass brannte so wild in ihr, dass sie keine andere Wahl hatte, als ihn auf ihre Gegner loszulassen, wollte sie nicht Gedanke für Gedanke verbrennen. Ihr Hass loderte nicht allein wegen ihrer Niederlage so übermächtig, oder weil sie ihr altes, kleines Leben verloren hatte. Auch ihre angeborenen Nachteile und Meleks Lebensweise waren nicht der einzige Grund. Laura verdrängte die Wahrheit ihrer Herkunft. Ein Teil ihrer unbändigen Kraft, ihres Willens und Stolzes stammte von ihrem menschlichen Vater. Der Gnom Athónon hatte ihn während eines zurückliegenden Krieges getötet. Vermutlich war er ein ähnlicher Kerl wie Melek gewesen, der sein Sohn sein könnte ... ihr Bruder. Auf eine perfide Weise wären er und Laura dann seelenverwandt, und das machte die Halbelfin rasend: Ihre Stärken gingen auf jemanden zurück, den sie verteufelte und töten wollte. Wenn sie sich einredete, wegen ihrer Unbeugsamkeit und Stärke für das neue Leben gewappnet zu sein, roch sie Meleks stinkenden Atem und spürte seine Tritte. Sie wurde den Beigeschmack des Bösen nicht los, wenn sie an ihre Vorzüge als Kämpferin dachte. Doch fand sie in sich auch keine anderen nützlichen Fähigkeiten. Der weißhaarige Gnom Athónon, Henker ihres leiblichen Vaters, war ebenfalls ein Teil von Lauras neuem Leben und wachte an ihrer Seite. Er reichte ihr gerade bis zum Gürtel, bewies aber mit seiner subtilen Kampfkunst, dass Körperkraft allein nicht den Wert eines Kriegers ausmachte. Laura war fest entschlossen, das

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Herz des Griesgrams für sich einzunehmen, um ihm seine Kriegsgeheimnisse zu entlocken und nicht länger auf das tückische Erbe ihrer Menschenhälfte angewiesen zu sein. Athónon sah die Abgründe der Götter. Wie die letzte Glut eines sterbenden Feuers spiegelten Mèras Augen den Fackelschein wider, glommen durch Rauchfetzen und muffigen Steinstaub. Verirrten Sternen am Nachthimmel gleich, hatte der alte Gnom doch darin zu lesen gelernt. Er spürte jene Wahrheiten, die er nicht gesucht und zeitlebens verdammt hatte, wann immer die gebrochene Elfin ihn anblickte. Mit dem Rücken an der Felswand dämmerte sie vor sich hin. Knöchrige Finger zogen eine Decke über spitze Knie, einen grünen Fetzen, auf dem goldene Ornamente verblassten. Zweifellos wog Mèra fünfundzwanzig Pfund weniger als Laura, dabei war sie noch eine Stirn größer. Die Alarmrufe aus der Ferne schienen sie nicht zu erreichen. Stille umgab sie. Nur wenige verstanden ihre Blicke zu deuten. Wie gern hätte Athónon diese verfluchte Gabe jemand anderem geschenkt und auf Mèras Vertrauen verzichtet. Wie leichtfertig mancher Tor danach verlangt hatte! So gesegnet ein Götterdiener dem Volk erschien, seine Seele ging verloren im Mahlstrom höherer Kräfte. Grau und zerfurcht wie Athónon von der Bürde des Götterdieners, war Mèras Seele doch in nichts mit der einer Sterblichen zu vergleichen. Vor zwei Jahrtausenden – die Welt war eine andere – hatte sie als Königin gegen verblendete Götter rebelliert und so die Sterblichen vor der Versklavung durch die Amdovenn, dem Äußeren

Volk, gerettet. Ihr Lohn war die Befreiung vom Alter, eine zeitlose Existenz als Wächterin über alle Völker. Doch die Jahrhunderte hinterließen Spuren an ihrer Seele, die kein Sterblicher begreifen konnte. Die Bewohner der Stadt Quirmó hielten sich für die unheilbaren Opfer einer Seuche: Sie waren Nachtelfen, Sonnenlicht verbrannte ihr Fleisch bis auf die Knochen. Jahrhunderte waren ohne einen einzigen Fall dieser Krankheit vergangen, doch nun war sie wieder da. Über die besondere Gabe, die jener Fluch mit sich brachte, waren die Nachtelfen sich nicht bewusst. Mèra hatte sie einst als Waffen gegen die Feinde der Götter erschaffen. Doch die Kräfte der Halbgöttin hatten nicht gereicht, um ihre auserwählten Elfen ohne jeden Makel zu verwandeln. Nun, da die Amdovenn erneut den Kontinent Hevanor bedrohten, war auch die schlafende Waffe in den Seelen des Elfenvolks erwacht und verwandelte einige von ihnen in Nachtelfen. Athónon sah zu Srrig hinüber, der am Eingang der Gästehöhle von Quirmó Wache hielt. Der Tigermann in der blauen Robe hatte bei der Rebellion gegen die Götter vor zwei Jahrtausenden eine nicht minder bedeutende Rolle wie Mèra gespielt. Ebenfalls vier Jahrhunderte lang verbannt, waren beide nun unter mysteriösen Umständen in die Welt zurückgekehrt. Sie überlegten ihr Vorgehen, um die anderen beiden der legendären Vier Könige zu finden, die Hevanor am Ende des Glorreichen Zeitalters durch ihre ketzerische Rebellion vor den Amdovenn retteten.

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Zu viert sollten sie dann den Imperator der Chimärier stürzen: Schattenwacht, den letzten der Inferior, der die Gestalt eines Drachen gewählt hatte. Schattenwachts Soldatenvolk, von ihm halb als Mensch, halb als Drache erschaffen, unterjochte mehr und mehr der anderen Völker. Jemand musste dem Ungleichgewicht ein Ende machen. Die Generäle der Chimärier waren brutale und gierige Eroberer, während ihre Zauberer rücksichtslos forschten und widernatürliche Monster in ihren Laboren verbargen. Dahnrud und Inferior, die Ureinwohner von Hevanor, standen den Göttern in Macht nicht nach, hatten ihnen und ihren jungen Geschöpfen aber das Feld überlassen. Nur wenige kannten den Grund dafür, der den Sinn des hevanorischen Lebens in Frage stellen konnte. „Athónon?“ Mèra zog sich an der Felswand hoch, als trüge sie einen zentnerschweren Rucksack. Der Gnom nickte. Er strich sich durch den weißen Bart und wandte sich ab. Die Alarmrufe gellten lauter und drängender an seine Ohren. Die Gruppe wusste bisher nicht, wieso Quirmó angegriffen wurde. Aus der Gästehöhle gab es keinen Fluchtweg. Athónon tastete nach dem Verband um sein verwundetes Auge. Er hätte Mèra um Heilung bitten können, doch die Halbgöttin war nach ihrer Wiedererweckung noch weit jenseits ihrer einstigen Macht und hatte bereits zu viel Magie gewirkt. Athónons Mundwinkel gruben sich nach unten. Es lag in seiner schwermütigen Natur, als einfacher Diener der Götter jedes Leid zu erdulden und nie um einen eigenen Vorteil zu bitten. Das Schicksal hatte tiefe Wunden in seine Seele

geschlagen, zahlreiche Freunde hatte er begraben. Zu lange war er ohne Heimat über Hevanor getrieben worden. „Schluss“, ermahnte er sich stumm, verharrte neben Srrig und spähte auf die Fackeln und Feuer, auf die Rauchschwaden der unterirdischen Stadt. Anders als das Sonnenlicht verbrannten magisches und Fackellicht nicht die nachtelfische Haut. Die Ausstrahlung des Tigermannes glich einem Schwert an der Kehle; die Mischung aus Gefahr und Anmut schüchterte jeden Sterblichen ein. Athónon war sie zwar nach vielen Begegnungen in der Vergangenheit vertraut, dennoch wurde er von ihr in Kampfbereitschaft versetzt. Srrig beobachtete die aufgescheuchten Bewohner Quirmós wie eine Katze die Maus in der Sackgasse. Die ruhige Art, wie er seine Tigeraugen bewegte und die Mundwinkel gerade so weit verzog, dass seine Reißzähne verborgen blieben, täuschte den Gnom nicht darüber hinweg, an der Seite einer Kriegsbestie zu stehen. Der Widerspruch von Srrigs Ruhe und der Panik der Quirmóer wirkte auf Athónon symbolisch für die Kluft, die zwischen dem Halbgott und den Sterblichen lag. Srrigs Fußkrallen kratzten über den Fels, als er sich Athónon zuwandte. Seine Worte erklangen mit der ihm eigenen Mischung aus Lauern und Weisheit, die das Fehlen jeglichen Gefühls meisterhaft verbarg. „Die Nachtelfen Quirmós werden unterliegen. Zweifellos hat unser Widersacher Cerýllion die Angreifer nicht nur gegen die Stadt aufgewiegelt, um uns zu treffen, sondern sie auch mit einem magischen Trumpf oder anderen Verstärkungen ausgestattet. Immerhin ist er

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Schattenwachts Meisterschüler und hat, wie Mèra und ich, sein zweitausendstes Lebensjahr schon hinter sich gelassen. Nichts sonst würde einen Sinn ergeben. Verschwinden wir, bevor die Quirmóer uns mit in den Untergang reißen.“ Mèra wankte vor ihn. „Vergiss die Bedeutung der Nachtelfen im Kampf gegen die Amdovenn nicht. Unsere Gruppe ist schwach und muss fliehen, ja. Aber rette Du die Nachtelfen! Sie sind sich ihrer Gabe, die Amdovenn aufspüren und verletzen zu können, noch nicht bewusst. Trotzdem werden wir darauf bald zurückgreifen müssen. Ist der Imperator erst gestürzt, ist der Weg frei für den zweiten großen Feind Hevanors. Schattenwacht vernachlässigt seine Aufgabe als Sphärenwächter und die ersten Äußeren sind bereits unter uns, wir wissen das.“ Srrig sprach nicht aus, dass Mèras Fehler, als sie die göttlichen Regeln verletzte, indem sie versucht hatte, Jade wiederzubeleben, zum Eindringen der Amdovenn beigetragen hatte. „Was hilft es, dass sie die Äußeren mit bloßen Händen verletzen könnten?“, knurrte er. „Die Amdovenn halten nicht still, nachdem sie einen Körper gestohlen haben, sondern bewaffnen sich. Es wird lange dauern, die Nachtelfen zu lehren, ihre Gabe auf Waffen auszuweiten. Wir hätten das viel früher tun müssen. Aber die Götter rechneten nicht mehr mit einer Bedrohung durch die Amdovenn, nachdem sie Schattenwacht als Sphärenwächter eingesetzt hatten, und nahmen uns von Hevanor fort, um uns Frieden zu gönnen. Schattenwacht geriet außer Kontrolle, nahm viel zu viel Einfluss auf seine Chimärier, verletzte die Regeln ... und wir wurden zurückgeholt, wenn auch nicht so, wie wir hätten sein

sollen. Nun, da wir endlich wieder wissen, wer wir sind, haben wir keine Zeit mehr für lang angelegte Pläne. Vergiss die Nachtelfen.“ Mèra blickte traurig zu Srrigs hartem Tigergesicht auf. Plötzlich schauderte sie und trat einen Schritt zurück. „Du bist kalt geworden“, raunte sie. Athónon setzte ein ums andere Mal jene Steinmiene auf, mit der er sein inneres Leiden vor der Welt verbarg. Vermutlich sah Srrig es dennoch, aber ihm bedeuteten die Regungen der Sterblichen schon lang nichts mehr. Alles, was ihn bewegte, war das Überleben der Völker als Ganzes, kaum das Schicksal Einzelner. Anders als Mèra, vermisste er seine Gefühle nicht einmal. Etwas in Athónon schien leise zu bersten, die Schatten seiner Falten vertieften sich. Der Götterdiener schnallte sein Kurzschwert ab und hielt es Srrig hin. „Nehmt es. Es kann Dämonen und Geister verletzen und willensschwache Gegner beim ersten Anblick betäuben. Ihr könntet damit viel mehr anfangen als ich. Aber kämpft für die Nachtelfen. Ich weiß, dass Euch das keine große Mühe bereitet.“ Sein faltiger Augenschlitz ruhte voll Bitterkeit auf Srrigs Tigergesicht. Srrig schaute ernst zurück, auf das bandagierte Auge und das von Gram und bedingungsloser Aufopferung gezeichnete Gnomengesicht. „Nein, behalte diese Waffe. Wenn sie eine magische Klinge ist, besitzt sie eine Seele, und dann will sie nicht herumgereicht werden. Sie gehört Dir, sie wird nur Dir Glück bringen, mein Freund. Magische Waffen fallen niemals jemandem ohne Grund zu.“ Er blickte Mèra an, die kaum die Kraft zum Stehen

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hatte. „Also gut. Zieh Dich zurück, ich schütze die Nachtelfen“, seufzte er. Athónons Stimme knirschte vor Anspannung und Alter wie die Kiesel unter seinen Stiefeln. Er bat den wortkargen Tempelkrieger Taren, das Gepäck des Gnoms und der Halbelfin zu übernehmen, während Athónon Laura stützen wollte. Gegen Tarens Bärengestalt wirkten die Rucksäcke klein, außerdem trug er seit seiner Gefangenschaft bei den Chimäriern keine Rüstung mehr. Selbst seine schwere Armbrust am rechten und ein Streitkolben samt Rundschild am linken Arm schienen ihn kaum zu behindern. Athónon kniete sich zu Laura und ignorierte die restliche Gruppe nun. Obgleich er seine Gefühle stets hinter seiner Steinmiene zu verbergen suchte, sahen die anderen seiner Haltung und seinen vorsichtigen Handbewegungen doch an, dass er sich väterlich um Laura sorgte. Immerhin war sie die Tochter einer seiner ältesten Freundinnen, der getöteten Nachtelfin Jade. Loyalität und Zusammenhalt hatten für den heimatlosen Götterdiener, der sich in der Welt verloren fühlte, seit jeher eine große Rolle gespielt. Zuerst hatte er Jades Tochter nicht kennenlernen wollen, hatte sich ganz in sein Bergexil zurückgezogen. Aber nun fühlte er sich verantwortlich für das junge Mädchen, das in seiner jetzigen Lage kaum allein überleben würde. Der Gnom weckte Laura mit sanftem Druck auf die Schulter. Müde hob sie die Lider. Hass loderte in Lauras Augen auf, ihre Pupillen blieben an Mèra haften. Die Halbgöttin spürte den Blick zwar

von der Seite, mühte sich jedoch mit ihrem Lederrucksack ab und reagierte nicht. Sie war die vermeintlich falsche Göttin, für die Jade gestorben war. Während Laura die Müdigkeit verdrängte, erinnerte sie sich daran, dass sie der grauen Elfin bereits vergeben hatte. Auch wenn Mèra nicht die Alte war, stellte sie immer noch einen Machtfaktor dar; Jade hatte sich für ein höheres Wohl geopfert. Lauras hilflose Wut verrauchte wie die Schwaden in der Gästehöhle. Sie konzentrierte sich auf die Vorstellung von Meleks Ende. Laura stützte sich auf Athónons breite Schulter. Taren schwieg und eilte voll bepackt voraus. Hinter Mèra bildeten der schwer gepanzerte chimärische Deserteur Paaldrag und der Zwerg Brommil, Lauras Retter, die Nachhut. Ängstliche Rufe aus der Stadt schrillten der Gruppe entgegen, als sie die Gästehöhle verließ und den Nachtelfen den Rücken kehrte, deren Kämpfer sich zu einer Schlachtreihe aus Leder und Eisen formierten. Wo auch immer die beste Position für einen Hinterhalt auf die Gegner lag, vermutete die Gruppe Srrig, der längst fort war. Taren lief dem nächsten Tunnel entgegen, der vom sich anbahnenden Kampfgeschehen wegführte. Ohne Fackel und ohne freie Hand stürzte er sich in die Dunkelheit. Sein Vertrauen wurde belohnt: Aus Athónons Rucksack schoss eine Lichtkugel und eilte dem Tempelkrieger voraus. Der rätselhafte und zaubermächtige Taffi, ein Chamäleon mit untypisch schwarzen Knopfaugen, erwies sich abermals als verlässlicher, wenn auch scheuer Gefährte.

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Das Teufelchen Zeeris saß in einem Gang voller Schatten und Geröll. Die Höhlendecke war hier so hoch, dass Zeeris über sich nur Schwärze sah, die manchmal auf ihn zuzukriechen schien. Seine Füße ruhten in einem prasselnden Lagerfeuer. Seiner feuermagischen Herkunft gemäß, war Feuer für Zeeris wie Wasser für Menschen. Die Flammen reichten ihm nicht mal bis zum Knie, aber ein warmer Aschering zeugte davon, dass das Feuer vor kurzer Zeit viel größer gewesen war. „Wieso wächst hier unten eigentlich kein Holz?“, beschwerte sich das Teufelchen. In der Nähe lagen fünf riesige Rucksäcke, die weiteres Feuerholz enthielten mochten. Aber die Besitzer konnten jeden Augenblick zurückkehren und Zeeris wagte nicht, sich an dem Gepäck zu schaffen zu machen. Die Besitzer sollten nicht wissen, dass sie verfolgt wurden. Die grauen Maserungen auf Zeeris’ roten Schuppen zeugten von lang vergangener Jugend. Er hatte bei der Wiedererweckung der Vier Könige vor zwanzig Jahren ebenso viel Lebenskraft eingebüßt wie Athónon und die anderen Begleiter von damals. „Kalt hier“, seufzte er. „Kalt und leblos. Kein Käferkrabbeln weit und breit.“ Auf einem blutigen Lendenschurz neben ihm lag ein Dutzend Augäpfel. Das Teufelchen stopfte sich einen nach dem anderen in den Mund, solange sie noch warm waren; Spritzflecken trockneten auf seinem hellen Panzer. Manchmal seufzte Zeeris und hielt inne. „Wie finde ich bloß zurück zu Athónon, Taffi und den anderen?“, murmelte er und unterdrückte ein Schluchzen. „Wieso muss ich immer neugierig sein und kann nicht auf die

anderen warten?“, scholt er sich und stampfte mit einem Fuß ins Feuer, sodass Funken stoben. Bevor seine breiten Spitzohren sie hörten, spürte Zeeris die feinen Vibrationen schwerer Schritte in seinem Teufelchenschwanz. Augenblicklich wurde er unsichtbar. Schwefeldunst stieg zwischen seinen Schuppen auf, ein ähnlicher Vorgang wie das Schwitzen bei Menschen. Zaubern strengte an, besonders wenn es schnell gehen musste. Er hatte rechtzeitig reagiert. Als die fünf Chimärier in Sichtweite stampften, kauerte Zeeris hinter einem rauen Felsbrocken abseits des Feuers. „Da seid Ihr ja wieder!“, flüsterte er aufgeregt. Den Lendenschurz voller Augen hatte er selbstverständlich mitgenommen. Seit Stunden verfolgte er die Riesen, Abtrünnige von Schattenwachts Imperium, über deren ockerfarbenen Schuppen eiserne Rüstungsteile prangten. Zeeris hatte mitgehört, wie sie von einer chimärischen Hohepriesterin ihren Auftrag erhalten hatten: Sie sollten einen Zauberer töten, der ihnen das hiesige Gebiet streitig machte. „Bestimmt ist das Cerýllion, von dem sie reden!“, wisperte Zeeris. „Dann werden sie auch auf Athónon stoßen, weil der und Cerýllion Feinde sind. Das ist immer so! Die Götter führen Athónon stets zielsicher zum nächsten Feind. Cerýllion hat Mèra verraten und ist ein treuer Diener des Drachen. Darum also hat es Athónon hierher verschlagen, Cerýllion ist endlich fällig!“ Zeeris grinste wissend und spießte einen Augapfel mit seinen messerscharfen Zähnen auf. Er beobachtete die Drachenmenschen, wie sie das Feuer mit Holzresten

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aus ihrem Gepäck vergrößerten. Trotz ihrer Masse bewegten sie sich behände. „Ihr seid sicher Offiziere!“, stellte Zeeris fest, denn das Grollen und Knurren einfacher Soldaten blieb aus. Ihnen verdankte er auch all die Augen: Abseits im Dunkel des Gangs lagen mehr Leichen von Schlangenblütern, als Zeeris Finger hatte. Sie sind so töricht gewesen, aufgrund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit in den Nahkampf zu gehen. „Ihr hättet die Schuppen wenigstens in einen niedrigeren Gang locken können“, wisperte Zeeris den Toten zu und schüttelte tadelnd den Kopf. Er richtete seinen Blick wieder auf die Chimärier. „Sicher seid Ihr Desert... Desa... Desatiere“, grübelte er. „Ihr lebt außerhalb des Imperiums in Tebaarshas Reich, nicht oben bei Schattenwacht. Macht wieder Religion und habt eine Hohepriesterin, die Euch herschickte. Bei Schattenwacht ist Religion verboten, das weiß ich! Aber ihr kämpft wie echte imperiale Truppen, ihr habt das da gelernt. Das seh’ ich sofort! Nur Athónon kann einen imperialen Chimärier im Nahkampf besiegen. Oh, und Cesius hatte das auch gekonnt, aber der ist ja schon lange tot. Schade, seitdem zeigt mir keiner mehr was über Heilzauber. Dabei hat Cesius gesagt, ich hätte ganz viel Talent! Aber ich bin ja nur Zeeris.“ Das Teufelchen schnaubte verächtlich. Schon im nächsten Moment aber vermisste es seine Gefährten wieder und ließ sich wehmütigen Blickes vom Feuerschein hypnotisieren.

„Quirmó hat uns viel über die elfische Kultur gelehrt: Sie schützt uns nicht, vereint uns nicht und ernährt uns nicht. Sie ist bloß ein Relikt des Überflusses aus bunten Träumereien einer zweifelhaften Vergangenheit.“ Sophéion der Barde über die Geschichte der Nachtelfen

1 Die Dunkelheit der Höhlengänge abseits von Quirmó umhüllte Melek und flutete seinen Geist. Als Symbol für die Abkehr vom Leben bei Tageslicht, ließ ihn die Schwärze grinsen. Seine Füße tasteten sich geschmeidig den Weg. Nur selten klickerte ein Stein oder scharrte eine Sohle. Sein Magenknurren indes konnte er nicht unterdrücken. Bevor er wieder jemanden beschleichen konnte, musste er essen. Melek ballte die Fäuste und klammerte sich immer fester an seine Überzeugung: Er glaubte, ein natürlicheres Leben zu führen als die sesshaften Bauern und Handwerker, die er für ausgebrannt und leblos hielt, die sich seiner Meinung nach zu sehr in ihre Kultur verliebt und sich dabei von der Natur entzweit hatten. Doch ohne Einklang mit jener Urkraft, von der alles Leben stammte, konnte es für Melek keine Zufriedenheit geben. „Ich hatte Dich schon besiegt!“, knurrte er und sah Laura vor sich zusammenbrechen, roch noch einmal ihren Angstschweiß und schmeckte ihr Blut wie warmes Eisen auf der Zunge. In seinen Bartstoppeln trockneten Spritzer davon; er zupfte sie ab und kaute darauf. Seine andere Hand hielt den Bronzedolch mit dem Horngriff. Melek konnte das Vorzucken seiner Faust kaum bändigen, wenn er sich vorstellte, wie er die Feinde tötete, die zwischen ihm und seinem Ziel standen. Dem Geruch von Stein und Nässe ging er nach, fort von den Gerüchen der Zweibeiner, denn noch war ihm kein Plan zur Eroberung Lauras eingefallen.

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Zwölf Jahre lang wurde Melek nicht aufgehalten, nachdem er im Alter von nur sechs Jahren einem Fluch zum Opfer gefallen war. Begonnen hatte er seine Karriere damit, seine Eltern zu töten. Alle Ziegelhütten und Zelte in der milden Wüste südlich der Silberberger Lande hatte er danach heimgesucht. Seine Opfer hatten zu ihren Göttern gefleht, aber nie war ihm etwas geschehen. Im Gegenteil: Dem Tempelkrieger, der ihm jahrelang auf den Fersen gewesen war, begegnete Melek als Mitgefangener der Chimärier. Taren hatte geahnt, dass Melek niemand anderes als der Mörder war, dem er im Namen des Silberberger Tempels von Bruder Mond von Dorf zu Dorf nachgejagt war. Aber selbst im Angesicht eines Dieners der Götter war keine höhere Gerechtigkeit über Melek hereingebrochen. Seine Taten blieben ungesühnt, und darum würde er auch Laura bekommen. Er hatte schon stärkeren Kriegerinnen als ihr das Messer an die Kehle gehalten, doch in Laura erkannte Melek eine unbeugsame Seele, die mehr als jede andere in seiner Sammlung unter ihrer Niederlage leiden und sich winden würde. Sie versprach Melek ein nie dagewesenes Machtgefühl, und Machtgefühl war die Nahrung seines Geistes. Wogen von Vorfreude ließen ihn schaudern. Bisher hatte er keiner einzelnen Beute so entschieden nachgestellt, wenn sie entkommen war. Er hatte einfach die nächste gejagt. Aber Laura hatte einen wilden, so besonderen Glanz in den Augen, dass Melek ihn um jeden Preis zerbrechen musste. Jede Sekunde seiner Existenz schien für diese Beute geschaffen zu sein.

Melek erstarrte. Sein Blut rauschte in den Ohren und pulste stärker, versetzte ihn in Kampfbereitschaft. Schritte schlichen näher. Melek hörte zwei Personen auf weichen Sohlen heraus. Das Scharren und Knirschen begleitete ein Lichtschein, der ebenso vorsichtig wie die Geräusche war. „Sucht mich jemand hier?“, schoss Melek durch den Kopf. Das schwache Zauberlicht kroch über den Pfad, auf dem Melek stand. Im selben Rhythmus wie die nahenden Schritte schlich er in eine Nische neben dem Weg. Melek hielt sich tief, um in Balance zu bleiben, und rollte die Außenkanten seiner Füße über den Fels, setzte die Sohlen erst am Ende eines Schritts ganz auf und spürte so jeden Kiesel rechtzeitig. Lautlos verschwand er in der flachen Nische und nahm eine ungleichmäßige Körperhaltung ein. Gleichförmige Umrisse, wie Menschen und Tiere sie besaßen, fielen dem geübten Jäger sofort ins Auge, wusste er. Zwei Nachtelfen schlichen den Pfad entlang. Ihre Felle und Leinen verliehen den Spähern das Äußere wandelnder Felsen. Ihre Köcher und ausgehängten Bögen trugen sie auf den Rücken. In der Rechten hielten beide ein kurzes Bronzeschwert, in der Linken einen kalt leuchtenden Stein. Melek wusste nichts über Elfen oder ihre Nachtkrankheit, obgleich er durch Laura auch der Nachtelfin Jade und der geheimnisvollen Alten, Mèra, begegnet war. Die Lichtsteine verrieten ihm nun, dass gewöhnliche Elfen ebenso wie Menschen Hilfsmittel brauchten, um im Dunkeln zu sehen, und keine überlegenen Wunderwesen waren. Seine Furcht vor dem fremden Volk verschwand schon wieder, kaum dass sie aufgewallt war.

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Der vordere strahlte Gefahr aus durch Brandrunen auf seinem Kahlschädel, wachsame Augen und breite Schultern. Der hintere schien kein Geschlecht zu haben, doch sprühten Kraft und Kampferfahrung aus jeder Bewegung der birkenschlanken Gestalt. Meleks Beine begannen zu brennen, aber er hielt seine Tarnhaltung eisern bei. Um sich nicht mit Einzelheiten abzulenken, sondern die Situation als Ganzes wahrzunehmen, stellte er den Blick unscharf. Er entschied sich, ungesehen zu bleiben und keine Ablenkung, zum Beispiel als Verwundeter, zu inszenieren. Sollte sein Magen losknurren, konnte er das immer noch tun. Lieber aber wollte er die Späher vorbeiziehen lassen, egal wen sie suchten. Jeder Kampf konnte sein letzter sein, insbesondere gegen eine besser bewaffnete Übermacht. Darum vermied er jede Auseinandersetzung, solange er die Wahl hatte. Meleks Magen knurrte tatsächlich. Die Nachtelfen hielten alarmiert inne und lauschten. In dem Moment traf ein Pfeil den breiten Späher in die Seite. Er heulte auf, warf seinen Leuchtstein weg und floh in die Dunkelheit. Sein Begleiter folgte seinem Beispiel – genau in Meleks Nische. Die drei Körper reagierten ohne bewussten Gedanken. Melek wusste, dass die Nachtelfen als Angegriffene bloß noch kämpfen und nicht erst fragen würden und die Nachtelfen glaubten, in einer Zange ihrer Feinde zu stecken. Ihre Sprache beherrschte er ohnehin nicht. Der Unverletzte stach vor sich, die Bronze klirrte auf Felsen. Melek hechtete flach über den Boden und landete wie eine Feder auf Fingern und Zehenspitzen. Nah am Boden bleibend, wirbelte er herum und hörte gleichzeitig

das Schwert des Verwundeten über sich vorbeirasen. Jetzt sprang Melek auf, Dolch voran. Er wusste durch den Schlag in die Luft und seine Kampferfahrung, wo die Schulter des Gegners war. Seine freie Hand fand sie sofort und strich den Waffenarm bis zum Ellbogen hinab, um den Arm zu behindern und die Waffe harmlos zu machen: Eine hektische Berührung allein, ohne Kraft, würde ihn nicht ernstlich verletzen. Seinen Dolch hämmerte er unterhalb des Brustbeins hoch ins Herz des Verwundeten. Melek spürte die große Kraft des Getroffenen, dessen linke Faust ihn wie ein Kriegshammer traf und zurückschleuderte. Dadurch verlor er auch die Kontrolle über das gegnerische Schwert. Doch das panische Stöhnen verriet ihm, dass er einen Volltreffer gelandet hatte. Melek rührte sich nicht. Er blieb liegen und zwang seinen Atem zur Ruhe; je weniger Geräusche er machte, desto mehr nahm er in der Dunkelheit von seinen Gegnern wahr – und von demjenigen, der den Pfeil verschossen hatte. Der Verwundete stürzte zu Boden und röchelte. Darunter hörte Melek jedoch leise Schritte in seine Richtung tappen. Der zweite Nachtelf konnte sich gemerkt haben, woher Meleks Aufprall und scharfes Ausatmen erklungen waren. Stand Melek jetzt auf um anzugreifen, verrieten seine Geräusche seine exakte Lage und der Gegner würde sofort zuschlagen. Aus der anderen Richtung hörte Melek ein Knirschen. Der Unverletzte musste es auch vernommen haben, denn er hielt an. Der letzte Atemhauch des Sterbenden erklang. Melek hörte sein Herz donnern und sein Blut rasen. Sein Körper schrie nach Luft, und ganz langsam, um leise zu

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bleiben, sog Melek sich voll. Ein schneller Schritt verriet ihm, dass er nicht leise genug gewesen war. Er rollte sich über den Rücken auf die Füße, blieb aber hocken. Wieder belauerten die beiden sich in der Schwärze, der Nachtelf ging kein Risiko ein. Die Lichtsteine lagen zu weit weg und waren zu schwach, um Melek oder den Gegner zu verraten. Auch der Bogenschütze blieb unsichtbar. Plötzlich jedoch zischte ein Pfeil im Gang und Melek drückte sich so flach er konnte auf den kalten Stein. Auch der Nachtelf warf sich nieder – seine linke Hand berührte Meleks Waffenhand. Mit der eigenen Linken griff Melek sofort drei Finger des Gegners. Der Pfeil zerbarst am Fels, gleichzeitig sprangen Melek und der Festgehaltene auf. Melek besaß durch seine zahllosen Opfer ein exzellentes Gefühl für Körperbewegungen. So spürte er auch die Drehung des Gegners, bei der ihm dessen Finger jedoch entglitten. Melek ließ sich in die Hocke fallen und riss die Linke als Schutz vor den Kopf. Das Schwert strich nur harmlos darüber. Melek packte nun zielsicher den gegnerischen Waffenarm und warf sich ins Hohlkreuz, um den leichten Nachtelfen aus dem Gleichgewicht zu reißen. Doch der ließ sich nicht so einfach überrumpeln. Er stemmte sich mit einem Ausfallschritt gegen Meleks Gewicht und wirbelte seinen Waffenarm in hohem Bogen zurück, sodass Melek derjenige war, der das Gleichgewicht nach hinten verlor, rücklings über das Bein des Gegners stolperte und auf den Hintern fiel, anstatt wie geplant einen tödlichen Herzstich zu führen. Siegessicheres Zischen auf den Lippen, stach der Nachtelf die Klinge zu Boden. Aber Melek rollte sich weg, näher an den Gegner heran und

sprang auf. Im Vorbeirennen schlug er den Dolch durch Hals und Kehle. Er hörte den Toten hinter sich niedersinken. Melek lief um eine Biegung und drückte sich mit dem Rücken an den kühlen Fels, kontrollierte mühsam seinen Atem. Wieder knurrte sein Magen. Er presste die warmen Arme auf Bauch und Unterleib, wohl wissend, dass nichts außer Essen und Trinken wirklich helfen würde. Der Nachtelfenstadt stand ein Kampf bevor, wusste Melek. Lauras Gruppe hatte sich darüber unterhalten, bevor er Laura zu überwältigen versucht und noch dazugehört hatte. Es würden noch mehr Späher beider Parteien herumschleichen. Außerdem würde er auf Fliehende und Deserteure stoßen, die nach dem Kampf wiederum gesucht würden von den Soldaten der Sieger. Ohne Nahrung würde Melek bald selbst zum Fliehen zu schwach sein. Sein Atem beruhigte sich, Entschlossenheit kehrte nach dem Sieg zurück. Er würde weiterkämpfen, wenn er irgendeine Chance sah, den Bogenschützen und dessen eventuelle Begleiter zu besiegen. Der Bogenschütze trat in das Glimmen der auf dem Pfad liegenden Leuchtsteine und stutzte. Die fahle Haut des Tiefenweltlers zeigte, wie lang seinesgleichen schon von der Sonne abgekehrt lebten. Ein Pfeil ruhte schussbereit auf der Sehne, dennoch blieben die Augen des Mannes geschlossen; Melek vermutete, dass er zu jenen Tiefenweltlern der ersten Generation gehörte, die nach Jahrhunderten des Lebens im Untergrund blind geboren wurden. Ein Messingreif umfasste den haarlosen Schädel

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des Schützen. Fetzen aus Leder und Fell sowie altes Metall bedeckten seine Muskeln zum Schutz. Melek kannte eine Geschichte über diese Wesen: Angeblich trieben Dämonen manche Nomadenstämme in die Tiefe von Hevanor, wo sie geheime Kultstätten errichten und böse Rituale abhalten mussten. Dem Tiefenweltler folgte eine ähnliche, doch kleinere Gestalt mit schussbereitem Bogen. Meleks Körper schwor sich schlagartig auf die Jagd ein. Seit zwölf Jahren steigerte er sich in diesen wahnhaften Teufelskreis: Weil der Anblick seiner Beute immer stärker wirkte, fühlte er sich auf seinem Weg bestärkt. Gier und Vorsicht rangen miteinander, die treibende Urkraft und die Gabe des Geistes. Sein Bewusstsein, jeder Kontrolle verwiesen, schwelgte in voreiliger Freude, zumal er bisher bloß Menschen erjagt hatte. Meleks hochentwickelter Geist machte ihn nicht nur gefährlich, sondern vertrieb sich im Drang nach Beschäftigung auch manch langes Lauern mit verklärter Poesie. Das Mädchen glühte vor Jugend und Schönheit. Auch sie wandelte mit geschlossenen Augen. Wo ihre weiße Haut unbeschützt hervorschien, schrie sie nach Meleks Händen und Zähnen. Ihre schlanken Glieder forderten ihn auf, sie zu besiegen, obgleich ihr morgenschönes Antlitz ihn feurig von sich gewiesen oder seinen Sieg mit Furcht und Tränen vergolten hätte. Bei aller Sanftheit ihres Körpers und dem Gesicht einer friedlich Schlafenden duldete der Befehl ihres Fleisches keinen Widerspruch. Der Anblick ihrer Heiligtümer, gestohlen aus den Schatten von Fell und Fleisch, schnitt wie ein Messer in

Meleks Geist. Wenn der Atem ihre Brüste hob, Felle ihren Schoß umspielten, Melek zu sich riefen, auf dass er ihre zuckenden Schenkel teilte, das scheue Lendentuch aus dunklem Schutze riss, warmen Salzdunst von der Haut probierte und die Beute zur Bestimmung führte – ob ihr Geist sich seines Weges beugte oder nicht. Für einen Moment vergaß Melek über die oberflächliche Schönheit der Tiefenweltlerin sogar Laura. Er spannte sich. Doch Feind und Beute kamen nicht näher, sondern schnupperten misstrauisch. Melek hatte nie verstanden, weshalb er den Befehlen seiner Gier nicht folgen sollte. Beim zaghaften Werben um Laura war er daran gescheitert, den längeren und friedlicheren Weg der Natur zu gehen. Umso treuer hatte er sich danach dem Jagen verschrieben. Nie wieder wollte er seiner Beute den unverdienten Respekt einer Gleichwertigen vorspielen, um sich dann abweisen zu lassen. Solch eine Erniedrigung, bei der die Beute sich im Recht und dem Jäger gar überlegen fühlte, nahm er nicht hin. Der Tiefenweltler trat die Leuchtsteine vorwärts, sie klickerten laut. Der kalte Schein erreichte beinahe Melek. Beute und Feind verschwanden im Finstern. Blitzschnell schätzte Melek die Gefahr ein. Sie konnten nach Gehör schießen, besaßen noch Pfeile und waren absolute Dunkelheit im Gegensatz zu ihm gewohnt. Er brachte seine Gier wieder unter seine Geistesherrschaft. Diese Beute würde er jetzt nicht bekommen. Er hatte verinnerlicht, dass Überleben vor allem anderen kam. Entweder ergab sich später

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eine bessere Gelegenheit, oder er musste Wut und Enttäuschung an einem anderen Opfer auslassen. Melek schlich weiter und dachte zornig an seinen leeren Magen. Vielleicht musste er leichtere Beute finden, um zu essen, auch wenn er dann umsonst Kraftreserven an den zwei Nachtelfen verbraucht hatte. Die beiden Tiefenwelter flüsterten, Melek verstand ihre Sprache nicht. Die Leichen wurden durchsucht, so klang es. Dann wurden die Leuchtsteine weiter den Pfad entlang getreten, die Gegner schlichen mit erhobenen Bögen auf Melek zu. Zähneknirschend ließ er sich weiter forttreiben, um nicht entdeckt zu werden. Melek hatte die Verfolger abgeschüttelt und war im Kreis geschlichen. Er hoffte die zwei Toten wiederzufinden, um notfalls deren rohes Fleisch zu essen. Das machte stark, wusste er, doch lag es schwer im Magen und erzeugte laute Geräusche. Aus einem Rinnsal am Boden trank er kristallklares Wasser, um seinen Durst zu stillen und das Magenknurren zu vertreiben. Nach jedem Schluck horchte er auf die Umgebung, wachsam wie ein Vogel am Boden.Schon oft hatte er eine Jagd abbrechen müssen, weil der Widerstand zu gefährlich gewesen wäre. Melek tröstete sich mit dem Gedanken an Laura. Er wusste nicht, ob der beseelte Wurfdolch, der ihn einst zum Jäger gemacht und wenige Jahre darauf verlassen hatte, diesen Tag und diese Beute vorausgesehen hatte. Er glaubte jedoch an nichts Höheres, denn gäbe es so etwas wie die Götter, von denen seine Opfer und die Sesshaften plapperten, sie hätten

unmöglich Meleks Existenz zugelassen. Als Monster und Dämon hatten sie ihn verflucht, so wie sie Tiefenweltler, Elfen und Chimärier verfluchten. Mit Spott hatten sie ihre Gemüter beschützt, wenn sie dachten, er höre sie nicht. Aber er hatte seine Klinge in ihrem Fleisch versenkt und ihnen bewiesen, dass Flehen und Spotten sinnlose Atemverschwendung waren – dass ihre Lebensweise der seinen unterlegen blieb. Meleks Finger und seine Dolchspitze befanden sich auf Kopf- und Brusthöhe vor ihm. So spürte er auch Stalaktiten rechtzeitig. Allerdings brannten seine Schultern nach einer Weile vom Hochhalten der Hände. Ein plötzlicher Gedanke ließ ihn innehalten und die Arme senken: Vielleicht war Laura sein taghelles Spiegelbild und darum musste er sie so dringend zerstören. Genauso wie er strebte sie nach Freiheit und Bedeutung in einer fehlervollen, götterverlassenen Welt, nach der Rechtfertigung ihres Wesens, so wie es eben war – ohnmächtig hoffend, dass es sich auf Dauer als erfolgreich herausstellte. Doch während Laura an der Seite von Halbgöttern einer großen Geschichte entgegenging und bewies, dass es sehr wohl eine höhere Macht gab, fühlte Melek sich in der Meinung von Sterblichen und Göttern zum banalen Mörder verblassend. Zweifellos war er nach seinen Maßstäben erfolgreich und mit sich zufrieden, doch wurde sein Genie nicht anerkannt und kein Ruhm wurde ihm zuteil, nur Hass. Der Sieg über Laura sollte ihm den Glanz verleihen, der ihm für seine Brillanz als Jäger, für sein erfolgreiches Machtstreben jenseits der Vorstellungen einfacher Bauern verwehrt blieb. Denn er zweifelte keinen Augenblick

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daran, dass ihm dies zustand und die dummen Schafe ihn bloß nicht verstanden. Mit seinen einsamen Regeln zur Erlangung von Macht und Freiheit verkörperte Melek ein Ideal des Bösen. Der Glaube der Menschen erklärte seine Taten mit dem zerstörerischen Einfluss der Amdovenn oder der Chimärier. Doch die Wahrheit war noch viel kälter, denn Melek wurde von niemandem außer sich selbst gelenkt, und nur durch Entscheidungen, die in seinem chaotischen Krieg, jeder gegen jeden, tatsächlich funktionierten, ihn überleben und siegen ließen. „Man kann keine Traube vom Dornbusch pflücken, egal wie lange man sucht“, hatte sein Vater einmal über Melek gesagt. Schwermütig grübelte er: „Vielleicht war es eine elterliche Schwäche, mich nicht rechtzeitig zu töten und auf die Welt loszulassen. Aber da ich nun hier bin, gehe ich so weit, wie ich kommen kann! Die Zeit wird die Wahrheit über meinen Weg des Krieges offenbaren.“ Sein scharfer Verstand war seine wichtigste Waffe und manchmal sein ärgster Feind. Ob die Prophezeiung von Theb Nor jemanden wie ihn meinte? Er hatte Bruchstücke gehört. Jedwedes Wissen solle böse sein und Verderben in die Welt bringen. Kopfschüttelnd verdrängte er alle Zweifel, sie bedeuteten Schwäche. Lieber wollte er jetzt überlegen, ob er Laura nach ihrer Niederlage am Leben lassen sollte, damit sie ihm vielleicht einen Erben gebar. Einige besaß er bereits, da war er sich sicher, auch wenn er dem Großziehen keine Bedeutung beimaß. „Ein Dornbusch bringt Dornbüsche hervor, egal wie sehr man sich Trauben wünscht“, dachte

er in Anlehnung an die Worte seines Vaters, die sich ihm eingebrannt hatten. Plötzlich redete eine fremde Stimme in Meleks Kopf, klanglos wie Pergamentrascheln. „Grüße, Mensch! Wundere Dich nicht, ich bin weit entfernt und spreche durch einen Geisteszauber zu Dir. Wir haben bei allen Unterschieden doch vieles gemeinsam, darf ich feststellen. Wir beide ziehen die persönliche Macht und Freiheit vor. Wir lassen uns nicht zu den Schwächlingen einer armseligen Dorfgemeinschaft sperren, die sich ihr Leben lang für ein bisschen Brot quälen. Und beide wollen wir eine bestimmte Frau.“ „Laura gehört mir!“, zischte Melek und bebte vor Hass gegen den vermeintlichen Konkurrenten. Sofort beruhigte er sich wieder und lauschte seiner feindlichen Umgebung. Mit der Stimme im Kopf fiel es ihm schwer, auf Geräusche zu achten. Die Stimme lachte nachsichtig. „Laura meine ich auch nicht. Ich helfe Dir sogar, sie zu bekommen. Lass uns zusammenarbeiten. Ich statte Dich mit einem Zauber aus, der Dich für Sterbliche unsichtbar macht. Dafür tötest Du Mèra, solange sie noch so schwach ist. In ihrem Zustand kann sie die Unsichtbarkeit ebenfalls nicht durchdringen. Sie hält mit letzter Kraft einen Zauber aufrecht, der sie und ihre Gruppe vor meiner Geistesmagie schützt ... nicht aber vor Dir. In diesem Moment wird die Stadt von einer meiner anderen Verbündeten angegriffen, sodass Du vollkommen ungehindert durch die feindlichen Linien schlüpfen kannst.“

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Melek war ein meisterhafter Schleicher und konnte jeden Strauch als Tarnung verwenden, aber Unsichtbarkeit! Diesen Wunschtraum hatte er lange verdrängt. Damit hätte er die junge Tiefenweltlerin leicht bekommen. Nun kehrte der Traum zurück und sollte wahr werden. Er fürchtete die graue Elfin Mèra nicht. Sie hatte für ihn ausgesehen, als könnte er sie mit bloßen Händen durchbrechen. Doch Vorsicht war eine seiner wichtigsten Gaben, sie hatte ihn all die Jahre überleben lassen. In seinen Gedanken knurrte er darum: „Ich bin doch nicht verrückt und vertraue Dir! Wer bist Du und was hat diese Mèra Dir getan?“ „Mein Name ist Cerýllion. Mèra und ich regierten einst Seite an Seite das Reich der Elfen, weit im Norden, im Ewigen Wald Âilon-Sàdil. Aber sie hinterging mich und meine Verbündeten von den Amdovenn, und seitdem sinne ich auf Rache.“ Weder wusste Melek, dass die Amdovenn Piraten und Eroberer von jenseits Hevanors und Feinde der Götter waren, noch dass es seit zweitausend Jahren kein geeintes Elfenreich mehr gab. Cerýllions Stimme klang für ihn nach einem offen sprechenden Gleichgesinnten, zaubermächtig zwar, kein Mensch und einst ein Herrscher über ein fremdes Volk, aber nicht mehr. Überdies ließ ihn die brennende Gier nach Laura, die seinen Geist benebelte, allzu leicht Vertrauen fassen. Er zog darum auch nicht in Erwägung, dass jemand, der irgendwann an der Seite der Halbgöttin Mèra geherrscht hatte, auch ein ähnlich altes Wesen sein konnte. Cerýllion hatte seine neue Marionette in jedem Punkt richtig eingeschätzt und meisterlich getäuscht.

„Was ist mit Srrig?“, flüsterte Melek. „Der ist angeblich kein Sterblicher. Er würde mich also sehen, und er ist gefährlich.“ „Du musst Dich nur beeilen. Er ist im Moment nicht bei der Gruppe, sondern kämpft mit den Nachtelfen gegen meine Schlangenblüter.“ „Dann los!“, knurrte Melek. „Gut. Meine Magie erreicht Dich gleich.“

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2 Schweiß rann über die Stirn einer Schlangenblüterin. Ihre Schuppenhaut glitzerte weiß im Fackelschein. Das linke Auge war verwachsen und hing schief im verformten Schädel, Tränen quollen heraus. Auf ihrer zerplatzten Lippe, einem hellbraunen Strich, mischten sich Schweiß und Tränen mit Blut. Eine Schlangenzunge fuhr darüber. Immer wieder stockte ihr Atem. Ihr starrer Blick hielt sich am Türvorhang der Steinhütte fest, hinter dem die Alarmrufe der Quirmóer gellten. Sie lag auf dem Rücken. Hanfseile an Fußgelenken, Knien, Händen und um den Oberkörper schnürten ihre Lumpenrobe an dürre Glieder. Seit Srrig und Taren sie überwältigt und hergebracht hatten, waren erst wenige Stunden vergangen. Vor ihrem Kopf stand ein Greis, dessen elfische Ohrspitzen schlaff herabhingen. „Es widerstrebt mir, Dich zu quälen“, redete der Älteste der Nachtelfen von Quirmó auf sie herab. Weiße Haarsträhnen umfassten seinen Schädel wie abgenagte Knochen. „Ich höre sofort auf damit, wenn Du mir sagst, was euer Volk zu verbergen hat und warum es uns angreift. Früher waren wir gute Nachbarn! Was hat sich geändert?“ Die Falten in seinem Gesicht bewegten sich wie Wellen im Wasser. Er beugte sich über die Gefangene und legte seine knochigen Hände zusammen. Ihre Schlangenzunge fuhr immerfort über ihre geschwollene Lippe. Sie zitterte, doch sie schwieg. Was

immer sie verheimlichte, machte ihr mehr Angst als die Folter. Der Greis trat zurück und seufzte. Ein anderer Nachtelf kam an seiner Stelle vor und schlug der Gefangenen mit der Spitze einer Bronzestange in die Rippen. Sie stöhnte und krümmte sich so sehr, wie die Fesseln es zuließen. Einer ihrer Giftzähne war zuvor schon abgebrochen. „Da ist noch etwas“, begann der Greis und rieb sich das weiche Kinn. „Du hast eine seltsame Aura, wie ich sie noch nie spürte.“ Die Schlangenblüterin beruhigte sich überrascht. „Du kannst ihn fühlen?“, wisperte sie. Nervös zischelte ihre Zunge hervor. „Nicht mal meine eigenen Leute ...“, begann sie, verstummte dann aber. „Wen? Was kann ich fühlen? Rede endlich!“, bellte der Greis. Die Gefangene stierte panisch auf etwas vor ihrem geistigen Auge. „Er hatte mir versprochen, dass er mich zur nächsten Anführerin ... wenn ich ...“, stammelte sie. Doch dann schüttelte sie sich und verweigerte jedes weitere Wort. Der Greis schnaubte durch die Nase. „Wovor hast Du mehr Angst als vor dem Tod? Hoffst Du etwa auf Rettung?“ Von draußen drängten die Alarmrufe. Der Älteste stürmte mit ungelenker Eile auf den Türvorhang zu. Im Gehen fauchte er: „Töte sie und komm rasch nach. Wir dürfen kein Risiko mit ihr eingehen.“ Der jüngere Nachtelf sah zu, wie der Älteste verärgert den Vorhang zur Seite fegte und verschwand. Das Wallen des Vorhangs ließ wieder nach. Der Henker schmiegte die Finger fester um die Bronzestange, seine Miene blieb leer.

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Als die Blicke von Henker und Opfer sich trafen, fing die Schlangenblüterin an zu kreischen und wandte sich hin und her. Doch die Fesseln hinderten sie sogar am Kriechen. Der Nachtelf holte mit der Stange über ihrem Kopf aus. Als kröchen Schlangen auseinander, lösten sich die Knoten an den Fesseln der Gefangenen. Die Seile gaben dem Strampeln nach, gerade bevor die Stange niederraste. Die Gefangene war ebenso überrascht wie der Nachtelf, dass sie zur Seite rollte. Beide starrten sich mit offenen Mündern an. Der Henker fing sich zuerst und setzte nach. Die Gegnerin streckte ihm verzweifelt die Füße entgegen, an denen noch die losen Fesseln hingen. Ihr Knie knallte dumpf, als die Bronzestange es zurück zum Boden schlug. Die Schlangenblüterin wurde vom Schmerz geschüttelt und sah dem erneuten Ausholen hilflos zu. Der Nachtelf zielte auf ihr Genick. Wild kreischend, ohne jedes Schmerzgefühl und bar jeden Gedankens sprang sie der Waffe entgegen. Der Nachtelf ließ sich jedoch nicht verwirren. Er drehte seine Hüfte zurück, um die Reichweite der Stange anzugleichen. Die Kante der Stange schlug durch die losen Fesseln, die noch um die Arme der Gefangenen hingen, und zerschmetterte ihre Nase. Ohne die Wirkung abzuwarten, zog er die Waffe zurück, ließ seine Hüfte wieder vorschnappen und streckte den Arm aus, katapultierte die Stange in den Oberkiefer der Gegnerin. Sie stürzte auf den Rücken und zuckte stumm. Der offenkundig erfahrene Soldat ging kein Risiko ein. Er sprang vor und donnerte seine Waffe so fest gegen den Kopf der Gefangenen, dass ihr Schädel barst und Blut auf den Steinboden schoss. Weder Mitleid noch Triumph durchdrangen ihn, als er

in die toten Augen sah. In seiner Wirklichkeit war ein Leben nicht viel wert, auch seins nicht. Feinde zu töten war ihm eine Selbstverständlichkeit, um sein Volk zu schützen. Die hohe Kultur seiner Vorfahren war im Kampf gegen harte Winter und fremde Stämme vergessen worden. Selbst dass seine Vorfahren keineswegs am Sonnenlicht starben und dass die meisten Elfen im Norden noch immer gesund waren, wusste er nicht. Kein Quirmóer kannte die wahren Zusammenhänge oder ahnte, dass ihr kleines Volk und andere verstreute Nachtelfen die Amdovenn aufspüren und verletzen konnten, wo viele Waffen nutzlos blieben. Darum verstand der Henker die seltsame Empfindung auch nicht, die in seiner Brust wie Übelkeit aufstieg und ihn hätte warnen sollen. Seine Kehle wurde plötzlich zugedrückt, doch er sah und fühlte keine Hand und kein Seil. Nackenwirbel knirschten. Seine Füße zuckten in der Luft, als hinge er an einem Galgen. Er schlug panisch in die Luft, aber der unsichtbare Griff drückte ihn wie die Klaue eines Chimäriers gegen die Felswand. Einen grotesken Augenblick lang hing sein Körper in der Luft, bis die Seele den Körper verließ. Sein Gesicht blieb im Irrsinn erstarrt. Leise sank er weg. Die Haut der toten Schlangenblüterin verfärbte sich fahlblau. Sie schlug die Lider auf. Durch ihre Augen zogen sich ölige Schlieren, die Pupillen verdrehten sich immerzu. Die Amdovenn konnten keine Seelen aus lebenden Körpern reißen, ohne ihre Anwesenheit zu verraten und göttliche Wachen auf den Plan zu rufen. Doch frisch verstorbene Körper konnten sie ohne Folgen besetzen.

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Vier Nachtelfen standen im Halbkreis um einen wuchtigen Holztisch – etwas sehr Wertvollem in einem unterirdischen Reich. Hinter ihnen prasselte ein Kaminfeuer und warf unheimliche Schatten zu ihren Gesichtern herauf. Mit erwartungsvollen Blicken begrüßten sie den greisen Nachtelfen, der das Verhör geführt hatte. Zwei Männer waren ähnlich alt wie er. Alle fünf trugen schwarze Tuniken mit blauen Rändern. „Da bist Du ja endlich!“, rief der Muskulöseste der Gruppe. Tiefe Furchen im Gesicht verrieten ein hohes Alter, dabei strotzte er vor Energie und besaß einen starken Kiefer. „Die Schlangenblüter haben ein Heer mobilisiert, das neben ihren eigenen Kriegerinnen auch Tiefenweltler und Schlangenmenschen umfasst. Ihre Anführerin trägt das Schwert von Theb Nor, mit dem einst jener berühmte Prophet der Menschen beschützt worden sein soll. Wir müssen also befürchten, dass der Geschlechterkrieg zwischen den Schlangenmenschen entschieden ist und die Frauen die Männer unterworfen haben. Bephaal, der das Schwert früher trug und uns wohlgesinnt war, wird tot sein. Die Gefangene hatte ja Andeutungen gemacht, dass nur noch einige ausgesuchte Männer für die Eiablage am Leben wären. Aber wieso greifen sie uns an?“ Das Gesicht des Jüngsten glich einer Marmorsäule: bleich und hoch, schwarze Haarsträhnen hingen herab und seine verkniffenen Augen und blutleeren Lippen zogen dunkle Striche. Er wiegelte ab: „Sie können unsere engen Gänge unmöglich erobern, Kanmárael. Unsere Stadt lässt sich durch ihre Lage perfekt verteidigen, und an unsere Brunnen kommen sie auch nicht heran. Was immer die

neue Anführerin im Schilde führt, ihr Größenwahn wird ihr Untergang sein. Doch nun, Pêraphèniel, berichte uns zunächst, was die Gefangene gesagt hat.“ „Sie hat ihr Geheimnis verbissen gehütet und mit in den Tod genommen“, seufzte der Greis. Er legte die Hände hinter dem Rücken zusammen und trat an den Tisch. Eine Pergamentkarte der Stadt Quirmó lag darauf. Mit weißen und dunkelgrauen Steinchen waren die Kämpfer der Nachtelfen und der Schlangenblüter postiert worden. Draußen spurteten Soldaten vorbei. Pêraphèniel studierte die Karte. „Sie sind uns ja drei zu eins überlegen!“, rief er. Das Kaminfeuer warf seine gespenstischen Schatten auf ernste Gesichter, auf das Pergament und auf die Steinchen. Das Prasseln erinnerte den Greis plötzlich an brechende Knochen. Kanmárael, der muskulöse Elf, zwang sich zur Ruhe. „Aber sie müssen durch die Nadelöhre unserer Gänge und gegen unsere Schilde und Bogenschützen anrennen“, erwiderte er. „Sie haben keine Chance. Sophéion hat recht, sie sind wahnsinnig geworden.“ „Oder haben eine unfassbare Überraschung für uns, zum Beispiel die, welche sie seit einiger Zeit vor uns verbergen!“, wetterte Pêraphèniel. „Außerdem ... fühlt Ihr nicht auch diese beklemmende Aura, seit die Fremden unsere Gäste sind? Am stärksten war die Aura allerdings in der Nähe unserer Gefangenen. Auch darüber konnte ich ihr leider nichts entlocken.“ Ein anderer alter Elf begann ruhig zu sprechen. Unter hohen weißen Brauen stachen dabei seine Augen wie Feuer hervor. „Ich fühle es ebenfalls. Das scheint eine Warnung

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vor etwas zu sein, mit dem wir zuvor nie konfrontiert worden sind. Meine magischen Sichtmittel haben nichts ergeben, daher werde ich die Tunnel abschreiten und nah an der Front nach feindlichen Zaubern Ausschau halten. Es ist durchaus möglich, magische Muster zu tarnen, doch nur solange ein Zauber nicht zur Wirkung kommt. Sollten unsere Feinde – oder unsere Gäste – einen Zauber oder ein Artefakt gegen uns verwenden wollen, werde ich sie aufhalten.“ Damit schritt er davon, aufrecht und von einer inneren Stärke sprühend, die nichts mit der körperlichen Welt zu tun hatte. „Velýthoels Macht dürfte für diese Barbaren völlig ausreichen“, sagte Kanmárael. „Aber könnte es noch eine andere Möglichkeit geben, an die wir bloß nicht gedacht haben?“ Der dritte Grauhaarige des Rates, dessen Gesicht rund und weich lächelte, sagte mit heller Stimme: „Nun, ich sehe, Ihr werdet Euren Aufgaben bestens gerecht. Für mich ist es jetzt Zeit, den meinen gerecht zu werden. Ich werde um mein Haus herum Decken für die Verwundeten auslegen. Viel Erfolg!“ Er zog den Türvorhang auf – und wich zurück. „Velýthoel!“, schrie er. „Was ...? Wie ist das möglich? Wer bist Du?“ Die anderen Nachtelfen stürmten von Tisch und Kamin fort zum Ausgang. Kanmárael zog sein Eisenschwert aus der Holzscheide und drängte nach vorn. Vor dem Haus lag Velýthoel in seinem Blut. Die untote Gefangene stand neben ihm und hielt seinen Dolch in der Faust, den er stets im Gürtel getragen hatte. Sie lachte

verzerrt und starrte den Nachtelfen grimmig entgegen. Noch immer verdrehten ihre Pupillen sich. „Nennt mich Kanzler“, knurrte sie.

Cerýllions Geist war in einem Telepathiezauber gefangen. Sein Bewusstsein würde erst wieder in seinen Körper zurückfinden, wenn Schattenwacht es ihm gestattete. Die Drachenstimme fauchte: „Was tust Du, Schüler? Wieso arbeitest Du nicht wie früher mit dem Kanzler zusammen? Du weißt, was für ein Risiko ich eingegangen bin, als ich einen so bedeutenden Amdovenn ins Diesseits gelassen habe. Offiziell ist meine Aufgabe, genau so etwas zu verhindern! Seine Aura ist wie ein Leuchtfeuer in der Nacht! Wenn die Götter zu früh von meinen Plänen erfahren, wird die Invasion beendet, bevor sie beginnen konnte. Dass der Kanzler persönlich kam, ist eine große Ehre und ein großer Vorteil für uns, aber er ist auch so hochrangig, dass die Bedeutung seines Hierseins selbst für den lethargischsten und dümmsten Gott offenkundig würde, sollte Rogáril auffliegen.“ „Meister ... Ihr habt mir zu spät von Kanzler Rogáril berichtet, die Dinge waren bereits zu sehr in Bewegung geraten.“ „Du meinst, Du hast die Kontrolle verloren?“ Schattenwacht lachte trocken. „Gewinne sie zurück und arbeite mit dem Kanzler zusammen. Mir ist egal, wie es geschieht, aber die Vier Könige und insbesondere T’ral dürfen nicht bis zu mir vordringen. Das ist noch wichtiger

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als die Vernichtung der Nachtelfen. Wenn mein Verrat auffliegt, wenn meine Verhandlungen mit den Amdovenn und meine Versuche, die Inferior zu reinkarnieren, den Göttern gewahr werden, ob durch ihre Diener oder persönlich, ist alles verloren.“ „Ich gehorche. Inferior und Amdovenn werden die Welt unter sich aufteilen und die schwachen Götter werden verjagt, so sei es.“ Schattenwacht ignorierte Cerýllions zynischen Unterton. „Wenn aber die Inferior im Moment ihrer Befreiung erfahren, dass ich nicht von Geburt an einer der ihren war, sondern ein Spion der Ersten Götter ...“ „... ist alles verloren, ich weiß“, seufzte Cerýllion. „Und die Vier Könige kennen dieses alte Geheimnis. Die Inferior sind ausgesprochen nachtragend und würden Euch töten, Meister.“ Schattenwacht schwor seinen Diener abermals auf das große Ziel ein: „Die Götter haben versagt und erfüllen ihre Aufgaben schon lange nicht mehr. Wir müssen uns diese Hochstapler vom Hals schaffen! Unter all ihren Geschöpfen sind nur meine Pýucaani das Überleben wert, in denen ein Hauch der Inferior lebt. Wie jämmerlich, wie widersprüchlich und klein doch Menschen, Elfen und all die anderen dagegen geworden sind, seit die Ersten Götter verschwanden und die jetzigen sich aus ihrer Nähe zurückgezogen haben!“ Schattenwachts Stimme zischte wie eine Schlangengrube. „Diese Missgeburten sind unfähig, auf eigenen Füßen zu stehen! Jede Generation ist schwächer als die davor, nicht stärker. Ihr Gemeinschaftsgefühl ist dahin.“ Dann fand der Drache seinen ruhigen Ton wieder.

„Schau Dir diesen Melek an. Er ist stark, doch wildert er bloß ziellos vor sich hin. Die Sterblichen sind nur noch ein Schatten ihrer Vorfahren und all der Helden, die nach dem Glorreichen Zeitalter die Amdovenn unter Führung der Vier Könige zurückschlugen. Sie sollen den Würdigen den Lebensraum nicht länger streitig machen!“ Cerýllion hätte gern geschwiegen. Doch gefangen in der Telepathie mit dem Drachen, wurde jeder seiner Gedanken hörbar. „Ich fühle mich unsagbar müde und zermürbt, ohne jede Lebenskraft, so als gehörte ich längst in ein Grab. Wer die Welt regiert und wer sie bevölkert, ist mir inzwischen egal.“Gleichzeitig erklang der Beginn der Prophezeiung von Theb Nor aus Cerýllions Gedächtnis:

Wehe den Sorglosen! Geschichte wiederholt sich unaufhörlich. Vor Jahrtausenden war es so, Wie es sich heute wiederholen kann: Überheblichkeit und maßlose Habgier Schmiedeten einen Pakt Mit dem Fürsten der Dämonen. Er war und ist ein Feind der Götter, Den Errichtern und Beschützern unserer Welt. Schattenwacht knurrte ungeduldig. „Ich kenne die Prophezeiung, aber ich bin kein sterblicher Herrscher

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und fürchte mich nicht davor, die Amdovenn erneut in die Welt zu holen, im Gegenteil! Denk an Deinen Lohn, Schüler, und erspar uns Deinen Zynismus. Deine Macht soll Deine Vorstellung übersteigen, wenn wir die Herrscher vom Thron gestürzt haben. Dies war doch stets Dein Wunsch, von Kindesbeinen an. Fokussiere Dich auf das Wesentliche und erlaube Deinem Geist nicht länger, sich in sinnlosen Strudeln zu ermüden. Der Geist ist nur Dein Werkzeug, mehr nicht. Beherrsche das Werkzeug.“ „Ja“, hauchte Cerýllion eisig. „Macht war mein größter Wunsch – vor langer Zeit. Ehrgeiz war mein einziger Antrieb. So wurde ich T’rals Meisterschüler und schließlich Eurer. Heute aber erkenne ich das Kämpfen und Siegen nicht mehr als Sinn des Lebens an, so wie es dieser Melek tut.“ „Unsinn!“ Das Wort peitschte Cerýllions Geist und ließ ihn aufschreien. Der Imperator fauchte ungehalten: „Nur das Siegen in jedweder Disziplin macht den Wert des Lebens aus. Melek ist bloß deshalb kein Sieger, weil er allein bleibt. Weil kein Volk auf seiner Seite steht und er nicht einen einzigen Anhänger hat. Du aber müsstest es besser wissen! Doch wenn Du kein Sieger mehr bist, erwähle ich einen anderen Meisterschüler, einen von einem stärkeren Volk als ausgerechnet den dekadenten und willensschwachen Elfen. Vielleicht Melek? Er hat Potenzial ... Ich bin sicher, ich könnte ihn zu wahrer Größe führen.“ Cerýllion zögerte. Widersprüchliche Gedanken plapperten in der Telepathie durcheinander. Schließlich ging ein Ruck durch ihn und er sprach wieder mit einer einzigen, leblosen Stimme. „Nein, Meister. Ich bin stark

genug. Ich will so viel Macht, wie Ihr mir nach Eurem Sieg über die Götter erübrigen könnt. Ich könnte meiner Knechtschaft nicht einmal durch den Tod entkommen. Ihr würdet meine Seele vor dem Totenreich abfangen und zurückschleudern. Ich weiß, dass Ihr mich nach all der Zeit nicht so leichtfertig ersetzen würdet. Also mache ich das Beste aus meiner Lage.“ Schattenwacht ließ Cerýllions Geist frei. Der Elf kam zu sich und wirkte sofort einen Spähzauber, jagte seine Sinne erneut aus dem Körper, um die Situation zu überblicken. Er sah zu, wie sowohl seine als auch des Kanzlers Marionette auf Schattenwachts Ziel hinarbeiteten, als handelte es sich um einen Wettlauf, dessen Sieger die Gunst des Imperators gewann. „Mèras Tod wird allein mein Verdienst. Die alte Rechnung wird beglichen. Danach kann ich immer noch mit Rogáril kooperieren.“

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3 Mèra hielt in einem gähnenden Tunnel, der abwärts führte. Bei der Kälte aus der Tiefe und dem Geruch nassen Steins dachte Laura an ein Grab und schauderte. Ferne Echos aus Quirmó eilten vorbei. Stalagmiten und Stalaktiten formten Steinkegel in der Farbe von Knochen. Laura war noch so geschwächt, dass sie sich apathisch neben Mèra in eine Ecke setzen ließ. Sie nahm kaum wahr, wie Athónon, Taren, Paaldrag und Brommil sich in den abzweigenden Gängen verteilten, um Wache zu halten, bis der Kampf um Quirmó entschieden und die Umgebung wieder sicher war. Zuerst verstand Laura die heraufziehende Gefahr nicht. Ihr Blick folgte Mèra, die sich geräuschlos erhob und in die Dunkelheit wankte. Noch immer hatte die Halbgöttin sich von den zurückliegenden Strapazen nicht erholt. Laura fragte sich, ob der Gang, in den Mèra verschwand, von einem Gefährten bewacht wurde oder ob er vergessen oder bewusst vernachlässigt worden war. Ihre Benommenheit ließ erst einen alarmierenden Gedanken zu, als das Chamäleon Taffi aus Athónons Rucksack herausschlüpfte, die Farbe der Felsen annahm und Mèra nachlief. Taffis Lichtkugel blieb über dem Rucksack zurück, so gedämpft, dass der Schein bloß wenige Schritte weit reichte. Mèra und Taffi waren fort. Nur die fernen Rufe aus Quirmó drangen noch an Lauras Ohren. Obgleich sie wusste, dass Athónon und die anderen Gefährten sich höchstens dreißig Schritte

tief in den Tunneln verteilt hatten, schien sie gänzlich allein zu sein. Plötzlich war sie hellwach. „Was geht hier vor?“, flüsterte sie. Lauter wagte sie nicht zu fragen. Niemand antwortete. Sie wusste, dass Athónon ein exzellentes Gehör besaß, aber womöglich lag er einfach zu weit weg. Ihr wurde klar, dass sie längere Zeit nur halb bei Bewusstsein gewesen war und darum vielleicht noch mehr Geschehnisse nicht registriert hatte als bloß die Aufteilung der Wachen auf die Gänge. „Mèra?“, zischte sie in die Richtung, in der die graue Elfin verschwunden war. Mèra, für die ihre Mutter Jade gestorben war. Abermals wallten widersprüchliche Gefühle auf. Laura starrte finster an der Lichtkugel vorbei. Sie hatte Mèra vergeben und akzeptiert, dass Jade sich für ein höheres Ziel geopfert hatte. Doch davon war Lauras Seelenwunde lange nicht verheilt. Mèra durfte im göttlichen Plan gegen den Drachen Schattenwacht nicht fehlen, egal wie geschwächt sie war. Jade hingegen ... Laura erlaubte sich keine Tränen, schluckte schwer und schob sich an der Felswand hoch. Der Schmerz, als der Stein über ihren Rücken kratzte, verjagte die letzte Benommenheit. Sie streckte sich mit neuer Energie. Entschlossenes Leuchten kehrte in ihre Augen zurück. Laura spürte die Gefahr für Mèra so deutlich, als zeige eine Klinge auf ihre eigene Kehle. Athónon und Srrig waren sich einig, dass Mèra zu viel Magie gewirkt und sich sehr geschwächt hatte. Taffi war für Laura bloß ein kleines Tier. Auch wenn es sehr klug war und ein paar Zaubertricks beherrschte, sie traute ihm keine echte Leistung zu.

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Niemand sonst schien die Gefahr zu spüren. „Nur ich kann etwas tun!“, drängte und schmeichelte Laura sich gleichermaßen und lächelte grimmig. „Ohne Mèra wärst Du umsonst gestorben, Mutter“, flüsterte sie der Lichtkugel zu. „Außerdem müssen wir den Imperator stürzen, um unsere Heimat zu retten! Srrig und Mèra sehen keinen anderen Weg.“ Als sie erste steife Schritte machte, verkrampfte Laura sich vom Kiefer bis zu den Zehen. Bei jedem Schritt schmerzte ein anderer Muskel oder eine andere Wunde. Doch die Entschlossenheit loderte stärker als jeder Schmerz in ihren Augen. Sie stöhnte durch geschlossene Lippen, verwandelte das Geräusch in ein Knurren und ergriff ihr eisernes Kettenhemd. Sie hatte es bei der Abreise ihrem Ziehvater gestohlen. Vielleicht würde sie nie erfahren, warum er solch einen Kriegsgegenstand der Menschen besaß. Auch das Kurzschwert stammte von ihm. Ob er damit Blut vergossen hatte? Laura schüttelte sich und verdrängte die Frage. Sie würde ihre Heimat und jeden, der dazugehörte, in makelloser Erinnerung behalten. Nur ein idyllisches Bild würde ihr die Kraft zum Durchhalten geben, egal was geschah. Als das Kettenhemd über ihre Arme und Schultern fiel, zuckten ihre Muskeln so sehr, dass Laura sich in einem Rückenkrampf verbog. Sie stieß einen dünnen Schrei aus und sackte auf ein Knie. Der Krampf ließ nicht nach, bis sie sich auf den Bauch fallen ließ. Hüfte und Schulter stachen, als seien die Verletzungen von ihrer Begegnung mit den Räubern nie von Mèra behandelt worden. Für einen Moment glaubte sie, jeden Hieb und

Tritt von Melek noch einmal einzustecken und musste würgen. Der alte saure Angstschweiß in ihrer Kleidung wurde von den Hitzewogen ihres Körpers in ihre Nase getrieben. Er brachte verdrängte Erinnerungen an Blut zurück, an aufsteigende Übelkeit und den nahen Tod. Nur ein Gedanke war geblieben: „Bitte nie wieder!“ Laura unterdrückte ein Schluchzen. Schnell jedoch verblasste die Furcht wieder und wich noch stärkeren Gefühlen. Nach wie vor war keiner ihrer Gefährten aufgetaucht, um an Lauras Stelle nach Mèra zu sehen. Sie hatte also keine Wahl, belog sie sich selbst. Jemand anderen zu holen, würde zu lange dauern, redete sie sich ein. Jade durfte nicht umsonst gestorben sein, aber wichtiger noch: Laura wollte unbedingt eine „Heldin“ sein. Nur für diesen naiven Wunsch hatte sie ihr Dorf verlassen. Und entgegen allen Einsichten konnte sie diesen Wunsch, in den sie sich so lange hineingesteigert hatte, nicht abrupt aufgeben. Sie biss die Zähne zusammen und presste die Stirn auf den Felsboden, ignorierte die Mahnungen ihres Körpers und stellte die Hände neben dem Gesicht auf. Ihre Arme zitterten für einen Augenblick wie Äste im Sturm. Aber dann drückte sie sich hoch und saß aufrecht. Das Kettenhemd schien sein Gewicht verdoppelt zu haben und ließ ihren Oberkörper wanken, so bleiern lag die Erschöpfung auf ihren Gliedern. Das stolze Lodern in Lauras Augen trübte sich schon wieder. Feine Schweißtröpfchen benetzten ihre Stirn. Sie stöhnte laut, doch ihre Beine stemmten sie hoch. Laura folgte Mèra in die Dunkelheit. Das Kurzschwert hing schwer an ihren feuchten Fingern und ihre Schritte blieben unsicher und steif.

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Angezogen von so leisen Geräuschen, dass keines Sterblichen Gehör sie wahrgenommen hätte, war Mèra in die Dunkelheit geschlichen. Kroch jemand in ihrem Rücken herum? Auch Mèras Augen waren denen jedes anderen Elfen überlegen und machten in der Ferne Fackelschein aus. Nach wenigen Schritten hörte sie Taffi, der an ihrem Bein emporlief und sich auf ihrer Schulter festkrallte. „Hier stimmt was nicht!“, flüsterte das Chamäleon in Mèras Gedanken. Die Halbgöttin nickte im Gehen. „Bedenke, dass Du seit Deiner Wiedererweckung noch nicht Deine volle Macht zurückerlangt hast“, fügte Taffi vorsichtig hinzu. „Und Du hast Dich schon zur Genüge verausgabt.“ Mèra ignorierte das Chamäleon, hielt aber an. „Du hast recht“, dachte sie, wohl wissend, dass Taffi sie hören konnte. Der Fackelschein war weit weg – aber die leisen Geräusche nicht, die Mèra hergelockt hatten. „Soll ich Licht machen?“, dachte Taffi, aber Mèra verneinte. Sie wären zur Zielscheibe für Bogenschützen geworden. Mèra machte einen Schritt zurück, dann noch einen. „Lauf und hol Hilfe!“, dachte sie entschieden. Doch Taffi weigerte sich, von ihrer Schulter zu weichen. „Meine Telepathie reicht weit, wenn es sein muss, das dauert nur einen Moment“, erklärte das Chamäleon und schloss die schwarzen Augen. Das Gefahrengespür der Halbgöttin, die zwei Jahrtausende in Kriegen und Kämpfen verbracht hatte, brüllte förmlich auf. Sie sah den Dolch nicht, so wenig wie die Faust, die ihn führte, aber sie spürte den Tod. Blitzschnell fuhr sie herum, Taffi wäre ohne seine Krallen

von ihrer Schulter geschleudert worden. Der Dolch raste nah vor ihr durch die Luft, schnitt ihre Tunika bis zum Gürtel auf und einen blutigen Kratzer in ihren Bauch. Ansatzlos schlug sie in die Schwärze und traf etwas Hartes. Melek taumelte zurück und hätte fast den Dolch fallen gelassen. Er knallte mit dem Hinterkopf gegen die Felswand und sah Sterne. Als er noch reglos dagestanden hatte, konnte er nach Mèras Kleiderrascheln und ihrem Atem zielen. Doch im Zurücktaumeln wurde er lauter als Mèra und fühlte sich völlig blind. „Wie hat sie mir ausweichen und mich gleichzeitig treffen können? Und auch noch so hart!“, fluchte er stumm. „Ich bin unsichtbar!“ Taffi warnte Mèra: „Dein plötzliches Herumfahren hat meinen Rufzauber unterbrochen, ich muss von vorn beginnen!“ Mèra rührte sich nicht. „Mach erst Licht!“, antwortete sie dieses Mal. Ihre ganze Konzentration bündelte sich im Horchen auf den Feind in der Schwärze. Sie hatte Melek am Geruch erkannt, wunderte sich aber nicht. Er war nicht Cerýllions erste Marionette. Nur einen Lidschlag später schoss eine Lichtkugel in den Gang und schwebte unter der Decke – doch niemand war zu sehen. Taffi und Mèra stutzten. Melek grinste triumphierend. Er sah sich selbst, aber niemand sonst konnte ihn sehen. Der Zauber wirkte. Er sprang vor und rammte den Dolch durch Mèras Bauch aufwärts zum Herzen, streifte dabei jedoch die schützenden Rippen. Die Klinge wurde gestoppt, aber sofort riss Melek sie frei. Er schlang den freien Arm um Mèras Hals, der kaum dicker als sein Unterarm war, packte ihr Elfenohr

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und zog ihr Gesicht auf seine Schulter. Bevor sie reagieren konnte, stieß er abermals zu. Er genoss die Erschütterung ihres Körpers und das warme Blut auf seiner Hand, die Macht, als seine Kraft ihr Aufbäumen verhinderte. „Wie leicht Du bist, nur ein Spielzeug!“, geiferte Melek und wirbelte mit Mèra um die eigene Achse, um seine Überlegenheit zu zeigen. Diesmal versank die Klinge bis zum Griff hinter Mèras Rippen. Die Spannung in ihrem Körper ließ rasch nach. Ihre Finger berührten Meleks unsichtbare Waffenhand. Ihr zitternder Atem an seiner Schulter weckte für einen Augenblick Lust in ihm. Sie sank jedoch nicht in seine Arme, wie er gedacht hatte. Gelenkt von Sinnen, die nur wenige kannten, hämmerte Mèra mit der Faust gegen Meleks Schläfe, als sei sie nie getroffen worden. Er spürte nicht, wie er auf den Boden schlug und kam erst dort wieder zu sich. Von seinem Dolch in ihrer Brust troff das Blut zu Boden. Ausdruckslos blickte sie an sich herab, blickte auf ihre rot überströmten Handflächen, als betrachte sie etwas Langweiliges. Melek starrte sie ungläubig an. Auf einmal hörten sie ein lautes Scharren weiter hinten im Gang. Späher der Schlangenblüter verbargen sich leidlich hinter einer Kurve. Mèra reagierte nicht. Melek jedoch grinste gehässig. Taffi löschte augenblicklich die Lichtkugel, gleichzeitig zischte etwas durch den Gang. Mèra stöhnte ganz leise. Taffi konnte mit dem Schwanz den Pfeil ertasten, der in ihrem Rücken steckte. Sie schwankte und musste einen Schritt nach vorn machen, um nicht zu stürzen. Auch Melek ahnte, was geschehen war, wiederholte seinen Fehler aber nicht, die Halbgöttin ungestüm

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anzugreifen. So leise er konnte, erhob er sich. Erst als er Mèras zitternden Atem hörte und genau wusste, wo sie stand, sprang er sie an. Dank ihrer Reflexe steckte er einen Kinnhaken ein, der die menschliche Schlagkraft weit übertraf. Meleks Knie knickten ein, doch im Taumeln riss er auch den Dolch aus der Wunde. Den Waffenarm wie einen Speer ausgestreckt, dabei tief gebeugt, rannte er in Mèra hinein, stemmte sich mit aller Kraft von unten gegen sie und stieß sie gegen die Felswand. Ihr ref lexmäßiger Schlag schoss über seinen Kopf hinweg. Der Dolch sprengte den spitzen Dorn ihres Brustbeins mit einem Knacksen ab. Sie hob ein Bein zum Tritt, erschlaffte dann aber und sank stöhnend am Fels herunter. Der Pfeil in ihrem Rücken brach ab. „Stirb endlich!“, zischte Melek, riss die Waffe frei und holte abermals aus. Ihre Hand kam ihm zuvor. Sie berührte flüchtig sein Gesicht, als könne sie ihn sehen. Wie vom Blitz gefällt, brach Melek zusammen, kreischte und wälzte sich am Boden. „Stirb doch selbst“, flüsterte sie abwesend. Ihr Zauber war zu schwach, um Melek zu töten. Wimmernd sprengte er davon und verfluchte Cerýllion. Mèra presste die Hände auf die Wunden. Ihr Blick in der Dunkelheit wurde starr. „Gib nicht auf, ich heile Dich!“, flehte Taffi in ihren schwindenden Gedanken. „Du hattest recht, ich bin nicht mehr dieselbe“, dachte Mèra. „Ich könnte tatsächlich sterben, auch gegen den Willen der Götter.“

Taffi kletterte von ihrer Schulter auf ihren Schoß und stellte sich auf die Hinterbeine, um ihre Wunden zu berühren. „Keine Sorge, das lasse ich nicht zu!“ Mèra lachte leise und weinte zugleich. „Doch, tust Du.“ Überrascht klappte Taffi den Kiefer herab. „Das ist endlich meine Erlösung vom ewigen Dienst!“ „Aber was ist mit den anderen?“, rief Taffi verzweifelt in ihrem Kopf. „Du kannst sie, insbesondere Athónon nicht im Stich lassen. Er ist ein Freund! Ein Freund der Elfen und der Klugen Tiere und ein Diener der Götter!“ „Doch, das kann ich“, hauchte Mèra kalt. Sie schleuderte Taffi von sich, bevor er sie gegen ihren Willen heilen konnte. Laura presste sich an die Felswand. In dem Augenblick, als der Gang erhellt gewesen war, hatte sie Mèras Blut gesehen. Sie hatte Meleks Stimme wiedererkannt, auch wenn sie sich seine Unsichtbarkeit nicht erklären konnte. Laura ahnte, dass Mèra so geschwächt war, dass die Dolchwunden sie töten würden. Aber sie wusste auch, dass Bogenschützen in der Dunkelheit lauerten und Melek sehr schnell wiederkommen könnte. „Taffi?“, zischte die Halbelfin. Das Chamäleon kam nah genug herbeigerannt, um in Lauras Kopf zu sprechen. „Du musst Mèra hier wegbringen! Ich verzaubere Deine Augen, sodass Du in der Dunkelheit sehen kannst. Das dauert aber einen Moment, und dann musst Du mich tragen. Dieser Zauber ist schwer für mich und wird mir das Bewusstsein rauben, zumal ich mich mit Menschen

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und Halbelfen wenig auskenne und Augen etwas sehr Kompliziertes sind.“ Laura war nicht sicher, ob Taffi ihre Gedanken hören konnte. Aber kaum hatte sie beschlossen zuzustimmen, spürte sie Taffis Kopf an ihrem Stiefel. „Eventuell wirst Du sogar Melek als undeutlichen Schemen sehen“, murmelte er. „Aber wer immer ihn verzaubert hat, war äußerst stark. Vielleicht hat Melek weitere Überraschungen für uns. Außerdem kann ich nicht garantieren, dass mein Zauber gut genug wird, diese Unsichtbarkeit wenigstens anzukratzen. Verlass Dich also nicht darauf.“ „Fang an“, drängte Laura und Taffi verstummte. Ihre Augen schienen anzuschwellen und aus den Höhlen zu quillen. Der Schmerz nahm mit jedem Lidschlag zu. Sie versteifte sich und biss die Zähne zusammen, aber sie vertraute Taffi und unterbrach den Zauber nicht durch Gegenwehr. Als sie die Augen vor Schmerzen nicht mehr schließen oder bewegen konnte und einen Schrei unterdrücken musste, ging ein seltsamer Ruck durch ihr Gesicht und sie erahnte Umrisse. Schlieren durchzogen ihr Blickfeld und veränderten die Farben der Umgebung. Unnatürliche Schatten huschten vorbei. Sie erkannte den Höhlengang wieder. Laura nahm das bewusstlose Chamäleon in die freie Hand und hob kampfbereit das Kurzschwert. Ihr Herz raste und schien ihren Hals von unten zuzudrücken. Von den Schmerzen der vergangenen Kämpfe jedoch spürte sie nichts mehr. Ihr Körper bereitete sie von ganz allein auf neue Gefahren vor. Sie schlich zu Mèra und hockte sich neben sie.

Nichts Majestätisches war der Halbgöttin und einstigen Königin geblieben. Ein Tropfen Blut war über ihre Lippe gelaufen und hing an ihrem Kinn. Gleich würde er fallen. Ihre Augen leuchteten in einer bizarren Vorfreude an Laura vorbei. Blut durchtränkte ihre Tunika und bildete einen See über ihrem Schoß. Mèras Hände lagen geöffnet neben ihr, als bitte sie um etwas. Die Schlieren und Schatten blieben in Lauras Sicht. Doch in einem Seitengang wucherte ein Schemen stärker als die anderen. Als Laura sich darauf konzentrierte, glaubte sie Gliedmaßen und einen Dolch zu erkennen. Melek. Im Hauptgang schlichen der Bogenschütze und eine weitere Person näher. Laura flüsterte Mèra ins Ohr: „Ich stütze Dich. Wir müssen weg!“ Mèras Gesicht verfinsterte sich. „Verschwinde!“, zischte sie. „Ich gehe nirgends mehr hin.“ Laura fühlte sich wie geohrfeigt und starrte Mèra an, die wieder dem nahen Totenreich entgegenstrahlte. „Wir brauchen Dich! Meine Mutter ist für Dich gestorben!“, fauchte die Halbelfin. Mèra reagierte diesmal nicht. Taffi war nach wie vor bewusstlos. Kein anderer Freund war hier und die Feinde kamen näher. Laura wollte sich mit dem Schwert auf Melek stürzen. Vielleicht war er von Mèras Zauber noch geschwächt. Ließ sie zu, dass er sich erholte, gewährte sie ihm eine unnötige Chance, später zu siegen. Die Halbelfin schnaubte durch die Nase und musterte den Schemen des Unsichtbaren. Doch sie hatte den Bogenschützen nicht vergessen, der näher kroch. Sie musste schnell entscheiden. Der Druck

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drohte sie zu zerreißen. Würde sie das höhere Ziel aus den Augen verlieren – für das Mèra überleben musste – käme das einem Verrat an ihrer Mutter gleich. Sie legte Taffi und ihr Kurzschwert quer über Mèras Bauch und besudelte beide so mit Blut. Dann packte Laura die alte Elfin am Kragen und holte Luft. Ihr Blut rauschte so wild in ihren Ohren, dass Melek es eigentlich wie eine Kriegstrommel hören musste. Laura selbst glaubte, darüber keine leisen Geräusche mehr wahrnehmen zu können. Sie war unter Elfen aufgewachsen. Elfen verehrten keine Götter. Elfen waren mit den anderen Sterblichen allein. Aber wenn Laura jetzt allein war, wäre sie tot. Sie kniff die Augen zu und zischte nur ein Wort für die fremden Götter: „Bitte!“Dann rannte sie rückwärts und schleifte Mèra mit sich. Das Geräusch schien so laut wie Schlachtenlärm zu sein, schien zu brüllen: Hier bin ich, schieß doch! Komm Melek, ich habe keine Hand frei und höre und sehe Dich nicht! Wie eine Peitsche trieb die Panik Lauras Beine zur Kreuzung, wo sie auf ihre Gefährten hoffte. Die Schleifgeräusche hatten sie längst verraten, daher schrie sie nach Athónon. Ihre Stimme versagte jedoch, sie brachte seinen Namen erst beim zweiten Versuch heraus. Bei jedem Schritt schlugen Bilderblitze durch ihre Gedanken, Bilder von Meleks Dolch in ihrem Bauch, von seinem Fuß im Gesicht oder einem Pfeil in der Brust. Sie glaubte, jeden Augenblick getroffen zu werden und die Schmerzen jetzt schon zu spüren. Aber nichts geschah. Als sie den Lichtschein des Lagerplatzes erreichte, passierten Athónon und Taren sie

und spähten kampfbereit in den Gang. Athónons Hand ruhte am Griff seines magischen Schwerts und Taren hielt die große Armbrust schussbereit. Laura fiel über einen Rucksack und blieb mit Mèra auf den Schenkeln liegen. Bin ich jetzt eine selbstlose Heldin? Oder bloß ein Mädchen, das viel Glück hatte? Die Bogenschützen hätten mich vielleicht beschossen, wenn ich länger gewartet oder mit Melek gekämpft hätte. Aber nun erholt er sich und bekommt eine neue Chance, sowohl gegen Mèra als auch gegen mich.

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4 Um Srrig herum drängten sich Nachtelfen hinter große Schilde aus Holz und Eisen. Pfeile donnerten hinein oder die Nachtelfen schossen zurück. Der Tigermann roch die Furcht und den Schweiß seiner Schutzbefohlenen. Niemand im ganzen Schildwall, der nicht vor Angst den Kopf einzog und sich verkrampfte. Sie mochten Waffen tragen, aber sie waren keine Kämpfer. Dennoch sollten sie überleben, denn in ihren Körpern verborgen lag die Gabe, die Amdovenn zu verletzen. Das Äußere Volk war mit den Göttern verwandt und daher von gewöhnlichen Waffen nicht zu treffen. Mèra hatte diese Gabe ihrem Volk vor fast zweitausend Jahren schenken wollen, nach der umfassenden Niederlage der Amdovenn und dem Ende des Glorreichen Zeitalters. Doch sie hatte den Preis nicht vorausgesehen. Elfen, bei denen die Gabe wirksam wurde, mussten sich unter der Erde verkriechen, da das Sonnenlicht sich mit der Gabe zu verbinden suchte und sich durch die Haut fraß. Mèra hatte die Verwandlung daraufhin außer Kraft gesetzt, bis zu jenem Tag, da abermals ein Amdovenn seinen Fuß auf Hevanor zu setzen drohte. Nun war es also soweit, die sogenannte Krankheit der Nachtelfen trat wieder auf und auch die Vier Könige waren von Dienern der Götter, darunter Athónon, in die Welt zurückgerufen worden. Wie der Prophet Theb Nor es vor über hundert Jahren ausgedrückt hatte: Geschichte wiederholt sich unaufhörlich.

Aber Srrig wollte keine Wiederholung. Zwar konnte er kaum noch etwas fühlen, doch wo früher zweifellos Wut aufgebrandet wäre, verworren sich seine Gedanken jetzt zu einem Knoten, den er nicht zu fassen bekam und der bald nicht mehr in seinen Kopf passen würde. Der Knoten zog sich um einen lange verdrängten Gedanken fest. Im Glorreichen Zeitalter waren die Sterblichen ein Zusammenschluss kultivierter Völker gewesen. Größtenteils. Srrig stammte aus einem abtrünnigen Wüstenreich, das mit den restlichen Zearrai, den West- und Osttigern, nichts gemein hatte. Alles Glorreiche jener Vergangenheit war an den Nomaden von Srrigs Heimat, den Shazarir, spurlos vorbeigegangen. Die stärkste Familie stellte den König, politischen Gegnern wurde das Herz herausgerissen. Frauen waren Besitz und Kinder wurden durch Schmerz und Strafe zu immer bösartigeren Erwachsenen herangezogen. Ein Krieg gegen die viel fortschrittlicheren Völker war aussichtslos ohne mächtige Verbündete, doch war Krieg unvermeidlich durch die zahllosen Beleidigungen der sogenannten Zivilisation gegen die Shazarir. Der rechte Zeitpunkt schien gekommen, als die Amdovenn über Hevanor herfielen und selbst die Götter sich von der dekadenten, selbstgefälligen Zivilisation abwandten. N’rracorr, einer der Amdovenn, ging einen Pakt mit den Shazarir ein. Am Ende des Glorreichen Zeitalters, als die Amdovenn besiegt wurden, hatte Srrig die Seiten gewechselt und sich gegen seine barbarische Heimat gestellt. Doch der Pakt mit N’rracorr war nicht so einfach zu lösen. Der

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Amdovenn verschanzte sich in den Seelen aller Zearrai, aller Tigermenschen, nicht nur der Shazarir. Denn auch die Szannra, Osttiger, und die Niarar, Westtiger, waren durch den Krieg blutrünstig und gewissenlos geworden. In einem Moment der Schwäche ließen alle Volksgruppen der Zearrai den Dämon des Blutdurstes in ihr Innerstes eindringen, und zwar auf eine Weise, die selbst die Götter nicht rückgängig machen konnten: freiwillig. Mit folgenden Zeilen endet die Prophezeiung von Theb Nor:

Doch eins ist sicher, Eins spüre ich so deutlich, Wie die Pflanzen das Licht spüren: Die letzte Entscheidung Treffen die Sterblichen allein. Schon sind die ersten Schergen befreit, Dunkle Gegenspieler der Vier Könige, Auf der Suche nach unserem freien Willen. Die Zearrai sahen ihren Fehler ein und lernten, N’rracorr in ihren Seelen gefangen zu halten. Doch wann immer ein Tigermensch heute Blut roch oder gar schmeckte, rüttelte der Dämon an den Gittern seines Seelenkerkers und wollte mehr. Jede Qual, die ein Tigermensch einem Opfer zufügte, stärkte N’rracorr, ebenso wie jedes Nachgeben gegenüber dem Blutdurst. N’rracorr war der geheime

Grund, weshalb die meisten Tigermenschen sich anderen Völkern gegenüber so schüchtern gaben und ihre Krallen und Zähne nicht zeigten. Sie schämten sich für ihr Erbe, für die Wahrheit. Eines Tages würde N’rracorr seinen Kerker sprengen und die Seelen aller Zearrai vollends korrumpieren. Dann würde er schlagartig eine Armee von neuen Amdovenn erhalten und mit seinen äußeren Verbündeten Hevanor in die Zange nehmen. Als Blutkinder verfluchten die Zearrai heute jene, die N’rracorr begrüßten und sich seinen Neigungen willig hingaben. Srrig war in jungen Jahren der Erste, der diesen Namen hatte tragen müssen. Sein Heimatvolk, die Shazarir, hatte ihn während des Krieges verstoßen, lange vor dem Pakt mit N’rracorr, weil er sogar für sie zu grausam geworden war. Er hatte Jahre wie ein tollwütiges Tier in der Wildnis gelebt. Die Expedition eines Ordens der Westtiger nahm ihn gefangen und fand Zugang zu den Resten seiner Seele. Srrig fiel von einem Extrem ins andere: Er wurde der disziplinierteste und gebildetste Mönch des Klosters und schließlich sein Vorsteher. Nach einem ruhmreichen Leben voller Heldentaten wurde er zum König der Niarar und Szannra, der West- und Osttiger, und rottete die bösartigen Shazarir aus. Auf dem Höhepunkt der hevanorischen Geschichte, am Ende des Glorreichen Zeitalters vor zwei Jahrtausenden, stand er Seite an Seite mit Mèra, Randolph und T’ral vor dem wichtigsten Tempel der Welt. Die Vier Könige baten

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die Götter nicht länger um Hilfe, sondern verfluchten sie für jene Sünde, die sie den Sterblichen selbst vorwarfen: Hochmut. In der Stunde größter Not wollten die Götter ihren gescheiterten Geschöpfen jede Hilfe versagen und zusehen, wie die Amdovenn über Hevanor herfielen. Zu viert stellten die Könige sich darauf der Armee der Amdovenn – und siegten, weil die Götter ihren Kleinmut einsahen und den Vier Königen zu Hilfe kamen, den vielleicht einzigen vier Sterblichen des damaligen Zeitalters, die trotz aller Zweifel den Glauben nicht aufgegeben hatten. Die Götter hatten den Sterblichen damit bewiesen, dass selbst die Höchsten Fehler machten, und wie wichtig es war, der eigenen Seele gegenüber stets wachsam zu sein, sich nie am Ziel zu wähnen. Als Diener der Götter sollten die Vier Könige die Welt nach neuen, maßvolleren Regeln und Werten ordnen. N’rracorr war der erste Meilenstein ihres Versagens darin. Mit dem Verschwinden der Vier Könige vor vierhundert Jahren war das Gleichgewicht endgültig außer Kontrolle geraten. Die Götter hatten Schattenwacht als Wächter wider die Amdovenn und andere äußere Wesen eingesetzt und wollten nun sehen, ob die Sterblichen etwas über sich gelernt hatten, oder die gleichen Fehler ohne Führung immer noch begingen. Und sofort war Chaos ausgebrochen. Menschen verteufelten jetzt jegliches Wissen. Elfen dachten überhaupt nicht mehr. Tigermenschen fürchteten sich ausschließlich vor N’rracorr, und die Chimärier – obgleich gelenkt von Schattenwacht – stellten die Stärke eines Volkes als

einzige Überlebensberechtigung dar, wollten jeden von Hevanor tilgen, der schwächer als sie war. Srrig wusste nicht, ob die Götter mit Schattenwachts Einfluss innerhalb der hevanorischen Angelegenheiten einverstanden waren. Hätte der letzte Inferior nichts weiter getan, als sich zum Imperator aufzuspielen und die Chimärier zu einem Krieg gegen die anderen Völker anzustacheln, wären Srrig und Mèra vielleicht nicht hier. Sie waren zurückgekehrt, weil Schattenwacht seine Position als Sphärenwächter missbrauchte und mit den Amdovenn kollaborierte. Eine Bedrohung von außerhalb Hevanors tolerierten die Götter nicht.

Als ein Nachtelf den Spalt zwischen zwei Turmschilden passierte, wurde er von einem Pfeil getroffen und vor Srrigs Füße geschleudert. Der Blutgeruch und das Stöhnen des Sterbenden weckte mehr und mehr jene alten Erinnerungen, bis Srrig kein weiteres Grübeln zuließ. Schlagartig entwichen alle Gedanken aus seinem Kopf. Er war bloß noch eine wachsame Kampfmaschine, die keinen Hauch Energie verschwendete, während sie auf ihren Einsatz wartete. Auf die Angreifer ging ein Pfeilregen nieder, Schreie getroffener Schlangenblüter gellten durch den Gang. In den Augen seiner Verbündeten erkannte Srrig voreiligen Triumph. Dann sah er einen kleinen Gegenstand aus dem Tunnel fliegen. Obgleich er zweitausend Jahre lang keine mehr gesehen hatte, erkannte er jene perfiden

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Wunderwaffen des Glorreichen Zeitalters sofort. Er wirbelte herum und sprengte davon. Der Boden bebte. Ein Donnerschlag betäubte die Ohren und fegte Bogenschützen und Schildträger meterweit durch die Luft. Sofort stank das Schlachtfeld nach Öl und Feuer. Abgerissene Arme und Köpfe wurden wie Herbstblätter im Sturm durch die brennende Luft gewirbelt und zogen Asche und Flammen hinter sich her. Ein zweiter Donnerhall verriet, dass an einem anderen Tunnel das Gleiche geschah. Aus der Luft fiel ein glühendes Netz und legte sich über die Eingänge der Tunnel. Leichen und noch lebende Nachtelfen brannten lichterloh. Hunderte Stimmen kreischten. Nachtelfen traten auf züngelnde Flammen oder warfen Umhänge und Tuniken darüber. Sie richteten nicht das Geringste aus, im Gegenteil. Das Feuernetz sprang an ihren Beinen hoch wie eine Meute Kriegshunde und verwandelte sie binnen eines Herzschlags in wirbelnde Fackeln. Am Rand des Infernos kniete sich ein Nachtelf hin und murmelte. Doch während er mit einem Zauber die Flammen löschen wollte, fing seine Hose Feuer. Im Aufspringen wurde er von einem verirrten Pfeil der eigenen Kämpfer getroffen und ins Flammennetz geschleudert. Auch Srrig war von der Wunderwaffe zu Boden geworfen worden und wischte sich herangewehte Nachtelfenasche von der Nase. An zwei Tunneln der Stadt gab es keine Gegenwehr mehr und Schlangenblüter stürmten herein. Den aufgescheuchten Nachtelfen gelang es nicht, ihre Truppen schnell genug zusammenzuziehen. Einzelne

mutige Quirmóer, die sich dem Ansturm stellten, wurden niedergemetzelt. Die öligen Spinnennetze, die aus der explodierten Luft gefallen waren, versengten immer noch Fleisch und verbreiteten stechenden Gestank. Am Grunde seiner Seele war Srrig nach wie vor ein Mann der Extreme. N’rracorr schlich in sein Bewusstsein. Auf einem Schlachtfeld, im Moment der Wut gegen den ewigen Dienst für schweigende Götter, verlockte N’rracorr ihn, den viel zu lang unterdrückten Shazarir-Instinkten nachzugeben. „Töte!“, reizte ihn der Dämon. „Töte und trinke das Blut Deiner Feinde!“

Im Körper der toten Schlangenblüterin schlurfte der Kanzler der Amdovenn auf Kanmárael zu. Noch immer verdrehten sich die Augen des Zombies. Kanmárael starrte betroffen den toten Zauberer an. Mit einem Wutschrei stürmte er dann auf den Kanzler los und hackte ihm das Schwert in den Kopf. Doch der lachte bloß. „Die Schlangenblüter gehören jetzt uns! Wir zeigten ihnen den Fund eines vergessenen Zeitalters, dafür wurden sie unsere Diener. Und Ihr werdet deren Sklaven! Nach so vielen Jahrhunderten wird meinem Volk endlich Gerechtigkeit geschehen!“ Der Nachtelf riss sein Schwert frei. Das Entsetzen über seine nutzlose Waffe grub sich in seine Züge. Er konnte seinen ungläubigen Blick nicht von der Kopfwunde des Gegners nehmen, die vom Ohr bis zur Nase klaffte. Die Gabe seines Volkes, Amdovenn

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verletzen zu können, war ihm weder bewusst, noch hätte er sie ad hoc einsetzen können. „Jetzt hättest Du gern einen Zauberer an Deiner Seite, was?“, spottete der Kanzler. Im Stillen höhnte er: „Du weißt gar nicht, dass die Körper von Nachtelfen meinesgleichen verletzen können, wo gewöhnliche Waffen nur die gestohlenen Körper treffen.“ Der Nachtelf wich einen Schritt zurück, spürte seine Glieder dabei kaum. Angst glomm in seinen Augen. Seine Waffe schien kein Gewicht zu haben, aber seine Knie drohten nachzugeben. „Du musst ihn köpfen, Kanmárael! Zombies sterben, wenn man sie köpft!“, rief Sophéion aus dem Haus, der Barde mit dem Marmorgesicht. Der Kanzler hörte schlagartig auf zu grinsen. Kanmárael schrie siegessicher. Ein mächtiger Hieb schlug dem Zombie den Kopf von den Schultern. Der Kopf rollte davon, aber der Rumpf stand immer noch, als das Haupt auf dem Hals zum Liegen kam. Dann spottete der Kopf böse: „Ihr seid putzige kleine Wesen. Aber ich bin keine Märchenfigur!“ Alle Farbe wich aus den Gesichtern der Nachtelfen. Kanmáraels Augen weiteten sich noch mehr, als der Kopflose den Dolch hob und auf ihn zusprang. Zudem hörten die Nachtelfen die Explosionen an den Tunneln und die Todesschreie ihrer Kämpfer. Der gespaltene Zombiekopf lachte so sehr, dass er auf die Seite kippte, doch er lachte immer weiter. Kanmárael warf das Schwert weg und hob die Fäuste. Hinter ihm schrien die Ratsmitglieder: „Bist

Du verrückt? Diese Lagerfeuergeschichten, wir könnten Dämonen mit bloßen Händen verletzen, kannst Du nicht ernsthaft glauben!“ „Lagerfeuergeschichten waren Dämonen bis eben auch, aber dies hier muss einer sein“, zischte Kanmárael und funkelte seinen Gegner an. Panik gestattete er sich nicht. Seine Disziplin war stärker. So albtraumhaft dieser Kampf auch zu werden drohte: Lieber flüchtete er nach vorn und wandelte seine Furcht in Kraft und Entschlossenheit um, als einem wichtigen Kampf aus dem Weg zu gehen. „Wer sonst, wenn nicht ich, der größte Kämpfer Quirmós?“, schoss ihm durch den Kopf. „Ich töte das Ding oder wir sterben alle. Hoffentlich stimmen die alten Geschichten über unsere Gabe. Denn dies muss ein Dämon sein.“ Der Kopflose stach mit dem Dolch nach Kanmárael. Leicht wie ein Windhauch wich der Nachtelf jedoch nach außen aus und griff auf das Gelenk der Waffenhand. Als der Zombie den Arm zurückzog, folgte Kanmárael der Bewegung, knickte die Hand des Gegners nach unten und schob gleichzeitig den Arm nach oben. Zwar spürte der Zombie keinen Schmerz, doch wurde sein Handgelenk so stark überdehnt, dass die Finger sich öffneten und der Dolch zu Boden fiel. Kanmárael ergriff mit der anderen Hand den gegnerischen Ellbogen und quetschte Arm und Hand wie eine knirschende Ziehharmonika zusammen. Der Kopf hinter ihm knurrte. Mit der freien Hand versuchte der Zombie nach Kanmárael zu schlagen, konnte sich ihm jedoch nicht zuwenden: Der Nachtelf kontrollierte den ganzen Körper des Gegners durch den Griff am Arm.

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Mit einem brutalen Ruck verrenkte sich der Zombie die Schulter, um Kanmáraels Kontrolle zu entkommen. Jetzt konnte er zum Gesicht des Nachtelfen schlagen. Krallen schossen aus seinen Fingern und zerrissen Kanmáraels Gesicht. Der Nachtelf ließ den Arm los, sprang zurück und brüllte. Blut lief ihm in die Augen – er sah nicht, wie der Zombie nachsetzte. Plötzlich fluchte eine Frauenstimme hinter dem Zombie. Kanmárael erkannte sie und rief: „Safériel! Bleib zurück!“ Safériel nahm Kanmáraels schweres Schwert in beide Fäuste und hackte dem Zombie einen Arm ab. Er fuhr herum und gluckste verächtlich. Bevor er die Nachtelfin mit den Krallen des anderen Arms erwischen konnte, riss die Nachtelfin das Schwert abermals in die Höhe und hackte dem Zombie auch diesen ab. Die große Schärfe der Eisenwaffe glich ihre ungelenken und schwachen Bewegungen aus. Der Kopf des Zombies hinter Kanmárael brüllte wütend, verstummte jedoch abrupt. Sein verstümmelter Rumpf brach wie vom Blitz getroffen zusammen. Safériel ließ das Schwert fallen, sprang Kanmárael in die Arme und drückte sich an ihn. Unbemerkt von den Ratsmitgliedern, die sich um Safériel und Kanmárael sammelten, öffnete die Leiche des Zauberers die zuckenden Augen. Der Ratself mit der hellen Stimme legte Kanmárael eine Hand auf das Gesicht. Er ignorierte das strömende Blut auf seiner Haut und schloss die Augen. Zusehends verheilte das zerrissene Gesicht, bis nur ein paar kleine Narben geblieben waren.

„Danke Fêowyn, mein Freund“, rief Kanmárael, „und danke, Safériel!“ Er hob sein Schwert auf. „Jetzt muss ich wissen, wie es im Kampf um unsere Stadt steht!“ „Wir bereiten die Krankenlager vor!“ Safériel eilte mit Fêowyn davon. Der greise Pêraphèniel blieb zurück. Sophéion und Kanmárel liefen durch die Gassen an den Rand der Stadt, wo die Schlacht tobte.

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5 Kanmárael nahm den Holzschild eines Gefallenen in die Linke und brüllte Befehle in verschiedene Richtungen. Jedes Mal, wenn ein Pfeilhagel niederging, hockte er sich zu Boden und verschwand unter dem Schild, in dem bereits mehrere Pfeile steckten. Allmählich formierte sich eine neue Schlachtreihe an den äußeren Mauern von Quirmó. Die Bogenschützen schossen aus dem Schutz der Häuser heraus und hatten den Ansturm der Schlangenblüter gebremst. Die zahlenmäßige Überlegenheit des Feindes war trotz der Feuerball-Artefakte ausgeglichen worden. Doch wenn der Feind auch nur noch ein einziges dieser Artefakte besaß, würde er ein Loch in die Verteidigung sprengen, das Kanmáraels Kämpfer nicht mehr schließen konnten. Und ausgerechnet ihr größter Zauberer war gefallen. Dass ein leibhaftiger Dämon über sie gekommen war, hatte Kanmárael noch gar nicht recht verarbeitet. Vermutlich hätte er sich sonst weitaus mehr Sorgen darum gemacht, was in seinem Rücken vorging. Hinter sich hörte Kanmárael ein elfisches Kampflied, das ihnen auch in der Vergangenheit oft Mut gemacht hatte; Sophéion war ihr größter Barde, daher hatte er auch einen Platz im Rat. Musik war die einzige Kunst der Quirmóer, aber elfischen Traditionen gemäß, war sie hoch angesehen. Ein neues Feuer loderte in Kanmáraels Kämpfern. Es war jedoch noch klein und musste weiter geschürt werden. Die Feinde prasselten auf den Schildwall der

Nachtelfen. Waffenklirren und Geschrei drückten und dröhnten Kanmárael in den Ohren. Der Gesang des Barden wurde übertönt. Angstschreie gellten von der äußeren Flanke herüber. Der Schildwall wich zurück, drohte, gesprengt zu werden. Eine haarlose Chimäre aus Frau und Schlange wand sich auf ihrem ockergrünen Schlangenrumpf vorwärts. Ebenso wie ihr schneeweißer Torso, war der Rumpf mit schweren Bronzeschuppen gepanzert, die sich überlappten und metallisch scharrten. Dicke Dornen ragten zu den Seiten und von ihren Schulterschutzen auf. Unter ihrem Helm sah Kanmárael nur Giftzähne, eine gespaltene Zunge und Schlangenaugen. Wann immer ein Nachtelf seitlich an der eisernen Lanzenspitze vorbeikam – was für sie sehr gefährlich gewesen wäre, konnte sie doch dann die Waffe nicht mehr richtig einsetzen – verschoss sie einen Blitz mit den Augen und tötete den Angreifer. Schon klaffte eine Bresche in der Verteidigung und die äußere Flanke des Schildwalls war zwischen die ersten Häuser getrieben worden. Kämpfer stürzten im Zurückweichen über Leichen oder prallten mit den Rücken gegen Wände. Die Schlangenfrau wurde von wilden Kämpferinnen mit Äxten und Schwertern flankiert, deren irrsinnige Blicke verrieten, dass sie starke Kampfdrogen genommen hatten. Ein Nachtelf sprang lautlos von einem Haus und zielte mit seinem Speer auf den Nacken der Schlangenfrau. Doch die Gegnerin spürte die Gefahr, glitt pfeilschnell zur Seite und schlug dem Nachtelfen den Stiel ihrer

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Lanze ins Gesicht. Mit der gepanzerten Schwanzspitze setzte sie nach, bevor der Kämpfer wieder etwas sah, und rammte ihm den Bronzedorn auf der Panzerschuppe durch die Brust. Eine Nachtelfin wollte den Augenblick nutzen, da die Schlangenfrau mit der Leiche am Schwanz nicht ausweichen konnte, doch die flankierenden Kämpferinnen stürzten sich so rasch auf sie, dass sie mit ihrem Speer nicht einmal zum Ausholen kam. Eine andere Begleiterin der Schlangenfrau riss die Leiche vom Dorn und schleuderte sie fortKanmárael gab seinen zentrierten Posten als Befehlshaber auf und rannte zur Bresche, um sich der Schlangenfrau zu stellen. Als er in ihre Nähe kam, wichen die meisten Verteidiger furchtsam vor ihrer Lanze zurück und gaben praktisch den Weg in den Rücken des gesamten Schildwalls frei. Die äußerste Flanke war abgesprengt worden, die Kämpfer darin verschanzten sich verzweifelt zwischen zwei Häusern und hofften auf ihre Bogenschützen. Nur noch ein Nachtelf streckte der Schlangenfrau mutig den Speer entgegen, um Kanmárael Zeit zu verschaffen. Er wich der zustechenden Lanze elegant zur Seite aus. Die lange Schneide der Waffe zuckte ihm jedoch hinterher und schlitzte ihn quer auf, trotz der Lederrüstung. Hinterrücks traf ihn zudem ein Kriegshammerschlag ins Genick. Der letzte wache Blick des Nachtelfen lächelte Kanmárael zu, der nichts tun konnte, außer weiterzurennen. Die Schlangenfrau spießte den Sterbenden auf und schleuderte ihn Kanmárael vor die Füße. Amiátus ist sein Name gewesen, ein junger Kämpfer, den Kanmárael vom ersten Tag bei der Wache an selbst

ausgebildet hatte. Amiátus hatte immer wehmütig erzählt, wie beliebt sein blondes Haar bei den Frauen gewesen war, wenn es in der Sonne geglitzert hatte – bevor es von der Krankheit des Nachtelfentums befallen und schwarz geworden war. Angriffslustig senkte die Schlangenfrau den Kopf, als Kanmárael in ihre Reichweite kam. Beinahe glaubte er, trotz des Schlachtenlärms ein bedrohliches Zischeln zu hören. Ihre Eskorte hatte eine breite Gasse in die Schlachtreihe der verschüchterten Verteidiger geschlagen; Kanmárael war somit der Letzte, der sie zusammenhalten konnte. Würde er fallen, würden die Nachtelfen nicht nur ihren Befehlshaber verlieren, sondern auch die äußerste Flanke ihrer Schlachtreihe, die sehr schnell umzingelt und abgeschlachtet würde. Und dann fiele auch die gesamte restliche Schlachtreihe wegen der Übermacht. Kanmárael musste diese Schlangenfrau töten oder die Stadt war verloren. Er sah in ihren lidlosen Augen, dass sie das auch wusste. Der Nachtelf rannte ihr grimmig entgegen. Die Schlangenfrau schlängelte sich wie ein Pfeil auf ihn zu und befahl ihrer Eskorte, die geschlagene Bresche zu halten. Sie trafen sich in der Mitte der Gasse aus Leichen. Kanmárael wollte die zustechende Lanze mit dem Schild zur Seite lenken, doch die Gegnerin war zu schnell. Sie spießte Kanmáraels Schild auf, stach bis in seinen Arm und zerrte den Schild nach unten. Kanmárael schrie vor Wut und warf sein Schwert wie einen Speer. Bevor das Schwert sich durch den Helm ins Gesicht der Schlangenfrau bohrte, schoss sie einen Blitz aus den Augen in Kanmáraels

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Brust. Der Nachtelf verkrümmte sich stumm am Boden und starb mit einem Zucken. Seine Gegnerin stürzte auf die Seite und schlug mit der Schwanzspitze in die Luft. Ihr Schlangenleib wälzte sich noch scheppernd hin und her und bäumte sich auf, während ihre Arme schon schlaff neben ihr lagen. Nur widerwillig starb auch die untere Hälfte der Chimäre. „Die Priesterin ist gefallen!“, knurrte eine pechschwarze Frau und fletschte spitze Zähne. „Verflucht seid Ihr, bei den Dunklen Herren von Bedhârva!“ Unheimliche Schatten huschten über ihre Eisenrüstung, deren Goldeinlagen und Gravuren prunkvoll strahlten. Aus ihrem Hinterkopf und ihren Handrücken wuchs scharfkantiges Vulkangestein zum Schutz, ebenso schwarz wie ihre Haut. „Was für Versager Ihr seid!“, fauchte sie nahe Schlangenblüter an. Das Zweihandschwert in ihren Fäusten hüllte sich für einen Augenblick in Flammen und schnaubte verächtlich. Nachtelfen und Schlangenblüter gleichermaßen wichen ihr aus, während sie mit zorniger Fratze über das Schlachtfeld stampfte. „Wo ist Eure feige Anführerin? Ich will ihr Schwert!“, brüllte sie eine Schlangenblüterin an, die furchtsam zurückwich. Die Schlangenblüter verstanden, dass eine falsche Verbündete außer Kontrolle geriet. Fünf Bogenschützinnen aus den hinteren Reihen bauten sich im Halbkreis vor ihr auf, anstatt auf Nachtelfen zu schießen. „Verschwinde, wir wollen Dich nicht mehr, Calvraka!“, knurrte die älteste. „Verfluchte Dämonin!“, zischte eine andere und spuckte Calvraka vor die Füße.

„Dämonidin!“, brüllte Calvraka. „Wir waren Diener der Amdovenn! Sie schufen uns als Armee gegen Euch sterbliches Pack, auch wenn sie uns zurücklassen mussten, als sie den Krieg gegen Eure verdammten schwachen Götter verloren hatten!“ Calvraka sprang unvermittelt vor, durchschlug Bogen und Schädel der Wortführerin und schnitt der Nebenstehenden noch aus der Drehung die Kehle auf. Die drei verbliebenen Schützinnen sprangen entsetzt zurück, um nicht aufeinander zu schießen, doch Calvraka blieb förmlich an der nächsten kleben, durchbohrte sie und schleuderte sie der Nachbarin vor die Brust, die im nächsten Augenblick geköpft wurde. Die letzte Schützin schoss – und der Pfeil ging wirkungslos durch Calvraka hindurch. Die Dämonidin lachte eisig und schritt auf die Schlangenblüterin zu. „Wir haben etwas sehr Wertvolles von unseren Schöpfern geerbt, und Deine toten Freunde und Feinde liefern mir die Kraft, dieses Erbe anzutreten!“ Dämoniden brauchten fremde Lebenskraft, um zu existieren. Ohne regelmäßig zu töten, konnten sie nicht mal atmen. Doch während einer Schlacht sammelten sie so viel Kraft, dass sie entweder für Jahre ausgesorgt hatten, oder besonders mächtige Zauber vollbringen konnten. Ihre Körper von der stofflichen Welt zu befreien, den Amdovenn gleich, war einer jener Zauber, die Dämoniden unter friedlichen Bedingungen kaum zustande brachten. Die Machtbewussten unter ihnen schlossen sich daher leidenschaftlich gern jedweder Schlacht an und verzichteten sogar auf weltlichen Sold.

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Die Schützin wandte sich zur Flucht, doch Calvraka sprang ihr nach, den Zweihänder hoch erhoben. Die Klingenspitze durchschlug Schulterblätter und Rückenwirbel und schmetterte die Fliehende zu Boden. Srrig und Calvraka spürten einander, als der Tigermensch sich der Dämonidin näherte. Ihre beiden Auren waren so viel stärker als die gewöhnlicher Sterblicher, dass sie voneinander wussten, bevor sie sich sahen. Und Calvraka spürte N’rracorrs Nähe, einen der Amdovenn, jener Götterfeinde, in dessen mitleidlosen, doch starken Händen die Dunklen Herren von Bedhârva die Welt viel lieber sähen. „Dienst Du immer noch dem Bedhârva-Kult?“, fragte Srrig lauernd und so leise, dass seine Stimme im Schlachtenlärm nahezu unterging. Seine Bronzeschwerter hielt er nah am Körper, die Spitzen nach unten. Für ihn, der vier Jahrhunderte lang von der Welt verbannt geschlafen hatte, war ihre letzte Begegnung noch nicht lang her. Calvraka fuhr herum und lächelte Srrig unsicher an. „Ich werde in dieser ehrwürdigen Runde, die mein Volk schon seit Jahrhunderten anführt, hoch geachtet. Und niemand wirft mir ein paar Leichen mehr oder weniger vor“, antwortete sie. Einen Augenblick lang hoffte sie, in dem Tigermann, der von den nackten Zehen über die Robe bis zum Gesichtsfell voller Blut war, einen neuen Verbündeten zu erkennen. Die Männerfeindlichkeit der Schlangenblüter scherte sie nicht. Reglos standen beide voreinander, funkelten sich an. Calvrakas Augen glommen nervös auf. Ihre Erinnerung an Srrig kam

allmählich zurück und mit jedem Puzzlestein wurde ihr klarer, dass sie in Schwierigkeiten steckte. Er konnte sie zweifellos durch jeden Zauber hindurch verletzen, und er diente anderen Herren und Zielen, auch wenn N’rracorr ihn zu verleiten versuchte und an ihm zerrte. Srrig blieb nicht gelassen und nobel, wie sie ihn aus früheren Jahrhunderten kannte. In seiner Miene brodelte etwas Animalisches. Er bleckte die Reißzähne und spannte sich. Calvraka riss das Schwert hoch und wich erschrocken zurück. Sie wusste jetzt genau, wen sie vor sich hatte. Und dass er nicht so ruhig und überlegen wie gewöhnlich tat, machte ihr noch mehr Angst. N’rracorr war ihm nicht willkommen, wo sie sich geehrt gefühlt hätte; die Präsenz des Amdovenn machte Srrig jedoch unberechenbar und wild. „Was für eine Verschwendung!“, zischte sie zu sich. „Wieso habt Ihr nicht uns besessen, N’rracorr? Nicht alle Dämoniden haben gegen die Amdovenn rebelliert! Ich hätte Euch begrüßt! Hättet Ihr doch nur nicht diese Fellknäuel auserwählt, Hevanor wäre längst von den desinteressierten Schwächlingen befreit, die sich Götter nennen!“ Dann rief sie Srrig zu: „Du hast Dich lange nicht mehr bei mir blicken lassen!“ Ihre Stimme vibrierte vor Furcht. Srrig antwortete, indem er angriffslustig den Kopf senkte, knurrte und näher kam. Calvraka verstand, dass sie sich nicht mit Worten aus ihrer Lage befreien konnte, darum floh sie nach vorn und spottete: „Sollen wir nicht um der guten alten Zeiten willen die Waffen senken? Komm zurück in meine Arme!“ „Damals wusste ich nicht, auf welcher Seite Du stehst. Jetzt hole ich Deine Hinrichtung nach!“, brüllte Srrig.

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Auch wenn Calvraka einem brutalen und götterfeindlichen Herrscherkult angehörte, war sie doch eine Heldin vieler Schlachten und in zahlreichen Ländern und Stadtstaaten für ihr kämpferisches Können bei Freund und Feind bekannt. Aber nun, in einer ihrer Meinung nach unbedeutenden Schlacht an einem nichtigen Ort, an dem sie bloß ihre dämonische Zauberkraft hatte auffüllen wollen, stand sie einem Halbgott gegenüber, der selbst noch nicht richtig wusste, weshalb er hier war. Ob Götter oder Amdovenn, beide sollten Ordnung ins Chaos der Wirklichkeit bringen. Calvraka fühlte sich verraten, nun da jemand wie sie dem Chaos zum Opfer fallen sollte. „Das kann nicht sein!“, zischte sie und sprang Srrig entgegen. Halbherzig stach sie mit dem Zweihänder nach ihm, wohl wissend, dass er der langen Klinge ausweichen würde, um sich Calvraka von der Seite zu nähern. In der Tat glitt Srrig so geschmeidig daran vorbei, dass Calvraka die Bewegung kaum als richtigen Schritt wahrnahm. Sie hatte ihm ins Knie treten, schnell zurückspringen und ihn dann außerhalb seiner Schwertreichweite aufspießen wollen. Aber Srrig hatte sich trotz seines blutrünstigen Zähnefletschens so sanft und absichtslos bewegt, dass sie den Stich unter ihre Achsel überhaupt nicht vorausgesehen hatte. Ihr Bein zuckte zwar noch kraftlos nach vorn, verfehlte Srrigs Knie jedoch und rutschte über den Boden. Während Calvraka stürzte, versenkte Srrig das zweite Schwert in ihrem Hals. Ein Blutstrahl traf sein Gesicht. Er genoss seine Macht und brüllte wie ein echter Tiger. N’rracorr wurde stärker in ihm. Fortan galt Calvraka, die berühmte Heldin der Dunklen

Herren von Bedhârva, als verschollen. Kein höheres Schicksal, weder Götter noch Amdovenn nahmen Rücksicht auf die Vorstellung, dass jemand wie sie nicht unbemerkt aus der Welt verschwinden durfte, dass die zweitausend Jahre lange Geschichte ihrer Existenz nicht auf solch banale und zufällige Weise abreißen durfte. Doch in der Wirklichkeit, Seele gegen Seele, blieb oft nur Staub und keine eingängige Geschichte zurück. Nichts half gegen den Halbgott Srrig. Seine wirbelnden Klingen und Tritte machten auch die Eskorte der gefallenen Priesterin schnell nieder. Für einen Moment hielt er inne, als die Letzte mit Schaum am Mundwinkel und verwirrten, nichtsdestotrotz blutgierigen Augen vor ihm stand. Sie schrie unartikuliert, bereits heiser, und reckte Axt und Dolch in die Luft, von denen Elfenblut bis über ihre Finger rann. Im linken Schulterblatt steckte ein Messer, sie schien es nicht zu merken. Aus ihrem offenen Bauch quoll Gedärm, ihr Lendenschurz triefte vor Blut. Rüstung trug sie keine; ihre gelbe Tunika hing in Fetzen und entblößte zerfetzte Brüste. Ihr Schrei wurde immer heiserer, ihr Blick immer gequälter, bis plötzlich ein einzelner Tropfen Blut aus ihrer Nase lief und sie verstummte. Ihre Waffen fielen zu Boden, zäh sank sie hinterher. Ohne Kampfdrogen wäre diese Frau, die vermutlich nie eine Kriegerin war, schon viel früher gefallen. Ihr Anblick erinnerte Srrig daran, was Krieg bedeutete: Unschuldige wurden hineingezwungen. Srrigs Vorstellungen höherer Gerechtigkeit, so abstrakt und fern diese Ideale auch sein mochten, hatten seinen Geist über

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Jahrhunderte geprägt, beherrschten viele seiner Gedanken und drängten N’rracorr für einen Moment zurück. Zweitausend Jahre lang hatten die Götter genau das getan: Unschuldige in ihren himmlischen Krieg verwickelt. Und auch jetzt sahen sie bloß zu, wie eine Handvoll Wahnsinniger ganze Völker für ihre Ränkespiele vernichtete. „In Quirmó fängt es diesmal also an“, murmelte Srrig. „Geschichte wiederholt sich unaufhörlich ...“ Aber dieses Mal würden andere Diener die Götter davon überzeugen müssen, dass die Sterblichen, obwohl sie nichts dazulernten, noch eine Chance verdienten. Fortschritt machte blind und schwach, berichtete Theb Nor – denn er ließ die Sterblichen glauben, sich weiterentwickelt zu haben. Dabei wurde nur ein und derselbe primitive Geist mit immer neuen Werkzeugen verwirrt. Vielleicht hatten die Götter schon vor zweitausend Jahren zu Recht aufgegeben. Warmer Blutduft, der Zwiespalt über den Wert der Sterblichen und die Wut über sein eigenes Schicksal, die er doch nicht fühlen konnte, ließen Srrigs Bewusstsein mit einem leisen Knall zerplatzen. Nun war der Weg für N’rracorr endgültig frei. Der Halbgott fiel in Raserei über die Schlangenblüter her.

„Wo bist Du jetzt, göttliche Stimme?“, jammerte eine silbrig geschuppte Halbelfin gen Himmel und hielt die Leiche ihrer Freundin im Arm. Wut und Blut standen den feinen, verträumten Gesichtszügen der beiden

Schlangenblüter nicht. „Du führtest uns her, wieso schweigst Du jetzt?“ Benommen ließ sie die Leiche zu Boden gleiten und hob ihren Bronzeschild auf. Blut lief ihr in die Augen, sie wischte es mit dem Ärmel weg. Ein Pfeil hatte sie am Kopf gestreift. Ihr Speer baumelte am Waffenarm. „Was haben wir getan?“, wimmerte sie und taumelte absichtslos den Feinden näher. „Blind sind wir der Stimme in den Wahn gefolgt!“ Unter den Nachtelfen erspähte sie einen hochgewachsenen Kämpfer. Sie sah nicht, was er tat, bloß sein vom Töten angewidertes Gesicht. „Mein Traum!“, stammelte sie, lächelte und lief auf ihn zu. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine andere Schlangenblüterin, die sich dem Feind hinterrücks näherte und mit dem Streitkolben ausholte, um seinen Schädel zu zertrümmern. Die Halbelfin schrie vor Zorn, warf ihren Speer und traf genau. Der Nachtelf wirbelte herum, als hinter ihm eine Gegnerin mit erschrockenem Keuchen zu Boden sank und den Speer in der Seite umklammerte. Strahlend lief die nun unbewaffnete Halbelfin herbei, warf ihren Schild weg und blieb eine Armlänge vor dem Nachtelfen stehen. Erwartungsvoll lächelte sie ihn an und ignorierte das Blut, das von ihrer Stirn in ihr Gesicht rann. Der Nachtelf starrte verständnislos zurück auf die Feindin, die ihm gerade das Leben gerettet hatte. Vorsichtig erhob er seinen Speer gegen sie. Ihr Lächeln verblühte. „Lass uns diesem Wahnsinn entfliehen!“, flehten ihre Rehaugen, die nicht aufs Schlachtfeld passten. Neben dem Nachtelfen sprang seine Gefährtin herbei. „Was hast Du?“, schrie sie ebenso besorgt wie wütend.

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Schritt für Schritt wich die Halbelfin zurück und blickte sich nervös um. Ihr wurde schwindelig, sie tastete nach der Kopfwunde. Die beiden Nachtelfen vor ihr mussten sich anderen Gegnern stellen. Ungläubig starrte sie ihre blutverschmierten Hände an, wankte und flüsterte: „Werde ich jetzt wieder klar? Oder war ich es eben noch viel mehr?“ Ein Wutschrei hinter ihr hätte sie alarmieren müssen: „Stirb, Verräterin!“ Sie blieb jedoch stehen und schloss die Augen, schüttelte den Kopf. „Gerade war alles so deutlich, jetzt sind die Gedanken fort ...“

6 Schweiß perlte auf Athónons bleicher Stirn und lief aus seinem Haar in den weißen Bart. „Ich sehe nichts“, raunte er. Taren nickte finster. Der Tempelkrieger hielt die riesige Armbrust hoch und wartete. Der Gang vor ihnen schwieg und blieb dunkel. Athónons Finger schmiegten sich fester um den Schwertgriff. Ohne Worte fühlten er und Taren sich in der Gefahr verbunden, Schulter an Schulter vertrauten sie einander, ihre Körpersprache verriet es. Beide waren bedingungslose Diener der Götter, obgleich Taren für den Tempel von Bruder Mond in Silberberg kämpfte und Athónon dem geheimen Königskult angehörte, der auf ganz Hevanor aktiv war. „Lasst mich mal vorgehen“, grollte Paaldrags Stimme über ihren Köpfen. „Jemand muss sich um Mèra kümmern. Dafür braucht es keine dicke Eisenrüstung wie meine, aber sehr viel feinere Finger. Brommil hält Ausschau, was in Quirmó passiert.“ Der chimärische Deserteur musste den Kopf einziehen, als er den Gang betrat. Seinen Zweihänder hielt er mit einer Hand an der Breitseite. Athónon und Taren ließen ihn ziehen. Seine Körperwärme war angestiegen; die beiden spürten eine Hitzewoge, als Paaldrag sie passierte. Aus seinen Nasenlöchern stiegen Rußwolken. Paaldrag holte scharf Luft und stieß einen Feuerschwall in den Gang, der seinen Weg meterweit erhellte. Er stürmte unvermittelt los und stieß immer wieder Feuer in den Tunnel. Sein Plan funktionierte: Die beiden lauernden

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Späher sprangen auf. Der Bogenschütze schoss einen Pfeil ab und traf Paaldrag zwar, doch das leichte Projektil des Kurzbogens durchschlug den dicken Eisenpanzer nicht. Der zweite Späher floh sofort. Paaldrag brüllte und stieß einen größeren Feuerschwall aus. Er hechtete mitten durchs Feuer, den Zweihänder wie einen Speer voran. Der Bogenschütze riss die Arme hoch, um sich vor den Flammen zu schützen, und floh in Panik seinem Begleiter nach. Jedoch wurde er von Paaldrags Klinge durchbohrt und dann unter dem immensen Gewicht des Chimäriers zermalmt. Paaldrag wuchtete sich gleich wieder auf die Füße. Ein Flammenstoß verwandelte den Arm des anderen Fliehenden in eine Fackel, deren Schein Paaldrag leicht folgen konnte. Obwohl er sich geduckt halten musste, konnte er den kreischenden Späher dank seiner langen und starken Beine rasch einholen. Der Fliehende wurde vom Zweihänder unterhalb des Halses durchstoßen und gegen die Gangwand geschleudert. Ein zweiter waagerechter Hieb ins Kreuz durchtrennte den Körper am Nabel, das Eisen klirrte gegen den Fels. Der brennende Arm spendete noch Licht, trotzdem spie Paaldrag erneut Feuer gegen die Decke und erhellte den Gang. Rauchschwaden stiegen aus Mund und Nase. Sein Drachenschwanz scharrte angriffslustig über den Boden. Es gab einen dritten Gegner, den der Fliehende zu erreichen versucht hatte. Eine Tiefenweltlerin hob den Kriegshammer und erwartete Paaldrag. Auf ihrem schartenreichen Bronzeschild prangte ein fremdes Wappen. Ihre Haut war grau

wie Asche und Rauch, von Narben zerfurcht und von Muskeln gespannt. Schwarze Haarborsten breiteten sich über Rücken und Schultern aus und verschwanden unter einem glanzlosen Bronzepanzer, der einst prunkvoll gewesen sein mochte. Graue Strähnen und ihr ungerührter Blick hinauf zu dem Chimärier verrieten große Erfahrung. Paaldrag legte sein prahlerisches Verhalten ab und wurde still. „Wieso greift Ihr die Stadt an?“, knurrte er. Die Frau antwortete, indem sie wortlos näher kam und ihn mit dem Hammer bedrohte. Der Chimärier legte den Kopf schräg, lachte aber nicht über die Niedere. Niedere nannte sein Volk alle anderen Wesen auf Hevanor, denen der Machtwille und das drachische Erbe der Inferior fehlten. Paaldrag wusste jedoch genau, dass manche Niedere, entgegen der imperialen Propaganda, durchaus den Zweikampf mit einem Chimärier aufnehmen konnten, selbst wenn sie in Kraft und Reichweite deutlich unterlegen blieben. Und in diesem engen Gang konnte er weder aufrecht stehen noch seinen Zweihänder richtig einsetzen. Ansatzlos hechtete er vorwärts und stach der Gegnerin mit solcher Macht durch den Schild, dass sie rücklings gegen die Felsen schlug. Ihren Schildarm verfehlte der Stich, doch sie röchelte hilflos und konnte nicht einatmen. Allerdings war ihr Hammer beim Zusammenprall niedergerast und hatte Paaldrags Schienbein gestreift. Der Chimärier konnte ihr beim Zurückweichen nicht sofort nachsetzen. Als er sie erreichte, konnte sie wieder atmen und grinste. Jegliche Bewegung Paaldrags hörte auf. Einer Statue gleich erwartete er sie. Sie wusste von seinem Stich, wie

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überraschend er trotz seines Gewichtes angreifen konnte, und sie wusste, dass ein erfahrener Kämpfer im Kontern weitaus gefährlicher als im Angriff sein konnte. Aber sie ließ sich von der Drohgebärde nicht einschüchtern. Schild voran stürmte sie los und schlug einen Haken, als sie in Stoßreichweite des Zweihänders war. Gleichzeitig schwang sie den Hammer gegen Paaldrags Knie. Das Bein des Chimäriers zuckte der Waffe jedoch entgegen und traf den Stiel, bevor der Hammerkopf ihn traf. Der Schlag erzielte kaum Wirkung und wurde obendrein durch Paaldrags weit überlegene Kraft zurückgeschleudert. Paaldrag riss den Schild herab und lehnte sein Körpergewicht darauf, sodass die Gegnerin keine Chance hatte, ihren Schutz wieder hochzureißen. Der Chimärier legte die Zweihänderspitze auf die Oberkante und zielte aufs Gesicht, während die Gegnerin ihre Waffe zurückriss. Sie schlug den Stich gerade noch nach außen neben ihr Ohr und kontrollierte die lange Klinge mit dem Hammerstiel, auf dass die Schneide nicht zu ihrer Kehle schnappte.Aber Paaldrag hatte nichts dergleichen vor. Er glitt auf der anderen Seite am Schild vorbei und trat der Gegnerin seitlich ins Knie, noch bevor er das Bein wieder absetzte. Er ließ den Schild los, und reflexmäßig, weil die Schmerzen sie ablenkten, riss die Gegnerin den Schild hoch, anstatt zuzuschlagen. Auf diesen Fehler hatte Paaldrag spekuliert. Er packte sie im Genick und stieß den Zweihänder unterhalb des Schilds in ihr gesundes Bein. Gleichzeitig stieß er einen Feuerschwall in ihr Haar, der seiner Drachenhand nichts ausmachte. Sie kreischte wild, stürzte auf die Knie und schlug mit der Schildspitze

verzweifelt gegen Paaldrags Panzer. Der Chimärier ließ den Zweihänder einfach zu Boden scheppern, packte das Kinn der Feindin und brach ihr Genick. Das brennende Haar stank zwar, doch spendete es ihm kurzzeitig genug Licht, um sicher zu sein, dass keine weiteren Gegner in diesem Gang lauerten.

Athónon hatte Mèra die heilige Decke übergelegt, jenen schmutzigen Wollfetzen mit den verblichenen Goldrändern, der trotz seines äußeren Zustands über große Heilkräfte verfügte. Mèra selbst hatte einige dieser Artefakte nach dem Ende des Glorreichen Zeitalters hergestellt, Insignien ihrer Herrschaft über ein vereintes Elfenreich, das es nun schon lange nicht mehr gab. Eines dieser Artefakte hatte sie dem Gnom in jungen Jahren geschenkt, als sie sich das erste Mal am Rande einer Schlacht getroffen hatten. Sie hatte noch vor ihm gewusst, dass sein einziger echter Freund, mit dem er mancher Gefahr entronnen, getötet worden war. Sie hatte ihm auch angesehen, wie er darunter leiden und zerbrechen würde. Damals hatte er zum ersten Mal Mèras wehmütigen Blick voller Tiefe ertragen müssen, den er im Dienste der Götter danach oft erwidert hatte. Die magische Decke um Mèras Schultern schien ihre letzte Farbe zu verlieren. Die Haut der Elfin glänzte weiß und schweißnass. Athónon beschloss, Taren auch weiterhin zu vertrauen und sich in einen Zauber zu versenken; nichts von seiner Umgebung würde währenddessen in sein

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Bewusstsein vordringen. Sollte etwas geschehen, würde Taren ihn wachrütteln müssen. Doch schien Mèra dem alten Gnom so schwer verwundet, dass er unsicher war, ob die Macht der magischen Decke allein ausreichen würde, sie zu retten. Er kniete sich vor Mèra und legte ihren Kopf in seinen Schoß. Seine dicken Finger strichen über ihre Schläfen. Er schloss das gesunde Auge und begann einen Heilzauber. Athónon erschrak, denn als er seine magischen Sinne nach Mèra ausstreckte, fühlte er nichts mehr. Sie war jedoch noch keine Leiche, sie atmete. „Das verstehe ich nicht“, flüsterte Athónon und runzelte die Stirn. Sein faltiger Augenschlitz verdunkelte sich sorgenvoll. Taffi war bewusstlos und Tarens Heilkräfte waren trotz seines Tempeldienstes geringer als die von Athónon. Laura sah dem Gnom an, dass etwas nicht stimmte, doch sie war so schwach, dass sie nicht fragen mochte. Seufzend legte sie sich hin, streckte Arme und Beine von sich und schlief ein. „Was ist los, mein Freund?“, flüsterte Taren und betrachtete Athónon alarmiert. „Ich kann sie nicht fühlen, wenn ich sie heilen will. Es ist, als sei sie tot, aber sie atmet.“ Die Gnomenstimme knirschte zermürbt. „Vielleicht liegt das an ihrem Alter“, überlegte Taren. „Ja, vielleicht“, raunte Athónon, wenig überzeugt. Sorgenvoll nahm er Mèras Hand in seine Hände, sein gesunder Augenschlitz brannte. Tarens Brauen zogen sich streng zusammen. „Ohne eigenes Wissen streben wir zielsicher einer höheren

Aufgabe entgegen. Srrig und Mèra begannen diese Mission gänzlich ohne Gedächtnis! Wenn dies kein göttliches Zeichen im Sinne Theb Nors ist, was dann? Wir müssen Vertrauen in die Götter haben“, belehrte Taren den Gnom aus Gewohnheit und biss sich im nächsten Moment auf die Lippe. Er ahnte, dass Athónon einer jener stillen und unbekannten Helden des Königskults war, die viel mehr als die meisten Priester von den verborgenen Wahrheiten der Götter und der Prophezeiung von Theb Nor verstanden. Athónon lächelte säuerlich. „Vertrauen, ja“, knurrte er und dachte: „Hoffnung ist der Schafe Trost beim Anblick des Wolfes.“ „Darf ich Dich etwas fragen?“, brummte Taren und setzte sich neben ihn. Athónon blickte den Tempelkrieger ausdruckslos an. Da Taren nicht wissen konnte, dass dies der aufmunterndste Ausdruck war, den Athónons Gesicht zustande brachte, fügte der Gnom ein Nicken hinzu. „Du gehörst zum Königskult, das stimmt doch? Weißt Du, was in meiner Heimat Silberberg vorgeht, wieso die Chimärier nicht entschiedener angreifen? Die Stadt müsste längst verloren sein, aber etwas hält die Schuppen zurück. Ich spüre, dass da etwas nicht stimmt.“ Athónon senkte den Kopf, müde und kraftlos wie nach einer stundenlangen Schlacht. „Der Königskult erpresst den Imperator mit einem göttlichen Artefakt, das die Vier Könige auf den Plan rufen kann. Der Kult erfuhr selbst gerade erst, dass die Könige längst wieder da sind – hier. Aber Schattenwacht weiß das auch. Er weiß, dass die Erpressung hinfällig ist. Ich vermute, Silberberg gibt

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es jetzt nicht mehr.“ Nun blickte der Gnom Taren direkt ins Gesicht, hart und kalt wie Stein. „Du wolltest die Wahrheit, da hast Du sie“, murmelte er. In der Miene des Tempelkriegers rangen Wut und Trauer miteinander. „Ich will das nicht glauben, bis ich es sehe!“, knurrte er. Athónon zuckte bloß mit den Schultern und wandte sich wieder Mèra zu. „So sind die Götter und so belohnen sie Vertrauen“, murmelte er, wohl wissend, dass er solchen Spott bei anderen auch nicht toleriert hätte. Taren hatte in der Arena der Chimärier bereits seine Gefährtin verloren, und nun sollte er auch noch seine Heimat verloren haben. Ihm blieb gar keine andere Wahl, wollte er nicht den Verstand verlieren, als sich am Vertrauen zu seinem Gott festzuhalten. Unter den irritierten Blicken des zurückgekehrten Paaldrag setzte Taren sich in eine Ecke und betete stumm, aber inbrünstig. Ohne Wissen einer heiligen Aufgabe entgegen! Wissen ist die Waffe der Amdovenn, aber ich bin immun gegen sie. Nur blindes Vertrauen ist wahre Hingabe an Dich, mein Bruder Mond. Ich denke an nichts und niemanden, nicht an gestern oder morgen. Ich bin Dein Werkzeug, schicke mich meiner Aufgabe zu! Ich bereue meine Neugier und all meine Fragen. Es war eine gerechte Strafe von Dir, mir die Nachtelfin Nenúriel zu nehmen. Wir verzeihen einander und Du führst mich in der großen Gesellschaft von Helden und Halbgöttern auf den rechten Pfad zurück. Ich folge der Weisung. Und führt sie auch direkt in Deines Bruders Totenreich, ich werde nicht zögern!

101 Srrig hinterließ ein Leichenfeld. Der Halbgott leckte das Blut von seinen Klingen und schritt auf die letzten Gegnerinnen zu, die zitternd einen Schildwall vor ihm bildeten. Sein Fell und seine Robe trieften vor Blut seiner Gegner. Zwei Schritte vor dem Schildwall blieb er stehen, die Schwerter kaum erhoben. Niemals ließ er einen Feind fliehen oder sich von einem ängstlichen Gesicht täuschen. Im nächsten Kampf, mit einer neuen Waffe in der Hand, vor einem anderen Gegner, würde das Gesicht ganz anders blicken, und keiner seiner Feinde bekam eine zweite Chance, jemanden zu töten. Er hatte N’rracorrs Blutgier gestillt, bevor Nachtelfen seinen Hieben zum Opfer gefallen waren. Doch sollte N’rracorr noch mehr Kontrolle über ihn erlangen, würde er vielleicht auch Verbündete erschlagen. Am Geschmack der Gegner hatte er sich berauscht, hatte in Arme und Beine gebissen und sich schließlich wieder beruhigt. N’rracorr hatte sich zurückgezogen. Aber die Kerkertür in Srrigs Seele blieb aufgebrochen. Srrig stand ohne überflüssige Bewegung und ohne Gesichtsausdruck da. Er war so leer wie ein unbeschriebenes Pergament, wie ein ruhiger, klarer Bergsee im Mondschein. Weil ihn nichts von den Geschehnissen auf dem Schlachtfeld ablenkte, machte er keine Fehler. Und wer keine Fehler machte, lebte weiter. Dank dieser Erkenntnis war es ihm gelungen, N’rracorr zurückzuzwingen; hätte Srrig sich noch weiter gehen lassen, wäre er aus Unachtsamkeit vielleicht verletzt worden. Zwar konnte eine einzelne Wunde den

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Halbgott nicht töten, doch eine Vielzahl vermochte dies sehr wohl, zumal er unter N’rracorrs Einfluss nicht den vollen Schutz der Götter genoss. Der Schildwall der letzten Feinde wich vor ihm zurück, während Srrig näher kam. Dann hatten sie plötzlich Nachtelfen im Rücken und der Schildwall platzte unter wütenden Hieben auseinander. Die Schlangenblüter ergriffen die Flucht, zu schwere Schilde ließen sie fallen. Verhaltener Jubel der Überlebenden erhob sich zwischen all den Leichen vor der Stadt.

Melek hatte den verbrannten Arm von Paaldrags zweitem Opfer abgesägt. Nun kaute er auf dem Fleisch des Spähers, das innen roh und außen verkohlt war. Die Kleidung der drei Toten, soweit sie aus Leinen und Wolle bestand, und die Pfeile samt Bogen hatte er auf einen Haufen gelegt und mit den letzten Flammen des Arms entzündet, um Licht und Wärme für die Rast zu haben. Er saß auf dem Bronzepanzer der aschfahlen Tiefenweltlerin und betrachtete die qualmenden Reste des Kopfes und ihre muskulösen Beine. Da er sie nicht selbst erjagt hatte und sie sich auch nicht mehr wehren konnte, fand er sie vollkommen uninteressant. Zumal er seit seiner Flucht aus der Gladiatorenarena nicht geschlafen hatte. Seine Lider flatterten gegen seinen Willen und immer wieder sank der Arm herab, der das Fleisch hielt. Müdigkeit jagte Melek Angst ein. Auch wenn er jetzt unsichtbar war: Wenn er schlief, wachte er vielleicht nicht

rechtzeitig auf, um Verfolgern zu entgehen. Kein Versteck war völlig sicher. Aber schlimmer noch war die Ungewissheit. Im Schlaf war er sich seines dunklen Weges, fern aller höheren Mächte nicht mehr gewiss. Rachsüchtige Seelen und allsehende Götter fanden ihn und verhängten grausame Strafen. Nun, da er von Laura und den Vier Königen wusste und ihm die Existenz einer höheren Macht bewiesen war, verfiel er in Panik beim ersten Anzeichen von Schläfrigkeit. Ob Laura, sein gesegnetes Spiegelbild, zu töten seine Albträume lindern würde? Die Träume beruhten auf alten Mythen, die er als Kleinkind am Lagerfeuer erzählt bekommen hatte, Geschichten aus einem nordischen Land, in dem der Regen weiß vom Himmel schwebte. Sie begannen stets gleich: Schwarze Nacht legte sich als Leichentuch über ein verlassenes Winterland. Aus wabernden Waldschatten löste sich eine Wanderin. Ihre Konturen blieben unscharf, ein dunkles Fließen zwischen Baumskeletten. Von der eigenen Sippe ermordet und lieblos verscharrt, war ihre Seele aus dem Totenreich geflohen, um Rache zu nehmen. Bald riss sie ihrem Mörder die Seele aus dem Leib und er folgte dem Ruf des Todesgottes Loguht ins Totenreich. Die Wanderin aber wurde von den Göttern vergessen und blieb auf Hevanor zurück. Jahre und Jahrzehnte vergingen, in denen ihr Geist zerfiel. Als Albtraum verbarg sie sich in jenen Schatten, die der Augenwinkel nicht preisgab. Die Momente des Übergangs vom Wachen zum Schlafen verliehen ihr die größte Macht. Sie trieb Sterbliche in Wahn und Tod. Als Boten schickte sie jedes Opfer mit

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der Bitte zu Loguht, er möge die vergessene Wanderin endlich erlösen und zu sich rufen. Doch der Herrscher des Totenreichs erhörte sie nicht. Jahrhundert um Jahrhundert zog an ihr vorbei, schlug seine bedeutungslosen Wellen und verblich. Aber jedes Jahr blieb ein Körnchen Zeit an ihr haften. Neue Gedanken formten sich in den Ruinen ihrer Seele, bis sie aus der dunklen Macht des Untodes auferstand. Seitdem strich sie über Hevanor und fraß Seele um Seele. Je heller eines Sterblichen inneres Licht strahlte, desto größer wurde der Hunger der Mythengestalt danach. Mit jeder Stunde Schlaf näherte sich die Wanderin und gewann mehr Macht über Melek. Seit zwei Monden verfolgte sie ihn. Aber ihr Schrei drang erst durch Meleks Kopf, seit er Laura kannte und von der Existenz der Vier Könige wusste. Nun schien ihn eine höhere Gerechtigkeit einzuholen. Seine heimliche Furcht vervielfachte sich und wurde zu Panik. Er sah das Winterland seines Albtraums vor sich. Der dunkle Schrei der Wanderin durchzog die Nachtluft mit Frost. Boden und Bäume knirschten und stöhnten. Melek riss die Augen auf. Er lag verkrümmt neben der toten Tiefenweltlerin und zitterte vor Kälte. Sein Feuer war lang erloschen. „Nimm Laura!“, bettelte er wie ein Sechsjähriger. „Sie ist doch eine genauso lohnende Beute wie ich!“ Melek tastete in der Finsternis nach seinem Dolch, der ihm im Schlaf entglitten war. Gleichzeitig lauschte er, nahm aber kein Geräusch wahr. Er fand den Dolch und rappelte sich auf. „Ich schlafe erst nach dem Sieg über Laura

wieder! Danach soll die Wanderin mich meinetwegen haben.“ Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte und ob er noch unsichtbar war. Cerýllion antwortete seinen fragenden Gedanken nicht. Die Müdigkeit drohte seine Schläfen zu sprengen. Er ließ die Lider geschlossen. Halb schlafend schleppte er sich in die Nähe des letzten Lagerplatzes von Lauras Gruppe.

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„Viele bunte Gestalten tummeln sich in unserer Stadt und rühmen sich mit ihren Taten, einer lauter als der andere. Viel zu selten aber gedenken wir jener, die für ein höheres Wohl wahrlich über sich hinausgewachsen sind und dabei sogar ihre sterbliche Hülle hinter sich ließen. Die Feststellung sei mir erlaubt, wahre Helden sind nicht laut.“ Theliophamos, Vorsteher der Norhuser Gilde für Meeresmagie, über den Begriff des Helden

7 Laura spürte durch die Augenlider, dass sie im Hellen lag. Angenehme Wärme umfing sie. Blütenduft stieg ihr wohlig in die Nase. Sie stellte sich strahlendes Sonnenlicht vor, eine duftende Wiese und einen endlosen blauen Himmel. Nur Vogelzwitschern vermisste sie, oder Wind in den Gräsern und auf der Haut. Als kleines Kind hatte sie von einem menschlichen Reisenden die Geschichte über die „Liebreizende Göttin der Natur“ gehört: Heva. Diese Göttin sei das Land selbst, die Sterblichen lebten auf ihrem Leib und ihr Geist sei besonders nah, wenn die Sonne auf- und unterging. Daher auch der Vogelgesang zur Dämmerung – der Göttin zu Ehren. Laura hatte darauf oft in ihrem Lieblingsbaum gesessen und Worte an die Liebliche gesprochen, wie sie die Göttin für sich nannte. Eigentlich jedoch kannte sie sich kaum mit Göttern aus, denn Elfen hielten nichts von diesen sogenannten Märchen, die bloß auf dem Wunschdenken der jüngeren Völker, wie zum Beispiel der Menschen, fußen sollten. Deshalb konnten Mèra und Srrig auch keine Halbgötter sein. Aber waren sie es doch und gab es die Götter, wie konnten sie all die schrecklichen Geschehen zulassen? Waren sie blutrünstige Zuschauer in einem Theaterstück, das sie den Sterblichen aufzwangen, oder reichte ihre Macht bloß nicht so weit, jedes Einzelnen Schicksal zu beeinflussen? Mèra hatte Jades Tod vorausgesehen, ihn jedoch kaltblütig eingeplant, anstatt die Nachtelfin zu retten.

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Mèra hatte damit ein Stück aus Lauras Seele gerissen. Zwar streng und kühl, hatte ihre Mutter aber auch Stolz und Stärke vorgelebt und Laura vor der Ignoranz der Elfen beschützt. Nie wieder würde die Tochter die langen Arme um ihre Schultern und das Kinn auf ihrem Kopf fühlen, wenn Jade ihre Beine beugte, sich zu ihr kniete und sie tröstete, weil sie wieder einmal angefeindet, ausgelacht oder nicht eingeladen worden war. Ihr Ziehvater hatte stets loyal zu Laura gehalten, aber das Verhältnis der beiden war oberflächlich geblieben. Zu der jüngeren Stiefschwester bestand sogar Rivalität. Die Erinnerung an Meleks Nähe drängte sich in Lauras Bewusstsein und belebte die Vorstellung ihres menschlichen Erbes. Sie ekelte sich plötzlich vor sich selbst und begann ihre Stärke zu verabscheuen – von der sie doch abhängig war, da nichts sonst sie ausmachte. Selbsthass brach ein weiteres Stück aus ihrer Seele. Vor zwei Tagen war sie bloß ein Mädchen gewesen, das mit seiner brachialen Energie unter zaghaften Elfen aneckte, das sich nur immer unbeliebter machte, je mehr es abgelehnt wurde, aber im Grunde behütet aufwuchs. Nun, da große Ereignisse mit ganzem Gewicht auf sie drückten und ihre Mutter sie nicht länger beschützen konnte, drohte ihre angeschlagene Seele dem Heldenweg nicht standzuhalten. Egal wie bemüht sie nach außen die Fassade einer makellosen und erfolgreichen Frau präsentierte, innerlich litt sie an zahlreichen Wunden, die schlecht verheilten. Laura wünschte sich sehnlichst, dass es wirklich eine Liebreizende Göttin der Natur gab und dass diese Göttin

Laura auf ihren Sonnenstrahlen mitnahm, fort von der grausamen Welt. So hell und warm, wie es um sie herum war, klopfte ihr Herz plötzlich schneller, denn der Zeitpunkt schien gekommen. Sie öffnete die Augen – und starrte enttäuscht auf einen grellen Lichtzauber, der unter der Höhlendecke schwebte. Raue Steinwände mit Fensterlöchern und einem verhangenen Durchgang umgaben Laura wie in einer Hütte, aber es gab kein Dach. Die Wärme strahlte von dem kleinen Kamin neben ihrem Krankenlager her. Der Blütenduft stieg aus einer Tonschale auf dem Kaminsims, einem langen flachen Bruchstein. In der Schale trieben Pflanzenöle von der Oberwelt in einer Wasserpfütze. Laura schloss die Augen und fand sich damit ab, dass ihre Qualen doch noch kein Ende haben würden. „So darf ich nicht denken!“, ermahnte sie sich und klammerte sich hilflos an kitschige Erinnerungen. „Das Leben war vorher schön, es wird auch wieder so sein!“ Sie konzentrierte sich darauf, ihre Heimat als Idylle im Gedächtnis zu behalten, für die es sich zu kämpfen lohnte, „egal ob gegen Melek, Schattenwacht oder sonstwen“, schwor sie sich ein. Genauso unbeugsam, wie sie ihren eigenen Weg durchgesetzt hatte, wollte sie auch der schleichenden Verbitterung widerstehen, die sie an Athónon und Mèra zu verabscheuen begann. Wie ging es Mèra überhaupt? Laura riss die Augen auf. Ihr Mund schmeckte pelzig und sie konnte sich kaum bewegen, krächzte aber: „Mèra? Hallo? Ist jemand hier?“

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Ein Elfenjunge kam ins Zimmer gelaufen, sein schwarzes Haar wehte ihm wie ein hüftlanger Umhang nach. Sein Gesicht nahm erste Züge eines Erwachsenen an und seine Augen reichten bereits bis zur Brust. Er trug ein Tablett mit einer irdenen Karaffe, einer dampfenden Holzschale und einem kleinen Stück Fleisch. Als Laura die Gerüche vom Tablett aufnahm, wurde ihr bewusst, wie viel Hunger sie hatte. „Hallo“, sagte der Junge schüchtern. „Ich bringe Dir Essen. Der Älteste sagt, er hätte Dir gern mehr Fleisch gegeben, aber wir haben hier unten nicht so viel. Wenn Du sonst noch Wünsche hast, sollst Du sie mir auftragen.“ Laura lächelte dünn. Sie stemmte die Hände auf ihre weichen Decken und versuchte sich hochzuschieben. Der Junge, erst schüchtern, half ihr zögerlich, bis sie in eine Position kam, in der sie etwas essen konnte. Mühsam brachte sie heraus: „Danke. Ich bin Laura und wie heißt Du?“ „Tanétiel“, antwortete er und legte Laura das Essenstablett auf die Beine. „Was ist mit der blonden Elfin, Mèra? Die mit den grauen Strähnchen?“ „Sie lebt, genauso wie alle Deine Gefährten“, berichtete Tanétiel. Laura seufzte erleichtert. Sie hatte Athónons Worte verstanden, wie viel Glück es bedeutete, wenn kein Freund in einer Schlacht fiel. Der Junge druckste herum. Laura fasste seinen Arm und fragte: „Was ist? Verschweigst Du mir etwas?“ „Nein. Es ist nur so ...“, stammelte Tanétiel.

„Ja?“ Laura blickte den Jungen durchdringend an. „Ich weiß, wer Du bist. Ich hörte, Du wärst eine Heldin und dass Du die blonde Frau gerettet hättest“, schmeichelte Tanétiel ihr mit einem großen Aber in der Stimme. „Mèra.“ Laura errötete und lächelte, zwang ihr Lächeln jedoch schnell wieder zurück und blickte nachdenklich. „Das ist ziemlich übertrieben“, brummte sie. Unbewusst strich sie ihre Locken zurecht, die schmierig aneinanderklebten. „Wer sagt denn so was?“ „Die Wachen, die Deine Gruppe hereinließen. Einige andere hörten, dass Du Mèra gerettet hast. Da setzt sich dann ein Bild zusammen.“ „Der Gnom und der Mensch sind Helden, aber ich nicht.“ Von Srrig und Mèra wollte sie nicht sprechen, zumal die Halbgötter ihr verboten hatten, zu viel von ihnen und ihrer Aufgabe preiszugeben. „Ach so“, murmelte Tanétiel. „Aber Du bist doch die mit dem Kettenhemd!“Lauras Blick fiel auf die Rüstung neben ihren Decken. Ihr Schwert fehlte allerdings, vielleicht hatte sie es verloren. „Man wird nicht zur Heldin, bloß weil man solch ein Ding trägt“, wiegelte sie streng ab. „Möglicherweise gehört es nicht mal mir?“, provozierte sie. Tanétiels Augen wurden größer und größer vor Enttäuschung und ruhten auf den engen Eisenmaschen. Was sollte sie ihrem Ziehvater sagen, wenn sie sein wertvolles Schwert nicht zurückbrachte und sein Kettenhemd in solch schlechtem Zustand? „Lass Dich nicht vom äußeren Schein blenden“, brummte Laura an dem Jungen vorbei. „Zu viele Gedanken sind nutzlos und bringen Dich nur durcheinander.“ Bei sich dachte sie:

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„Was für Sorgen mache ich mir um Vater. Ich kehre mit einem Packpferd voller Waffen zurück oder gar nicht.“ „Du siehst auch gar nicht aus wie eine Heldin!“, platzte es nun aus Tanétiel heraus. „Wie alt bist Du? Du bist doch bestimmt noch nicht mal erwachsen!“ Laura lachte bitter. „Unter Elfen werde ich nie erwachsen! Ich will kämpfen und meine Ohren sind nicht lang genug.“ Erst wenn ein Elf wenigstens eine Kunst gemeistert hatte, galt er als erwachsen. Und Kämpfen wurde nicht als Kunst anerkannt. Tanétiel stutzte mit offenem Mund. „Entschuldigung“, murmelte er kaum hörbar. Plötzlich lächelte er dünn. „Sag schon, wie alt bist Du?“, drängelte er. „Achtzehn Sommer“, erwiderte Laura wahrheitsgemäß. „Mein erstes Licht fiel aber schon im Herbst davor.“ „Dann bist Du ja gar nicht so viel älter als ich! Ich bin schon fast vierzehn Sommer da! Und wir sind beide noch Kinder.“ Laura lächelte nachsichtig. Bevor sie etwas sagen konnte, rief Tanétiel: „Ich will auch kämpfen und Abenteuer erleben, genau wie Du! Dann werden wir gemeinsam jeden einzelnen dieser verdammten Schlangenblüter vernichten! Die machen nichts als Ärger und haben keine Kultur!“ In Lauras Gesicht zog tiefste Nacht herauf. Tanétiel stutzte wieder und fragte: „Was ist?“ Laura knurrte ihn an: „Und die Kultur der Elfen ist besser? Du klingst wie ein Chimärier, Kleiner.“ „Ach, ist auch egal, wie unser Barde es später nennt. Auf jeden Fall werden die Schlangenblüter uns nie besiegen!“ „Ihr hattet Glück, dass Srrig für Euch gekämpft hat. Nächstes Mal ist er vielleicht nicht da.“

„Dann müssen Du und ich schnell Helden werden!“, grinste Tanétiel verschmitzt. „Vergiss diesen Heldenquatsch“, seufzte Laura genervt. „Mit etwas zu kokettieren und davon zu träumen, sich gar darauf in heimischer Sicherheit vorzubereiten, ist etwas ganz anderes, als es wirklich zu tun. Wenn man zu verbohrt gegen den Strom schwimmt, zerbricht man vielleicht darin, bist Du bereit dazu? Vielleicht ist man so lange kein Held, wie man diesen Begriff benutzt ...“ Tanétiel sah verlegen weg und schwieg. Laura setzte nach. „Ich habe mal genauso geklungen wie Du. Obwohl es mir eine Ewigkeit her zu sein scheint, sind kaum zwei Tage verstrichen, seit ich mein Dorf verließ.“ Sie wischte sich über die Augen und riss sich mühsam zusammen. „Jetzt klinge ich auf einmal wie meine Mutter“, murmelte sie bitter. „Pass lieber mit Deinen Wünschen auf, bevor sie in Erfüllung gehen.“ „Mein Vater hat immer gesagt, man darf keine Zweifel haben, wenn man ein großer Krieger werden will!“, rief Tanétiel überzeugt. „Und, ist Dein Vater ein großer Krieger?“, fragte Laura gepresst und starrte an dem Jungen vorbei. Tanétiel schluckte und sah zu Boden. Schließlich konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten. „Du gehörst nicht zu der beliebten Sorte, oder?“, schluchzte er. Laura blickte den Jungen verdutzt an und wunderte sich, wie er sie in seinem Alter schon so gut einschätzen konnte. Welche kindlichen Gewissheiten hatte sie bereits vergessen, die sie einmal besessen hatte? Plötzlich wurde ihr heiß. Sie errötete und sah beschämt

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weg. „Niemand muss mich mögen“, knurrte sie und verdrängte die schmerzenden Erinnerungen an den toten Halbelfen Wenndur, der sie auf der Reise umschwärmt hatte, und an all jene Szenen im Dorf, in denen sie als Außenseiterin und Barbarin tiefer verletzt worden war, als sie zugab. Sie stopfte sich gierig Fleisch in den Mund, wie es sich für eine Barbarin gehörte. Der Junge wischte sich die Tränen von den Wangen und verarbeitete still, was er gehört hatte. Laura spülte mit Wasser nach und wiederholte: „Niemand muss mich mögen. Am Ende zählt nur eins: Ich habe Mèra gerettet. Und das gelang mir sicher nicht, weil ich so ein schmeichelndes, sanftes Wesen bin. Im Moment des Triumphes kann ich es leicht aushalten, nicht von jeder flüchtigen Bekanntschaft gemocht zu werden.“ So allein wie jetzt hatte sie sich aber noch nie gefühlt. Tanétiel, der um seinen Vater wie sie um ihre Mutter trauerte, musste sich ähnlich fühlen. Sie lehnte sich vor, um den weinenden Jungen in den Arm zu nehmen, da lief er weg. Beinahe rannte er Athónon um, der soeben ins Zimmer trat. In dessen Gesicht erkannte Laura jene Bitterkeit, die auch sie gerade heimgesucht hatte und der sie nicht hatte anheimfallen wollen. Hilflos nach einer Gegenwehr suchend, zwang sie sich ein Lächeln auf.

Aus der Ferne hörte Mèra Fêowyns helle Männerstimme: „Du bist in Sicherheit. Jetzt halte durch, Deine Wunden werden heilen.“

Fêowyn kniete neben Mèra. Eine Hand legte er auf die frischen Verbände und die andere auf ihre nasse Stirn. Sein graues Haar fiel ihm ins Gesicht, als er den Kopf senkte. Mit geschlossenen Augen wiegte er sich unmerklich vor und zurück. Neben Fêowyn lagen blutgetränkte, alte Verbände am Boden, Tontiegel mit duftenden Kräutersalben und ein leeres Bronzefläschchen. Srrig hatte eine saubere blaue Robe bekommen. Er kniete auf Mèras anderer Seite und blickte finster. „Wie eine Sterbliche“, dachte er und zupfte Athónons zerschlissene Zauberdecke so weit über ihre Hüfte, wie Fêowyns Hand es zuließ. Mèra wandte sich schwach im Fieberschlaf. Ihre Augen ruckten unter den Lidern hin und her. „Mir ist kalt!“, wollte sie rufen. Doch sie verlor den Kontakt zu ihrem Körper und zur Außenwelt. Das Fieber ließ Mèra glauben, in endloser Leere zu trudeln. „Was machst Du noch hier?“, schnauzte sie jemand plötzlich an. „Bist genauso eine Klette wie diese Nachtelfin, was? Die wollte ihren Körper auch nicht verlassen, hat mir etwas von ihrer Tochter und ihrer Familie vorgeheult. Und dann dieser vergammelte Elfenzauberer, in den ich danach gefahren bin, als sie den ersten Zombie zerstückelt hatten! Völlig kaputte Knie! Nun, sie haben ihn sowieso verbrannt, als sie merkten, dass ich ihn okkupiert hatte. Zum Glück habe ich gespürt, dass es Dich erwischt hat und ich bin sofort weitergesprungen. Na ja, war nett, Dich mal wiederzusehen nach all der Zeit, schönen Tag noch, lebe wohl!“

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Mèra drehte sich im Kreis, sah jedoch niemanden. Stattdessen sah sie ihre Wunden, aber vom dunklen Inneren ihres Körpers her. Sie begann zu fallen und fiel immer tiefer. Der Abgrund glich einem dunklen Brunnen, an dessen Grund sie ertrinken würde. Plötzlich verstand sie das Bild. Durch die äußere Wunde war jemand in ihre Seele eingedrungen, jemand, der sie zu kennen vorgab. Er hatte sie hinabgestürzt, um sie endgültig zu töten, sie loszuwerden und selbst ihren Leib zu besitzen. Für einen Moment musste sie tot gewesen sein, sonst hätte sie den Eindringling bemerkt. Ein kurzer Lichtblitz, das Fragment einer Erinnerung traf sie wie ein weiterer Dolchhieb: Sie war erstochen worden, sie war wirklich nicht die alte Mèra. Der Eindringling hatte ihren Körper am Leben gehalten und ihre schwindende Seele in die Tiefe gestürzt. Noch hatte sie den Brunnengrund nicht erreicht. Unter ihr raste ein Eisengriff näher, der nicht dorthin gehörte. Mèra überlegte, einfach die Augen zu schließen und die Hände nicht nach dem Symbol der Rettung auszustrecken. „Ich habe die Ruhe verdient“, dachte sie bitter. Doch dann würde eine fremde Macht in ihrem Körper herumlaufen und viel Schaden anrichten. Srrig konnte auf sich aufpassen, aber Mèra sah Bilder von Athónon, der schon so viel für sie geopfert hatte. Und von Laura, die sogar ihre Mutter verloren hatte und zu naiv und unerfahren war, als dass ein Geist oder Dämon in Mèras Körper sie nicht überlisten konnte. Im allerletzten Moment streckte Mèra die Hände nach dem Griff aus und hing nun über dem Abgrund. Anders

als ihr Körper, war ihre Seele nicht so schwer verwundet. Flink zog Mèra sich empor, stellte einen Fuß darauf und fasste in die weichen Wände, um sich ganz auf die Füße zu ziehen. Nun stand sie auf dem Griff und blickte nach oben. Irgendwo dort, fern über ihr hielt eine feindliche Seele ihren Körper besetzt. Fêowyn war nassgeschwitzt und zitterte. „Merkwürdig“, flüsterte er während seines weggetretenen Zustands.

„Nun, wie schmeckt das Essen der Nachtelfen?“, fragte Athónon. Bei den Kämpfen in der Taverne, in der auch Jade starb, war sein Auge verletzt worden. Nun trug er eine lederne Augenklappe. Sie war verstörend und schmerzvoll anzusehen für alle, die ihn kannten, obgleich er selbst sich nichts anmerken ließ. Athónon kreuzte die Beine und setzte sich an Lauras Krankenlager. Er drückte ihre Hand und ließ sogar einen Mundwinkel nach oben zucken. „Ich bin noch kaum zum Probieren gekommen“, entgegnete sie, lächelte dünn und musterte traurig die Augenklappe. „Ich bin überrascht, noch hier zu sein“, sagte sie leise. „Du wirst noch viele Sommer sehen“, erwiderte Athónon streng. „Aber nicht, wenn ich so weitermache!“, widersprach sie und lachte freudlos. „Ich bin halb tot in eine Gruppe von Spähern gelaufen. Wieso haben die mich verschont? Und wieso geht es mir jetzt schon wieder so gut? Nach dem

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Kampf mit Melek war ich so zerschlagen, dass ich dachte, ich würde Wochen brauchen, um mich zu erholen. Hat Mèra etwa schon wieder einen Heilzauber gewirkt? Sie sollte sich doch schonen! Wie geht es ihr?“ Athónon unterbrach Lauras Redeschwall, indem er wortlos ein Bronzefläschchen hochhielt. Ein kompliziertes Zeichen war mit Säure eingraviert. Er legte das Fläschchen in Lauras Hand. Während sie es neugierig betrachtete, erzählte Athónon: „Du musst voll einsatzfähig sein oder Du würdest in einem unachtsamen Moment den Tod finden. Vor zwanzig Jahren gab mir der Älteste Deines Dorfes drei von diesen Fläschchen. Eins rettete damals Deiner Mutter das Leben und eins hat nun Dein Überleben gesichert. Das letzte hat Mèra gerettet.“ „Heiltränke!“, flüsterte Laura ehrfürchtig. „Es waren Deine! Du hast sie für uns geopfert? Und Dein Auge? Du hättest sie für Dein Auge nehmen sollen, Athónon!“ „Ich habe doch noch eins“, erwiderte der Gnom und verzog keine Miene. Doch seine Stimme klang brüchig und alt. „Ich wusste, wir würden die Tränke brauchen. Ich sah es in meinen Träumen.“ Laura starrte ihn wie ins Gesicht geschlagen an. „Wie ... soll ich damit leben?“, flüsterte sie und bebte. „Rede nicht so einen Unsinn!“, unterbrach Athónon sie harsch. „Ein Auge für ein Leben, das ist ein guter Tausch. Zumal Du jung bist und ich alt. Außerdem war es meine Entscheidung. Ich tat es gern. Vergiss das nicht.“ „Danke“, brachte Laura nur hervor. Gedankenverloren drehte sie das Fläschchen zwischen den Fingern. Sanfter fuhr Athónon fort: „Jetzt iss, damit Du weiter

zu Kräften kommst. Es wird nicht lange dauern, bis die Stadt wieder angegriffen wird. Die Bewohner bereiten sich schon darauf vor, den Ort aufzugeben. Und wer weiß, wer uns noch in den Rücken fällt.“ Laura kniff die Augen zusammen. „Die Stadt aufgeben? Wenn die Schlangenblüter die Nachtelfen töten wollen, werden sie das doch auch woanders tun, oder nicht?“ „Erkläre Du es ihnen, wenn Du magst. Mir und Srrig glauben sie das jedenfalls nicht“, brummte Athónon. „Außerdem haben sie viele Krieger verloren. Sie könnten wohl tatsächlich keinen zweiten Kampf gewinnen, selbst falls es kein zweites Mal solch tödliche Feuer-Artefakte gibt. Der Älteste Pêraphèniel klammert sich an die verzweifelte Hoffnung, die Schlangenblüter wollten nur ihr Territorium ausdehnen, um ein eigenes, gemeinsames Reich mit ihren neuen Verbündeten zu gründen. Pêraphèniel sagt, dieses neue Reich wird sich mit dem Reich der chimärischen Priesterin Tebaarsha bekriegen und die Nachtelfen nicht länger beachten. Pêraphèniel will weiter nach unten – in unerforschte Tiefen, der Narr! Srrig überlegt, ob wir die Nachtelfen begleiten sollen und doch erst den Dämoniden namens T’ral befreien sollen. Der ist ein sehr machtvoller Zauberer und könnte unsere ganze Gruppe zum letzten der Vier Könige, Randolph, teleportieren und dann weiter in Schattenwachts Hauptstadt Pýur. Srrig und Mèra spüren beide, dass T’ral sich irgendwo in den tieferen Gängen befindet. Leider leben dort wahrscheinlich auch die Schlangenmenschen und andere feindselige Tiefenweltler.“ „Wissen die Nachtelfen eigentlich, dass sie Dämonen verletzen können?“

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„Srrig hat es ihnen gesagt, und sie schienen es ihm auch zu glauben. Allerdings wollen sie nichts von einem Krieg gegen die Amdovenn wissen oder davon, dass sie vermutlich gerade aufgrund dieser Gabe vernichtet werden sollen. Irgendein Dämon oder Dämonenjünger könnte die Schlangenblüter aufgewiegelt haben, um die Nachtelfen zu vernichten. Das ist auch der nächste Grund, warum Srrig sie begleiten will – er will sie nun doch bereitwillig schützen. Er sagt, er hätte einen dunklen, symbolischen Traum gehabt, und ich glaube, ich hatte denselben. Ich hatte ihn nur erst nicht deuten können.“ „Erzählst Du ihn mir?“, bat Laura. „Ich sah Mèra, wie sie sich gegen uns wandte, von einem Dämon besessen. Wir mussten sie töten. Das ist natürlich unmöglich, Halbgötter können nicht besessen werden, sie stehen unter zu großem Schutz und ihre Seelen sind zu stark. Die Bedeutung des Traums ist darin zu sehen, dass Mèra die Nachtelfen erschaffen hat und dass diese Schöpfung sich gegen uns wenden wird. Oder dass wir diese wichtige Gabe und damit den Sieg verspielen werden, wenn wir nicht darauf aufpassen.“ Laura nickte furchtsam. „Klar. Dass eine Halbgöttin Opfer einer Besessenheit wird, ist unmöglich ...“, wisperte sie. Plötzlich fragte sie mit fester Stimme: „Was geschah mit meiner Mutter in der Höhle nach dem Versuch, sie wiederzubeleben? Wurdest Du besessen, Athónon, oder sie? Wie kam sie das zweite Mal zu Tode?“ Tränen liefen über Lauras zitterndes Gesicht. Die Steinmiene des Gnoms rührte sich nicht. „Wieso fragst Du noch einmal?“, begann er. „Die Wiederbelebung hat nicht ...“

Laura unterbrach ihn: „Hast Du meine Mutter getötet? Wessen Blut klebte in Deinem Gesicht, nachdem wir von dort geflohen waren?“ Athónons Kiefer klappte herunter. „Woher ...?“, flüsterte er nur. Laura schluchzte bitter und vergrub das Gesicht in den Händen. „Lass mich allein!“, schrie sie und stieß mit dem Ellbogen die Wasserkaraffe auf ihrer Decke um. Athónon stellte wortlos die Karaffe neben das Krankenlager, stützte einen Arm auf den Felsboden und erhob sich. Seine Knie stachen, aber er unterdrückte ein Ächzen. Hinter seiner Stirn überschlugen sich zahllose Gedanken. Seine Lippen blieben jedoch geschlossen. Leise schlich er davon. Als er den Türvorhang zur Seite schob, mahnte er über die Schulter: „Hat Cerýllions Stimme Dir diesen fauligen Gedanken zugeflüstert, bevor Mèras Schutzzauber ihn am Säen von Zwietracht hindern konnte? War er es, der Dich vor der Schlacht aus der Gästehöhle getrieben hatte, als leichte Beute für Melek? Vertraue niemals den Worten des Feindes. Niemals!“ Der Gnom hatte in seinem Leben als Götterdiener wahrlich genug Intrigen erlebt, die von Anhängern der Amdovenn ersonnen worden waren. Bauern wie Könige waren darin verstrickt worden und hatten komplizierte Irrlehren, Aufhetzungen, Verblendungen und falsche Tugenden für ihre eigenen, rechtschaffenen Gedanken gehalten. Die Lehre Theb Nors war stets als Erstes ins Feld geführt und gleichermaßen als Erstes verdreht worden. Nie aber war sie verdrängt oder heruntergespielt worden, das

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wäre verdächtig gewesen. Die Amdovenn waren Meister der Manipulation. Die schlimmsten Intrigen waren jene, welche an den urtümlichsten Gefühlen der Sterblichen ansetzten, guten wie schlechten. Liebe und Rache zum Beispiel. Athónon seufzte. Wie aber sollte er seine Erfahrung nun Laura auf die Schnelle begreiflich machen? Lieber schwieg er. Bevor der Intrige ein unbedachtes Wort noch mehr Lebenskraft verlieh – denn genau nach solchen Fehlern hungerte sie. Aber war es nicht seine Pflicht, seine Erfahrung weiterzugeben? Wie sonst sollte die nächste Generation stärker als die vorige werden? Wenn die Vorfahren dieser Auseinandersetzung mit den Nachfahren genauso aus dem Weg gegangen waren wie Athónon jetzt, musste sich niemand wundern, dass die Lebenden so schwach und hilflos den alterslosen Amdovenn gegenüberstanden. Nachsicht und Geduld waren zwiespältige Tugenden, mit größter Vorsicht zu dosieren. Beinahe konnte man meinen, auch in ihnen steckte ein Hauch des Feindes. Sollte er strenger mit Laura umgehen? Ratlos versank der Gnom in schwermütiger Grübelei. Nur eines bezweifelte er nicht: Seit Jades Tod trug er Verantwortung für Laura, ganz ohne mit ihr verwandt zu sein.

8 Paaldrag und Brommil durften sich das Haus eines Gefallenen teilen, um zu lagern. Auf Decken und Fellen saßen sie beieinander, den Vorrat an Trüffelschnaps zwischen sich, den sie in wachsversiegelten Steinkrügen gefunden hatten. „Dass diese Elfen nichts Richtiges zu saufen haben!“, grollte Paaldrag und kratzte sich mit dem Finger Ruß aus der Nase. „Banause!“, lachte Brommil, während er mit gemächlichen Bewegungen seine Axt schliff. „Weißt wohl nicht, wie viele Trüffel man für eine Pulle Schnaps braucht.“ „Pilze sind nicht zum Saufen da, basta!“, beschwerte der Riese sich weiter und kratzte den nächsten Steinkrug auf. „Würden sie ihre Pilze rauchen, könnten sie auch ihre miefige Stadt viel leichter vergessen.“ „Kein Wunder, dass denen die Evakuierung nicht schwerfällt“, stimmte Brommil zu und rieb sich die Augen. „Verdammter Rauch. Da können sie schon zaubern, aber streiten sich darüber, ob sie ihre Magie einfach so einsetzen dürfen und begnügen sich mit Fackeln und Kohlebecken – in einer Höhle!“ Paaldrag hielt sich ein Nasenloch zu und blies das andere kräftig frei, was eine Rußwolke erzeugte. Dann setzte er den Steinkrug an den Mund und leerte ihn in einem Zug. Beide schwiegen. Nur die Schleifgeräusche von Brommils Schärfen waren zu hören. Schließlich fragte der Zwerg: „Und, wirst Du den Verrückten auf ihrem Kreuzzug folgen?“

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Paaldrag stieß weitere Rauchwolken durch die Nase und musterte den Zwerg. Kopfschüttelnd hievte der Chimärier sich dann auf die Füße. Das Fenster befand sich auf seiner Brusthöhe. Aber da dieses Haus wie viele in Quirmó kein Dach besaß – gab es doch die Höhlendecke, konnte er einfach über die Mauern hinwegblicken. Seine Stummelflügel rieben sich aneinander, seine Hände stemmte er in die Hüfte. Ungewohnt leise knurrte er: „Ich glaube nicht an deren Götter und Dämonen. Ich glaube auch nicht, dass der Imperator ein Gott ist, obwohl er sehr mächtig ist und sich verehren lässt. Ich glaube, wir sind von unseren Schöpfern alleingelassen worden, und jetzt läuft alles aus dem Ruder, wie bei Kindern, die nicht erzogen werden.“ „Ein Grund mehr, die Sache selbst in die Hand zu nehmen!“, rief Brommil. Schon im nächsten Augenblick wunderte er sich über sich selbst, denn wäre er gefragt worden, ob er auf solch ein selbstmörderisches Unterfangen mitkommen wolle, hätte er dies vehement verneint. Paaldrag drehte sich halb zu Brommil um und grollte: „Was in die Hand nehmen? Den Imperator bekämpfen?“ Er machte eine schneidende Handbewegung und schaute wieder in die Stadt hinaus. „Lächerlich. Niemand kann das“, brummte er verbittert. „Außerdem ist dieses Gequatsche über die Amdovenn blanker Irrsinn. Dämonen sind nur eine Ausrede von uns, wenn etwas nicht nach unserem Willen läuft und wir den Grund dafür nicht durchschauen. Ich verstehe bloß nicht, wieso Srrig glaubt, einen solchen Vorwand zu brauchen, um den Imperator zu bekämpfen. Die Chimärier werden ihm so oder so nicht

folgen und die anderen Völker hätten auch ohne Dämonen mehr als genug Gründe.“ Brommil seufzte leise und murmelte: „Ich weiß nicht ... Ich glaube Srrig.“ „Er glaubt sich selbst auch!“, lachte Paaldrag. „Er hat Ausstrahlung und Macht und ist völlig von sich überzeugt. Natürlich laufen ihm dann sofort alle hinterher, die keinen starken Willen haben. Jeder, der ihm folgt, wird den Tod finden. So wie es beinahe diese Mèra erwischt hätte. Und? War sie eine Halbgöttin? Nein! Ein paar Dolchstiche hätten sie beinahe ins Jenseits befördert, und vorher gespürt oder so etwas hat sie den Feind auch nicht. Ihr überzogener Glaube an sich selbst hätte sie fast umgebracht.“ „Ich glaube nicht, dass das alles nur Gespinste sind“, beharrte Brommil. „Melek und ich wurden beide von einer Geisterstimme beeinflusst, ebenso Laura. Erinnerst Du Dich, wie sie plötzlich aus der Gästehöhle gerannt war? Das war die Geisterstimme. Melek hat die Stimme dazu gebracht, auf Laura loszugehen, und fast hätte ich ihm dabei noch geholfen.“„So so, Du hörst also auch schon Stimmen!“, winkte Paaldrag ab und lachte dabei so laut, dass es vermutlich in halb Quirmó zu hören war. „Es gibt da draußen einen realen Feind“, beharrte Brommil verärgert und stieß den Stiel seiner Axt auf den Boden. „Jemand muss ihn bekämpfen.“ Spitz fügte er hinzu: „Bevor unsere Erziehung, wie Du es genannt hast, noch mehr aus dem Ruder läuft.“ Paaldrag grunzte laut und schüttelte den Kopf. Brommil ließ sich nicht beirren. „Außerdem bin ich froh, dass ich mit meinem Leben endlich etwas Richtiges

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anfangen kann, außer von morgens bis abends irgendeinen Mist für andere zu arbeiten und mich damit abzufinden, dass ich bloß eine weitere Fliege auf dem Kuhfladen bin“, erklärte der Zwerg stolz. Leise und zögerlich ergänzte er: „Bisher bin ich immer nur darauf bedacht gewesen, am Leben zu bleiben und mich nicht um andere zu kümmern. Aber diese Gelegenheit, etwas Bedeutendes zu vollbringen, lasse ich mir nicht entgehen!“ Paaldrag schwieg. „Was ist nun mit Dir?“, drängte Brommil euphorisch. „Du bist niemals ein einfacher Soldat gewesen, dafür bist Du nicht blöd genug! Du könntest uns sicher helfen!“ Paaldrag knurrte: „Das versuche ich ja die ganze Zeit! Aber ihr hört nicht auf mich! Schon lächerlich, dass ihr alle dieser Halbelfin vorwerft, sie wäre noch ein Kind und dass sie unvernünftig sei. Ihr seid selbst viel schlimmer. Laura ist außerdem weitaus älter, als viele Tiere je werden könnten.“ „Gut, dass Du sie ins Spiel bringst“, grinste Brommil. „Sie ist ein Paradebeispiel dafür, wie viel Kraft und Freiheit die Jugendlichen noch – naturgemäß – in ihrem Geist haben, bevor die Leiden des Alltags sesshafter Gemeinschaften sie abstumpfen und verbrauchen. Laura kennt die armselige Mühe zu ihrem Glück noch nicht, die es macht, am Ende eines langen Bauernjahres einen läppischen Laib Brot in den Händen zu halten. Ich wollte Dir auch schon vorschlagen, Dir mal ein Beispiel an ihrer Energie zu nehmen und an ihrem ... Mut.“ Paaldrags Lächeln wich einer wütenden Fratze. Er spannte die Muskeln an. Seine Stummelflügel spreizten

sich drohend. „Hast Du mich damit gerade einen Feigling genannt?“, brüllte der Chimärier erschreckend laut. Brommil sah mit einem gequälten Lächeln zu ihm auf und schluckte. Er verneinte mit belegter Stimme. „Gut! Sonst wärst Du in die Suppe gekommen!“, grollte Paaldrag und stampfte aus dem Haus. Sein Kopf und seine Schultern streiften den Durchgang so fest, dass Steinchen abgesprengt wurden und er eine dünne Wolke aus Steinstaub hinterließ. Brommil sah ihm wütend nach, doch seine Miene verwandelte sich schnell zu einem wissenden Grinsen. „Erwischt“, murmelte er. Brommil deutete die Überreaktion des Chimäriers als Flucht nach vorn: Der riesige Schuppenbrocken hatte ganz profane Angst. Einer der wenigen Sätze, den Brommil von seinem Vater gelernt hatte: „Wer laut auftritt, will bloß Unsicherheit verbergen und ist sich seines Selbst nicht sicher.“ Mèras Hände zitterten. In ihrem dunklen Gefängnis griff sie immer wieder in die dunklen Wände, stemmte die Füße hinein und zog sich höher und höher. Der Weg schien endlos, als wüchse er geradewegs zu unsichtbaren Sternen hinauf. Zudem waren die Wände weich und rutschig. Mèra musste jedes Mal mit voller Kraft zufassen, um nicht abzurutschen. Allmählich wurden ihre Finger müde und schwach. „Du bist wirklich ein mutiges Täubchen“, sprach eine verzerrte Stimme neben ihrem Ohr. Über rissige Lippen strömte fauliger Atem. „Aber der Falke hat Dich gefunden.“

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Ein grauer Kopf schwebte neben ihr, gerahmt von einem weißen Haarkranz und einem dünnen weißen Bart. Blaue Adern traten an den Schläfen hervor und dunkle Falten zogen sich zu einem bösartigen Starren zusammen. „So sieht man sich wieder, Kanzler Rogáril“, murmelte Mèra und riss die Augen furchtsam auf. Instinktiv klammerte sie sich näher an die Wand. „Ja, ich bin zurück, meine Taube!“, höhnte Rogáril. „Und Dir werde ich als Erste die Flügel brechen!“ Durch Mèras Rücken schoss Eiseskälte in alle Glieder. Die Elfin bäumte sich auf und verlor den Halt an der rutschigen Wand. Rogárils Lachen hallte durch die Schwärze und übertönte ihren Angstschrei, während sie fiel. Der eiserne Griff war nicht mehr da. Mèra schlug auf den Grund. Doch ihre Knochen wurden nicht zerschmettert. Sie sank tief in den weichen Boden; nur ihr Kopf und eine Schulter lugten noch heraus. Sie blickte hoch. Ihr Ziel war zu weit entfernt, um es noch zu sehen. Entmutigt ließ sie den Kopf auf den Boden sinken. Erst jetzt spürte sie, dass er angenehm warm war und sich leicht bewegte, so als atmete er. „Natürlich, das ist es!“, lächelte sie. Sie wühlte sich vollends in den weichen Boden. Ihr Körper – das warme, schwarze Etwas – atmete weiter, und ihre Seele brauchte keine Luft; ohnehin war dies alles nur ein Bildnis ihres Unterbewusstseins. Auch die Schwärze der Umgebung verblich, die für ihr Unwissen darüber gestanden hatte, wo sie war. Mèra saß an einer rosenfarbenen Kommode vor einem Spiegel. Ihr Kamm strich durch die goldenen Wellen

ihres Haars. Vom Marmorboden bis zu den Deckenbögen flutete Sonnenlicht das königliche Schlafgemach. Sie war wieder jung und schön, hatte nicht mal all die Narben, die zweitausend Jahre Krieg ihr beigebracht hatten. Keine Spur von Falten und grauen Strähnen. Die Altersspuren hatte sie während der Wiedererweckung erlitten, als tölpelhafte Sterbliche – darunter Athónon – ihr Seelengefäß zerbrochen hatten. Wenn sie wenigstens gestorben wäre. Aber sie musste nun auf diese Weise weitermachen im Endlosen Krieg. Sie schüttelte die dunklen Gedanken ab. Es war ein Missgeschick gewesen, mehr nicht. Gerade mit einer ähnlich gequälten Seele wie Athónon sollte sie Mitleid üben. In ihrem Traum wandelte Mèra durch die warme Lichtflut ans Fenster. Sie blinzelte in die Sonnenstrahlen und schaute auf das Waldreich der Elfen hinab, ÂilonSàdil. Eine gigantische Eiche trug den Palast; die größten Zauberer des Reiches hatten das Naturwunder in einem einzigen Monat aus einer Eichel wachsen lassen. Vögel schossen durch die eigens für sie vorgesehenen Öffnungen in das Gemach und sangen für Mèra, Königin der Elfen und der Wälder. Cerýllion trat hinter sie, griff um ihre Taille und küsste ihren Hals. Sie legte genussvoll den Kopf in den Nacken, auf seine Schulter, und strich mit einer Hand durch sein weißes Haar, während die Finger ihrer anderen Hand die seinen suchten. Cerýllion berührte die Rinde des Fensterrahmens und duftende, bunte Phantasieblüten wuchsen Mèra entgegen. „Für Dich“, flüsterte Cerýllion in ihr schlankes Ohr. Mit demselben Atemzug fügte er hinzu: „Ich möchte

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Dir einen neuen Verbündeten vorstellen. Die Zeit, in der wir Elfen uns aus der Weltpolitik herausgehalten haben, ist vorbei.“ Mèra erstarrte, als sie Kanzler Rogáril hereinkommen sah. „Du hast den Feind in unser Schlafgemach eingeladen?“, wisperte sie ungläubig, ihre Knie sackten ein. „Aber meine Liebe! Das ist doch alles nur Propaganda!“, hörte Mèra Cerýllion heute noch rufen. Kanzler Rogáril, Anführer der Amdovenn, hatte einen Krieg angezettelt, der Hevanor in die Steinzeit zurückgeworfen hatte. Im Laufe der Jahrhunderte nach Kriegsende sprossen zahllose religiöse Kulte aus dem Boden. Geschichtliche Überlieferungen über die Amdovenn und den Krieg gingen immer wieder verloren oder wurden gefälscht, bis Wissen jeglicher Art schließlich als etwas Böses galt. Die nebulösen Wurzeln dieses Glaubens rührten daher, dass das Wissen um die Magie im Glorreichen Zeitalter so weit fortgeschritten war, dass die Amdovenn darauf aufmerksam geworden waren – aufmerksam und neidisch. Nirgends sonst war die Magie so stark wie in dieser Welt, geschaffen von den Ersten Göttern nach Überlieferungen der Dahnrud und Inferior. Hinzu kam, dass die Amdovenn heimatlos waren, ihr Nomadendasein jedoch beenden wollten ... auf einem Teil der Welt, den sie als angemessen bezeichneten, der jedoch unerhört groß war. Sie waren bereit, ihn sich mit Gewalt zu nehmen. Die legendären Vier Könige des Glorreichen Zeitalters – Mèra, Srrig, Randolph und T’ral – hatten alle Regeln

gebrochen und die Götter vor den Sterblichen bloßgestellt. Die Schöpfer der Sterblichen waren neugierige Erforscher gewesen, weit überlegen zwar, aber keine allmächtigen Wesenheiten. Nach dem Ende des Glorreichen Zeitalters verloren sie den Mut und das Interesse an ihrer Schöpfung und ließen die Dahnrud als ihre Stellvertreter zurück, die transzendierten Ureinwohner der Welt, die sogar noch älter als die Götter waren. Einige Götter kehrten nie wieder, andere jedoch entwickelten neues Interesse an ihrer Schöpfung. Die Vier Könige, von den Göttern zu unsterblichen Dienern gemacht, blieben zunächst auf einem leeren, zerstörten Hevanor zurück, um es neu aufzubauen und zu verteidigen. Doch es kam anders: Sie fielen einer perfiden Intrige des machtgierigen Drachen Schattenwacht zum Opfer und verschwanden für Jahrhunderte aus der Welt. In dieser Zeit konnte Schattenwacht sein Imperium aufbauen – bis Athónon und seinen Gefährten die Wiedererweckung der Vier Könige gelang. Doch die Halbgötter waren ihrer Gedächtnisse beraubt und über ganz Hevanor verstreut worden; es wäre den Göttern vorbehalten gewesen, ihre Diener zurückzuholen. Der Prophet Theb Nor, einer der größten Seher hevanorischer Geschichte, hatte all dies vor gut hundert Jahren gewusst. Als nach fast zweitausend Jahren zum ersten Mal wieder ein Späher der Amdovenn den Kontinent betreten hatte, versuchte Theb Nor seine gesamte Weisheit in seine berühmte Prophezeiung zu legen, um seine Heimat zu beschützen. Rasch galten er, seine Kinder und all seine Schüler als tot oder verschollen, Opfer der Verbündeten der Amdovenn, und die Verfälschung seiner Worte begann.

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Einer Legende zufolge kannte auch das Schwert von Theb Nor die genaue Bedeutung, jene heilige Waffe, die den Seher gegen Dutzende von Gegnern verteidigt hatte. Doch ging auch die Klinge wenige Jahre nach Theb Nors Verschwinden verloren. Wussten die Götter nicht, was geschehen war, oder waren sie immer noch von Schattenwachts Intrige befangen? Oder waren sie gar nicht mehr da? Schon lange hatte Mèra keine klare Botschaft mehr empfangen.

Nachdem Athónon Srrig von der Wache an Mèras Lager abgelöst hatte, traten zwei Nachtelfen in Srrigs Quartier ein: Pêraphèniel, der Älteste der Nachtelfen, und Sophéion, ihr bester Barde. „Nun, fehlt es Euch auch an nichts, seid Ihr gut untergebracht?“, fragte der greise Pêraphèniel und legte die Hände auf dem Rücken zusammen. „Danke, Ihr seid sehr großzügige Gastgeber“, antwortete Srrig und verneigte sich mit einer Hand auf der Brust. „Ihr habt uns gerettet! Wir stehen unendlich tief in Eurer Schuld. Wonach es Euch auch verlangt, Ihr müsst es nur sagen, mein Junge“, beharrte Pêraphèniel. „Im Moment bin ich wunschlos glücklich!“, lachte Srrig herzlich. „Mein Junge“ war er schon ziemlich lange nicht mehr genannt worden. Weder mit Haltung noch Miene verriet er sein Inneres. „Ich hörte, Ihr wollt uns sogar auf unserer Flucht in die Tiefe begleiten?“, fragte der Älteste.

„Ja, allerdings. Wir haben denselben Weg, also können wir zusammen reisen. Das ist vor allem für eine kleine Gruppe wie meine viel sicherer. Aber Ihr habt auch etwas davon, nämlich unsere Hilfe, falls es zu Überfällen kommt“, bestätigte Srrig. „Es ist sehr beruhigend, eine Truppe von so großartigen Kämpfern auf der eigenen Seite zu wissen – was auch immer Ihr in der Tiefenwelt sucht“, antwortete Sophéion an Pêraphèniels Stelle. Der Älteste nickte dazu. „Da ist allerdings noch ein Rätsel, das ich gern lösen würde“, begann Pêraphèniel langsam und legte nachdenklich einen Finger auf die Lippen. Er wanderte einige Schritte im Kreis. Srrig schwieg und wartete darauf, dass der Älteste weiterredete. Plötzlich trat Sophéion vor, zeigte mit dem Finger auf Srrig und rief: „Ein Dämon hat unseren besten Zauberer getötet und seinen Leichnam nach der Schlacht zu kontrollieren versucht! Wir konnten ihn gerade noch verbrennen. Dieser Dämon behauptete aus den Flammen heraus, dass Ihr an seiner Präsenz mitgewirkt hättet! Und das seltsame Gefühl in unser aller Köpfe, das wir in der Gegenwart des Dämons hatten, spüren wir nun in diesem Haus, in dem Ihr und Eure Kameraden untergebracht seid! Was sagt Ihr dazu, Tigermann?“ Der Barde trat an Srrig heran und reckte das Kinn. Der Halbgott reagierte darauf nicht. Seine Miene blieb leer. Er schob die Hände in die Ärmel und stand einfach da. Langsam bildete sich auf seiner Stirn eine Sorgenfalte. Im harmlosesten Fall sind sie einer Intrige zum Opfer gefallen und wurden gegen uns ausgespielt. Vielleicht ist es aber genau

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so, wie sie sagen. Mèra hat mir bisher nicht berichtet, was bei der Wiederbelebung der Nachtelfin misslungen ist. Den Tod zu betrügen ist ein Bruch göttlicher Regeln, und das ist ein Schlupfloch für die Amdovenn ... Pêraphèniel baute sich nun ebenfalls vor Srrig auf und fragte: „Habt Ihr gar nichts dazu zu sagen? Was wisst Ihr von einem Dämon, der sich selbst ,Kanzler‘ nennt? Er schien Euch jedenfalls zu kennen!“ Srrigs Kiefer knirschten, seine Miene wurde immer bekümmerter. Als die Nachtelfen sich ungeduldige Blicke zuwarfen, flüsterte Srrig: „Das ist unmöglich. Er kann Hevanor nicht betreten! Irgendein kleiner Späher der Amdovenn vielleicht, aber nicht er!“ Schattenwachts Intrige gegen uns beruhte darauf, den Göttern zu schwören, niemanden des Äußeren Volkes nach Hevanor gelangen zu lassen. Weil der Drache die Macht nicht teilen wollte ... Falls er seinen Schwur gebrochen oder bei seiner Aufgabe versagt hätte, wären die Götter auf den Plan getreten. Also, was ist hier los? Sophéion streckte den Zeigefinger in die Luft und rief wütend: „Offensichtlich konnte er es doch! Oder wie erklärt Ihr, dass ein geköpfter Zombie einfach weiterkämpft und sein abgeschlagener Kopf uns auslacht?“ „Gehen wir zu Mèra“, rief Srrig plötzlich. Er riss die Hände aus den Ärmeln und stürmte an den beiden Nachtelfen vorbei. Fêowyn und Athónon wechselten abermals Mèras Verbände und rieben ihre Wunden mit einer stechend riechenden Kräuterpaste ein.

Srrig stürmte neben Fêowyn und drängte: „Kannst Du sie aufwecken? Es ist wichtig.“ „Das wird ihr schaden“, brummte Fêowyn und schüttelte den Kopf. „Es ist wirklich sehr wichtig!“, knurrte Srrig ihm ins Ohr und legte ihm seine mächtige Hand auf die schmale Schulter. Fêowyn sah den Tigermann ausdruckslos an. „Sobald die Verbände gewechselt sind“, antwortete er bedrückt. Pêraphèniel stand am Fuß des Krankenlagers und starrte auf einen der wenigen sauberen Zipfel der Zauberdecke. Er ließ sich von Sophéion stützen, um sich hinzuknien. Ehrfürchtig nahm er dann den Deckenzipfel in beide Hände und hielt ihn sich näher vor die Augen. Ruckartig sah er zu Sophéion hoch. „Glaubst Du auch, dass dies ...“ „Nein, das sind nur Märchen und Bardenlieder“, erwiderte Sophéion entschieden. „Diese Ornamente ähneln nur zufällig den Überlieferungen.“ Srrig und Athónon warfen sich vielsagende Blicke zu, schwiegen jedoch. Pêraphèniel allerdings sah plötzlich lauernd zu Srrig und murmelte: „Diese Decke ist ja völlig kaputt und verdreckt. Ich lasse Euch sofort eine neue bringen!“ Von Sophéion gestützt, erhob er sich und zog die Decke mit sich. „Nein!“, schrie Srrig, sprang vor und entriss dem Greis die Decke. Die erschrockenen Blicke der Nachtelfen ignorierend, deckte er Mèras Beine wieder damit zu, soweit es trotz der laufenden Behandlung möglich war. Pêraphèniel und Athónon sahen sich in die Augen. Obwohl der Gnom scheinbar nur seine Steinmiene

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aufgesetzt hatte, verstand der Älteste es doch, darin die Wahrheit zu lesen. „Dies ist ein Original“, raunte er voller Ehrfurcht in Sophéions Ohr. Für einen Moment weiteten sich die Augen des Barden. Aber dann schüttelte er entschieden den Kopf und rief: „Das ist unmöglich! Mag sein, dass diese Fremden an die Legende glauben, woher sie die auch immer kennen. Doch es bleibt nur ein uralter Mythos, eine Geschichte fürs Lagerfeuer. Wir Elfen haben immer frei in der Wildnis gelebt, eine Königin und ein vereintes Elfenreich hat es nie gegeben. Daher kann es auch ihre magischen Heildecken nie gegeben haben, und dies hier ist deshalb auch nur ein verrotteter Wollfetzen voller Blut und kein heiliges Artefakt. Und wenn doch, müssten wir unsere Gäste wohl hart dafür bestrafen, dass sie einen heiligen Gegenstand unseres Volkes derartig haben verkommen lassen.“ Athónon blickte schuldbewusst zu Boden, doch nur Pêraphèniel bemerkte es und nickte leicht. „Nur eine Legende ... wie die Amdovenn.“ Fêowyn unterbrach den Streit und seufzte: „Ich könnte sie jetzt für einen kurzen Moment aufwecken. Ich empfehle, Eure Fragen vorher gut zu überlegen, denn sie wird nicht lange wach bleiben.“ „Ich weiß, was ich fragen muss“, antwortete Srrig düster. „Fang an.“ Fêowyn nickte und legte Mèra eine Hand auf die Stirn. Er schloss die Augen. Nach einigen Lidschlägen hoben er und Mèra gleichzeitig die Lider.

„Was hast Du getan?“, fragte Srrig eisig. Er ahnte die Antwort, durch diese und jene Andeutung seiner Reisegefährten. Er wollte jedoch die Bestätigung seiner Befürchtung hören. Mèra lächelte ihn nur an und wisperte: „Ich freue mich auch, Dich zu sehen.“ Sie verdrehte ein wenig die Augen. Die beiden kannten sich seit vielen Jahrhunderten, kannten jedes winzige Zucken in ihren Gesichtern und jede kleine Augenbewegung. Srrigs Miene erstarrte, dann grinste er plötzlich breit und sagte: „Wehe, Du stirbst!“ „Keine Sorge“, antwortete Mèra und lächelte unsicher zurück. Wieder verdrehte sich ein Auge für einen kurzen Moment. Srrig erhob sich und ging ohne ein weiteres Wort. „Ich muss nachdenken. Passt gut auf sie auf!“, rief er über die Schulter. Die richtige Antwort wäre „Fang mich doch!“ gewesen. Die echte Mèra hätte seine Anspielung verstanden, mit welcher die beiden sich in der Vergangenheit öfters geneckt hatten. Zu einer Zeit, als Cerýllion bereits das Elfenreich an sich gerissen und Mèra ins Exil geschickt hatte, trafen Srrigs Truppen und Mèras Rebellen sich, um gemeinsam gegen eine Übermacht der Amdovenn zu kämpfen. Nach Jahren sahen der König der Tigermenschen und die gestürzte Elfenkönigin sich wieder, die schon immer gute Freunde gewesen waren. „Du hattest recht, er hat mich verraten. Er hat mich nie wirklich geliebt, nur benutzt“, hauchte Mèra traurig.

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Srrig nahm sie sanft in den Arm und flüsterte zurück: „Nächstes Mal hörst Du einfach gleich auf mich.“ Sie drückte sich von ihm los. Unsägliche Trauer ließ ihre dünne Stimme vibrieren. „Wir müssen los. Auf in den Tod.“ Srrigs Miene erstarrte. „Wehe, Du stirbst!“, keuchte er. Mèras Blick sank zu Boden. „Es ist doch aussichtslos. Ich kann nicht mehr.“ Ganz langsam hob sie die Augen jedoch wieder, und im selben Maße verzogen sich ihre Lippen zu einem Lächeln. „Fang mich doch!“, rief sie plötzlich und rannte los. Im Stall, bei ihrem Schimmel, stellte er sie. Voller Sorge packte er ihren Arm und blickte ihr forschend in die Augen. Sie lächelte zuerst, doch allmählich blickte sie ebenso ernst zu ihm hoch. „Wieso hast Du es mir nie gesagt?“, fragte sie leise. „Du hattest Cerýllion“, antwortete Srrig. „Und wir stehen in der Öffentlichkeit. Ein Skandal hätte uns nur noch mehr geschadet.“ „Tja, das fällt jetzt auch nicht mehr auf“, lächelte Mèra verliebt zu ihm auf.

9 Einige Stunden später hatte Laura sich weitgehend erholt, was zweifellos an der Wirkung des magischen Heiltranks lag. Normalerweise hätte sie viele Wochen liegen müssen. Doch sie hinkte bloß noch leicht und ihre Rippen schmerzten kaum mehr beim Atmen. Jedenfalls, solang sie ruhig atmete. Ihre Gedanken kreisten wild und drohten über ihr zusammenzustürzen. Sie brauchte Zeit, sie alle zu sortieren, darum wollte sie sich vorerst ablenken und irgendetwas Sinnvolles tun, bevor sie durchdrehte. Vor Tarens Quartier rief sie seinen Namen und der Mensch bat sie durch den Türvorhang. „Ich will mit Dir üben“, verlangte sie und hielt zwei Holzschwerter hoch. Sie lächelte nicht, sondern schaute sehr ernst drein. Taren saß auf seinen Decken und fuhr sich durch den Bart, während er Laura undeutbar musterte. „Wenn Du üben willst, lass Dir von den Elfen eine Zielscheibe geben und hol Deinen Bogen, Mädchen“, wies Taren sie zurecht und verschränkte die Arme. „Im Nahkampf wirst Du nur den Tod finden, wohl eher früher als später.“ Laura warf die Holzschwerter in eine Ecke und stemmte die Hände in die Hüfte. Sie funkelte Taren böse an. Als der nur kopfschüttelnd sitzen blieb und die Hände auf die Knie legte, knurrte Laura: „Ich bin stark und war die beste Dorfwache meines Jahrgangs. Mein Geschick und Talent werden die Kraft ausgleichen, von der ein Menschenmann mehr hat. Meine Mutter war die

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Anführerin der Dorfwache, sie hat vor zwanzig Jahren in einem Krieg gegen die Tiefenweltler gekämpft und überlebt. Sie ist der Beweis, dass ich recht habe!“Taren blickte sie mit einer Mischung aus Spott und Mitleid an. „Mädchen ...“, begann er. „Sag nichts gegen meine Mutter!“, schrie sie. „Ich weiß, dass sie gefallen ist, verflucht!“ Laura sprang ihm wütend entgegen. Er packte zielsicher ihre Hände, bar jeden Erschreckens, und drehte ihre Finger so weit nach außen, dass Laura vor Schmerzen in die Knie ging und wimmerte. Vergeblich zerrte sie an dem eisernen Griff des Menschen, der noch immer ungerührt auf seinem Lager saß. Plötzlich ließ er los, packte sie aber sofort an den Ellbogen. Ehe sie reagieren konnte, warf er sich selbst auf den Rücken und sie über sich und über sein Lager hinaus in die Ecke. Beide sprangen gleichzeitig wieder auf. Taren schüttelte drohend den Kopf und starrte Laura finster an, während die Halbelfin erneut auf ihn zurannte. Diesmal hielt Taren einfach still, als sie ihn am Kragen packte. Sie ruderte mit ihrem langen Bein hinter Taren und wollte ihn mit einer Beinsichel umreißen. Sie hatte das Gefühl, eine Mauer einreißen zu wollen. Mühelos packte Taren sie plötzlich an der Hüfte, hob sie weit über den Kopf und warf sie wie einen Ball in die Ecke zurück. Mit großen Augen blieb sie diesmal an der Steinwand liegen und starrte den Tempelkrieger ungläubig an. Sie war schwer für eine Elfin, wog über 120 Pfund. Taren brummte: „Du bist nur ein Mädchen. Du wirst jetzt keine große Kriegerin. Versuchst Du es trotzdem,

wirst Du im Kampf getötet werden. Deine Mutter kannte ich nicht, aber ich sehe Dich und bin mir sicher.“ Laura kam auf die Knie und widersprach: „Meine Mutter war schlanker als ich, zerbrechlich geradezu, und ist trotzdem eine große Kriegerin geworden! Ihre Kraft war durch ihre Übungen sogar größer als meine. Ich werde das auch schaffen.“ „Sie hatte sicher mehr Zeit zum Lernen“, brummte Taren lustlos. „Und obwohl sie solch eine Heldin war, wie Du sie darstellst, ist sie getötet worden!“, knurrte er feindselig und ballte die Fäuste. Laura blieben die Worte im Halse stecken. Sie setzte sich in die Ecke zurück und ihr Blick sank zu Boden. „Nein!“, schrie sie plötzlich, unfähig, die Wahrheit zu akzeptieren, und sprintete los, mitten in Taren hinein. Sie prallte abermals wie gegen eine Wand. Taren wankte nicht einmal. Als sie seinen Hals packen wollte, stieß er sie mit einer Hand zurück und ohrfeigte sie mit der anderen – so sehr, dass sie als Nächstes erst wahrnahm, wie sie ausgestreckt auf dem Bauch lag und Taren neben ihr kniete. Ungläubig hob sie den Kopf und starrte Taren mit offenem Mund an. „Es geht nicht darum, Dich von einer gerechten Sache zu entmutigen, die Leistungen Deiner Mutter zu schmälern oder Dich zu kränken, Mädchen“, sagte Taren leise. „Ich rette gerade Dein Leben.“ Er legte ihr fürsorglich eine Hand auf die Schulter. Als er ihr hochhalf, holte sie mit dem Kopf aus, um ihm die Stirn auf die Nase zu schlagen. Ansatzlos aus der Hüfte schlug Taren ihr in den Magen, noch während sie ausholte. Diesmal setzte er seine volle Kraft und Technik ein.

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Sie war noch nie so hart geschlagen worden. Sie dachte, er hätte ihr einen Dolch in den Bauch gerammt und umklammerte die vermeintliche Wunde. Laura kniete atemlos am Boden und zitterte, gelegentlich klägliche Geräusche von sich gebend. Über sich hörte sie Tarens Stimme, nicht wütend, sondern ruhig und mitfühlend: „Und jetzt bedenke, dass jemand wie Srrig noch viel stärker ist als ich – und außerdem starke Krallen und Reißzähne hat. Wenn Du Dich vorbereiten willst, geh mit dem Bogen üben. Lerne beispielsweise, im Laufen zu schießen. Nur wenige beherrschen diese Kunst.“ Sie hörte nicht auf Taren. Laura ging mit den Holzschwertern zu Athónon. „Wie machst Du das?“, fragte sie ihn und hielt die Übungswaffen hoch. Athónon blickte sie fragend an. „Du bist viel kleiner und leichter als ich und doch besiegst Du große Kämpfer. Wie?“ „Glück ... und ein bisschen Erfahrung, Augenmaß und derlei. Aber in erster Linie Glück“, erklärte Athónon lustlos. „Das glaube ich Dir nicht!“, ereiferte sich Laura. „Es gibt kein Glück! Glück ist eine Ausrede, Wunschdenken! Bring mir bei, einen Krieger wie Taren zu besiegen!“ Athónon schnaubte durch die Nase und schüttelte den Kopf. „Du wirst nie jemanden wie Taren besiegen können. Er ist viel zu stark für Dich, und vor allem viel zu erfahren. Ich sehe es in seinen Augen und in seinem Gang.“ Laura ließ die Holzwaffen sinken. Ruhiger raunte sie: „Bitte. Ich will überleben.“

„Dann nimm Deinen Bogen und halt Dich aus dem Nahkampf heraus“, riet Athónon ihr. Sie verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen und schwieg den Gnom wütend an. „Vielleicht habe ich die Kraft von echten Kriegern unterschätzt“, gestand sie nach ein paar Lidschlägen widerwillig ein. „Aber jemand wie Du muss andere Wege kennen, denn auch Du bist schwächer als die Feinde, die Du getötet hast. Bitte verrate mir Dein Geheimnis.“ Athónon erwiderte seufzend: „Es gibt kein Geheimnis. Du kennst alle Techniken selbst, und an Entschlossenheit fehlt es Dir auch nicht. Ich halte mich aus Kämpfen raus, die ich nicht gewinnen kann. Ich kämpfe nur, wenn ich dazu gezwungen bin. Erfahrung und Glück, das ist alles. Jedenfalls alles, was ich habe. Geh zu Srrig, wenn Dir das nicht genügt. Er hat zweitausend Jahre Kampferfahrung. Vielleicht hat er, was Du suchst.“ „Cesius, Dein verstorbener Tempelkrieger-Freund, hat meine Mutter unterrichtet. Taren weigert sich jedoch, nun mir zu helfen“, berichtete Laura, ohne auf Athónons Worte einzugehen. Athónon machte einen Schritt auf sie zu. Rücksichtslos fragte der Gnom: „Und, hat es Deiner Mutter geholfen, dass Cesius sie unterrichtet hat?“ Laura starrte Athónon an, als hätte er ihr ins Gesicht gespuckt. Mit einem Wutschrei stürzte sie sich auf ihn. Er war sehr kräftig für seine Größe, sicher stärker als die Halbelfin, doch Laura war schwerer und hatte Anlauf genommen. Sie drehte sich ruckartig in der Hüfte und riss Athónon seitlich nieder. Blitzschnell sprang sie auf

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seinen Bauch und drückte seine Arme triumphierend zu Boden. „Ich war immer die Beste im Ringen! Jetzt zeig mir, wie Du Dich befreien würdest!“, schnaufte sie erwartungsvoll. Doch Athónon rührte sich nicht und blickte sie nur zornig an. „Herzlichen Glückwunsch, Du hast einen Gnom niedergerungen, der nur halb so schwer ist wie Du, aber fast dreimal so alt“, knurrte er. „Und, wirst Du jetzt gegen die Gnome in den Krieg ziehen? Wieso gehst Du nicht zu Srrig oder Paaldrag und legst Dich mit Deinesgleichen an?“ Plötzlich fühlte Laura sich schlecht. Sie stand auf und wollte Athónon helfen, doch der schlug ihre Hand aus. „Es tut mir leid, Athónon“, raunte sie und schlich mit hängendem Kopf davon. Die Holzschwerter ließ sie liegen. Ehrfürchtig rief Laura Srrigs Namen an dessen Türvorhang. „Komm ruhig näher“, hörte sie seine bedrückte Stimme. Gleichzeitig hörte sie ihr Herz immer lauter schlagen. Sie trat geduckt durch den Vorhang und einen Schritt weit in den Raum. Scheu sah sie zu dem Tigermann auf. Ihre Finger kneteten sich gegenseitig. „Herr ...“, begann sie unschlüssig. Srrig spazierte zu ihr, legte ihr sacht eine Hand auf die Schulter und fragte: „Was kann ich für Dich tun, Laura?“ Seine Krallen berührten ihre Schulter nur ganz leicht. Dennoch fühlte die Halbelfin sich sofort völlig hilflos einer tödlichen Gefahr ausgesetzt. Die Ausstrahlung des Halbgottes erdrückte sie nahezu.

Sie öffnete den Mund, ihr Kiefer zitterte. Für einen Lidschlag blieben ihre Augen auf den krallenbewehrten Zehen des Wesens hängen. Dann zwang sie sich, dem Tigermann ins Gesicht zu blicken. „Nehmt Ihr Schüler, Herr? Mich?“, wisperte sie. Srrigs Miene verfinsterte sich. Er legte nun seinen ganzen Arm um Lauras Schultern und führte sie zur Fensteröffnung. Dabei erzählte er mit sanfter Stimme: „Du hast einer wichtigen Halbgöttin das Leben gerettet und dabei sehr viel Mut bewiesen.“ Lauras Herz pochte lauter. Verbittert setzte sie Srrigs Schilderung fort, ihre Stimme bebte: „Aber ich bin nur ein Mädchen und kann keine Kriegerin werden. Ich soll mir einen Bogen nehmen und andere für mich sterben lassen. Ist es das?“ Inzwischen standen die beiden am Fenster, Srrig ließ sie los. „Sieh dort hinaus“, verlangte Srrig und zeigte nach draußen. „Wohin hat es geführt, dass sie das Kämpfen gelernt hatten?“ Laura sah erst unsicher zu Srrig, dann zum Fenster hinaus, wo etliche verwundete Elfen auf Decken herumlagen, wenn sie nicht gar auf nacktem Fels liegen mussten. Manche schliefen, andere stöhnten und schrien. Einige lagen reglos auf ihren Decken und starrten mit toten Augen zur Höhlendecke. Um das Krankenlager herum irrten Männer, Frauen und Kinder und riefen unter Tränen immer wieder Namen, ohne eine Antwort zu erhalten. Laura fühlte Tränen aufsteigen, rang sie jedoch nieder. „Ja! Sehr gut!“, sagte Srrig nah neben ihr. „Kämpfe Deine Gefühle nieder, bis sie nicht wiederkehren. Werde

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hart wie Stein! Lerne zu töten. Und dann ende genauso wie diese Nachtelfen hier. Deine Gefühle dürfen Dir nicht im Weg sein, wenn Du eine effiziente Mörderin werden willst. Denn das ist es doch, was Du meinst, wenn Du von ,Kriegerin‘ redest, nicht? Nur ein hübscheres Wort für dieselbe Sache: Eine Mörderin willst Du werden!“ Laura zuckte von Srrig fort. „Nein!“, schrie sie und schüttelte heftig den Kopf. „Ich will nur überleben!“ „Dann halte Dich aus dem Kampf raus, beginne keinen Kampf und Du wirst überleben“, konterte Srrig trocken und legte die Hände auf den Rücken. „Aber dann werden andere sterben, die mich beschützen wollen!“, widersprach Laura. „Dann nimm sie mit, sie sollen auch nicht kämpfen. Wenn niemand kämpft, wird auch niemand sterben“, sponn Srrig den Gedankengang weiter. Laura senkte hilflos den Blick, verschränkte die Arme und zog die Schultern hoch. Srrig hob den Zeigefinger in ihre Richtung und setzte noch nach: „Ich habe von Anfang an gesagt, dass niemand mich und Mèra begleiten soll. Jetzt weißt Du, warum.“ Laura ließ die Tränen frei. „Ich will keine kalte Mörderin werden!“, beteuerte sie. „Aber ich kann doch nicht immer nur weglaufen! Wollt Ihr etwa zu viert das Imperium besiegen?“ Srrig blickte sie ausdruckslos an und legte die Hände wieder auf den Rücken. Als sie ihn fragend musterte, raunte er tonlos: „Nur weiter.“ Laura suchte fieberhaft nach Worten. Sie schniefte leise, wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und rief:

„Vielleicht bin ich nur ein naives Mädchen. Vielleicht sind geübte Menschenkrieger viel stärker als ich. Aber wenigstens bin ich da, um zu helfen. Ihr müsst mich nur lassen.“ „Wenig überzeugend“, knurrte Srrig und schüttelte den Kopf. „Meine Mutter ist für diese Sache gestorben! Ich will wissen, wofür sie wirklich starb!“, bettelte Laura. „Sie konnte ja auch nicht weglaufen! Oder einfach die in Sicherheit bringen, die noch beteiligt waren! So einfach ist unsere Situation hier eben nicht!“ „Deine Situation schon. Du musst nicht selbst kämpfen, jedenfalls nicht vorne“, grinste Srrig. Als Laura erneut zum Sprechen anhob, bereits flehend den Kopf schüttelte und ratlos die Arme hob, legte Srrig ihr eine Kralle auf die Nase und flüsterte: „Es wird Zeit, dass Du ehrlich wirst, Mädchen. Ich kenne alle Ausreden. Ich kenne auch die Wahrheit. Aber es ist wichtig, dass Du zu Dir selbst ehrlich bist, bevor Du Deine Ausbildung beginnst.“ Lauras Mundwinkel zuckten kurz nach oben, doch nun überlegte sie fieberhaft, was Srrig gemeint haben mochte. Sie strich mit den Handflächen über ihre Tunika, während sie nachdachte. Plötzlich wurde ihr Blick traurig und sank noch tiefer. Sie entspannte sich. Dann antwortete sie matt: „Ich kann nichts anderes. Ich will meine Lieben beschützen, so gut ich kann, doch in meinem Elfendorf sind Kämpfernaturen wie ich bestenfalls geduldet. Ich werde nie eine Bardin oder sonst eine Künstlerin, damit dieses dekadente Elfenvolk mich als vollwertiges Mitglied akzeptiert. Ich werde in einem Elfendorf niemals glücklich werden. Doch

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hier habe ich eine wirkliche Aufgabe, und mein Volk und meine Freunde, meinen Vater und meine kleine Schwester beschütze ich damit auch, selbst ... falls es mein Dorf nie erfahren sollte.“ Srrig schaute sie ernst an. Laura neigte sich vor und schrie mit geballten Fäusten: „Ich kann nicht wegsehen! Ich kann die Dämonen nicht friedlich bitten zu gehen! Aber ich kann kämpfen wie eine Löwin! Ihr könnt mir nicht ernsthaft erklären wollen, dass das falsch ist, nur weil ich weniger Muskeln habe!“ „Nein, das kann ich nicht“, grinste Srrig und ließ Laura sprachlos am Fenster stehen. „Heißt das ...?“, stammelte sie glücklich. Srrig warf ihr zur Antwort ein schweres Holzschwert zu. „Der Geist ist die tödlichste Waffe des Kriegers. Aber nur, wenn er richtig mit ihm umzugehen weiß.“

Mèra schwamm durch ein schillerndes Farbenmeer. Manchmal musste sie gegen eine unsichtbare Strömung ankämpfen, und manchmal wurde sie mitgerissen und ein gutes Stück weiterkatapultiert. Seltsame Lebewesen in verschiedensten Formen und Farben drifteten in Schwärmen an ihr vorbei, manche beäugten sie dumpf. Je weiter sie aufwärtsschwamm, desto turbulenter wurden die Ströme, und inzwischen hatte sie das Gefühl, über Stromschnellen hinweggeschleudert zu werden. Plötzlich wurde sie in einen Strudel gezogen. Einige kleine Lebewesen wirbelten darin hilflos im Kreis und wurden

ins Nichts gezerrt. Es war dunkler hier als im restlichen Farbenmeer. Doch anders als ihr Körper war ihre Seele unverletzt und hatte noch Kraft. Sie kämpfte gegen den Strudel an und gewann. Grimmig schwamm sie weiter aufwärts. Sie wusste, sie hatte soeben ihre Wunden passiert und näherte sich nun dem Feind. Rechts von ihr pulsierte ein gleißendes Licht, das sie blendete und zahllose Strömungen erzeugte, die Mèra durchschüttelten. Links von ihr pulsierte ein zweites Licht, doch milder und ruhiger, wie ein Fels in der Brandung. Mèra war sich nicht sicher, was passierte, wenn sie von den starken Strömungen des Herzens angespült würde, also kämpfte sie sich durch die Mitte zum Kopf. Dumpfe Stimmen drangen durch das Farbenmeer an ihre Ohren, beinahe konnte sie die Worte verstehen. Srrig betrat erneut Mèras Quartier. Vor ihren Füßen blieb er stehen. Safériel überwachte an Fêowyns Stelle Mèras Zustand und tupfte immer wieder die kochende Stirn ab. Jetzt starrte sie beängstigt auf das bronzene Schwert, das Srrig in der Hand hielt. Die Stimme des Tigermenschen bebte. „Sie ist nicht Mèra. Der Dämon besetzt nur ihren toten Körper.“ Die Nachtelfin sprang auf. „Herr! Das könnt Ihr nicht tun!“, rief sie entsetzt. „Es muss einen anderen Weg geben!“ Sie trat wieder einen Schritt zurück, senkte den Blick und hob unschlüssig die Arme. „Außerdem wird es den Dämon nicht aufhalten. Als mein Gefährte diesen Zombie erschlagen hatte, ist der Dämon einfach in den nächsten toten Körper gewechselt. Wir haben ihn verbrannt, und

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nun ist dieser Kanzler angeblich hier.“ Sie stutzte und sah auf. „Woher wisst Ihr das überhaupt?“ Srrig musterte die Nachtelfin ausdruckslos, die nervös vor ihm von einem Fuß auf den anderen trat, sich am Arm kratzte, ihn nun wieder nicht ansah und wortlos die Lippen bewegte. Schließlich sagte Srrig ruhig: „Du hast es schon ausgesprochen. Der Dämon fährt in Leichen. Mèra ist tot. Ich werde nicht zulassen, dass ihr Körper noch länger entweiht wird. Jetzt geh zur Seite!“ „Woher wisst Ihr es?“, rief Safériel. Sie hob die Hände abwehrend und blickte Srrig direkt in die Augen. Die grazile Frau zitterte vor Angst. Als Srrig einen Schritt auf sie zu machte, weiteten sich ihre Augen und sie ballte die kleinen Fäuste, doch sie blieb standhaft. Mèra war unsterblich gewesen – sie war nicht gealtert. Doch gewaltsam töten konnte man die Vier Könige schon, insbesondere wenn sie geschwächt waren und ein Dämon seine Finger im Spiel hatte – also ein Feind, dessen Macht an die der Götter heranreichen konnte. Die Götter beschützten die Vier Könige und ließen sie nicht am Alter sterben, doch völlig allmächtig waren sie keineswegs – das dachten nur die Schwächsten der Sterblichen, die sich in einer gefährlichen Welt, die sie nicht verstanden, behütet fühlen wollten. Mèra erkannte Srrigs Stimme, der mit einer Unbekannten sprach. Sie verstand nicht alles, doch sie erkannte allein am Ton des Gesprächs, was Srrig vorhatte. Schließlich kannte sie ihn völlig auswendig. Die Strömungen schüttelten ihre Seele immer heftiger durch. Das Farbenmeer wurde rot und ein schrilles Summen scheuchte all die kleinen

Lebewesen auf, die sich in der Nähe befanden. So sah ihre Angst also in der Geisterwelt aus. Mèra sah die feindliche Präsenz als lichtlosen Schatten im Farbenmeer. Viele Strömungen umtosten den Dämon, doch wirkungslos. Zahllose kleine Lebewesen stürzten sich mit spitzen Zähnen auf ihn, wurden aber von einer plötzlichen Ausdehnung der Schwärze verschluckt. Der Dämon bemerkte Mèra nicht. Seine diffuse Seele waberte am Rande des Farbenmeers, klebte förmlich an der weichen, schwarzen Wand. Zweitausend Jahre Kriegserfahrung. Mèra wurde vollkommen ruhig. Sie hatte nur diese Chance. Der Dämon hatte Srrig ebenfalls gehört und war abgelenkt. Vermutlich dachte er gerade fieberhaft über einen Rettungsplan nach oder er suchte auf magischem Wege nach seinem nächsten Opfer. Mèra konzentrierte sich auf ihren Seelenkörper und wie er mit den Strömungen des Farbenmeers harmonierte. Als eine starke Strömung in Richtung Kopf an ihr vorbeipulste, verband sie sich damit und ließ sich wie ein Pfeil vorwärtsschießen. Alle Farben verblassten hinter ihr, das Wasser schmeckte, als sei ein Tier darin verendet – der Dämon hatte sie bemerkt. Sie hatte vielleicht nur einen einzigen Lidschlag, um Srrig auf sich aufmerksam zu machen. Plötzlich bäumte Mèras Körper sich auf und rang nach Luft. „Fang mich doch!“, würgte sie hervor. Im nächsten Moment fiel sie wieder schlaff in sich zusammen und lag reglos da.

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Srrig ließ das Schwert fallen und stürzte neben ihr auf die Knie. „Kann das sein?“, flüsterte er und drehte ihr Gesicht zu sich. „Seid Ihr beide da drin?“ „Es muss wohl dieser verdammte Heiltrank gewesen sein“, knurrte Kanzler Rogáril. Er rammte Mèras Seele und schleuderte sie fort, tiefer in den Kopf hinein. Das schwarze Wabern versperrte ihr nun den Weg, sie war gefangen. „Wie auch immer es zustande kam, dass Deine Seele noch hier ist, es erweist sich als großer Vorteil. Der verehrte König Srrig kann Deinen Körper jetzt nicht töten“, folgerte der Kanzler spöttisch. „Und im richtigen Moment werde ich eine Menge Unheil anrichten!“ „Du arbeitest wohl immer noch mit Cerýllion und Schattenwacht zusammen“, knurrte Mèra. Wie konnten die Götter all die Jahrhunderte lang den Verrat des Drachen und seine Intrigen nicht bemerken? „Ja, selbstverständlich!“, rief Rogáril höhnisch. „Das ist eine sehr gedeihliche Zusammenarbeit.“ Eine gehässige Höflichkeit vorspielend, fügte er hinzu: „Einen schönen Gruß vom alten und bald neuen König der Elfen soll ich Dir übrigens bestellen, werte Dame. Für diese dumme Geschichte mit dem Kopfgeld entschuldigt er sich vielmals. Wie war es eigentlich so im Exil? Zweitausend Jahre können ziemlich lang werden, nehme ich an, vor allem, wenn man ein paar Jahrhunderte davon in einer Seelenkugel eingesperrt ist.“ „Nun, es war nicht sehr angenehm“, begann Mèra und wurde ebenfalls sarkastisch. „Aber ich nehme an, Dein eigenes Exil, irgendwo jenseits Hevanors, hat viel mehr

Spaß gemacht. Stimmt es nicht, dass die Amdovenn ein heimatloses Volk sind, weil sie einen selbst verschuldeten Krieg gegen eine überlegene Macht verloren?“ Das schwarze Wabern schwieg für ein paar Lidschläge. Dann spottete Rogáril ebenso sarkastisch weiter: „Wirklich dumm, dass diese sterblichen Tölpel ausgerechnet Deine Kugel zerbrochen haben. Du hättest spätestens vorhin, als Du das erste Mal in die Tiefe gestürzt bist, Frieden finden können. Und jetzt musst Du mitansehen, wie ich Deine Gefährten nach und nach töten werde, weil sie mich nicht loswerden können – außer, sie töten Dich. Welch Ironie! Du hast sie zum Tode verurteilt, weil Du sie retten wolltest, anstatt selbst Frieden zu finden. Wirklich gekonnt, das muss man Dir lassen. Eines Dämons würdig.“ Triefend vor Sarkasmus, spielte Rogáril den Nachdenkenden: „Sag, hast Du nicht Interesse an einem Söldner-Vertrag bei uns? Wir bieten gute Bezahlung, Kost und Logis, und Du darfst Dich so schlecht benehmen, wie immer Du willst. Leute mit Deinem Ideenreichtum können wir gebrauchen.“ Mèras Seele, ein mattes Silberleuchten, wurde für einen Moment noch blasser und schwieg. „Wie auch immer, genug gespielt“, knurrte Rogáril. „Du wirst tun, was ich verlange. Als Erstes wirst Du behaupten, Dein Gedankenschutz-Zauber sei noch aktiv gegen Cerýllion. Los!“ Mèra entgegnete: „Ich kann Srrig nicht belügen. Er kennt jedes kleine Zucken in meinen Augen. Er würde sofort wissen, ob ich lüge.“ Das schwarze Wabern pulsierte schneller und vergrößerte sich drohend, schwieg jedoch.

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10 „Es war ganz seltsam“, berichtete Laura und schenkte Athónon dampfenden Tee ein. Laura wollte eigentlich weiterreden, aber sie starrte auf Athónon. Er lächelte tatsächlich. Er hatte sein Auge geschlossen und hielt murmelnd die Nase über den Tee. „Elfischer Rosentee mit ... mit ... Zimt? Nein ... doch! Und Nelken.“ Schließlich öffnete er das Auge wieder und fragte Laura: „Was wolltest Du eben erzählen?“ Laura grinste schief und berichtete. „Es war ganz seltsam. Er hat mich dazu gebracht, bis auf den Grund meiner Gedanken zu sehen und vollends zu akzeptieren, dass ich keine echte Elfin bin und niemals eine werde. Vorher war der Gedanke nur in meinem Kopf, aber nicht in der Seele. Verstehst Du? Und irgendwie ist es gar nicht schlimm! Denn ich habe etwas Besseres gefunden als ein Leben zwischen diesen naiven, oberflächlichen Elfen meines Dorfes. Aber Du kennst deren affektiertes Gehabe ja selbst.“ „Schon. Aber was meinst Du mit ,etwas Besseres‘?“, fragte Athónon und legte zweifelnd den Kopf schräg. „Ich habe eine Aufgabe und neue Freunde“, lächelte sie. „Und Dein Vater? Und Deine kleine Schwester?“, fragte Athónon und sank unmerklich zusammen. Auch er hatte seine Familie vor langer Zeit aufgegeben. Lauras Lächeln verblasste. Leise erwiderte sie: „Die werden weiterleben, wenn wir Erfolg haben. Dann kann ich sie besuchen.“

„Deine Hand zittert“, stellte Athónon unvermittelt fest. „Was, immer noch?“, rief Laura aufgebracht und starrte auf ihre zitternden Finger. „Tatsächlich“, knurrte sie mit einem unterdrückten Grinsen. „Dabei habe ich heute noch kaum praktische Übungen mit Srrig machen dürfen.“ Sie seufzte und griff ihren Teebecher mit der anderen Hand. „Auf jeden Fall weiß ich seit vorhin, was ein wirklich harter Schlag ist!“, grinste sie und hielt ihre zitternde Hand hoch. „Die Nachtelfen haben heißes Wasser zum Baden aufgesetzt. Im Haus nebenan“, berichtete Athónon nun. Laura schloss die Augen, legte genussvoll den Kopf in den Nacken und stöhnte laut. „Oh ... baden! Ich sollte gleich mitsamt dieser Kleidung in den Zuber steigen, aber dann ist das Wasser sicher nicht mehr zu gebrauchen.“ Plötzlich fielen im Sekundentakt Kekse auf den Tisch. Sie flogen aus Athónons Rucksack herüber. Nach dem zehnten Keks sprang Taffi hinterher, hob einen Keks mit beiden Händen zum Maul und starrte ihn gierig an. „Bedient euch!“, krähte Taffi, dann biss er eine große Kerbe in das Gebäck. „Ich frage mich nur, wo Zeeris steckt“, murmelte Athónon. „So lange war er noch nie fortgeblieben, seit wir ihn von diesem Dämoniden in der Wüste freigekauft hatten.“ Nachdem der Tee getrunken und die Kekse gegessen waren, folgte Laura den Dampfwolken aus dem Nebenhaus. Am Eingang begegnete ihr Taren. „Ich entschuldige mich für vorhin“, sagte sie sofort und blickte ihm offenherzig in die Augen.

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Taren nickte und lächelte dünn. „Schon gut. Ich hörte bereits von Deinem Gespräch mit Srrig. Er war vor mir hier, wir trafen uns.“ Zufrieden mit sich betrat Laura das Steinhaus. Sie stand in einem Raum mit einem Bruchsteinkamin an der Stirnseite und einem Bärenfell davor, das Laura sofort an ihre oberweltliche Heimat erinnerte. Zu beiden Seiten gingen Vorhänge ab und von rechts drang der Wasserdampf herbei. In der Mitte des Baderaums stand ein großer Holzzuber, in den Tanétiel gerade heißes Wasser aus einem Ledereimer goss. Durch das Fenster hielt ein anderer Junge den nächsten Eimer parat. Draußen heizte ein Grubenfeuer einen Kupferkessel. Der Boden des Baderaums lag etwas höher als im restlichen Haus, da er mit Holzstreben ausgelegt war. Durch die Zwischenräume der Streben konnte überschwappendes Wasser abfließen, außerdem war das glatt geschmirgelte Holz angenehm an den Füßen, stellte Laura fest, nachdem sie die Stiefel ausgezogen hatte. Als sie gerade ihre leicht schmierigen Wollsocken – die sie ja immerhin schon die ganze Reise über getragen hatte – von ihren verschwitzten Füßen zerren wollte, entdeckte sie links vom Türvorhang ein riesiges Stück polierten Obsidians an der Wand. Der Anblick dieses schwarzen Spiegels aus Vulkangestein zog Laura magisch herbei. Sie stellte sich davor, wog kokett die Hüfte hin und her, zog missbilligend den Bauch ein wenig ein und zupfte ihre fettigen, verdreckten Locken zurecht. Sie wirbelte auf dem Absatz herum. „Ist schon gut, Du kannst gehen“, sagte

Laura eilig zu Tanétiel. Wie ein Raubtier die Beute fixierte sie das Wasser. Der Junge schüttete noch einen letzten Eimer heißes Wasser in den Zuber, dann sprang er mit wehender Mähne durchs Fenster nach draußen. Neben dem Zuber fielen Laura einige Kupferfläschchen auf, während sie ihre unappetitlichen Socken zunächst neben ihre Stiefel fallen ließ. Sie nahm sich vor, ihre Kleidung später in einem einzelnen Eimer zu waschen und lieber doch nicht mit in den Zuber zu nehmen. Sie begutachtete die Fläschchen. Jedes enthielt einen anderen Duft, einer angenehmer als der nächste, auch wenn sie nicht alle erkannte. Das Kupfer machte das Raten ohnehin schwerer, doch Rose, Fichte, Lavendel, Steinklee und Zeder meinte sie zu erkennen. Sie mischte einige Tropfen Rose und Steinklee im Zuber und stellte fest, dass die Öle zusammen weniger gut harmonierten. Also schüttete sie vom Steinklee-Öl besonders viel nach und schmunzelte zufrieden. Laura zerrte ihre Beinlinge vom Körper, streifte die Tunika ab und warf beides achtlos zu ihren Stiefeln. Das Lendentuch und das Brusttuch, das sie als Unterwäsche getragen hatte, wiesen dicke Schweißränder auf, die sie sich gar nicht genauer ansehen wollte. Sie ließ beides nur noch fallen und hüpfte in den Zuber. Ihr Kopf sank auf den Holzrand nach hinten. Sie schlang die Arme um den Körper und schlief sofort ein. Obwohl sie tief in ihrem Hinterkopf spürte, dass bereits einige Albträume auf sie warteten, fühlte Laura sich so wohl, dass sie vorerst keine bekam. Nur einmal wachte sie

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kurz auf, als sie von draußen den verärgerten Ruf einer fremden Stimme hörte: „He, Jungs, weg vom Fenster, lasst die Frau in Ruhe!“ Nach einer Weile sah Laura im Traum jedoch ihre Mutter Jade, wie sie in einem smaragdgrünen Kleid dastand, das schwarze Haar halb im Gesicht, mit verweinten Edelsteinaugen, denen sie ihren Namen verdankt hatte. „Wie kannst Du Dich mit diesen Leuten einlassen?“, raunte sie. „Ehrst Du so mein Andenken? Du trinkst Tee mit Athónon, dabei hat er mich getötet! Du riskierst Dein Leben für diese Betrügerin, für die schon ich gestorben bin! Und jetzt haben sie Dir eingeredet, das wäre alles für eine gute Sache und Du könntest daheim sowieso nicht glücklich werden? Dein Vater und Deine kleine Schwester warten auf Dich und sind krank vor Sorge! Ich hätte nicht gedacht, dass man Dich so leicht beeinflussen kann. Auf mich hast Du nie gehört!“ Erschrocken setzte Laura sich auf und atmete heftig. „Vater!“, keuchte sie. „Wie konnte ich Dich so einfach übergehen?“ Laura wollte schon aus dem Zuber springen, da tauchte sie endlich auch ihre Haare unter, die bis eben trocken geblieben waren. Kurz und heftig rubbelte sie ihre Locken. So schnell, wie sie sich aufgeregt hatte, beruhigte sie sich aber wieder. „Das sind nicht meine Gedanken. Es sind noch nicht einmal meine Albträume!“, flüsterte sie mit großen Augen. „Raus aus meinem Kopf, wer immer Du bist! Ich falle doch nicht zwei Mal auf denselben Trick herein!“ Wütend sah sie sich um. Natürlich war niemand da. Doch Laura lächelte dünn, denn dies war

auch eine Form von Kampf – den sie soeben gewonnen hatte. Zufrieden legte sie sich wieder ins warme, duftende Wasser. Missmutig kniete Taren vor einem kleinen Zuber und rubbelte seine Kleidung auf einem Waschbrett sauber. Tanétiel, der Elfenjunge, der ihm das heiße Wasser gebracht hatte, starrte den nackten Oberkörper des Menschen unverhohlen an. „Wartest Du auf etwas?“, brummte Taren und blickte kurz auf. „Du bist ganz haarig! Und Dein runder Bauch hängt über den Hosenbund“, stellte Tanétiel mit der Ehrlichkeit eines Kindes fest. Taren hielt inne und sah den Elfenjungen finster an. Doch plötzlich grinste er dünn. Taren hatte schon vor Nenúriel Gerüchte darüber gehört, dass Elfen allesamt gertenschlank und nur auf dem Kopf behaart seien. Als Taren die Nachtelfin das erste Mal zu küssen begonnen hatte, schämte er sich plötzlich für seinen ausladenden Vorbau. Nicht dass er fett gewesen wäre, aber ein Krieger aß eben viel und gern, und als zu beleibt galt ein Krieger in Silberberg erst, wenn man die Bauchmuskeln nicht mehr auf der Wölbung sehen konnte. Überhaupt galt es in seiner Heimat als unmännlich, sich allzu sehr um das eigene Aussehen zu kümmern. Als Nenúriels Taille in seinen großen Händen förmlich verschwunden war, hatte er plötzlich innegehalten. Irritiert hatte sie ihn gefragt: „Was hast Du? Mache ich etwas falsch?“ Taren antwortete nicht, sondern strich sich über den Bauch.

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„Du bist süß“, hatte sie darauf bloß erwidert. Neugierig war sie mit den Fingern von seinem Nabel bis zur Brust gefahren und hatte dabei beobachtet, wie sich die schwarzen, kurzen Haare um ihre Fingerspitzen schlängelten. „Scheint harmlos zu sein“, hatte sie geflüstert und ihr Experiment mit den Lippen wiederholt. Taren ertappte sich dabei, dass er eine scheinbare Ewigkeit über dem kleinen Waschzuber gehangen und mit gequältem Blick ins Leere gestarrt hatte. Tanétiel trat von einem Fuß auf den anderen und legte die Hände ineinander. „Herr? Ist alles in Ordnung?“, fragte er zögerlich. Taren rubbelte wieder energisch seine Tunika über das Holz. „Ja, alles bestens. Danke für das Wasser“, brummte er leise. Srrig kam herein und fragte ohne Umschweife: „Du bist doch Tempelkrieger, Taren. Kannst Du eine Dämonenaustreibung durchführen?“ Taren rieb die Tunika immer langsamer über das Waschbrett, während er ausdruckslos ins Wasser starrte. Mit einer zähen Bewegung drehte er Srrig den Kopf zu. „Dämonenaustreibung?“, presste er mit heiserer Stimme hervor. Als er sah, dass Srrig es ernst meinte, weiteten sich seine Augen und sein Kiefer fiel herab. „Dämonenaustreibung?“, wisperte auch Tanétiel furchtsam, legte den Kopf in den Nacken und starrte zu dem Tigermann empor.

„Oh doch. Du wirst tun, was ich befehle!“, schrie Kanzler Rogáril. Der Dämon raste auf Mèra zu, aber es gab keinen Fluchtweg. Ihr gellender Schrei riss ab, als sie von der Schwärze durchdrungen wurde. Ihre dünnen Glieder zitterten, als sie sich langsam mit den Händen vom Fels hochdrückte. Sie roch Nachtluft, Schnee und nassen Stein, das Haar hing ihr ins Gesicht. Endlich hatte sie sich wackelig auf die Füße gearbeitet und hob den Kopf. Sie stank nach Schweiß und Angst ... wie eine Sterbliche. Mèra war nackt und allein. Eiseskälte schnitt in ihre Haut, ihre Zehen kribbelten taub. Weit und breit gab es nichts als nasse Felsen, die in die finstere Nacht aufragten. Kein Sternenlicht flackerte, kein Mond leuchtete ihr. Mèra zitterte heftig, rieb sich vergeblich über Arme und Beine und suchte den schwarzfelsigen Horizont ab. Blasse Atemwölkchen wehten unruhig aus ihrem Mund. Ihre nackten Eisfüße rieben abwechselnd ihre Waden. „Komm hierher!“, rief eine Stimme zwischen den Felsen, weit entfernt von ihr. Sie schüttelte ängstlich den Kopf und wich zurück, taumelte vor Schwäche. Gleichzeitig knurrte ihr Magen. Mutlos schloss sie die Lider und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Das ist nur das Fieber oder der nahende Tod. Dies alles ist nicht wirklich“, sagte sie laut. Ihre Stimme vibrierte vor Anstrengung. „Komm hierher!“, rief die ferne Stimme wieder, diesmal eindringlicher.

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Mèra stolperte zurück, riss sich die Haut der Zehen auf und stürzte schmerzvoll auf den Stein. Sie blieb liegen und schluchzte leise. Plötzlich legte ihr jemand eine warme Decke um die schmalen Schultern und sprach ihr sanft ins Ohr: „Komm mit uns ins Warme, Du hast sicher Hunger.“ Zwei Nachtelfen hatten Mèra gefunden und halfen ihr auf die Füße. Schweigend schlang sie die Decke um den Körper und ließ sich zu einer ganzen Gruppe von Nachtelfen bringen. Männer, Frauen und Kinder hielten magische Lichter hoch und blickten Mèra freundlich entgegen. Zweifellos wussten sie nicht, dass die gefallene Halbgöttin am Schicksal der Nachtelfen Schuld war, in ständiger Dunkelheit leben zu müssen. „Komm hierher!“, hörte sie abermals die Stimme hinter sich, noch viel ferner als zuvor. Der Weg zur Stimme wäre steil und steinig gewesen. Doch die Nachtelfen mit ihrer Nahrung und ihren Decken waren direkt bei Mèra. Sie durften nur nie erfahren, wer sie war. Die Nachtelfen folgten engen Tunneln voller Fledermausschwärme und Spinnweben. Die Wände und die Decken der Tunnel wurden von uraltem Gebälk gestützt, deren Erbauer schon lange vergessen waren. Sie gingen in die Tiefe. Mèra ließ sich stumm mit den Nachtelfen treiben. Sie hatte ihre Sprache verloren, als sie die Nahrung der Nachtelfen gierig verschlungen hatte. Ihre neue Sippe hatte ihr auch Kleidung geschenkt und gab ihr immer wieder Nahrung, und alles was sie dafür tun musste, war beim Lagerfeuer die Laute zu spielen. Sie spielte auf der

Laute eines toten Halbelfen, dessen Namen sie vergessen hatte. Sie sang nicht, sie hatte keine Stimme mehr, aber ihr wehmütiges, meisterliches Lautenspiel verzauberte jeden Zuhörer – und zwar um so mehr, je tiefer das Volk in die Höhlen hinabging. In der Dunkelheit war Mèra blind geworden, doch sie musste nichts sehen. Sie spielte immerfort nur die Laute, wenn ihre Sippe nicht gerade weitermarschierte, immer tiefer in die Erde hinein. Stets waren sie auf der Flucht vor Feinden, die Mèra nicht mehr kannte. Sie umarmte die Laute sogar im Schlaf, damit sie spielen konnte, wenn sie Angst bekam. Ihre Welt wurde immer kleiner und einfacher. Andere kämpften und starben für sie. Sie wurde die zweite Gefährtin des Anführers und blieb die meiste Zeit in seinem Bett. Ihre Sippe ließ sich schließlich in der Nachbarschaft Inzucht treibender, tumber Schlangenmenschen nieder, die auf dem Bauch umherkrochen und geistlos heulten. Die Nachtelfen gaben ihnen Nahrung und gelegentlich ein Blutopfer, dafür halfen die klügeren Schlangenmenschen der Sippe im Kampf. Durch dieses Bündnis mussten die Nachtelfen nicht länger auf der Flucht leben. Als Mèras Musik längst alle auswendig kannten und der Anführer ihrer Nähe überdrüssig wurde, war sie an der Reihe, den Schlangenmenschen geopfert zu werden, denn sie konnte nichts außer ihrer Musik für die Sippe beisteuern und war stumm und blind. „Komm hierher!“, rief da jene Stimme aus der Ferne, die sie vor langer Zeit schon einmal in den Felsen gehört hatte. Dieses Mal hatte sie jedoch nichts zu

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verlieren und rannte blind davon, nur von der Stimme geleitet. Sie brach sich die Zehen an spitzen Felskanten, schlug mit der Stirn gegen Hindernisse und riss sich bei Stürzen auf Eisesglätte Knie und Ellbogen auf. Aber sie hielt nicht an. Mit jedem Schritt wurden ihre Gedanken wieder klarer und kehrte ihre Sicht zurück, nur sprechen konnte sie nicht. Unbequemen Wahrheiten entfloh man gern, doch änderten sie sich davon nicht und jedes Fliehen machte den Flüchtigen ängstlicher. Der Preis der Umkehr wurde zudem immer größer, je länger man sich etwas vormachte. Und Mèra machte sich vieles vor ... Der Rufer, der Mèra gerettet hatte, war Randolph, König der Menschen im Glorreichen Zeitalter. Er stand als ruhiger Riese vor ihr mit langen braunen Haaren und Muskelbergen, die sogar die von Srrig übertrafen. Ein unmerklicher Duft von Wald und Moos umgab ihn. Tiefe Sorgenfalten hatten sein nobles Gesicht gezeichnet, doch auch nach all den Jahrhunderten loderte in seinen dunklen Augenhöhlen noch Feuer. Wie immer war sein Gesicht gänzlich glatt rasiert; das war sein persönliches Symbol für die Macht der Ordnung, die Menschen allen Dingen geben konnten. Hinter Randolph stand T’ral – der Feuerbringer. Er war eine archaische Gestalt, die vielen primitiven Völkern schon lange vor dem Glorreichen Zeitalter als Gott erschienen war. Die Amdovenn hatten ihn für einen anderen Krieg erschaffen, Jahrtausende bevor sie sich erstmals Hevanor zuwandten. Als vierter König, Anführer

der dämonidischen Rebellion auf Hevanor, hatte er sich Mèra, Randolph und Srrig angeschlossen. Mèra zog sich unwillkürlich zurück. Aus der zerschlissenen Kutte des Dämoniden stieg Rauch auf und der Gestank brennenden Fleisches. Seine Klauen hielten einen verkohlten Stab, auf den er seinen verkrümmten Körper stützte. Sein Kopf ähnelte dem eines Chimäriers, doch glichen seine Schuppen glühenden Kohlen. Das Schlimme an T’rals Äußerem waren die blutroten Schlangenaugen, die jeden Betrachter wie Feuer berührten. „Was ist? Sag was!“, knurrte T’ral bloß mit verzerrter Stimme. Mèra konnte nicht antworten. Als sie wimmernd vor seine Füße stürzte, schüttelte er verächtlich den Kopf und hinkte davon. Er setzte sich auf einen Thron aus Knochen von Nachtelfen und Schlangenmenschen. Seine lodernden Augen sahen kalt auf Mèra und Randolph herab. „Bringt beide weg!“, hörte Mèra seine Dämonenstimme von den Wänden widerhallen. Wo Srrig war, wusste sie nicht. Randolph legte ihr eine Hand auf die Schulter und sagte mit fester Stimme: „Vergiss nicht, Du hast trotzdem den richtigen Weg eingeschlagen.“ Sie würden Randolph nicht befreien. Plötzlich wusste Mèra es, auch wenn sie den Grund noch nicht verstand. Doch sie würden ihn zurücklassen. Noch eine unbequeme Wahrheit. Mèra spurtete in die Regennacht hinaus und erreichte einen schmalen Pfad. Grabhügel waren daran aufgereiht. In kleine, flache Gedenksteine waren die Gesichter der Verstorbenen mit Säure graviert.

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Mèra erkannte Jades Gesicht auf dem ersten Grab. Sie blieb kaum stehen und eilte traurig weiter. Regen wurde zu Schnee, dazu schnitt eisiger Wind wie ein Messer durch ihr Gesicht. Obwohl sie das blaue Glimmen der Nacht sonst genoss, fühlte sie sich hier nur von unheilvollen Schatten belauert. Das zweite Grab war Lauras. Mèra stockte und kam näher. „Nein, nicht auch Du!“, flehte sie gen Himmel. Der Schneeregen wurde stärker, längst war Mèra durchnässt und zitterte vor Kälte. Kleine Hagelkörner wurden ihr vom Eiswind in die Augen geschleudert. Sie schlang die Arme eng um den Körper und stapfte weiter, einem anschwellenden Schneesturm entgegen. Am dritten Grab lag ein Stein mit Athónons Gesicht. Taub vor Kälte und Schmerz fiel Mèra auf die Knie. Sie hielt sich die Hände vors Gesicht und versuchte vergeblich zu schreien. „Du hattest von uns allen das größte Herz“, schluchzte sie leise. Das letzte Grab war ihr eigenes. Mèra schleppte sich mit letzter Kraft darauf und brach zusammen. Sie kämpfte nicht länger gegen die Kälte und den inneren Schmerz an, die sie langsam töteten. Schneeflocken begannen sie zu bedecken. „Willst Du es wirklich so enden lassen? Du hast immer noch eine Wahl“, hörte sie eine entrückte Stimme hinter sich. Die Schneeflocken glitzerten in einem unruhigen Licht, das Mèra wie eine Decke umspielte und wärmte. Sie wandte den Kopf herum. Erst wurden ihre Augen immer größer, doch dann lächelte sie. Das fremde Licht verströmte Lebenskraft, so fehl am Platz es auch in der seltsamen Winternacht anmutete. Eine

andere Stimme aus der Mitte der Präsenz sang: „In den Dahnrud hast Du Dich geirrt. Es ist nicht unser Interesse, das Äußere Volk nach Hevanor eindringen zu lassen. Noch ist es unser Interesse, Dich und Deine Begleiter zu quälen. Doch sind wir nur wenige und können den Krieg nicht allein auskämpfen. Noch können wir Deine Gefährten von ihrem Schicksal und den eigenen Wegen Eurer Götter entbinden. Aber Deine Gefährten könnten bei Srrig sicher sein. Du könntest mit uns kommen und den verdienten Frieden finden. Oder aber wir geben Dir Deine alte Kraft zurück und Du begleitest Deine Freunde weiter, so schwer der Weg auch werden mag. Es ist Deine Wahl! Sie rufen schon nach Dir und bekämpfen den Amdovenn. Doch allein werden sie keinen Erfolg haben. Eine Seele werden wir heute mitnehmen, Deine oder Rogárils. Aber welche, das entscheidest nun Du.“

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11 Srrig und Taren standen vor Mèras Lager, auf dem die Elfin sich unruhig hin und her warf. Safériel kniete neben ihr, tupfte immer wieder kalten Schweiß von der Stirn und benetzte Mèras Lippen mit Wasser aus einem Eimer, den Tanétiel gebracht hatte. Auch der Junge stand im Zimmer, allerdings hinter Taren und von tiefer Furcht gezeichnet. „Was immer sie hat, es kann kein Dämon sein. Dämonen können Hevanor nicht betreten, auch nicht als körperlose Präsenzen“, erklärte Taren voller Überzeugung. Er verschränkte die Arme vor der Brust und richtete den Blick starr auf Srrig. „Unser Widersacher mag ein astraler Diener des Drachen sein, aber kein Amdovenn. Dieses Volk wurde vor zwei Jahrtausenden verbannt.“ Der Tigermann sah düster zum Tempelkrieger hinab. „Glaub es mir, mein Freund. In diesem Körper kämpfen gerade zwei Seelen miteinander, und die eine gehört nicht nach Hevanor“, raunte er. Taren seufzte leise. „Ich habe Legenden und Märchen über Dämonenaustreibungen gehört, aber ich habe so etwas noch nie gemacht“, gab er kleinlaut zu. „In ganz Silberberg gibt es nur zwei Hohepriester, die sich damit auskennen. Bisher habe ich die immer nur belächelt.“ Mit unterschwelliger Furcht in den Augen fragte er Srrig: „Wie ist das möglich? Wie lange sind die Dämonen schon unter uns, ohne dass Tempelanhänger wie ich es wissen? Wissen es wenigstens die Hohepriester?“ Schatten huschten über Srrigs grimmige Züge. Alte Schatten eines vergangenen Zeitalters, aus denen Srrig ein

Relikt war. Anstatt eine Antwort zu geben, musterte er Mèra in ihrem Fieberschlaf. Sie sind nie ganz fort gewesen. So gut waren wir nicht ... Ihr solltet nur nicht in Furcht vor ihnen leben. Wir schufen eigene Diener für den Krieg und weihten nur wenige andere Sterbliche ein. Der Königskult entstand. Theb Nor gehörte auch dazu, doch er brach das Schweigen ... „Ihre Lippen werden schon blau und ihre Haut ist ganz weiß!“, jammerte Safériel. Resigniert warf sie das Tuch in den Eimer, mit dem sie Mèras Stirn abgetupft hatte. „Außerdem wird sie immer kälter. Würde sie still daliegen, ich würde sie für tot halten.“ Srrig sah eindringlich zu Taren. „Du musst ihr doch irgendwie helfen können! Bitte Deinen Gott um Beistand für sie!“, verlangte er. Srrig glaubte keinen Moment, dass Taren mit einem magischen Gebet wirklich einen Kontakt zu den Göttern herstellen konnte. Vielmehr war er so freundlich, die Worte so zu wählen, wie der Tempelkrieger es aufgrund seines Glaubens gern hörte. Taren seufzte durch die Nase und kniete sich neben Mèra. Er nahm ihre Hand – und zögerte, denn sie war kalt. Düster ins Leere starrend, schloss Taren beide Hände um Mèras totengleiche Hand und begann zu murmeln. Da er kein echter Priester war, besaß er keinerlei Hilfsmittel, um solch eine Prozedur zu unterstützen. Er kannte keine heiligen Symbole für diesen Zweck und auch keine passenden Gesänge. Zudem fühlte er sich ohne den Anblick des Mondes unsicher; größere Rituale hätte der Diener des Nachtgottes normalerweise nur im Schein des Vollmonds versucht. Taren hatte nichts als den unerschütterten Glauben daran, dass er diese Elfin retten musste.

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Taren betete leise, wie es in seinem Tempel üblich war. Doch seine Worte wählte er inbrünstig. „Oh, mein Bruder Mond! Dein ärgster Feind hat diese Streiterin für das Gute überfallen, er hält ihre Seele gefangen und martert sie zu Tode. Befreie sie von dem ... Dämon. Kräftige ihren Körper, sodass sie ihre heilige Mission erfüllen kann.“ Mèra riss die zuckenden Augen auf. Sie wollte ihre Hand aus Tarens reißen, doch der Mensch hielt sie eisern fest. „Daraus wird nichts, Menschlein!“, schrie Mèras Körper mit Rogárils Stimme. „Ich bleibe hier! Ich werde Euch töten oder Ihr müsst mich töten – doch dann verliert Ihr auch Mèra!“ Der Kanzler lachte schrill. „Wunderbar! Das hat schon bei dieser Nachtelfin funktioniert, und jetzt funktioniert es sogar mit Mèra! Wie auch immer, Ihr verliert den Kampf!“ „Haltet sie fest!“, befahl Taren. Mèra versuchte aufzustehen. Srrig sprang neben Safériel und drückte Mèras Kopf und ihren anderen Arm zu Boden. Sie strampelte wild mit den Beinen, während Taren eindringlich weiter für ihre Seele betete. Angelockt vom Geschrei, stürmte auch Athónon mit Taffi ins Zimmer, gefolgt von Brommil und dem donnernd aufstampfenden Paaldrag. Nur Laura lag noch im Badezuber und bekam vom Geschehen nichts mit. Mèra schob sich mühsam auf die Knie und blickte auf die anderen Gräber zurück, insbesondere auf die Gräber von Laura und Athónon, von denen sie spürte, dass die beiden im Moment noch lebten. Hoffnungsvoll blickte die Elfin in das unwirkliche Licht der Dahnrud. „Und ich

werde wieder die echte Mèra sein, wenn ich mich für die Lebenden entscheide?“, raunte sie demütig. Obwohl Paaldrag die Beine festhielt und die Elfin sich kaum noch bewegen konnte, schrie Mèra und bäumte sich auf. „Was können wir tun?“, fragte Athónon ruhig und sah Srrig an. Dessen bittere Miene gab eine Antwort, die niemandem gefiel. Gerade als Athónon nickte und die Hand an den Schwertgriff legte, sprang Taffi auf Mèras Bauch und schrie die anderen mit erstaunlicher Lautstärke an: „Das ist nicht Euer Ernst! Es gibt einen anderen Weg – wir müssen ihn nur finden!“ Mutlos flüsterte Srrig: „Ich wünschte, es wäre so. Doch wir haben anscheinend keine Möglichkeit, den Dämon loszuwerden.“ „So werden wir ihn aber auch nicht los!“, schrie Taffi aufgebracht. „Er wird in die nächste Leiche fahren! Das wird immer so weitergehen, das musst Du doch sehen! Und Mèras Entweihung kannst Du nicht rückgängig machen!“ Schlagartig wurde der dürre Elfenkörper schlaff. Mèra schloss die Augen und atmete immer ruhiger, bis sie friedlich schlief. Safériel richtete sich hinter Srrig auf. Verwundert erklärte sie: „Ich habe dieses ungute Gefühl verloren, das der Dämon vorher verursachte.“ Taren machte ein Auge auf und sah skeptisch hoch. „An meinem Gebet hat es wohl nicht gelegen. Jedenfalls hatte ich nicht das Gefühl, dass ich schon zu dem Dämon

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durchgedrungen wäre.“ Er öffnete auch das andere Auge, bog den Rücken gerade und atmete durch. Srrig ließ Mèra nicht aus den Augen. Der Halbgott erhob sich und trat ans Fenster, um nach draußen zu spähen. „Scheint alles ruhig zu sein“, murmelte er. „Wenn der Dämon so einfach fort sein sollte, plant er etwas“, sprach Athónon Srrigs Sorge aus. Paaldrag ließ Mèras Beine los. Seine Pranken schwebten aber noch über ihren Knöcheln, so als erwartete er, dass die Elfin wieder loswütete und nur darauf gewartet hatte, losgelassen zu werden. Srrig kniete sich neben Mèra und strich ihr liebevoll über Wange und Ohr. Sie schmiegte im Schlaf ihr Gesicht in seine Hand und lächelte schwach. Ihre Haut färbte sich wieder. Der Tigermann fasste Mèras Schulter und rüttelte sacht daran. Die Elfin schlug tatsächlich die Augen auf und erwiderte glücklich seinen besorgten Blick. „Die Dahnrud haben Rogáril mitgenommen“, raunte Mèra. Tarens Augen weiteten sich sofort und sein Kiefer sank herab. Paaldrag und Brommil blickten neugierig und etwas verwirrt drein, während Srrig, Taffi und sogar Athónon zu lächeln begannen. Mèra strich sich durch ihr goldenes Haar. Erst jetzt bemerkte Srrig, wie die grauen Strähnen verschwanden. Auch die Fältchen in Mèras Gesicht glätteten sich; beinahe schon besaß sie wieder ihre jugendliche Schönheit von einst, bevor ihr Seelengefäß zerbrochen war. Sie sah sich im Raum um und musterte jeden Einzelnen, auch Taffi auf ihrem Bauch. Plötzlich schwand ihr Lächeln.

„Wo ist Laura?“, fragte sie ahnungsvoll. Srrig beruhigte sie: „Im Badezuber eingeschlafen, nehme ich an.“ Paaldrag und Brommil wechselten stumme Blicke. Schließlich räusperte Brommil sich und fragte: „Vielleicht bin ich ja nur ein dummer Zwerg, aber ... wer sind die Dahnrud?“ Taffi straffte feierlich den Hals und reckte das Kinn, sichtlich von Stolz erfüllt. „Die großen Brüder der Götter!“, antwortete er.

Cerýllion kniete in einer Flut kalten Silberlichts. Sein linker Fuß zitterte heftig, ansonsten zwang er seinen Körper zur Reglosigkeit. Er hielt den Kopf gesenkt und sprach: „Mein Gebieter! Dieser Gedankenzauber wird keine Spuren bis zu Euch hinterlassen.“ „Dann berichte“, forderte Schattenwacht. Cerýllion schluckte. „Die Dahnrud haben Kanzler Rogáril gefangen. Mèra lebt noch, und der Feind weiß nun von Rogáril und mir. Sie wollen die Nachtelfen in die Tiefe begleiten und T’ral befreien.“ Cerýllions feine Gesichtszüge ermatteten. Nun erwartete er sein Urteil. „Also eine Niederlage, die Du auf ganzer Linie eingefahren hast, Schüler!“, zischte der Drache. Jede Silbe stach wie eine Klinge ins Herz. „Kaum hat der Kanzler einen tiefer greifenden Zugriff auf Hevanor erlangt als nur Kommunikation, da wird er schon erwischt. Von einer Truppenstationierung der Amdovenn sind wir nun wieder weit entfernt. Und die Nachtelfen im Operationsgebiet wurden auch nicht vollständig vernichtet.“

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„Noch kann der Feind nichts ausrichten“, widersprach Cerýllion leise. Sein linker Fuß zitterte heftiger. „Sie dürfen T’ral nicht erreichen. Er ist Dir nach wie vor überlegen, ob Du das wahrhaben willst oder nicht. Mit T’ral werden sie bis zu mir durchkommen. Wenn sie mir aber zu nahe kommen und herausfinden, was ich vorhabe, werden die Götter und die Dahnrud mich angreifen. Das darf keinesfalls passieren! Genauso ist es, wenn ich Srrig und Mèra persönlich angreife; ich stehe unter Beobachtung, wie Du weißt. Selbst diese angeblich spurlose Verbindung hier sollte nicht zu lange bestehen. Also: Ich erwarte mehr Erfolg bei Deinem nächsten Plan. Fang sofort an, warte nicht darauf, ob ich Rogáril freibekomme oder ob jemand anderes seinen Platz einnimmt.“ „Ja, mein Gebieter.“ Wie ein unnatürlich schneller Sonnenuntergang verdunkelte sich der Raum, als das Silberfeld verblasste. In den vier Ecken loderten jedoch Feuerkugeln auf und erhellten die Bruchsteinwände wieder. Cerýllion befand sich in einem leeren Turmzimmer. Finsternis lauerte vor den winzigen Fenstern. Auf dem Boden verblassten Reste von Ritualkreisen, gezeichnet aus Blut und Kreide. Cerýllion erhob sich mit einer fließenden Bewegung und folgte flachen Stufen den quadratischen Turm hinab. Im Gehen bemerkte er einen Riss im Gestein. Er wischte mit der Hand darüber und der Riss verschwand. Nachdenklich blieb Cerýllion stehen. Er drehte sich noch einmal um, verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete den Ritualraum. Mit den Fingern einer Hand fuhr er sich am Kinn entlang und schürzte die Lippen, bis er schließlich

lächelte und mit den Fingern schnippte. Roter Wandputz kleidete das Innere nun aus, die Fenster wurden dick schwarz umrandet. Der Boden war auf einmal mit einem bunten Teppich der Tigermenschen ausgelegt, und auch die neuen Kissen in den Ecken entsprachen diesem Stil. Schmunzelnd spazierte Cerýllion weiter die Wendeltreppe hinab. Hinter ihm erloschen die Feuerkugeln. Im darunterliegenden Turmzimmer, das in Geruch und Ausstattung einer Kerkerzelle glich, hing ein augenloser Tiefenweltler an Ketten an der Wand. Als er Cerýllion hörte, knurrte er: „Wer immer Du bist, das wird Dir noch leidtun! Meine Leute werden die Festung zurückerobern! Für alles wirst Du bezahlen!“ Cerýllion ignorierte den Gefangenen und schlenderte weiter hinab ins unterste Turmzimmer. Hier standen vier messingbeschlagene Holztruhen in der Mitte, ein heller Schreibtisch und ein Haufen mit Kleidung und Decken. Die Truhendeckel standen offen. Eine Truhe enthielt unförmige Münzen aus Gold und Silber sowie klobigen Schmuck aus Bronze, Eisen und Messing, verziert mit Türkisen, Glas, Bernsteinen und ungeschliffenen Edelsteinsplittern. Die anderen drei enthielten unnützen Plunder, bunte Kleider, Fibeln und Armreife aus Kupfer, Zierrat aus Alabaster und Knochen, Geschirr aus Silber, Holz und Obsidian. Am Fuß der Turmtreppe erwarteten den Elfen zwei vieläugige, besonders haarige Sporks, bei denen die Spinnenbeine auf dem Rücken kurz geraten waren. Ihre orkische Herkunft, bevor sie in einem chimärischen

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Labor mit Vogelspinnen gekreuzt worden waren, erkannte Cerýllion sofort an Geruch, Gebiss und Muskulatur. Der Elf blieb vor ihnen stehen. Die Sporks warfen ihm eine nackte Tiefenweltlerin vor die Füße, wo sie zitternd kniete. Ihr kahler Schädel glich dem Leib einer Smaragdnatter, ihre Schuppung verlor sich die Wirbelsäule hinab jedoch mehr und mehr. „Sie hat alles gestanden, Herr“, gab ein Spork von sich; seine Stimme fiepte zwischen den Silben, der Spinnenkiefer arbeitete beim Sprechen. „Ihr Volk hat sich in der unterirdischen Feste nur zum Leben niedergelassen. Von der magischen Forschung des Imperiums hier wussten sie nicht mehr als wir.“ Der andere Spork ergänzte sabbernd: „Klom ist so klug! Er hat alles aus Kopf von quiekender Frau bekommen!“ „Halt ’s Maul!“, zischte Klom zur Seite. Cerýllions ruhiger Blick lag auf der zitternden Frau. Bis auf ein paar Schürfwunden und ein blaues Auge schien sie nicht weiter verletzt zu sein, wenn auch innerlich zerbrochen. Für einen Moment überlegte Cerýllion, ob er sich zur Abwechslung mal wieder mit einer echten Frau aus Fleisch und Blut vergnügen sollte, statt sich seiner meisterhaften Trugbildmagie zu bedienen. Seine Grausamkeit konnte er schon lange nicht mehr wahrnehmen, und er hatte alle getötet, die ihm einen Spiegel hätten vorhalten können. Der dümmere der beiden Sporks sabberte und gluckste, während all seine Augen von der trainierten Anatomie der Gefangenen gefesselt wurden. „Sie kommt in den alten Vorratskeller zu allen anderen“, befahl Cerýllion abfällig. „Klom, Du kommst mit mir, wir

müssen die Spähtrupps einteilen.“ „Ja, Herr!“, riefen die Sporks. Cerýllion spazierte weiter, gefolgt von Klom. Der andere Spork führte die apathische Gefangene ab. Sie durchschritten einen großen Steinsaal, der von Eichentischen und Kohlenbecken flankiert wurde. Die Kohlenbecken waren jedoch nicht entzündet, stattdessen schwebten magische, rauchlose Feuerkugeln über ihnen. „Wenn ich ,unversehrt‘ sage, dann meine ich das wörtlich!“, zischte Cerýllion in Kloms Ohr. „Aber so ging das Verhör viel schneller, wenn Ihr es schon nicht mit Eurer Magie gemacht habt“, murmelte Klom verständnislos. „Hätte nicht gedacht, dass Ihr edelmütig seid ...“ Ein magischer Schmerz explodierte in Kloms Kopf, verschwand aber gleich wieder. „Du sollst nicht denken!“, zischte Cerýllion giftig. „Du musst meine Gründe nicht verstehen“, fügte er gelassener hinzu. Er war nicht wirklich wütend, er hatte die Unglückliche den Sporks bei diesem überflüssigen Verhör überlassen, um seine Diener loyal zu halten. Insbesondere Kloms Kerkermeister und Verhörpartner würde dem Elfen noch lange dankbar sein. Alle ihm wichtigen Informationen hatte Cerýllion längst von dem Mann, der noch in Ketten im Turm hing. Vor dem geschlossenen Festungsgitter kam Cerýllion und Klom eine hagere, baumlange Gestalt entgegen. Schwarzes Fell hing verfilzt an dem Wesen herab. Sein

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Trollgesicht war verwest und an einigen Teilen bedeckten die verfaulten Hautfetzen nicht länger die gelben Knochen. Seine Pranken und bleichen Krallen wirkten bedrohlich wie überlange Dolche. Seine Augen stachen gefährlich aus tiefen Höhlen. Sie sprachen von den Schrecken des Grabs und des Totenreiches; von einem Wesen, das allen körperlichen Spuren zum Trotz dem Gott des Todes entkommen war. Vielleicht hatte es als Geist Jahrhundert um Jahrhundert an seinem Grab verbracht, ohne Sinn oder Ziel, ohne Körper, nur ein heulender Schmerz. Die Wiedergekehrten konnten dumpfe Zombies oder Erzschurken sein. Aber harmlos waren sie nie. Cerýllion und Klom blieben stehen. Klom senkte sogar das Haupt ein wenig. Cerýllion stemmte die Hände in die Hüfte, schob die magere Elfenbrust vor und lächelte. Der Geistertroll knurrte: „Danke, dass Du mich befreit hast, Elf. Brauchst Du noch einen Gefolgsmann?“ Seine Stimme spukte durch den Saal. „Aber gern“, grinste Cerýllion. „Wie heißt Du?“ Kloms Spinnenkiefer klappte auf, als all seine Augen sich wieder hoben und den Geistertroll betrachteten. Das also hatte sein Herr am Vortag in dem tiefen Gewölbe gefunden, was ihn so gut gestimmt hatte. Einen leibhaftigen Wiedergekehrten. Der Geistertroll grollte: „Meine Nummer war 16. Aber Nachtmahr würde mir als Name besser gefallen.“ „Also gut, Nachtmahr, ich bin Cerýllion. Neben mir steht Klom, der Zweite der Sporks nach Hauptmann Gaal. Komm mit, ich wollte gerade ein paar Spähtrupps einteilen lassen.“

Cerýllion hätte gern gewusst, wie alt der Wiedergekehrte war, was er alles gesehen hatte vom Wandel der Zeiten. Doch manche Dinge fragte man solch ein Wesen besser nie. Der Elf machte eine lapidare Handbewegung und das Festungsgitter öffnete sich. In der dunklen Höhle davor standen in Reih und Glied gut zwei Dutzend Sporks mit Speeren. Vor ihnen stand ein riesiger Spork in einem Eisenpanzer. Seine Spinnenbeine schmiegten sich um einen Schild auf seinem Rücken, während er in der Faust ein gezacktes Schwert hielt. Klom und Nachtmahr folgten Cerýllion bis zum gepanzerten Spork. „Herr! Eure Kampftruppe ist vollzählig angetreten!“, zischte Hauptmann Gaal böse. In seinen zahllosen Augen, von denen einige bis zu seinem breiten Hals hinabreichten, lag ein infernalisches Glühen. „Sehr gut“, nickte Cerýllion ausdruckslos. „Klom wird nun Männer für Spähtrupps einteilen, aber vorher wirst Du, Gaal, Dir die fünf wachsamsten aussuchen, die zur Verteidigung mit Dir hierbleiben. Der Geistertroll Nachtmahr wird mit Klom den Spähtrupp in den Gang nach Süden begleiten, denn von dort erwarte ich am ehesten, dass man uns angreifen wird.“ Gaal blickte zu dem Geistertroll auf. Er schwieg einen Moment unbewegt, bevor er Cerýllions Befehl nachkam.

Laura rubbelte in Tanétiels Schöpfeimer gerade ihre Unterkleidungs-Tücher sauber, als Mèra ihren Namen

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von draußen rief. „Ich bin gleich fertig!“, erwiderte Laura schuldbewusst; zwar konnte sie den Sonnenstand in der Höhle nicht sehen, doch sie hatte das Gefühl, dass sie aus purer Erschöpfung recht lange im Zuber geschlafen hatte. Das Wasser war kalt. „Ich habe etwas für Dich“, entgegnete Mèra. Die Stimme der Halbgöttin klang nach einem auf blühenden Frühlingsmorgen. Laura wusste nicht, was sie antworten sollte. Mit solch einer Stimme hatte sie Mèra die ganze Reise über nicht sprechen hören. Außerdem wurde sie neugierig, was die Elfin für sie haben mochte. Andererseits kämpfte Laura noch immer mit zwiespältigen Gefühlen für die undurchschaubare Frau. „Ich habe nichts anzuziehen. Ich wasche gerade meine Sachen“, rief Laura schließlich in Ermangelung einer besseren ablehnenden Aussage. Sie wollte sich ihren Gefühlen jetzt noch nicht stellen. Denn obgleich sie mit dem Kopf verstanden hatte, dass Mèra nicht schuld am Tod ihrer Mutter war, sondern allein der Mörder und sein Auftraggeber, schmerzte ihr Herz trotzdem noch blind vor Rachedurst und verlangte nach einem greifbaren Schuldigen. „Ich verstehe Deine Wut“, erwiderte Mèra sanft. „Ich erbitte nichts von Dir. Ich will auch den Tod Deiner Mutter nicht rechtfertigen, noch kann ich mich dafür entschuldigen, dass ich sie nicht habe zurückbringen können. Aber ich will Dir ein Geschenk machen. Du hast mein Leben gerettet!“ Laura blieb vor dem Wascheimer knien und schluckte. Sie lenkte ab: „Wieso geht es Dir jetzt wieder gut? Hat Dich jemand mit Zauberei geheilt?“

„Ja, allerdings. Soll ich lieber später in Dein Quartier kommen?“, fragte Mèra ungetrübt. Laura öffnete den Mund, schloss ihn wieder und öffnete ihn abermals, doch sie war sich über ihre Antwort nicht sicher. Sie konnte die ungerechte Wut auf Mèra, weil sie überlebte und Jade tot war, noch nicht bezwingen. Laura war aber auch wütend auf sich selbst und auf Athónon, weil sie nicht da gewesen waren, und wütend auf den unbekannten Feind. Sie wusste, dass ihre Mutter selbst die tödliche Entscheidung getroffen hatte, nicht Mèra. Vielleicht waren die Umstände, mit denen die geheimnisvolle Elfin Jade zum Mitkommen überredet hatte, manipulativ und hinterhältig gewesen. Aber Athónon hatte Jade diese Umstände erklärt; sie hätte umkehren können, doch hatte sie es nicht getan. Jade allein hatte die Entscheidung getroffen, ihr Leben für Mèra zu opfern. Laura hatte sogar die gleiche Entscheidung aus gleichem Grund getroffen und nur durch großes Glück überlebt. Es hatte einfach keinen Sinn, wütend auf Mèra zu sein, sowenig das Weglaufen eine Lösung war. Wieder und wieder befahl sie dies ihrem Herzen. Laura musste ihren Schmerz ehrlicher verarbeiten. Diese Lektion hatte sie von Srrig gelernt. „Komm herein“, rief sie traurig und erhob sich. Mèra lächelte die Halbelfin auf eine Weise an, die vieler Worte bedurft hätte, sie zu verstehen. Seine Wirkung verfehlte der Blick jedoch nicht: Alle Wut der jungen Frau verrauchte und Wärme breitete sich in ihr aus. Sie flüsterte: „Dein Haar, Dein Gesicht ...!“ „Ich bin wieder die alte, die echte Mèra.“ Dann hielt sie Lauras Kurzschwert samt Scheide hoch. Während die

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Halbelfin verdutzt ihr Schwert betrachtete, erklärte Mèra: „Ich habe es verzaubert. Für immer. Unsere Feinde wissen offensichtlich auch so, wo wir sind, daher muss ich mir keine Sorgen darum machen, dass solch ein Zauber meilenweit aufgespürt werden kann. Deine Klinge besitzt nun eine Seele, mit der Du Dich anfreunden musst. Gib ihr einen Namen und behandele sie immer gut und aufmerksam, dann wird sie Dir ein treuer Freund sein. In den nächsten Tagen braucht sie besonders viel Aufmerksamkeit, denn sie ist noch ganz unerfahren und verwirrt über die Welt, in die sie geboren wurde.“ Mit großen Augen und offenem Mund streckte Laura die Hände nach der Waffe aus. „Danke“, stammelte sie gerührt. „Eine magische Waffe ...“, raunte sie ehrfürchtig. Sie kannte so etwas nur aus Lagerfeuergeschichten über die größten aller Helden ... wie Athónon. Mèra sagte ernst und leise: „Solch eine beseelte Waffe stellt eine große Verantwortung dar. Vergiss nie, Du hast es nun mit einem empfindungsfähigen Lebewesen zu tun. Wenn Du sie schlecht behandelst und verkümmern lässt, wird die Magie mit der Zeit verschwinden. Die Seele wird sterben. Doch je glücklicher diese Seele bei Dir wird, desto stärker wird die Magie und desto besser wird sie Dir dienen. Was genau die Seele dieser Waffe für Dich tun wird, entscheidet sich in den nächsten Tagen. Es hängt davon ab, was Du Dir wünschst, was Du wirklich brauchst und wie Du Dich mit der Seele anfreundest.“ Wie ein Baby nahm Laura die Klinge in den Arm. Ehrfürchtig sah die Halbelfin dann zurück zu Mèra. „Ich danke Dir“, wiederholte sie. „Danke für Dein Vertrauen.“

„Du hast eindrucksvoll bewiesen, dass Du mein Vertrauen verdienst“, lächelte Mèra.

„Und, hast Du Dich entschieden?“, fragte Brommil und sah zerknirscht zu Paaldrag auf, als würde er die negative Antwort schon kennen. „Machst Du Dir etwa Sorgen um mich, Zwerg?“, knurrte Paaldrag und stemmte die Hände in die Hüfte. „Tut ja sonst niemand.“ Brommil senkte den Blick. Paaldrag legte den Kopf schräg und starrte den Zwerg überrascht an. Beinahe wäre er gerührt gewesen. Natürlich hätte er das niemals zugegeben oder gezeigt. „Es ist und bleibt ein Himmelfahrtskommando und ein religiöser Kreuzzug ohne jede Vernunft“, schimpfte der Chimärier und schüttelte missmutig den Kopf. „Dieses Märchen von den Dahnrud, den Götterfreunden und Ureinwohnern unserer Welt, fällt mir jedenfalls genauso schwer zu glauben wie alles andere, was Srrig und Mèra bisher erzählt haben.“ „Nun, finden wir doch die Wahrheit heraus! Oder hast Du etwa was Besseres zu tun?“, fragte Brommil abfällig. „Vielleicht ...!“, gab Paaldrag trotzig zurück und beugte sein riesiges Haupt zum Zwerg hinab. „Unsere Überlebenschancen würden sich beträchtlich erhöhen, wenn ein Ungetüm wie Du an unserer Seite wäre“, grinste Brommil dem Chimärier respektlos entgegen. „Außerdem könntest Du zweifellos Deine Pluspunkte bei den Nachtelfen vermehren, wenn Du ihren Marsch

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flankierst. Wer weiß, vielleicht mögen sie Dich eines Tages sogar. Viel Auswahl, wo Du noch willkommen bist, hast Du ja nicht mehr.“ Paaldrag richtete sich ruckartig auf und funkelte den Zwerg zornig an. Aus seinen Nasenlöchern stieg Rauch auf. „Ich sollte Dich ...“, grollte er, doch Brommil winkte ab und fiel ihm ins Wort. „Ach, hör schon auf mit Deiner durchschaubaren ,Ich bin ja so böse!‘-Masche. Du bist froh, neue Freunde gefunden zu haben! Du bist bloß wütend, weil Du sie nicht gleich wieder verlieren willst. Aber die Lösung ist ganz einfach: Überwinde Deine ... Sorgen und komm mit uns.“ Paaldrag verzog keine Miene und schwieg. Leise sagte er schließlich, mit nur wenig Sarkasmus in der Stimme: „Nett von Dir, mich nicht wieder einen Feigling zu nennen, wie beim letzten Gespräch. Bist gar nicht so dumm für einen Niederen.“

12 Der Festsaal im Statthalter-Palast von Pheraar bestand im Wesentlichen aus zwei Dingen: imperialen Flaggen, die von der Decke herabwehten, und Marmorliegen, unter denen glühende Kohlen für Hitze sorgten. Die Liegen befanden sich allesamt nah an den Wänden. Nur ein schmaler Gang für die Sklaven war dazwischen noch frei. Menschen und Orks überwachten die Kohlen, legten neue nach und schaufelten vorsichtig die Asche fort. Knapp oberhalb der Kohlen standen flache Tischchen vor den Liegen, auf die ein Elf mit verstümmelten Ohren ständig neues Fleisch nachlegte. Geriet beim Fortschaufeln Asche auf das Essen, wurden alle Sklaven mit Peitschenhieben in den Rücken bedacht, auch der Elf. Dafür standen eigens einige Chimärier in den Ecken des Saals parat. Auf dem warmen Marmor lagen Chimärier in roten und schwarzen Tüchern, die sich die Wänste vollstopften. „Wirklich köstlich, dieses junge Elfenfleisch!“, schwärmte ein Chimärier mit ergrauten Schuppen und rollte die Augen. In der Mitte des Festsaals, auf einer kunstvollen MosaikDarstellung des Imperators, standen Ressu und Gebrak, die chimärische Rassenforscherin und ihr Mensch. Sie waren die Drahtzieher der Gladiatoren-Flucht, bei der auch Srrig und Taren entkamen. Mit Eisenketten waren sie aneinandergefesselt. Sie schwiegen und wurden ignoriert. Zwei eisengepanzerte Chimärier mit Speer und Schild bewachten sie stumm. Die Armbrustbolzen hatten Ressus Schuppen während der zurückliegenden Flucht

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zersplittert. Das gelbe Blut war zu einer orangefarbenen Kruste angetrocknet. Ohne hinzusehen wandte sich der Chimärier mit den ergrauten Schuppen nun an die beiden Gefangenen: „So, und ihr behauptet ernsthaft, der ehrenwerte Richter Konndamur habe Euch hierher eingeladen, nachdem ihr irgendeine Mission in der Arena erfüllt hättet? Ein unfruchtbares Weibchen und ein Niederer, auf einer Mission für das Imperium? Lächerlich.“ „Bittet den Richter her, dann wird er meinen Bericht bestätigen“, verlangte Ressu mit fester Stimme und hochgerecktem Kopf. Ein anderer Chimärier setzte sich schwer seufzend auf seiner Marmorliege auf und rief: „Ich bin Richter Konndamur. Aber Euch kenne ich nicht.“ Ressu drehte sich zu ihm um und drehte sich sofort wieder zurück. „Das ist nicht Richter Konndamur“, grollte sie. Damit hatte sie ihre Behauptung, den Richter zu kennen, beweisen dürfen. Dem grau geschuppten Chimärier raunte sein Nachbar zu: „Wir sollten das Weibchen öffentlich hinrichten. Wir brauchen für diesen Mond sowieso noch eine Hinrichtung.“ Er stieß ein verärgertes Zischen durch die Nase und grummelte: „Falls sie aber die Wahrheit sagt, so unwahrscheinlich das sein mag?“ Einem der Soldaten am Eingang des Festsaals rief er zu: „Lasst Richter Konndamur höflichst zu mir bitten. Ich beanspruche seine Zeit nur ungern, doch ist seine persönliche Anwesenheit hier erforderlich. Sagt ihm, es geht um ein altes Weibchen namens Ressu.“

Kurz darauf ertönte eine Trompete. Die Chimärier standen von ihren Marmorliegen auf und blickten ernst zum Eingang. Ein grauschuppiger Chimärier mit gebeugtem Gang schlurfte in den Festsaal. Über einer schwarzen Robe trug er eine blutrote Schärpe mit der schwarzen Faust des Imperators darauf. In seiner Hand hielt er ein goldenes Zepter, dessen Kopf ebenfalls eine geballte Drachenfaust darstellte. Fünf Khorisser der imperialen Palastwache – durch Drogen aufgeputschte Elitekrieger – folgten dem Richter in gebührendem Abstand. Die Anwesenden salutierten mit ihren Fäusten auf der Brust. Richter Konndamur fixierte Ressu. Die beiden schwiegen sich an. Schließlich drehte Konndamur den Kopf zum grau Geschuppten, der ihn hergebeten hatte, und salutierte kurz. Konndamur erklärte mit nasaler, arroganter Stimme: „Statthalter Marrveg. Ich danke Euch für Eure Weitsicht. In der Tat ist mir dieses Weibchen bekannt. Da ihre Aktivitäten nicht in den Bereich der Stadt Pheraar fallen, braucht Ihr die Einzelheiten nicht zu wissen. Ich werde sie mitnehmen. Den Niederen schenke ich Euch als Ausgleich für die Unannehmlichkeit, er sieht ja durchaus kräftig aus.“ „Ihr seid sehr großzügig, Richter. Bleibt doch noch zum Essen. Ein paar junge Weibchen werden später für uns tanzen“, antwortete Marrveg höflich. „Ihr beschämt einen alten Mann“, lächelte Konndamur kühl. „Aber ich muss dieses Weibchen hier leider gleich mitnehmen und mich um äußerst dringende Geschäfte kümmern. Ich wünsche Euch dennoch viel Spaß.“

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„Wie Ihr meint, Richter“, erwiderte Marrveg mit einem gezwungenen Lächeln und salutierte. Die anderen Chimärier folgten seinem Beispiel, während Ressu von Gebrak getrennt und ohne Ketten vorwärtsgestoßen wurde. Richter Konndamur verließ den Festsaal wieder, gemeinsam mit Ressu und seinen Soldaten. Gebrak blieb mit finsterer Miene in der Saalmitte zurück. Konndamur ließ mit Ressu die hohen Säulen des Palastes hinter sich und trat auf die Pflasterstraße. „Es könnte uns beide den Kopf kosten, dass Du hier bist!“, knurrte er. „Jemand in meiner Position, mit einem unfruchtbaren Weibchen!“ „Ich weiß, aber ich konnte das Vertrauen des Tigermanns unmöglich erlangen! Wir brauchen einen neuen Plan!“, verteidigte sich Ressu. „Was ist schiefgelaufen?“, fragte Konndamur schroff. „Der Tigermann hatte noch andere Freunde in der Arena. Er hat gespürt, dass ich ihm nur etwas vorspiele“, berichtete Ressu. „Andere Freunde? Wie konnte er Deine Absichten spüren? Ich erwarte einen alles umfassenden Bericht, wenn ich meine Position und Reputation für Dich riskiere“, schnauzte der Richter. Ressu seufzte und schilderte: „Ich wollte den Verbündeten des Tigermanns mithilfe von Gebrak, dem Niederen, den Du gerade verschenkt hast, loswerden. Ich kannte Gebrak schon von früher, er war eins meiner Studienobjekte. Leider hat der Tigermann die Sache durchschaut, und von da an war klar, dass ich sein Vertrauen nicht mehr erlangen

würde. Es hatte gut angefangen, wir hatten ihn gefunden und gepflegt. Doch bei der inszenierten Gefangennahme wurde auch jener Mensch namens Taren gefangen, der den Tigermann ebenfalls schon zuvor gekannt hatte. Ich hatte Dir ja von Taren berichtet, dem Narren, der sich hatte zu uns locken lassen. Er wäre auch in der Forschung geendet, wie so viele vor ihm. Aber gut, das ist jetzt erst mal vorbei: Darrakos, mein einst geliebter Gefährte, ist tot.“ Konndamur knurrte: „Oder um es zusammenzufassen: Du hast es vermasselt. Ich war Deines Körpers sowieso überdrüssig.“ Konndamur winkte zwei seiner Wachen zu sich, zeigte nur auf Ressu und nickte. Weibchenmord nannten die Chimärier es. Solch eine Tat wurde hart bestraft, gab es doch nur sehr wenige Frauen bei ihrem Volk. Ressu jedoch war alt und fiel nicht mehr unter den Schutz dieses Gesetzes. Bevor sie richtig verstand, wurde sie von zwei Speeren durchbohrt. Mit einem erstickten Schrei sank sie zu Boden. „Unfruchtbare Weibchen erfüllen keinen Zweck“, knurrte Konndamur und ließ die Tote wegschleifen, deren Gesicht ihn noch immer entsetzt anzustarren schien. „Auf dieses überholte, eklige Balzverhalten kann ich bestens verzichten. Liebe, so ein Quatsch. Das ist was für Niedere.“ An einen seiner Soldaten gewandt, befahl Konndamur: „Bring mir General Veydrag. Sage ihm, ich setze ein hohes Kopfgeld auf einen flüchtigen Tigermann in Harkýior aus, der aus der Arena entkommen ist, gemeinsam mit einem Menschenmann.“ Zu sich selbst flüsterte Konndamur: „Du bist mir einmal entkommen, Tigermann, aber das wird sich nicht wiederholen. Ich werde das Geheimnis

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Deiner Kraft und Jugend ergründen, ich werde Dir die Unsterblichkeit entreißen!“ General Veydrag war der einzige General des Imperiums, dessen Schuppen noch nicht ergraut waren. Wirklich ockern waren sie allerdings auch nicht, sondern viel dunkler, und sie hatten schwarze Ränder. Es gab viele Gerüchte über Veydrag, gute und schlechte. Manche sagten, er höre die Stimmen archaischer Drachen, die ihn leiteten, die Stimmen der Inferior. Andere sagten, er besäße mehr magische Kräfte als mancher Bataillonsmagier. Alle waren sich darin einig, dass er einer der klügsten und gefährlichsten Generäle des Imperiums war, und einer der bösartigsten. Zwischen seinen dunklen Flügeln liefen seltsame Geburtsflecken die Wirbeldornen herab. Niemand kannte jene uralten Symbole, doch Veydrag wusste: Diese Geburtszeichnung stellte das Wort „Inferior“ dar. Inferior hießen die hochmagischen Vorfahren der Chimärier, gefallene Drachen, die nach einem tausendjährigen Krieg gegen die Götter und Dahnrud besiegt und in ein Exil jenseits der Wirklichkeit verbannt wurden. Doch sie waren nicht tot, dafür waren ihre Seelen viel zu stark. Schattenwacht war der einzige noch freie Inferior. Vor vielen Zeitaltern waren seine Brüder und Schwestern aus dem Himmel herabgestiegen, so wie auch Götter manchmal zwischen den Sterblichen wandelten. Doch die Inferior hatten nur eins gewollt: die Sterblichen versklaven, anstatt sie verliebt aus der Ferne zu beobachten und sie zu verhätscheln, wie die Götter es nach Meinung der Inferior taten.

Veydrag würde es nie zugeben, doch er sah sich als Sohn Schattenwachts. Er war sich nicht sicher, welche der Stimmen in seinem Kopf dem Imperator gehörte, doch er glaubte fest daran, dass einer der verschollenen Inferior, die in seinem Kopf sprachen und ihm die Kräfte der Urdrachen verliehen, der Imperator war. Veydrag war Stammgast im Brutborn von Pheraar und hatte dort sicherlich schon ein gutes Dutzend Nachfahren mit ebenso vielen der besten Mütter gezeugt. Keiner davon war wie er, ein dunkler Erbe der Inferior. Doch allesamt waren es Söhne geworden, stärker und größer als die meisten Chimärier ihres Alters. Töchter hätte Veydrag als Beleidigung empfunden. Veydrag durfte seine Söhne nicht oft besuchen, die Erziehung des Nachwuchses aller Chimärier oblag Spezialisten des Brutborns. Aber jedes Mal, wenn er seine Söhne sah, sah er heranwachsende, große Generäle und stolze Eroberer vor sich, strotzend vor Machtwillen und Stärke. Genau genommen freute es Veydrag ohnehin, dass er die mühselige Erziehung seines Nachwuchses nicht auf Kosten seiner Karriere selbst erledigen musste. Konndamurs Bote fing Veydrag vor dem Brutborn ab und überbrachte die Nachricht des Richters. Veydrag grinste dämonisch und erklärte: „Sag Deinem Herrn, ich mache mich sofort auf den Weg.“

„Die göttliche Stimme spricht nicht mehr zu uns! Was müssen wir tun?“, riefen einige Schlangenblüter ihrer

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Anführerin zu. Versammelt in einem Felsspalt, versorgte das kleine Volk Wunden, hielt die Hände von Sterbenden oder betete für die Toten. Die schwarzhaarige Anführerin mit der silbergrünen Schuppenhaut stand auf einem Felsbrocken und betrachtete die Reste ihres Volkes. Sie reckte das Schwert von Theb Nor in die Höhe, ein makelloses, eisernes Runenschwert mit langem Griff. Ihr Schlangenlispeln hallte durch die Schlucht: „Solange wir das heilige Schwert haben, besitzen wir auch die Gunst der Göttinnen! Es wird eine neue Stimme zu uns sprechen, glaubt mir!“ „Und werden wir noch mehr Artefakte gezeigt bekommen, wie diese Feuerball-Steine aus der magischen Truhe?“, zischelte eine zernarbte Veteranin mit grauen Schuppen. „Auch da bin ich mir sicher!“, erwiderte die Anführerin laut. „Wieso sollte es nur noch zwei Artefakte aus dem Vergessenen Zeitalter geben, wenn unsere Urahninnen wussten, wie sie Truhen herstellen konnten, die der Zeit trotzen? Ich bin sicher, wir werden noch mehr dieser Artefakte finden, vielleicht sogar noch mächtigere! Dies war nur der Anfang, Schwestern! Schon bald werden wir allein die ganze Tiefenwelt beherrschen!“ Die Schlangenblüter jubelten ihrer Anführerin zu und riefen ihren Namen, Khassedra. Sie jedoch lächelte nur dünn. Aus Verzweiflung, um ihre Position als Anführerin zu behalten, hatte sie großspurige Behauptungen aufgestellt. Jetzt hoffte sie auf ihr Glück und darauf, dass sie ihre vagen Träume richtig gedeutet hatte.

Khassedra zwängte sich durch einen Felsspalt in eine bewachte Höhle, wo die letzten Männer ihres Volkes nackt und mit ausgebreiteten Armen an Wandketten hingen. Widerwärtiger Gestank nach Exkrementen ließ sie abfällig ausspucken. Sie hörte eine ihrer Kriegerinnen in der Höhle raunen, ließ sich davon aber nicht abhalten und schlich näher. Die Kriegerin trug nur noch eine lange Tunika und Stiefel und rieb sich an Khassedras Lieblingsmann Bephaal, ihrem entmachteten Vorgänger mit dem blonden Bart. Wutschnaubend warf Khassedra das Schwert von Theb Nor in die Ecke. Das Metallklirren ließ die Rivalin zusammenzucken und von Bephaal fortweichen. Khassedra stürmte auf sie los und ohrfeigte sie. „Nur ich kriege ein Kind von ihm, Vrenna!“ Vrenna hielt sich die Wange und funkelte Khassedra zornig an. Ihre braunen Locken zitterten um ihr junges Gesicht. „Lass es doch drauf ankommen! Wie mit der göttlichen Stimme, die Dich so nett beschützt!“, spottete Vrenna und trat rückwärts wieder an Bephaal heran. Lasziv drückte sie sich an ihn und grinste gehässig. „Er ist nicht unterzukriegen!“, schnurrte sie. Als sie sich zwischen die Schenkel griff, um vor Khassedras Augen zu stehlen, was nur der Anführerin zustand, packte Khassedra ihre Runenklinge vom Boden und holte aus. Entsetzt sprang Vrenna vorwärts, um dem Hieb zu entgehen. Doch sie lief genau in Khassedras Tritt zum Bauch, stürzte und krümmte sich röchelnd. Khassedra hielt ihr die Schwertspitze an die Kehle und zischte: „Ich brauche jede Waffenhand! Aber machst Du mir noch einmal meinen Rang streitig, töte ich Dich! Jetzt

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verschwinde! Ich sage den Wachen, dass Du bis zu unserem Sieg hier keinen Zutritt mehr hast!“

Athónon wälzte sich im Schlaf hin und her. Immer wieder hörte er das dumpfe Geräusch, als seine Klinge Jades Bauch durchstieß. Er spürte am Griff der Waffe den Widerstand ihres Körpers, als das Eisen sich hineinbohrte. Ständig sah und spürte er Jade über sich zusammenbrechen und schmeckte ihr Blut auf seinen Lippen. Ihr ungläubiges Starren, als der Dämon ihren Körper verließ und die echte Jade zurückließ, hatte sich in Athónons Geist eingebrannt. Schon einmal hatte er einen Freund töten müssen, als der Zauberer Xelos durch einen Fluch wahnsinnig geworden war. Xelos hatte dem Gefährten Cesius fünf Feuerkugeln in den Hinterkopf geschossen und war danach auf der Suche nach Athónon gewesen, um auch ihn zu töten. Das Verhältnis zwischen Xelos und der restlichen Gruppe war immer schwierig gewesen, galt der Experte für Dämonologie doch als zwiespältiger Mensch, dessen Geist eine ständige Gratwanderung hatte vollführen müssen. Für den Fluch, den eine uralte Münze der Schlangenmenschen ausgelöst hatte, war es ein Leichtes gewesen, den Verfolgungswahn des Zauberers bis in den Wahnsinn zu verstärken. Athónon war ein erfahrener Kundschafter und hatte sich damals an den Zauberer heranschleichen können. Doch jemanden hinterrücks und berechnend zu töten, der mal ein Freund gewesen war, das hatte Athónon vorher nie üben können.

Der Gnom öffnete ruhig die Augen, als eine Hand sich ihm näherte. Er hatte sie gespürt, lange bevor sie ihn erreicht und geweckt hatte. Außerdem hatte er wahrgenommen, dass keine Gefahr drohte. Sonst hätte er schon längst sein Schwert in der Hand gehabt, das unter seinem Rucksack bereitlag. Selbst seine Nase hätte ihm eine Bedrohung durch Schweißgeruch vermutlich verraten. Aber was er wahrnahm, war der angenehme Duft einer Elfin. Mèra lächelte still zum Gruß und nahm Athónon die Augenklappe ab. „Tut mir leid, dass ich nicht früher dazu gekommen bin“, flüsterte sie und legte Athónon die Hand auf das zerstörte Auge. Seine Mundwinkel zuckten nach oben. Magische Energien pulsten durch sein Gesicht und lösten seltsame Empfindungen im erblindeten Auge aus. Mèra summte eine getragene Melodie und wiegte unmerklich den Kopf dazu. Nach wenigen Minuten öffnete Athónon das geheilte Auge und blinzelte. Für einen stillen Moment blieb Mèra sitzen und tupfte sich eine Schweißperle von der Stirn. Athónon fragte schließlich: „Wie geht es Laura?“ „Sie ist tapfer“, erwiderte Mèra. „Sie gibt niemandem außer dem Feind die Schuld am Tod ihrer Mutter.“„Das ist gut“, nickte Athónon. Seine Mundwinkel versteinerten schon wieder. „In wenigen Stunden ziehen die Nachtelfen los in die Tiefe“, berichtete Mèra. „Srrig und ich werden sie begleiten. Ich habe ihn überzeugt, dass wir niemanden zurücklassen können und dass Ihr Euch mit den anderen ebenfalls den Nachtelfen anschließen werdet – wenn Ihr weiter mit uns kommen wollt.“

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Athónon nickte nur und murmelte abwesend: „Natürlich.“ Mèra legte den Kopf schief und stupste Athónon mit dem Finger in die Schulter. „Sagt schon, was beschäftigt Euch noch?“ Athónon sah sie ausdruckslos an. Ohne Umschweife erzählte er: „Manchmal sehe ich mehr mit dem inneren Auge, als ich von der wirklichen Welt mitbekomme. Ich sah Euch, vom Dämon besessen, bevor ich wirklich davon hörte. Ich sehe immer wieder Jade über mir sterben und mich verzweifelt anstarren. Jedes Mal, wenn ich Laura anblicke, sehe ich ihre Mutter in der Höhle liegen, mit meiner Waffe im Leib. Ich sehe zu viel auf einmal. Macht Euch das alles gar nichts mehr aus? Ihr seht doch auch mehr, als Heva freiwillig offenbart.“ Mèras Lächeln verblich und sie schwieg. Nach einer Weile antwortete sie leise: „Irgendwann sterben die richtigen Empfindungen ab. Ich versuche, sie mir zu bewahren, aber es sind eher Erinnerungen. Alles, was von ihnen wirklich bleibt, ist ein fernes Gefühl, wie in Watte eingeschlossen zu sein und langsam darin zu ersticken, bis man nur noch funktioniert, tagein, tagaus. Es mag ein Segen sein, nicht Eure Qualen zu erleiden, aber wenigstens habt Ihr noch Empfindungen, statt immer nur dieselbe dumpfe Taubheit. Nur manchmal kann ich etwas anderes fühlen, meist ist es jedoch nicht angenehm. Jedes Lächeln von mir ist in Wahrheit nur eine Erinnerung. Oder ein Wunsch, das Lächeln wirklich zu fühlen. Doch Wünsche gehen nicht immer in Erfüllung.“

„Ich fühle mich zunehmend auch so, mit einem Bruchteil Eures Alters“, murmelte Athónon.

Srrig und Mèra hatten sich in eine einsame Höhle zurückgezogen. „Wie konntest Du in Deinem Zustand eine Wiederbelebung versuchen? Jetzt ist das Tor durchlässig und sie strecken ihre Fühler wieder persönlich aus“, grollte Srrig und lief unruhig auf und ab. „Jetzt haben wir keine Zeit mehr, Randolph zu befreien! Schattenwacht unternimmt nichts, obwohl der doch der Sphärenwächter der Götter sein sollte – so zeigt er uns sein wahres Gesicht, und die Götter rühren sich nicht.“ Mèra saß auf einem Felsen und starrte an die Wand. „Du hast Dich von Deiner Erinnerung leiten lassen, dachtest, so müsste sich Mitleid anfühlen, nehme ich an“, knurrte Srrig böse. Mèras Blick veränderte sich nicht. „Wir haben Glück, dass die Dahnrud eingegriffen haben. Wer weiß, vielleicht schließen sie sogar die Risse im Tor wieder“, überlegte Srrig laut. „Vielleicht finden sie Beweise gegen Schattenwacht, um die Götter zu alarmieren.“ Seufzend schaute er sie an, dann setzte er sich zu ihr und legte den mächtigen Arm um sie. „Was wirst Du tun, wenn der nächste Sterbliche auf dem Weg stirbt? Wirst Du denselben Fehler noch einmal machen?“, fragte er versöhnlich. Doch sein Ton ließ nur eine Antwort zu. Mèra blickte ihn müde an und redete mit kühler Stimme. „Ich werde sie sterben lassen. Selbst wenn es

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Athónon oder Laura trifft. Selbst wenn diese beiden mir erlauben, mich an ein paar mehr Gefühle zu erinnern.“ Srrig nickte. „Es ist die einzige Möglichkeit, unsere Aufgaben zu erfüllen.“ „Und eine kalte Welt zu retten, in der Regeln wichtiger als das Leben sind. Wofür auch immer sie dann gerettet werden soll“, blockte Mèra, als sie sich an Athónons Worte in der Herberge erinnerte. Mit hartem Gesicht sah sie weg. „Wir können uns das nicht leisten, nicht wir“, widersprach Srrig. „Das ist der Preis. Die Sterblichen dürfen leben und fühlen, aber wir nicht. Du weißt das, Du hast es nur aus den Augen verloren. Das ist es, woran Du Dich erinnern solltest. Nicht an irgendwelche hinderlichen Gefühle, die unseren Aufgaben im Weg stehen.“ Für einen Moment blickten sie sich sanft in die Augen, ihre Gesichter schwebten nah voreinander. Doch sie empfanden gar nichts. Mèra stand auf. „Für die Sterblichen sind Gefühle eine Kraftquelle, wenn sie richtig fokussiert sind“, meinte sie nachdenklich. „Ja, wenn ...“, spottete Srrig und erhob sich ebenfalls. „Ich dachte für einen kurzen Moment auch, Taren sei ein passabler Weggefährte. Aber er ist ein Sterblicher, und das macht jede weitere Überlegung nutzlos. Vergiss nicht, wir suchen T’ral. Danach kehren wir durch T’rals Teleportation zurück nach Harkýior, falls die Zeit reicht, und befreien Randolph. Dann werden wir Schattenwacht gegenübertreten. Wir begleiten die Nachtelfen und Deine anderen Freunde zwar eine kurze Zeit – was gut für sie ist – und meinetwegen unterrichte ich sie auch, aber wir sind

nicht wirklich zum Kinderhüten da“, sagte er mit einer unterschwelligen Forderung. „Ich würde gern Kinder hüten“, murmelte Mèra und ging. Dass sie nach T’rals Befreiung noch einmal umkehren würden, um Randolph zu befreien, glaubte sie seit ihrer Vision im nahen Tod nicht mehr. Srrig blieb zurück. Er empfand keine Wut über seine uneinsichtige Kameradin. Er verstand sie gut. Auch er genoss die seltenen Momente, wenn er noch einmal eine Empfindung hatte, welche auch immer. Sein Zornesausbruch über die Verräterin Safáydra, kurz bevor er sein Gedächtnis zurückerlangt hatte, war eine Wohltat für ihn gewesen, auch wenn das keine gutartige Empfindung gewesen war. Vor knapp zweitausend Jahren war die Empfindung, von Cerýllion verraten worden zu sein, so stark gewesen, dass Srrig blindwütig über die Schlachtfelder getobt war und sich, wie gerade erst in Quirmó, N’rracorr hingegeben hatte. Er würde nie zugeben, auch das insgeheim als wohltuende Befreiung empfunden zu haben. Wie Mèra verletzte er Regeln, auch wenn es andere Regeln waren. Genauso wie sie trug er zum Untergang bei, gab es jedoch nicht zu. Die damalige Liebe zu Mèra hatte Srrig Halt gegeben und fast zwei Jahrtausende lang war er N’rracorr nicht mehr verfallen. Doch nun, da seine Gefühle erloschen waren, gab es keinen Halt mehr. Er dachte an die letzten zwanzig Jahre zurück, die er ohne Erinnerung umhergeirrt war. Er hatte als Sklave gelebt, war durch die Wildnis geflohen, hatte sich dem Blutdurst hingegeben und ihn wieder besiegt. Doch nie

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hatte er wirklich starke Gefühle erleben dürfen. Er hatte sich immer gewundert, wie sehr die anderen Wesen um ihn herum von ihren Gefühlen verwirrt, beeinflusst und in Probleme getrieben wurden. Er war froh gewesen, sich selbst besser im Griff zu haben. Und nun machten er und Mèra plötzlich dieselben Fehler wie die Sterblichen. Mèra konnte mit ihrer großen Macht nicht umgehen und Srrig wurde Opfer seiner archaischen Wurzeln. Beide riskierten Hevanor, nur um vielleicht ein Gefühl zu empfinden. Verzweiflung war keine Entschuldigung bei einer so großen Verantwortung wie ihrer. Srrig musste ihr das nicht sagen. Sie wusste es selbst genauso gut.

Mèra klopfte an Lauras Tür und wurde hereingebeten. „Ich habe Wenndurs Laute mitgebracht“, sagte die Elfin und hielt das Instrument hoch. Laura blickte die Laute wehmütig an, schwieg jedoch. Mèra wartete nicht lang, sondern stellte sich hinter die Halbelfin, drückte ihr die Laute vor den Bauch und nahm Lauras linke Hand, um sie an das Griffbrett zu schmiegen. Dann legte sie Lauras andere Hand an die Saiten und bewegte sich mit winzigen Schritten. Mèra schloss die Augen, legte Lauras Finger zurecht und summte zu den einfachen Akkorden, die sie gemeinsam spielten. Mittendrin sagte Mèra plötzlich: „Du bist gehemmt, weil Du Wenndur nicht so behandelt hast, wie Du es gern gewollt hättest. Du denkst, Du hättest ihm Deine wahren Gefühle zeigen sollen. Doch er kannte sie vom ersten

Moment an. Auf seine Weise war er ziemlich klug. Lass ihn los, lebe weiter. Mit Deiner Mutter hast Du das auch geschafft. Auch ihr musstest Du nicht erst sagen, was Du empfunden hast. Der Unterschied zwischen einem guten und einem toten Kämpfer ist, dass der gute Kämpfer sich vor dem Kampf von allen Sorgen befreit und dadurch überlebt. Und Du willst doch eine Kämpferin werden.“

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13 Melek stand angespannt auf einer Klippe über der Stadt, nahe der Höhlendecke. Unter ihm hatte Laura im Badezuber gelegen, nun schmiegte sie sich in die Umarmung einer Halbgöttin. Lauras Anblick schmerzte Melek wie chimärische Folter, weil er sie nicht erreichen konnte. Seine Lider flatterten vor Müdigkeit und er wankte. Schon zum zweiten Mal befürchtete er, von der Klippe in die Stadt zu stürzen. Wenigstens gab es von der Wanderin keine neue Spur. Späher der Nachtelfen, zwei Männer und zwei Frauen, standen neben dem Unsichtbaren und lachten leise. Schmunzelnd hatten sie alle Fremden beim Baden beobachtet. Zwar verstand Melek ihre Sprache nicht, doch die Blicke und Gesten der beiden Frauen auf Srrig bedurften keiner Übersetzung. Melek sah wütend zur Seite. Er wusste, dass er den Spähern nichts tun durfte, weil die Quirmóer sie vermissen und unnötig gewarnt würden. Aber er hasste das Lachen der jungen Späher. Den Neid auf ihre Ausgelassenheit gestand er sich nicht ein, stattdessen klammerte er sich an seine Überzeugung, deren Lebensweise überlegen zu sein. „Ihr treibt ohne Ehrgeiz vor Euch hin!“, dachte er giftig. Der Satz eines Hohepriesters von Sturm und Donner fiel ihm wieder ein, den er vor drei Jahren gehört hatte: „Lachen macht souverän und schön, aber allein tritt es auf der Stelle und hinterlässt nichts.“

Nie zuvor hatte Melek so glatten und hohen Stein gesehen. Eine breite Schneise führte durch den Wald auf den Säulengang vorm Tempeltor zu. Meleks Kapuzenmantel klatschte schwer vor Nässe um seine Beine. Regen rauschte und verwandelte den Erdboden in Schlamm, doch führte ein angelegter Steinpfad zum Tor. Auf dem flachen Dach des Tempels versammelten sich die Gläubigen, um Regen und Sturm zu huldigen und sich an Blitz und Donner zu erfreuen. Die Stimme des Hohepriesters klang fest von dort herab, als Melek den Säulengang passierte und ins Innere lief. Das Gebet mahnte die Gläubigen, den Ernst ihres Lebens als Herausforderung und nicht als Last zu sehen, anstatt allein dem Vergnügen nachzugehen, so wie auch der Donner schwer und der Blitz tödlich blieb, egal wie oft davor die Sonne schien. Die Eingangshalle war dunkel und verlassen. Melek hörte den Hohepriester nun von den breiten Stufen auf der Stirnseite des klobigen Baus her. Zahlreiche Waffen und Schilde lagen an den Wänden. Die Gläubigen, vornehmlich Krieger, hatten sie ablegen müssen, bevor sie das heilige Tempeldach betreten durften. An beiden Seiten der Treppe führten Holztüren tiefer ins Gebäude. Melek gesellte sich zunächst in die hinterste Reihe der Gläubigen, die jedoch alle möglichst nah am Hohepriester stehen wollten und nicht auf die Treppe hinter sich achteten. Als der Hohepriester zudem den Gläubigen den Rücken kehrte und die Arme ausbreitete, schlich Melek zurück zu einer der riegellosen Holztüren und lauschte. Leises Klimpern ließ sein Herz nun schneller jagen als das gemeinsame Dastehen mit seinen potenziellen Feinden, den Gläubigen über ihm. Er

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schob sich lautlos durch die Tür – bis das Scharnier knarrte und das Klimpern abriss. Melek erstarrte und biss die Zähne zusammen. Langsam hob er den Dolch zur Hüfte, bereit zum Stich. In dem langen Gang vor ihm gingen vier unverhangene Türbögen zu den Seiten ab. Ein Panther schlich aus dem vordersten Durchgang, fletschte die Zähne und knurrte. Sprungbereit baute er sich vor Melek auf. Ihm nach schlich ein zerlumptes Mädchen seines Alters. Sie schürzte den kleinen Mund und grinste Melek abschätzig an. „Mein Gold“, sagte sie entschieden und reckte das Kinn, als wolle sie Melek damit rauswerfen. „Oder Ragan zerfleischt Dich.“ „Ich könnte die Krieger alarmieren.“ Meleks Stimme vibrierte ängstlich. „Wenn dieses Tier losspringt, schreie ich.“ Das Mädchen legte zornig den Kopf schräg und schwieg. „Lass uns teilen“, schlug Melek vor. „Vielleicht werden wir ein gutes Paar!“ Er starrte gierig auf die sanften Wölbungen unter der Lumpenkleidung. Das Mädchen straffte sich und genoss seine Blicke. Sie kraulte den Nacken des Panthers – und er verschwand. „Nur ein Trugbild“, flüsterte sie und lächelte Melek an. „Ich bin die Hexe Valizia!“ Melek zeigte seine Furcht vor Magie nicht. Valizia mochte ihm in dieser Hinsicht überlegen sein, aber der Gedanke an eine mächtige Verbündete und schöne Gefährtin verlockte ihn mehr. Vor dem Kampf gegen sie hatte Melek bei Laura nicht anders gehandelt. Er hatte freundlich sein Interesse gezeigt, ein alltägliches Bedürfnis wie Essen und Trinken geäußert. Aber Laura hatte ihn erbittert abgelehnt,

so als hätte er eine Krankheit oder als wäre sie etwas Besseres. Dabei waren er und Laura sich in ebenso vielen Dingen ähnlich, wie er mit Valizia Gemeinsamkeiten gehabt hatte. Alle drei bestritten ihr Leben nach eigenen Regeln und waren verstoßene Waisen. So klug Melek in mancher Hinsicht war, aus gesellschaftlichem Verhalten wurde er nicht schlau. Er verstand einfach nicht, wieso Laura nicht bereitwillig mit ihm gegangen war, wieso sie unbedingt beschlossen hatte, sein Feind zu sein. Er würde sie zu ihrem Glück und zum Verstehen zwingen. All die überbordenden Regeln von Menschen und Elfen würde er aus ihrem Kopf verbannen, bis nur die klaren Wahrheiten der Natur blieben. Mit ihr würde er vielleicht sogar ein Kind aufziehen und sie nicht damit alleinlassen. Valizia und Melek hatten den Tempelschatz in einen Rucksack gefüllt und waren aus dem Seitenfenster geflohen, um in der breiten Waldschneise nicht aufzufallen. Schon dabei hatten sie sich gegenseitig gestreift und sich aneinander gerieben, kaum mehr zur Selbstbeherrschung fähig. Im Schutz des Waldes fielen sie dann übereinander her, wälzten sich im Schlamm, kämpften spielerisch und genossen den plötzlich ins Leben getretenen Gleichgesinnten. Doch so schnell, wie sie erblüht war, verging ihre Liebe wieder. Nach wenigen Tagen störten sie sich aneinander und empfanden ihre Berührungen so lästig wie Brennnesseln. Aus Furcht vor Valizias Magie schnitt Melek ihr im Schlaf die Kehle durch, kaum dass die erste Morgenröte heraufkroch. Tau und frische Gräser dufteten und die Vögel sangen ihre vielstimmige Sinfonie für Heva.

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Melek erwachte. Für einige Sekunden hatte er im Stehen geschlafen. Sein Herz schlug bis zum Hals, doch offenbar hatte er Glück gehabt: Weder war er gestürzt oder durch eine zufällige Berührung entdeckt worden, noch hatte die Wanderin sich so schnell seines Schlafes bemächtigt. Wie ein Verhungernder auf einen saftigen Braten stürzten Meleks Gedanken sich abermals auf Erinnerungen an salzige Haut, Stöhnen und kämpfende Muskeln. Die Müdigkeit wich zurück, doch sein Schädel dröhnte, er zitterte vor Schwäche und spürte Übelkeit im Hals. Gozbad. Der Jahrhunderte alte Geist hatte Meleks Kinderzeit gestohlen. Viele seiner Worte fielen Melek nun wieder ein, da der Schlafmangel ihn in eine seltsame Laune brachte. „Niemals älter als zwanzig!“, hatte Gozbad als Parole seines Wahns ausgegeben, als er Melek noch heimgesucht hatte. „Denn wozu zweite Wahl, wenn Du auch die erste haben kannst? Nur Verlierer begnügen sich mit weniger als den Jüngsten, reden mit ihrer Beute oder machen sie mit Reichtum gefügig. Nur Verlierer begnügen sich mit bloßen Blicken auf die Objekte ihrer Gier.“ Das waren die ersten Sätze, die Melek von Gozbad über das andere Geschlecht gelernt hatte, als sein Interesse erwacht war. Der Geist hatte Meleks Denken in eine unerschütterliche Bahn gelenkt und ihn in seinen Abgründen ausgebildet. Melek hatte keine andere Bezugsperson mehr gehabt, seit er sechs Jahre alt war. Er war sehr schnell ein Mann geworden; die Natur hatte ihn dazu gezwungen – oder hatte er die Natur gezwungen? Viel später erst hatte Melek Gozbad als das erkannt, war er war: ein Monster unter Sterblichen, der seine Kraft

daraus bezog, unschuldige Seelen zu stehlen und mit sich in die Verdammnis zu reißen. Vermutlich hätte Gozbad ein anderes Kind in seinen Fluch verstrickt, hätte er nicht Melek erwischt. Vielleicht hätte Gozbad aber auch ohne Melek nur ein Jahr später nicht mehr die Kraft gehabt, irgendjemanden zu manipulieren – denn seine Kraft schwand stetig, wenn er keine Sterblichen quälen konnte. Wo mochte Gozbad gerade sein? Existierte der Geist noch? Melek hatte seit acht Jahren nichts mehr von Gozbad gehört, außer in seiner Einbildung oder Erinnerung. Der Geist hatte Melek am Leben gelassen. Immer hatte Melek sich darüber gewundert, es schien nicht zu Gozbad zu passen. Die Erkenntnis dämmerte. Kontrolle war nicht mehr nötig. Melek war zu dem geworden, was Gozbad gewollt hatte und was dem Geist selbst jetzt noch Kraft gab, ohne dass ein magischer Zwang bestand. Lauras Qualen gaben Gozbad Kraft. Doch diesen Gedanken, anders als die Bilderflut von Laura, brach Melek erfolgreich ab. Es war ihm egal. Dass man nicht kämpfte, wenn man keine gute Chance auf den Sieg hatte – eben noch hatte er dies auf Laura bezogen, die von einer Übermacht Gefährten bewacht wurde. Mehr und mehr bezog Melek dies nun auch auf Gozbad, der durch ihn und alle späteren Jünger Kraft gewann und vielleicht schon bald ganze Dörfer würde verheeren können. Gozbad war ein Teil von Melek geworden. Er würde nie wieder gänzlich verschwinden, außer mit Meleks Tod.

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Doch Laura konnte er, anders als Gozbad, nicht vergessen. Wie neckende Blitze schoss sie ihm durch den Schädel. In seinen Tagträumen hatte er die Jagd schon oft zu Ende gebracht – und seine Fehler gesucht, warum die Wirklichkeit anders aussah. Melek ärgerte sich auch, dass er nur so wenig Zeit für Alynde gehabt hatte, die Sklavin in der Arena. Überhaupt war er voller Hass auf jeden und alles. Der Hass war Gozbads Erbe und die Kraft, die Melek antrieb. Unmittelbar nachdem Gozbad ihn verlassen hatte und er auf sich allein gestellt war, hatte er sich eine Weile um ein rechtschaffenes Leben bemüht und versucht, etwas zu sein, was er nicht war, etwas angeblich Besseres. Doch wie auch bei der Unsicherheit in der Höhle der Gladiatoren, empfand sich Melek als schwach und lächerlich, nicht besser, wenn er gegen sein Inneres handelte. Bei der Flucht aus der Arena hatte er seine selbst angelegten Fesseln endgültig abgestreift und befreit aufgeatmet. Er konnte kein anderes Selbst über seine Natur stülpen. Seine innere Kraft war immens, doch das Ziel, für das er sie aufwendete, war von einem abgrundtief bösen Geist vorgegeben, nicht von anderen Menschen einer Gemeinschaft. Gozbads Gier nach Macht indes war noch weitaus größer als Meleks, denn wie bei der Wanderin hatte Gozbad sogar das Totenreich überwunden, um mit seinem Tun nicht aufzuhören. Melek vermisste Gozbad. Früher hatte er vor dem Geist mit seinen meisterlichen Fähigkeiten als Schleicher und mit seiner Beute prahlen können, und Gozbad hatte ihn beglückwünscht. Nun war niemand mehr da. Längst hatte

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Melek begriffen, was die Einsamkeit des Jägers alles mit sich brachte. „Der Preis ist es allemal wert!“, maßregelte er sich selbst. Doch vielleicht fand er ja Anschluss an ein Rudel. Als die Sippe seines Großvaters noch nomadisch lebte, war sie auch regelmäßig auf Menschenjagd gegangen, um Beute bei feindlichen Stämmen zu machen. „Diese Tradition kann doch nicht vollkommen erloschen sein, wo sie solch eine starke Macht ausübt!“, murmelte Melek. Sein Großvater hatte stets die Sesshaftigkeit der Sippe beklagt und das freie Nomadenleben seiner eigenen Jugend hoch gelobt. „Früher haben wir ein paar Tiere erlegt, dann hatten wir Ruhe. Jetzt musst Du tagein, tagaus das Feld bearbeiten und Dir den Rücken krummschuften – für ein bisschen dummes Brot!“, hatte der Großvater Meleks Vater oft vorgehalten. Melek vergaß die vier Elfen auf der Klippe. Er hatte einen Weg den Fels hinab entdeckt, den zu klettern er sich zutraute und der sehr nah vor Lauras Unterkunft endete. Mèra war gegangen, die Halbelfin lag allein auf ihrem Lager. Natürlich konnte er sie inmitten der Verbündeten, zu Füßen der wachsamen Späher nicht anrühren. Er wollte diesmal erst zuschlagen, wenn er völlig sicher war, dass niemand ihn stören würde. Doch das nächste verräterische Magenknurren würde kommen und er wurde bald wieder schwächer. Er wollte Lauras Rucksack und die Vorräte stehlen, denn er ahnte, dass er noch viele Stunden überwinden musste, bis sie endlich ihm gehörte. Aber sie sollte wissen, wie nah er war.

Den Dolch nahm er zwischen die Zähne, da er seinem lockeren Hosenbund nicht traute. Vorsichtig streckte er die Hand nach einer rauen Felsnase zu seinen Füßen aus. Mit der anderen Hand überkreuzte er die Felsnase und hielt sich an der Klippe fest. Dann sprang er ab, drehte sich im Sprung und hing im nächsten Moment frei über Laura, nur noch zwanzig Meter entfernt. Er hatte keine Mühe, den Ruck in Armen und Rücken abzufangen, allerdings zischte sein Atem zwischen den Zähnen hervor. Die Späher über ihm verstummten, doch nicht lange. Weiter die Arme überkreuzend, kletterte Melek seitlich von der Klippe fort, bis seine Füße am Fels Halt fanden. Nun brauchte er nicht mehr lange, um unter minimalen Knirschgeräuschen bis zwischen zwei Häuser Quirmós herabzusteigen. Links von sich sah er Laura durch den Türvorhang und erstarrte vor Gier. Sie zog sich gerade die Oberkleidung aus. Nur in ihren Lendentüchern stand das durchtrainierte junge Mädchen da und trank Wasser aus einer irdenen Karaffe. Laura rollte sich auf ihrem Lager zusammen und deckte sich zu. Aus Gewohnheit spähte Melek zuerst jede Ecke des Bodens aus, um sich zu merken, wo eventuell ein Hindernis lag oder sich eine Unebenheit befand. Dann schlich er auf Zehenspitzen durch den Vorhang und blieb drei Schritte von Laura entfernt stehen. Er wagte nicht, sich hinzusetzen, weil seine Kleidung rascheln würde. Eine Fußspitze setzte er ganz langsam vor, berührte den Felsboden und setzte die Sohle lautlos ab. Genauso ruhig verschob er den hinteren Fuß. So trat er immer näher an Laura heran, bis er nicht mehr zu atmen wagte, weil er ihren Atem hören konnte. Den letzten Schritt hatte er breiter gesetzt. Nun ging er

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unendlich langsam in die Hocke, sodass seine Schenkel vor Anstrengung zu zittern begannen, doch er blieb lautlos. Seine Fingerspitzen berührten den Boden keine Armlänge von Lauras Knien entfernt. Melek legte die eigenen Knie zwischen seinen Fingern ab und richtete den Oberkörper vorsichtig auf. Während er vor Aufregung hellwach blieb, schlief die erschöpfte Laura ein, eine Hand zwischen den Schenkeln. Melek wurde zu dem Grund, warum Kleinkinder sich vor dunklen Nachtschatten so sehr fürchteten. Der Gedanke gefiel ihm. Er schob die Nase zum Rand ihrer Decke und betrachtete Lauras Lippen. Melek lauschte ihrem Atem und sog ihren Duft ein. Seine Augen folgten ihren Brüsten bis tief unter die Decke. Ihm war völlig klar, dass er sofort auffliegen würde, griff er sie jetzt an. Darum fiel es ihm leicht, sich zu beherrschen. Mit derselben Geduld, wie er den Raum betreten hatte, schlich er zu Lauras Rucksack. Viel langsamer noch als Lauras Atem öffnete Melek ihn und sah hinein. Tatsächlich waren die Vorräte bereits gepackt. Melek stahl sich mit dem Rucksack fort in die gegenüberliegende, leere Hütte. Seine Nackenhaare sträubten sich, wie es manchmal geschah, wenn Lebewesen unbemerkt in seiner Nähe waren. Ein verräterisches Knirschen hinter einer Fensteröffnung bestätigte ihm den Verdacht. Ein Kopf hob sich über die Fensterkante, große Augen starrten den Rucksack an, der aus Sicht des Beobachters vermutlich soeben in der Raummitte erschienen war, als Melek ihn losgelassen hatte. Die Unsichtbarkeit betraf andere Gegenstände nur, solange er sie berührte.

Melek hatte nicht aufgepasst, war beobachtet worden, hatte sich zu sehr von Laura ablenken lassen, hatte Lauras kleinen Verehrer nicht bemerkt. Wut über sich selbst kochte hoch, doch er konnte nichts tun. Die Späher über ihm sahen die ganze Stadt ein. Plötzlich hörte er sie lachen. Einer der Späher rief etwas Elfisches von oben. Der Beobachter, ein Junge mit hüftlangem Haar kam hinter Meleks Fenster hervor und antwortete in furchtsamem Ton nach oben. Der Späher raunte nun nur noch überrascht. Melek reimte sich die Übersetzung des Gespräches zusammen. Die Späher dachten, der Junge habe einen Zaubertrick mit Lauras Rucksack versucht, so wie die meisten Elfen eben zaubermächtig waren. Doch der Junge hatte mit dem Rucksack nichts zu tun. Die erwachte Laura rief ebenfalls etwas Elfisches, und plötzlich ging ein Alarmruf durch die ganze Stadt. Melek schnitt sich voller Wut über die Arme, Schnitt neben Schnitt. Mit einem einzigen Stück Fleisch im Mund und einem Wasserschlauch um den Hals kletterte er die Späherklippe wieder hinauf und verkroch sich in einer Nische.

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14 Der Alarm wurde ernst genommen, doch fand man keine verborgenen Feinde und die Stadt beruhigte sich schließlich wieder. Laura hatte von Srrig nach ihrer ersten lehrreichen Übungsstunde eine Aufgabe bekommen, die sie nun erledigen musste. Weil sie trotz aller Magie noch nicht richtig erholt gewesen war, sollte sie statt zu kämpfen etwas anderes tun: Sie sollte die Verwundeten besuchen und dem Meisterheiler Fêowyn bei den Aufbruchsvorbereitungen helfen. Laura hatte es nicht gewagt, Srrig, dem König und Halbgott zu widersprechen, sondern hatte gehorsam zugesagt. Doch innerlich verstand sie nicht, wie diese Aufgabe sie weiterbringen sollte. Viel eher vermutete sie, dass Srrig ihrer undankbaren Tätigkeit nur einen schöneren Klang hatte geben wollen. Nicht, dass sie nicht gern den Verwundeten half – aber die Art, auf die sie dafür eingeteilt wurde, gefiel ihr nicht. Auch verstand sie nicht, weshalb Mèra, die nun wieder die Alte sein sollte, die Verwundeten nicht so weit heilte, dass sie laufen konnten. Vielleicht waren es einfach zu viele. Laura war früher immer neidisch auf magisch begabte, reinblütige Elfen gewesen und hatte mit ihnen nichts zu tun haben wollen. So kannte sie sich nun kaum mit Magie aus – ein weiterer Grund, weshalb sie in ihrem Dorf niemals dazugehören würde. Sie hatte sich damit abgefunden, für die Zauberei kein Talent geerbt zu haben, so wie schon ihre Mutter es nicht gehabt hatte. Immerhin lehnte Laura die Magie heute nicht mehr ab, so wie noch

vor einigen Jahren. Der Nutzen war ihr insgeheim immer klar gewesen. Ihr Kurzschwert, das Mèra verzaubert hatte, trug Laura am Gürtel. Solange sie in niemandes Nähe war, legte sie zärtlich eine Hand auf den Knauf, doch wenn sie in die Nähe anderer Personen kam, die das Berühren einer Waffe als Provokation empfinden konnten, ließ sie los. Bisher hatte sie nicht das Gefühl, dass irgendetwas mit der Klinge geschah. Laura hatte sich allerdings auch noch nicht für einen Namen entschieden. Missmutig marschierte Laura zu den Verwundeten. Viele lagen auf blutigen Decken um Fêowyns Haus herum. Ein großer Karren stand vor dem Haus, auf den drei Elfen die schwer Verwundeten hoben. Vor dem Karren nähte ein Elf sechs Trageriemen aus Leder zusammen, damit kräftige Quirmóer den Karren in Zweierreihen ziehen konnten. Laura fragte sich, wer eigentlich all die unterirdischen Wege angelegt hatte, auf denen solche Karren fahren konnten. Den leichter Verwundeten suchte eine Elfin passend lange Stöcke als Krücken aus einem Stapel und ließ dann Griffe aus dem Holz wachsen, indem sie sich kurz konzentrierte und mit den Fingern das Holz scheinbar herauszog. Gerade stakste ein zerlumpter Verwundeter mit wütendem Gesicht davon. Er war nicht damit einverstanden gewesen, dass seine Krücke mit Zauberei bearbeitet wurde. Lieber wollte er den Stock ohne Griff nehmen. „Hallo, ich bin Laura, ich möchte bei der Versorgung der Verwundeten helfen“, erklärte sie und blieb vor der

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Krückenverteilerin stehen. Dem abziehenden Nachtelfen mit dem grifflosen Stock sah sie nur kurz nach. „Ich habe schon von Dir gehört! Ich bin Safériel“, lächelte die Nachtelfin und hielt inne. „Du siehst ja ziemlich kräftig aus für eine ... oh.“ Safériel blickte auf Lauras Ohren, die aus elfischer Sicht kurz und klobig waren. Laura wurde sichtlich traurig. Doch dann grinste sie schief und blockte: „Ja, ich kann zupacken, im Vergleich zu anderen Elfinnen.“ Bitter dachte sie: „So, Du hast also schon von mir gehört. Aber scheinbar nichts von meiner schlimmen Seite.“ Safériel sah beschämt zu Boden. Sie fing sich jedoch schnell und erklärte: „Du kannst helfen, die Verwundeten auf den Karren zu heben. Die drei Jungs da hinten sind schon ganz kaputt.“ Laura nickte und ging zum Karren mit den Verwundeten. „Hallo, ich soll Euch helfen!“, rief sie freundlich. Die drei Nachtelfen blickten zu ihr, sahen ihre Halbelfen-Ohren und ließen sich fast nichts anmerken. „Das ist gut!“, schnaufte einer der Nachtelfen und winkte Laura zu sich. „Du kannst mich ablösen damit, die Füße der Verwundeten hochzustemmen. Ihr müsst noch fünf weitere Elfen hochhieven. Ich werde nach ihnen sehen und ein paar Verbände wechseln.“ Damit nickte er den anderen zu und ging. „Ich bin übrigens Laura“, sagte sie mit einem dünnen Lächeln. Mit den beiden verbliebenen Nachtelfen ging sie zum nächsten Verwundeten. „Das ist ein Menschenname“, erwiderte der Jüngere mit undeutbarer Stimme. Der Ältere schwieg und tat

teilnahmslos. Der Jüngere fügte hinzu: „Man sagt, Du hättest die alte Blonde gerettet.“ Laura zögerte mit ihrer Antwort. Sie wollte „Ja, allerdings!“ rufen und möglichst ärgerlich klingen. Aber ihr war nicht nach Auseinandersetzung zumute. Mit kraftloser Stimme antwortete sie bloß: „Das ist übertrieben. Und mein Menschenname rührt daher, dass meine Mutter viele Jahre die Menschenlande bereiste.“ Stumm trugen sie zu dritt den nächsten Bewusstlosen zum Karren und hoben ihn hinauf. „Du hast ganz schön dicke Arme und ein ziemlich breites Kreuz für eine Elfin“, sagte der jüngere Nachtelf, während Laura die Füße des Verwundeten hochhob. Diesmal war es Laura, die schwieg und teilnahmslos tat. Zum ersten Mal sagte der ältere Nachtelf etwas: „Sie ist ja auch keine Elfin, Thióvael.“ Lauras Miene wurde unmerklich härter. Sie gestattete sich nicht, noch stärker auf die Provokation zu reagieren. „Ich habe dadurch Kämpfe überlebt, die Euch getötet hätten!“, lag ihr auf der Zunge. Doch sie brach ihr Schweigen nicht. Stumm holten die drei den nächsten Verwundeten, der manchmal träge die Lider zu heben versuchte. Wo einst Hände waren, hatte er Stumpen, umwickelt mit blutigem Stoff. Sie legten ihn wie einen Sack Steine auf den Karren, ohne Anteilnahme, jeder mit eigenen Gedanken beschäftigt. Als sie sich wieder auf den Weg machen wollten, hielt Thióvael Laura plötzlich fest. „Ich bin auch stark!“, sagte der Nachtelf und kniete sich vor Laura.

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„Komm, ich will wissen, wer stärker ist!“, verlangte er und deutete mit dem Finger vor sich. Dann setzte er den Ellbogen auf den Boden, hielt die offene Hand hin und blickte erwartungsvoll zu Laura auf. Stolz flammte in ihrem Gesicht auf und loderte in ihrer Brust. Sie wollte die Herausforderung zum Armdrücken annehmen. Doch wie sie den jungen Elfen so vor sich knien sah, mit seinem naiven Blick und seinem makellosen Gesicht, wurde sie wieder traurig. Ihr inneres Feuer erlosch, als habe sein Anblick ihr kühles Wasser in den Geist geschüttet. „Dafür ist keine Zeit“, seufzte sie und wandte sich zum Gehen. „Wie konnte so ein Feigling jemanden vor einer Überzahl retten?“, fragte der ältere Nachtelf darauf von der Seite und musterte Laura finster. Mit verschränkten Armen stand er da, senkte den Blick wie ein Stier die Hörner und schaute auf Laura herab, obwohl er nur unmerklich größer als sie war. Laura starrte mit offenem Mund zurück. „Was?“, hauchte sie bloß verständnislos. „Komm schon, Halbmensch!“, rief Thióvael aufgebracht vom Boden aus. „Ich will wissen, wie stark Du bist!“ „Stärke ist nicht das Wichtigste im Kampf“, entgegnete Laura verärgert und verschränkte ebenfalls die Arme. Sie wusste, sie sollte Beleidigungen bloß geduldig zuhören, bis dem Gegenüber von allein die Puste ausging. Aber in ihr knisterte und knackte immer noch die Glut ihres Stolzes. Außerdem wusste sie: Wenn sie das Armdrücken verlor, galt sie als Schwächling, obwohl das für sie trotz des menschlichen Anteils keine Schande gewesen wäre.

Doch wenn sie das Armdrücken gewann – wovon sie eher ausging – galt sie als Barbarin. Sie konnte nur verlieren, das machte sie zornig. So lief es unter Elfen immer für sie. Schwächling, Barbarin oder Feigling. So oder so, sie hatte schon verloren – einzig durch das, was sie war und die feindselige Absicht ihres Gegenübers. Sie schaffte es einfach nicht, dass die bloßen Worte der beiden an ihr abperlten wie Wasser, obwohl sie sich immer heimlich wünschte, so ruhig bleiben zu können. „Feuer des Lebens“ hatte ihre Mutter diese Eigenschaft genannt und keineswegs verteufelt. „Lieber ein helles, gefährliches Feuer, als ein unlebendiger, verirrter Funken, der schnell im Wind vergeht. Nur den Umgang mit den Flammen muss man üben, damit man sich nicht die Finger verbrennt“, hatte sie stets hinzugefügt. Traurig trottete Laura zum nächsten Verwundeten, der auf den Karren getragen werden sollte. Dort wartete sie mit leerer Miene auf die Nachtelfen, die ihr folgten und hämisch grinsten. Beinahe glaubte sie die naive Engstirnigkeit der beiden körperlich zu fühlen. Laura fühlte sich ruhiger werden. Dadurch war sie bereits zufrieden mit sich. Sie dachte sogar, die unschöne Szene sei ausgestanden und zu dritt würden sie nun weiter die Verwundeten tragen. Da schubste Thióvael sie zur Seite. „Was ist denn dann das Wichtigste im Kampf, wenn nicht Kraft? Los, zeig es mir, Halbmensch!“, pöbelte er. Ungläubig starrte Laura ihn an und blieb ruhig stehen. Das kostete sie alle innere Kraft. Hitze breitete sich abermals in ihrer Brust aus.

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„Das Wichtigste ist, zu wissen, wann man nicht kämpft!“, knurrte Laura. „Außerdem sollte man Freund und Feind auseinanderhalten können“, fügte sie spitz hinzu. Sie wurde laut und schnauzte: „Und jetzt hör auf, Dich wie ein Mensch zu benehmen!“ Thióvael starrte Laura reglos an. Dann sprang er wütend vor und schlug mit der Faust nach ihr. „Ich lasse mich nicht beleidigen!“, knurrte er. Laura wich ungerührt nach seitlich vorn aus, ließ aber einen Fuß in Thióvaels Bahn stehen. Er stolperte darüber. Sie wunderte sich im nächsten Moment selbst darüber, wie ruhig und souverän sie geblieben war, obwohl helle Flammen in ihrer Brust züngelten. Noch vor ein paar Tagen wäre sie vor Wut über die Maßen brutal geworden, wenn ein Mitglied der Dorfwache sie so herausgefordert hätte. Doch jetzt musste sie keine Angriffe mehr ausprobieren. Sie wusste mit erschreckender Klarheit, wie sie dem Jungen noch im Sturz das Genick hätte brechen können. Diese Änderung am Anfang einer Kette von Reaktionen änderte alles Weitere in ihrem Kopf. Sie wusste so genau, was sie dem Jungen hätte antun können, dass sie die Angriffe nicht einmal mehr andeuten musste, auch auf die Gefahr hin, dass der unwürdige Gegner nicht von seiner naiven Selbstüberschätzung erlöst wurde. Ausdruckslos sah sie auf ihn herab. Das Lodern in ihr schwand. Der Nachtelf schlug sich die Ellbogen am Boden auf und sprang fluchend zurück auf die Füße. „Das wird Dir noch leidtun!“, schrie er. Wieder hob er die Faust und wollte Laura anspringen. Die Halbelfin hob nur leicht das Kinn. Nicht einmal ihre Fäuste spannten sich an. Die

Fäuste waren das letzte Glied in der Kette und wurden erst direkt vor dem Aufprall zum Leben erweckt, wusste sie. Laura hatte diese Anweisung oft gehört. Jetzt plötzlich wäre ihr zum ersten Mal auch die Umsetzung gelungen, ohne dies noch einmal geübt zu haben. In der Ruhe liegt die Kraft. Endlich fühlte sie, was diese Floskel aus dem Training der Dorfwache bedeutete. Laura war wie ausgewechselt, nur weil sie zu Beginn der Konfrontation ruhig geblieben war. Sie fühlte allerdings unmerkliche Anspannungen in ihren Beinmuskeln, die von ganz allein bereit waren, ihre Fäuste aus der Hüfte heraus mit unsäglicher Gewalt vorwärtszuschleudern. Ohne einen bewussten Gedanken programmierte ihr Körper ihre Fäuste auf sinnvolle Ziele wie Lenden, Nase oder Kehle. Doch sie verspürte weiterhin keinen Drang, dem ungestümen Jungen eine ernste Verletzung zuzufügen. Sie wollte einfach bloß dafür sorgen, dass er sie in Ruhe ließ. Etwas Neues in ihr, dass sie noch nicht benennen konnte, hatte ihr schwelendes Feuer plötzlich unter Kontrolle gebracht. „Banale Fortschritte geschehen stufenlos im Körper, doch echte Fortschritte sind Wendungen und Sprünge im Kopf “, erinnerte Laura sich an einen weiteren Lehrsatz ihrer Mutter. Hinter sich hörte Laura plötzlich Safériels Stimme: „Was ist hier los? Ihr sollt die Verwundeten auf den Karren heben!“ Die Nachtelfin packte Laura am Arm und wollte sie herumreißen, doch Laura blieb stehen. Als Safériel ihren Arm losließ, drehte Laura sich ihr freiwillig zu. „Was tust Du hier, Mädchen?“, fragte Safériel böse.

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„Gar nichts“, antwortete Laura traurig. Sie wusste, worauf das Gespräch hinauslief, als sie die höhnische Miene des älteren Nachtelfen sah. „Sie hat uns als Schwächlinge beschimpft und wollte mich verprügeln!“, rief Thióvael und zeigte auf Laura. Lauras Kopf sank ein wenig tiefer, ihre Augen wurden dadurch in Schatten getaucht. „Das stimmt nicht“, seufzte sie und drehte verneinend den Kopf hin und zurück. „Vielleicht hilfst Du lieber woanders“, schimpfte Safériel und wollte Laura fortschieben. Wieder rührte sie sich nicht von der Stelle, ging dann aber von allein, als Safériel sie losließ und zornig anfunkelte. „Wieso macht mich das so traurig?“, fragte sich die Halbelfin. „Ich weiß doch, dass ich nie dazugehören werde!“ Sie dachte an Srrig und begann zu ahnen, warum er ihr diese Aufgabe erteilt hatte. Ob sie in ihrer kurzen Lebensspanne jemals sein Maß an Weisheit erreichen konnte? Er hatte lange vor ihr gewusst, dass sie noch immer nicht verarbeitet hatte, dass sie einfach keine Elfin sein konnte. Laura legte sich wieder auf die Decken in ihrem Zimmer und schloss die Augen. „Ich vermisse Dich so, Mutter!“, flüsterte sie unglücklich und legte einen Arm über die Augen. Sie presste die Lippen fest aufeinander, doch sie konnte ihre brennenden Augen nicht unter Kontrolle halten. Ein seltsam vertrauter Geruch erreichte ihre Nase, doch sie wusste nicht, woher sie ihn kannte. Sie öffnete die Augen – Srrig saß im Schneidersitz an ihrem Lager.

Sie erschrak vor der Gefahr, die das Wesen aus jeder Pore seines Körpers verströmte, selbst wenn es sich ganz friedlich verhielt. Aufmerksamkeit von einem Halbgott zu bekommen, ehrte und beschämte Laura gleichermaßen. Stillschweigend freute sie sich natürlich. Ihr Stolz erhielt neue Nahrung. Verlegen berichtete sie: „Die Lösung meiner Aufgabe ist nicht so gut gelaufen.“ „Ich weiß, ich habe zugesehen. Das Tragen der Verwundeten war nicht der wichtige Teil, aber das hast Du sicher schon selbst verstanden.“ Laura nickte und legte den Kopf wieder auf die Decke. Sie faltete die Hände auf dem Bauch und berichtete: „Es ist schwerer als gedacht, zu akzeptieren, was ich bin.“ Srrig nickte. „Ob jemandem eine Meinung gefällt oder ob sie wahr ist, sind zwei unterschiedliche Dinge. Du musst unterscheiden lernen, was wahr ist – und was nur bequem wäre, für wahr zu halten. Und Dir muss klar sein, dass die meisten Wesen, denen Du begegnest, bequem sind und instinktiv gegen Dich sein werden, weil Deine Seele überlegen ist. Wenn Du bequem wirst, trittst Du auf der Stelle und entwickelst Dich nicht weiter. Die Wahrheit ist unbequem, doch sie ist ein mächtiger Verbündeter. Falle nicht auf den Begriff ,Gemeinschaft’ herein. Eine Gemeinschaft ist immer ein Gegeneinander der Bequemen. Ganz egal, ob es Elfen oder Tigermenschen sind.“ Laura ahnte ungefähr, was Srrig meinte, und nickte betrübt. Sie driftete in einen Strudel aus Gedanken ab und bemerkte kaum richtig, wann Srrig den Raum verließ. Mit geschlossenen Augen träumte sie von ihrem Ziehvater Endáruel und auch von ihrer kleinen Schwester Lishárial,

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von der Laura oft als Halbmensch und Trampel aufgezogen wurde. Außer den beiden schien ihr nichts geblieben zu sein. Doch sie lebten in einem Dorf, das Laura niemals wieder als ihre Heimat betrachten würde, nun, da sie es einmal körperlich und auch geistig verlassen hatte. Mit seltsamer Gewissheit wusste Laura, dass sie Endáruel und Lishárial niemals wiedersehen würde. Die beiden würden auf Jade und Laura warten, sie würden Tränen vergießen und irgendwann das qualvolle Warten aufgeben. Endáruel war ein attraktiver Elfenmann, er würde eine neue Gefährtin finden und seinen Verlust überwinden. Lishárial würde durch den Verlust ihrer ungeliebten Halbschwester keine große Wunde davontragen – jedenfalls redete Laura sich das ein. Sie wusste, sie müsste Heimweh haben, aber wonach eigentlich? Nach wie vor fühlte sie sich heimatlos, seit ihre Mutter tot war. Laura erhob sich schniefend und verließ ihr Lager, um Athónon aufzusuchen. Dort erstrahlte sie vor Freude und rief: „Dein Auge ist wieder gesund!“ Athónon nickte, beide Mundwinkel zuckten nach oben. Er wurde gleich wieder ernst und fragte: „Wieso hast Du geweint?“ Lauras Lächeln verblühte. „Heimweh. Ich vermisse meine Mutter. Außerdem hatte ich etwas Ärger mit den Elfen hier. Sie akzeptieren mich nicht sonderlich.“ Athónon brummte: „’s ist noch heißer Tee da, Pfefferminze mit Tempelbaum-Kraut und ein paar anderen Zutaten. Das stammt von den Tigermenschen und soll gut für das Gedächtnis sein.“ Er deutete auf seinen Rucksack.

Die magische Teekanne seines verstorbenen Mentors Tugibenn, die jede Flüssigkeit beliebig lange warmhielt, stand dampfend darauf. Taffi lag schlafend neben dem Giebel und schnupperte gelegentlich. Laura hatte bis eben eine Hand auf dem Rücken behalten. Jetzt grinste sie verschmitzt und zog die Hand hervor. Sie präsentierte Athónon einen irdenen Becher und setzte sich im Schneidersitz an seinen Rucksack. Athónon setzte sich dazu und schenkte ein.„Das riecht ... alt.“ Laura rümpfte die Nase und blickte skeptisch. Enttäuscht stellte Athónon die Kanne zurück und zog einen Schmollmund. Zum ersten Mal, seit Laura ihn kannte, versuchte er tatsächlich witzig zu sein. „Ich bin fast zwanzig Jahre älter als dieser Tee, rieche ich auch schon komisch?“, fragte der Gnom. „Nun hab Dich nicht so. Der Tee kann gar nicht alt sein. Ich habe ihn in der Zeitentruhe meines Lehrmeisters Tugibenn aufbewahrt und erst für diese Reise wieder herausgenommen. Er ist in den letzten zwanzig Jahren keinen Tag gealtert.“ „Er riecht trotzdem komisch. Ist da wieder Elfentod mit drin? Wie bei dem Tee in der Menschentaverne?“ „Nur ein winzig kleines bisschen. Anregend.“ Athónon zog einen Mundwinkel hoch, was bei anderen ein breites Grinsen bedeutete. Laura vertraute den Teekünsten des Gnoms und wurde, wie schon zuvor in der Menschentaverne, vom herausragenden Geschmack des Gebräus überrascht. Sie wechselte das Thema. „Wie war das, als Du Deine magische Klinge bekommen hast? Wie hast Du sie ... erzogen?“

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Athónon blickte überrascht auf das Kurzschwert an Lauras Seite. Er nahm noch einen großen Schluck Tee, bevor er antwortete. „Ich habe nicht viel gemacht. Die Klinge war unterwegs immer dabei, manchmal spürte ich eine Empfindung. Ich habe stets lange darüber nachgedacht, was die jeweilige Empfindung bedeuten könnte. Mit der Zeit entstand ein starkes Band. Die Klinge half mir immer bereitwilliger und wurde stärker. Heute sind wir wie ein altes Ehepaar, wir verstehen uns ohne Worte, weil jeder vom anderen genau weiß, was er denkt.“ Laura schmunzelte. „Ich bin wirklich gespannt, ob es für mich genauso leicht sein wird“, dachte sie laut und strich liebevoll über den Griff ihres Kurzschwerts – jener Eisenwaffe, die selbst unverzaubert schon einen kleinen Schatz darstellte, für den viele skrupellose Diebe sie ohne Zögern im Schlaf erdolcht hätten. Plötzlich wurde Athónon ernst. „Ich hatte einen Traum“, begann er leise. Seine faltigen Augenschlitze musterten Laura stumm. Schließlich hielt sie die Spannung nicht mehr aus und platzte: „Na los! Erzähl schon!“ Athónon schluckte bloß. Laura kannte den alten Gnom inzwischen gut genug, um jetzt hellwach und alarmiert zu sein. Ihr Herz beschleunigte. „Es könnte sein, dass jemand noch einmal ein Opfer bringen muss, zum Wohle Hevanors und der Welt“, brachte Athónon tonlos hervor. Seine Stimme schien um weitere zwanzig Jahre gealtert zu sein. Laura erstarrte und blickte ihn mit wachsender Furcht an.

„Das wirst auf keinen Fall Du sein“, knurrte er leise. „Hast Du verstanden?“ Laura wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte. Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder und gestikulierte unschlüssig mit der freien Hand, die nicht den Teebecher hielt. Endlich brachte sie hervor: „Es war doch nur ein Traum! Mach mir keine Angst um Dich!“ Athónon schwieg und blickte mit seiner Steinmiene in den Tee. Laura fasste seinen Ärmel und flüsterte: „Ich will nicht schon wieder jemanden verlieren!“ Steinhart blickte Athónon auf und knurrte: „So ist das sogenannte Abenteurer-Dasein nun mal. Du hättest es wohl nicht so vorschnell wählen sollen.“ Erschrocken lehnte Laura sich zurück und ließ Athónons Arm los. Der alte Kundschafter redete sanfter weiter: „Du hast Dein Leben noch vor Dir. Ich erlaube Dir ganz einfach nicht, dass Du vor mir abtrittst. Wenn ich zu den Göttern gehe, will ich Deiner Mutter ruhigen Gewissens ins Gesicht sehen können.“ „Sag so was nicht!“, bat Laura entsetzt und blinzelte eine Träne fort. „Es gibt immer einen Ausweg!“, rief sie und beugte sich sorgenvoll Athónon entgegen. Der Gnom lachte leise, ohne eine Miene zu verziehen. „Ja, genau“, flüsterte er. Er hatte diesen Satz selbst schon oft gesagt – sogar zu Jade, bevor sie jenes Dorf erreicht hatten, in dem sie den Tod gefunden hatte. Athónon stand auf und überragte die sitzende Laura nun ein wenig. Er zeigte mit dem Finger drohend auf

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sie und funkelte sie an. „Du wirst nicht freiwillig in den Tod gehen, für niemanden“, befahl er laut. „Nicht für Mèra, nicht für Srrig und nicht für mich. Für nichts und niemanden. Hast Du verstanden?“ Laura starrte fassungslos zurück und merkte, wie sie vor Aufregung und Angst zitterte. Plötzlich erdrückte sein Charisma ihren Willen und Stolz. Sie wusste nicht wieso, aber sie war einfach nicht in der Lage, irgendetwas zu erwidern oder gar zu widersprechen, während seine glimmenden Augenschlitze auf ihr ruhten. Mit offenem Mund starrte sie Athónon nur an, während er sich wieder hinsetzte und seinen Tee herunterkippte wie ein Mensch einen Schnaps. Sie konnte auch jetzt noch nicht widersprechen. Stumm wischte sie sich eine Träne von der Wange. Erst jetzt bemerkte sie, dass Taffi zwischendurch wach geworden war und zugehört hatte. Das Chamäleon musterte Athónon. Laura unterdrückte den Reflex, aufzuspringen und fortzulaufen. Sie wollte so lange wie möglich in Athónons Nähe bleiben. Laura schloss die Lider und legte den Kopf in den Nacken. Innerlich sah sie noch immer Athónons Augen auf sich gerichtet und sie war unfähig, sich gegen seine Ausstrahlung zu wehren. Sie schluckte schwer. Ohne den Kopf wieder zu senken oder die Augen zu öffnen, sagte sie leise: „Ich schwöre Dir, mich nicht zu opfern – wenn Du mir schwörst, es auch nicht zu tun.“ Als Athónon nicht antwortete, blickte sie ihn plötzlich gehetzt an und packte wieder seinen Ärmel. „Lass uns das gegenseitig schwören! Lass uns zusammenhalten!“ Athónon schüttelte schwach den Kopf. Laura ließ ihm keine Zeit für eine Antwort.

„Warum nicht?“ Sie rüttelte an seinem Arm und schrie noch lauter: „Warum nicht?“ „Jemand muss es tun“, raunte Athónon mit seiner alten Felsenstimme. „Aber das wirst nicht Du sein. Ich weiß nicht, wer es sonst sein wird, wenn nicht ich – vielleicht kommt mir Taren zuvor; ihm würde ich es auch zutrauen. Doch ich kenne weder ihn, noch Paaldrag oder Brommil gut genug, als dass sie in meinen Träumen vorkämen. Du bist die Tochter einer guten Freundin, die ich zwanzig Jahre lang kannte, daher warst Du Teil meiner Gedanken.“ Athónon seufzte schwer durch die Nase und schloss mit unanfechtbarer Endgültigkeit: „Es wird noch ein Opfer von unserer Gruppe verlangt werden, aber Du wirst dieses Opfer nicht bringen. Ich verbiete es Dir im Namen Deiner Mutter. Das ist alles, was es darüber zu sagen gibt.“ Als Laura aufgebracht etwas erwidern wollte, sah Athónon sie so intensiv an, dass ihr die Worte im Halse stecken blieben. Sie rutschte nur näher, umklammerte den reglosen Gnom und legte ihren Kopf auf seine Schulter.

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15 Taren marschierte durch Quirmó und schaute sich nach Elfen um, die vielleicht seine Hilfe brauchten. Seine Gebete hatten seinen Glauben wieder gestärkt. Ohne Wissen einer Aufgabe entgegen ... eine heilige Wegweisung! In jeder zweiten Nachtelfin sah er jedoch Nenúriel, seine gefallene Gefährtin. Er hatte seinen Schmerz noch nicht verarbeiten können. Taren war kein Mann, der sich wehleidig in eine Ecke setzte. Zumal langes Grübeln zu Wissen führen konnte und damit die Amdovenn stärken würde, wie die Prophezeiung von Theb Nor lehrte und er selbst fest glaubte. „Wissen ist böse!“, legten die heutigen Priester die Worte Theb Nors aus. Kein noch so wohlüberlegter Gedanke hätte außerdem Tarens Gefährtin zurückgebracht. Doch Taren musste sich beschäftigen, bis der Verlustschmerz von allein heilte. In einer Höhle am Stadtrand hörte er ein Streitgespräch zwischen zwei männlichen und einer weiblichen Stimme. Scheinbar ging es darum, nicht zu viel unnützen Plunder mitzunehmen. Die weibliche Stimme beharrte darauf, dass ihr angeblicher Plunder keineswegs unnütz sei. Taren ging zum Eingang der Höhle, um nach dem Rechten zu sehen. Auch Neugier führte zu Wissen und stärkte die Amdovenn ... Die Nachtelfin hielt einen Hammer in der Rechten erhoben. Unter der nackten Haut der Oberarme sah Taren jeden einzelnen Muskelstrang arbeiten. In der Linken hielt sie einen Lederbeutel fest, an dem einer der zwei männlichen Nachtelfen zerrte. Die

Nachtelfin stand trutzig vor einem flachen Stein, der wiederum zu Füßen eines glühenden Kohlenbeckens lag. Achtlos daneben in eine Ecke geworfen, lagerten steinerne Gussformen für Metallgießerei. Dazwischen verstreut lagen kupferne und bronzene Speer- und Pfeilspitzen sowie einige Dolch-Rohlinge ohne Griffe. Bei genauerer Betrachtung stellte Taren fest, dass diese Metallgegenstände schief und unförmig waren und beim Gießen außerdem Bläschen gebildet hatten. Augenscheinlich übte hier jemand noch. Rauch hing kalt und schmierig in der Höhle, die Wände waren schwarz vor Ruß. Auch die Haut der Nachtelfin war nicht gerade sauber. Sie trug eine schwere Lederschürze und darunter ein zerschlissenes Kleid, das, wie ihr kurzes Haar, starr vor Ruß war und nur an wenigen Stellen noch erkennen ließ, dass der Leinenstoff einst hell gewesen war. Der dritte Nachtelf verlangte scharf: „Du lässt diesen Menschenkram hier! Wir brauchen Dein Eisenerz nicht! Das sind sowieso bloß glitzernde Steine und ein paar Späne! Du wirst es nie hinkriegen, genug Erz zu sammeln und eine Waffe ganz aus Eisen zu schmieden! Also lass den Unsinn zurück und komm jetzt mit!“ Die Elfin schrie wütend: „Du Dummkopf hast keine Ahnung, wie Eisenerz aussieht! Ich brauche nur etwas Zeit, dann schmiede ich ein eigenes Schwert aus Eisen und wir werden unabhängig von der Außenwelt sein! Ich trage meine Steine allein, keine Sorge! Also lass mich einfach in Ruhe und kümmere Dich um Dein eigenes Gepäck!“ Der Elf riss vergeblich am Beutel der Frau. Als er herumwirbelte, um Schwung zu nehmen, sah er Taren im

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Eingang stehen. Alle drei Elfen hielten inne und musterten den Fremden beschämt. „Ich habe schon oft rohes Eisenerz gesehen. Soll ich mal einen Blick auf Deine Steine werfen?“, fragte Taren höflich. Zwar mehrte er so das Wissen der Elfen, doch befing ihn Stolz auf sein Volk, das die Eisenverarbeitung im Gegensatz zu den Quirmóern sehr gut beherrschte. Und wie Eisenverarbeitung den Amdovenn nützen sollte, sah er nun wirklich nicht. Würde sie dies stärken, dürften die Menschen auch kein Metall bearbeiten. Taren würde es nach außen nie zugeben, aber er wusste nicht, wo die Grenze lag. In seinem ganzen Leben hatte er es nie gewagt, einen Hohepriester danach zu fragen. Als reiner Befehlsempfänger fühlte er sich sicherer. „Ja, bitte schau einmal!“, sagte die Elfin energisch und entriss dem Widersacher den Lederbeutel. Sie stapfte zu Taren und blickte zu ihm herab. Der Mensch war fast einen Kopf kleiner. Sie legte den Hammer zu Boden und öffnete den Beutel, sodass Taren hineingreifen konnte. Er nahm einen der glitzernden dunklen Steine heraus und betrachtete ihn. Währenddessen kamen die beiden anderen Elfen zögernd näher und musterten den Steinklumpen abfällig. „Da ist rohes Eisen drin, so, wie es in der Natur eben vorkommt. Es ist allerdings nicht sehr viel. Ich glaube nicht, dass dieser Beutel für ein Schwert reichen wird“, erklärte Taren und zeigte auf die Erzspuren. Die Elfin und die beiden Männer betrachteten sich gegenseitig triumphierend. Beide Parteien fühlten sich in ihrer Meinung bestätigt.

Taren wandte sich der Elfin zu. „Für einen Langdolch wird es aber sicher reichen, und dann kannst Du Übung im Bearbeiten von Eisen sammeln.“ Er warf den Stein in den Beutel zurück. Die Elfin nickte freundlich und lächelte breit in Tarens Gesicht. Ihre Zähne waren allerdings keine Augenweide. Taren biss sich auf die Lippe, als er bemerkte, dass er auf die braunen Löcher gestarrt hatte. Er merkte es daran, dass die Elfin schnell wieder die Lippen schloss und betreten zu Boden sah. Bei Menschen wäre das kein allzu ungewöhnlicher Anblick gewesen. Doch bei Elfen sah Taren so etwas zum ersten Mal. Irgendwie passten kaputte Zähne und Elfen nicht zusammen. Die beiden Männer zogen derweil schnaubend ab. Hinter Taren entfernte sich einige Lästerei über den „sinnlosen, dreckigen Menschenkram.“ Die Elfin lächelte dünn. „Danke. Ich heiße Olériel. Wo hast Du unsere Sprache gelernt?“ „Ich bin Taren.“ Er zögerte und sackte ein wenig zusammen. „Ich kannte eine Elfin, die mich Eure Sprache lehrte. Sie hatte einen anderen Dialekt als hier in Quirmó, aber es funktioniert. Wieso befasst Du Dich mit Schmiedekunst?“ Olériel blickte Taren ernst an. Ungerührt antwortete sie: „Meine Eltern und meine Brüder wurden vor zehn Jahren von Menschen ermordet, als sie Eisenwaffen eintauschen wollten, die wir leider nicht selbst herstellen und doch gebrauchen können. Der rechte Arm meines Vaters briet über dem Feuer, als wir die schuldigen Menschen fanden.

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Von meinen Brüdern fanden wir nur noch getrocknete Blutlachen auf dem Fels. Meine Mutter fanden wir gar nicht. Aber ich fühlte, dass auch sie nicht mehr lebte.“ Taren sah zu Boden und schwieg. Olériel ließ den Blick über die Stadt schweifen und grinste schief. „Ich weiß, dass Menschen sehr unterschiedlich sind. Ich kenne Euch ganz gut, glaube ich. Seit meine Eltern starben, war ich jedes Mal dabei, wenn Quirmó seine Händler an die Oberfläche geschickt hat, um mit den letzten Freien zu tauschen, die noch nicht vom Imperium versklavt worden sind. Wärst Du jedoch einer von diesen wilden Mördern gewesen, hätte ich Dir längst den Schädel eingeschlagen.“ Etwas scheu beobachtete sie Tarens Reaktion. Der Tempelkrieger brach sein Schweigen nicht. Er musterte seinerseits Olériel. In seinem Gesicht arbeitete es. „Wer war Deine Sprachlehrerin?“, wollte Olériel die Spannung schnell auflösen, die ihr nun selbst unangenehm wurde. Taren presste die Kiefer aufeinander und blickte an Olériel vorbei auf ihren Steinamboss. Ohne auf ihre Frage zu antworten, sagte er: „Du wirst auf Dauer härteres Material als Stein brauchen, um Eisen darauf zu schmieden.“ „Tut mir leid“, raunte Olériel, als sie Tarens Schmerz in seinen Augen sah. Sie wechselte das Thema und fragte neugierig: „Wie viel weißt Du über Eisen? Kannst Du mir etwas beibringen?“ „Ich bin kein Experte“, brummte Taren. Und zu viel Wissen ist ungesund. „Aber ich weiß, dass Du einen abgeschlossenen Ofen für Dein Feuer brauchst,

um eine ausreichend hohe Hitze zum Eisengießen zu bekommen. Außerdem glaube ich zu wissen, dass rotes Glühen weiches Eisen bedeutet, und hellorangefarbenes Glühen hartes Eisen, wenn Du es nach dem Erhitzen sofort in Eiswasser tauchst. Aber wie gesagt, ich bin kein Experte.“ Olériel sah Taren mit leuchtenden Augen an. Sie reckte ihm die Hände entgegen und rief: „Ich habe geahnt, dass es an der Hitze scheitert!“ Bevor Taren noch etwas sagen konnte, drückte Olériel den zweihundert Pfund schweren Krieger fest an sich und hob ihn an. „Leider kann ich die ganzen Formen nicht auch noch mitnehmen, aber ich werde neue meißeln!“, rief sie aufgeregt und lief in die Ecke mit den Resten ihrer Experimente. Ihren Hammer hatte sie vor Tarens Füßen liegen gelassen. Einige Bronzestücke warf die Nachtelfin zu den Eisenerz-Klumpen in den Lederbeutel. Taren ertappte sich dabei, wie er ihre Hüfte anstarrte, während sie sich bückte. Ihr zerschlissenes Leinenkleid spannte sich wohlgeformt. Sie war so mit ihren Metallstücken beschäftigt, dass sie nicht mitbekam, wie Taren rot wurde und sich abwandte. „Ich warte draußen, wenn es Dir recht ist“, rief er ein wenig verlegen. Schon seit Kindertagen hatte man ihm nachgesagt, er könne sich keinen Lidschlag seines Daseins entspannen. Ein Lächeln von Taren war meist eine eingelöste Schuld gegenüber einem Gesprächspartner, aber selten ein Zeichen von Freude. Olériel stutzte und blickte hinter sich, noch immer gebückt. Sie grinste schwach, vermied es aber, ihre Zähne zu zeigen.

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Taren hörte die Nachtelfin in der Höhle rumoren. Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Irgendwie war sie ihm sympathisch, aber nicht wie Nenúriel, sondern einfach wie ein guter, lange vertrauter Freund. Zumindest redete er sich das ein. Er wollte nicht schon wieder jemanden näher an sich heranlassen. Außerdem kannte er diese robuste Schmiedin praktisch nicht. Wie gern würde er jetzt den Nachthimmel und den Mond sehen, um zu deuten, was sein Gott von ihm erwartete! Wo Taren voller Spiritualität und Disziplin war, war Olériel ganz natürlich. Wie ein naives Kind vor jeglichem Altar, war ihr Geist noch nicht mit Rollen, Erwartungen und heiligen Gesetzen malträtiert und unter Schmerzen in ein Seelenkorsett gezwungen worden. Dennoch war eine vor Schmutz starrende Schmiedin mit so schlechten Zähnen nicht gerade ein Wesen, mit dem Taren sich vorstellen konnte zu leben, das Bett zu teilen und Kinder zu zeugen. Nur, wieso war der immerernste Tempelkrieger dann plötzlich nervös und trat von einem Fuß auf den anderen? Der Hauch eines schlechten Gewissens nagte an ihm, weil er sich für Olériel mit Wissen beschäftigt hatte, mit Eisenverarbeitung, obwohl niemandes Überleben davon abhing. Schließlich stapfte Olériel mit einem riesigen Rucksack auf dem Rücken aus der Höhle. Der Hammer baumelte in ihrer Hand und die schwere Lederschürze trug sie ebenfalls noch. Die beiden lächelten sich an, als würden sie sich schon ewig kennen. Nebeneinander marschierten sie zum

Treffpunkt am Ausgang der Haupthöhle von Quirmó, an dem Taren und Srrig vor der Schlacht angekommen waren. „Bist Du eigentlich magisch begabt?“, fragte Taren im Gehen, ohne Olériel anzublicken. Olériel zögerte. Leise verneinte sie. „Du?“ Taren wollte ebenfalls verneinen, doch dann fiel ihm ein, dass Elfen seine göttliche Gunst von Bruder Mond, dessen Beistand er erbitten konnte, für Magie hielten. Er warf Olériel einen kurzen Seitenblick zu. „Ich bin ein Tempelkrieger. Das bedeutet, ich diene einem Gott der Menschen, dessen Kraft ich erbitten kann, um beispielsweise einem Kämpfer den Arm zu stärken oder um Wunden zu heilen. Mein Gott, Bruder Mond, ist außerdem sehr stark, wenn es um das Vernichten untoter Kreaturen geht. Vom Volk wird er aber vor allem um eine erholsame Nachtruhe gebeten.“ Olériel berührte Tarens Arm mit der freien Hand ganz leicht und flüsterte: „Meine Zähne stoßen Dich ab, deshalb siehst Du mich nicht an, oder?“ Taren blieb stehen und drehte sich ihr zu. Auch Olériel hielt inne. Sie bebte sacht und starrte Taren in die Augen. Stirnrunzelnd fragte er: „Was hast Du denn auf einmal?“ Natürlich kannte er die Antwort, er war nur unbeholfen. Olériel lächelte unsicher und hielt sich mit der freien Hand am Schulterriemen ihres Rucksacks fest. „Von wegen, Du kannst nicht zaubern“, flüsterte Taren und spürte, wie sein Herz zu hämmern begann. „Wie ist das möglich? Wir kennen uns erst ein paar Augenblicke!“, keuchte er und trat einen Schritt zurück. Für einen Moment dachte er in völligem Ernst daran, dass sie ihn

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verzaubert haben musste. Er fühlte sich, als hätte Nenúriel selbst ihm ihren Segen zu einer neuen Gefährtin gegeben. Zu einer Nachtelfin, die er praktisch nicht kannte und die ganz und gar nicht dem Bild entsprach, das er – hätte man ihn zum Wählen gezwungen – als seinen Geschmack beschrieben hätte. Langsam ließ Olériel den Kopf sinken. Traurig raunte sie: „Entschuldige. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.“ Sie stapfte mit hängendem Kopf an Taren vorbei. Nach zwei Schritten machte er einen Satz hinter ihr her, überholte sie und sah zu ihr auf. Seine Hände strichen zärtlich über die Rußflecken auf ihren Schultern, unter denen ihre Haut samtig weich war – jedenfalls dort, wo ihre Muskeln nicht ganz so deutlich hervortraten. Olériel ließ langsam den Rucksack vom Rücken gleiten, bis er und der Schmiedehammer gleichzeitig dumpf zu Boden fielen. Verlegen blickte Taren zu den Seiten, wo geschäftige Elfen die beiden angrinsten. „Was ist? Stören Dich etwa die Blicke der anderen?“, wunderte Olériel sich und legte den Kopf schief. „Das ist süß“, flüsterte sie und küsste Taren auf die Stirn. „Komm!“, rief sie, fasste Tarens große Hand und zog ihn mit sanfter Gewalt hinter sich her. „Dein Hammer und Dein Rucksack“, erinnerte Taren sie und hielt sie fest. „Jeder weiß, wessen Sachen das sind. Nur Olériel nimmt Hammer und Steine mit auf die Reise“, lachte die Nachtelfin und zerrte erneut an Tarens Hand. Mit einem zaghaften Lächeln gab der Tempelkrieger nach und folgte Olériel.

Sie führte ihn in einen kleinen Tunnel, in dem selbst Taren sich bücken musste, um sich nicht den Kopf zu stoßen. Abermals hielt er Olériel fest und blieb stehen. „Was ist, wenn die Schlangenblüter hier herumschleichen? Ich habe keine Waffe dabei!“ Olériel setzte sich hin und lehnte sich mit dem Rücken an die gewölbte Tunnelwand. Die Arme breitete sie an der Wand aus. „Der Tunnel führt zu einem winzigen See in einer Grotte, zu der es keinen anderen Zugang gibt.“ Sie sah Taren so ausdruckslos an, wie ihr hämmerndes Herz es zuließ. „Möchtest Du mit mir dorthin gehen, oder sollen wir zurück?“, hauchte sie. Taren schluckte. Er verlor sich in den liebevollen Augen der elfischen Schmiedin und vergaß alles andere. Er vergaß den Ruß in ihrem Haar und die Löcher in ihren Zähnen, versank hilflos in ihren verträumten Blicken. Als hätte er einen Schlag in den Nacken erhalten, fiel er vor Olériel auf die Knie und mit seinem Gesicht direkt vor ihres. „Ich will nicht zurück. Aber schaffen wir es bis zur Grotte?“, raunte er und kam mit seinen Lippen näher an Olériels heran, während seine Lider herabsanken. „Ich muss wohl eine Schwäche für Außenseiter haben“, dachte Taren bei sich. Außerdem war ihm klar, dass er kein Verführer war und längst nicht jede haben konnte. Er schob sein Gesicht noch weiter – auf einmal wäre er fast vornübergekippt. Olériel krabbelte lachend auf allen vieren voraus und winkte Taren hinter sich her. „Ist nicht mehr weit!“, rief sie vergnügt und strahlte ihn an. Taren krabbelte ihr nach um eine Biegung, schon hörte er sie planschen. Für einen Moment wurde er langsamer,

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fast hätte er angehalten. Die Bewohner von Quirmó zogen vielleicht alle dem Tod entgegen. Würde er es noch einmal ertragen, eine Gefährtin zu verlieren? Er schüttelte die düsteren Gedanken ab und kroch eilig weiter. Nenúriel hatte ihm eine so einfache Denkweise über das Leben beigebracht, wie er sie im Tempel nie kennengelernt hatte, obwohl sie hervorragend zur Auslegung der Prophezeiung Theb Nors passte: Lebe sofort, nicht morgen und nicht bloß in Gedanken. Für viele Menschen klang das banal, kannten sie es doch aus ihren Tempeln. Taren hingegen fiel es um so schwerer, dieser Philosophie zu folgen, je mehr er sich anstrengte. Vielleicht war das Anstrengen das Problem, aber er konnte nicht anders. Taren passierte die Biegung und war angenehm überrascht: Er hatte eine dunkle, lichtlose Pfütze erwartet. Doch er kroch in ein mildes, dunkelrotes Licht, dessen Quelle am nahen Grund eines winzigen Sees aufleuchtete. „Das Licht wird von unseren Zauberern bereitgestellt. Die sorgen auch dafür, dass der See angenehm warm ist“, erklärte Olériel. Ihr Kopf und ihre Schultern ragten vor Taren aus dem Wasser. Nur ihre Lederschürze hatte sie abgestreift. Das alte Kleid klebte nass auf ihrem Körper, die Haut schien durch. Plötzlich schoss sie aus dem Wasser, packte Tarens Kopf und riss ihn mit sich in den See. Sie küsste ihn so leidenschaftlich, dass er kaum Zeit zum Luftholen hatte. Auch sie schien atemlos, als sie ihm ihren Hals an die Lippen presste und den Kopf in den Nacken fallen ließ. Sie stöhnte: „Wieso können Männer nicht vier Hände haben?“

Taren hätte nie zu denken gewagt, dass er Nenúriel so schnell vergessen konnte. Olériel wirkte auf ihn ungleich aufregender und so voller ansteckender Lebensfreude, dass Nenúriel in Tarens Erinnerung wieder zu der schüchternen, traurigen Gestalt verblasste, die er zu Anfang in ihr gesehen hatte. Wunderschön, aber nichts sonst, nichts hinter der Oberfläche außer Trauer und Zerbrechlichkeit. Hätte das auf Dauer alles sein können? Hätte das eine gute Mutter für seine Kinder ausgemacht? Er verdrängte diese Gedanken, er wollte Nenúriel in guter Erinnerung behalten – das hatte sie verdient, außerdem gehörte es sich für einen Tempelkrieger, die Toten zu ehren. Olériel und er lagen aneinandergeschmiegt auf ihrer Kleidung, gegenüber dem Eingang am Ufer des winzigen Sees. Erst jetzt, da die Nachtelfin frisch gebadet war, ihre Haut makellos und rein erschien und ihr Haar frisch duftete, erblühte ihre Schönheit in voller Pracht. Sie schmiegte ihr Gesicht an Tarens Bart und blickte mit leuchtenden Augen zu ihm auf. „Danke, dass Du mich so annimmst, wie ich eben bin“, flüsterte sie. „Ich könnte Dich auffressen, aber ich fürchte, wir müssen zum Treffpunkt.“ Nur widerwillig zog Taren seine Hand von Olériels Hüfte zurück. „Tja, kaum sind die Sachen etwas getrocknet, müssen wir wieder schwimmen“, grinste er. Die beiden setzten sich an den Uferrand und kleideten sich an. „Hm, stimmt. Das ist wirklich ein Haken an dieser Grotte“, überlegte Olériel scheinbar angestrengt und legte den Kopf schief. „Die nächste Grotte sollte jemand anlegen, der sich damit auskennt.“

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Taren bemerkte ihre Hand in seinem Rücken nicht, bis sie ihm plötzlich einen kräftigen Schubs gab. Noch bevor er sich revanchieren konnte, sprang sie ihm jauchzend hinterher. Als die beiden tropfend aus dem Tunnel in die Haupthöhle traten, standen viele Elfen bereits am Sammelpunkt abmarschbereit. Olériels Rucksack lehnte an einer Wand, und am Rucksack lehnte ihr Hammer. Etliche grinsende Elfen sahen sie und Taren, wie sie aus dem Tunnel eilten. Olériel wusste, dass nun der verhasste Tratsch über sie mal wieder losging, Tratsch darüber, dass die unelfische Steinklopferin und Ruß-Fetischistin jetzt auch noch mit einem Nicht-Elfen anbandelte. Ihr Volk verstand unter Kultur allzu oft, hochnäsig und eingefahren zu sein. Taren bemerkte Olériels angespannte Miene. Unwillkürlich tastete ihre Hand nach Tarens und ergriff sie fest. „Was hast Du?“, raunte er. Olériel ließ den Blick nicht von den tuschelnden Elfen, während sie leise erwiderte: „Die meisten Elfen mögen mich nicht sonderlich, so wenig wie sie Fremde oder gar Nicht-Elfen mögen. Auch nicht, wenn sie trocken sind. Ich weiß ja nicht, wie viel Deine vorige Gefährtin Dir über das Status-Gehabe der Elfen erzählt hat, aber ...“ Nenúriel war selbst eine Außenseiterin und eine Stadtelfin gewesen. Sie hatte Taren fast gar nichts über Elfen im Allgemeinen erzählen können. Doch das war jetzt nicht mehr nötig. Auch Taren wusste die spöttisch blitzenden Blicke zu deuten. Die Elfen versuchten, ihre

Meinung zu verbergen, manche heuchelten Höflichkeit. Doch Taren war weder dumm noch unerfahren. Er verstand es sehr gut, in den Augen von Lebewesen zu lesen, egal ob von Menschen, Elfen oder sonst einem Volk. Manche Dinge waren überall gleich, und bei allen Völkern, die Taren je getroffen hatte, waren die Augen immer auf dieselbe Weise die Fenster zur Seele gewesen. Manche Waldläufer konnten sogar in den Augen von Tieren lesen, wusste Taren. Unterschiede zwischen den Völkern gab es erst, wenn es um Einzelheiten ging – die Arroganz aber, die Taren hier entgegenschlug, war offenkundig und gewiss keine Einzelheit. Taren entdeckte Paaldrags riesigen Drachenschädel in der murmelnden Menge. Kurz darauf sah er auch Laura, dann Athónon und Brommil. Nur Srrig und Mèra entdeckte er nicht. Am Rande fiel Taren auf, dass immer wieder einzelne Lichtkugeln erloschen und kurz darauf neu entstanden, begleitet von einigem Gezeter und wütendem Streit. Der Tempelkrieger erinnerte sich kopfschüttelnd an die Worte des Zauberers Myándirel, über die zwiespältige Meinung der Nachtelfen in Bezug darauf, ob man Magie benutzen durfte oder nicht. Olériel warf sich ihren Rucksack auf den Rücken und packte ihren Schmiedehammer, dann folgte sie Taren zu dessen Reisegefährten.

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16 Da alle beisammen standen, hatte Laura endlich die Gelegenheit, sich bei Brommil zu bedanken: Nachdem Melek sie vor der Schlacht in einem Seitengang zusammengeschlagen hatte, war der Zwerg hinzugeeilt und hatte Melek vertrieben. Brommil nickte und freute sich über die Anerkennung. Dann entdeckte er Taren und Olériel. „Hey, Du bist doch nicht die stärkste Frau in dieser Höhle!“, scherzte Brommil und stupste Laura an. Sie, Athónon und Paaldrag wandten sich darauf ebenfalls Taren und dem neuen Gesicht an seiner Seite zu. Olériel lächelte Tarens Begleiter an, selbst Paaldrag schien sie ohne Vorurteile zu betrachten. „Ich heiße Olériel“, sagte sie fröhlich, doch wohl darauf bedacht, ihre Zähne nicht zu zeigen. Taren stellte seine Begleiter vor, die freundlich nickten. „Ihr seid ganz nass, was ist passiert?“, wunderte Laura sich und sah ehrlich besorgt aus. Taren und Olériel blickten gleichermaßen verschmitzt drein und schwiegen, bis Laura verstand und zaghaft grinste. „Ach so“, machte sie leise. „Wo sind Srrig und Mèra?“, fragte Taren. „Beim Rat“, antwortete Laura. Mit dem Kinn deutete sie über den wuselnden Zug der Nachtelfen hinweg auf das größte Gebäude Quirmós. „Wir warten nur noch auf die Ratsmitglieder. Soweit ich gehört habe, starben zwei von ihnen beim Angriff auf die Stadt, und bevor es losgeht,

wollen die verbliebenen Stadträte erst die Nachfolge bestimmen.“ Olériel nickte und meinte: „Das habe ich auch gehört. Myándirel soll Velýthoel nachfolgen, obwohl er halb blind ist. Aber ich weiß nicht, wer Kanmárael ersetzen soll, er war außer Konkurrenz. Ich hoffe, dass es nicht Gamáal wird, der Mann ist verrückt und böse. Dummerweise ist er aber der beste Krieger Quirmós, hat also gute Chancen.“ Taren staunte: „Myándirel wird ein Ratsmitglied? Der, der nicht mal einen Lichtzauber für seine Höhle zustande bringt?“ Olériel grinste zurück: „Ich habe ein Gerücht darüber gehört, dass er aber sehr wohl in der Lage gewesen ist, Deinem großen felligen Freund sein Gedächtnis zurückzubringen. Außerdem macht Myándirel ein ziemliches Geheimnis daraus, was er im Gedächtnis dieses Tigerwesens gesehen hat.“ „Nun, ja ...“, brummte Taren ausweichend. Olériel wartete vergeblich auf eine nähere Erklärung. Sie hob sich ihre Fragen für später auf und schilderte: „Außerdem war Myándirel Velýthoels Meisterschüler, und wenn er nicht so kurzsichtig geworden wäre und diese komische Einstellung zur Magie entwickelt hätte, dann hätte er seinen alten Meister schon früher abgelöst, heißt es. So aber ist Velýthoel ungewöhnlich lang und mit einem zu hohen Alter auf seinem Platz geblieben. Man sagt, er hätte keinen anderen würdigen Kandidaten als Nachfolger gewusst, um in den verdienten Ruhestand zu gehen.“ Ein elfisches Kleinkind lief am Rand des Flüchtlingszuges entlang und weinte. Offenbar hatte es seine Eltern im

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Gedränge verloren. Oder in der Schlacht zuvor. Es trug ein vornehmes Kleid und rote Bänder im Haar. Plötzlich stiegen bunte Lichtperlen aus seinem Haar bis unter die Höhlendecke. So fand die Mutter es rasch wieder. Sie umarmte das Kind unter den missbilligenden Blicken einiger Umstehender, denen der verschwenderische Einsatz von Magie nicht gefiel. Olériel musterte Laura, die etwas unsicher zurückblickte. „Du bist also diese Kriegerin, die Mèra gerettet hat?“, fragte sie neugierig. Laura schien erst jetzt, durch die Reaktion Fremder zu verstehen, dass sie nicht bloß träumte. Sie straffte sich mit unverhohlenem Stolz und bejahte. Schon war ihr Moment des Ruhmes aber wieder vorbei. Denn Brommil, der auch Lauras Niederlage gegen Melek kannte und sie nicht mit solch großen Augen bestaunte, wechselte das Thema: „Wüsste ich es nicht besser, würde ich Dich für eine Schmiedin halten, Olériel“, sagte er und deutete auf den Hammer und die verrußte Lederschürze. „Ich versuche es“, lächelte sie. „Stimmt es eigentlich, dass Zwerge von Natur aus begabte Schmiede sind? Man erzählt sich hier so etwas.“ Brommil hob ratlos die Hände und meinte: „Ja, in meiner Heimat erzählte man mir das auch. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich habe zwei linke Hände fürs Handwerk. Ich zog als Söldner in die Weite Hevanors hinaus.“ Sein Blick trübte sich. Leiser fügte er hinzu: „Für Gold töten konnte ich früher ganz gut, bevor ich Sklave der Chimärier wurde.“

Olériels Lächeln verblasste. Ihr Blick wanderte unwillkürlich zu Paaldrag empor. Der grinste sie plötzlich mit seinen messerscharfen Zähnen an und machte laut: „Buh!“ Olériel zuckte heftig zusammen und wurde bleich, obwohl sie sofort verstanden hatte, dass der Chimärier nur einen derben Scherz gemacht hatte. „Ich weiß, dass nicht alle Vertreter eines Volkes gleich sind. Seht mich an!“, versuchte sie, fröhlich zu klingen, doch es gelang ihr nicht richtig. „Ich war auch mal Sklavin im Imperium, für ein paar Monde“, berichtete sie plötzlich leise. „Sie hatten mich und ein paar andere gefangen, als wir an der Oberfläche gewesen waren. Sie wollten mich in der Niederenzucht in einer weit entfernten Stadt einsetzen. Zum Glück kam das Schiff, das uns abholen sollte, wegen eines Sturms nie an. Bevor das nächste da war, gelang mir die Flucht aus Harkýior, hierher zurück. Ich habe als Einzige die Folter überlebt; die wollten von mir wissen, wo unsere Stadt liegt, wer in der Nähe lebt und derlei. Ich habe es ihnen wegen der Schmerzen ja immer wieder gesagt, aber sie waren mit der Antwort wohl nicht zufrieden. Wusstet Ihr, dass das Imperium vor vielen Jahren ganz in der Nähe Truppen stationiert hatte? Sie haben sogar die Wege und Tunnel verbreitert, aber dann verschwanden sie ganz plötzlich und ließen ihre Sporks zurück.“ Olériels weit aufgerissenen Augen schweiften ins Leere. „Ich wollte mein Volk nie verraten“, murmelte sie, „aber ich wollte auch nicht an glühenden Eisenstäben sterben.“ „Sind daher die Brandnarben auf Deinem Rücken?“, fragte Taren sie ins Ohr. Sie nickte.

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„Du hattest Glück, dass es nur das war“, grollte Paaldrag. Olériel sah kühl zu ihm auf und erwiderte: „Ich weiß. Bist Du stolz auf die Foltermethoden Deines Volkes?“ Paaldrag schwieg und sah auf die Nachtelfin herab. Olériel hielt dem Blick kurz stand, doch dann sah sie weg und seufzte: „Tut mir leid, das war nicht fair. Du wärst nicht hier, wenn Du ein loyaler Soldat dieser Bestien wärst.“ Paaldrag nickte betont langsam. „Wieso begleitet ihr uns alle? Ihr habt uns schon zuvor im Kampf gerettet, warum? Was macht Ihr alle hier überhaupt?“, sprudelten die Fragen aus Olériel heraus, da niemand sonst redete. „Weißt Du, was die große Gabe der Nachtelfen ist?“, fragte Taren. Olériel musterte ihn verständnislos und fragte frostig zurück: „Wir können von allein an der Sonne verbrennen und müssen nicht erst angezündet werden?“ Sie seufzte und ließ den Kopf hängen. „Tut mir leid. Das ist ein wunder Punkt bei uns.“ „Das ist der Preis eurer Gabe, aber nicht die Gabe selbst. Hat sich ausgerechnet das nicht herumgesprochen?“, wunderte sich Taren. „Du meinst dieses Gerücht, wir könnten Dämonen verletzen? Wesen also, die es nicht gibt?“, fragte Olériel skeptisch zurück. Athónon warf entschieden ein: „Es ist kein Gerücht. Es ist der Grund, warum es das Volk der Nachtelfen überhaupt gibt. Ihr leidet an keiner Krankheit.“

Als Olériel den Gnom zweifelnd anblickte, fügte er fest hinzu: „Ganz sicher.“ Olériel betrachtete ihren Hammer. „Leider funktioniert es ohne Übung nur unbewaffnet“, ergänzte Athónon daraufhin. Die Nachtelfin schnaubte verächtlich und brummte: „Tolle Gabe. Ich soll mich beißend und kratzend auf einen Dämon stürzen?“ „Nein“, entgegnete Athónon trocken. „Aber ich bin sicher, Srrig und Mèra können die Nachtelfen lehren, ihre Gabe auch auf Waffen auszudehnen. Ich habe die starke Vermutung, dass dies einer der Gründe ist, weshalb sie Dein Volk weiter in die Tiefe begleiten wollen, abgesehen davon, dass dort irgendwo einer ihrer Gefährten gefangen gehalten wird.“ „Woher weißt Du das alles?“, staunte Olériel. „Wieso weißt Du mehr über mein Volk, als wir selbst wissen?“ Als Athónon darauf nicht antwortete, blickte die Nachtelfin fordernd zu Taren. Der Tempelkrieger wechselte vielsagende Blicke mit Athónon, schwieg jedoch ebenfalls. „Hey!“, rief Olériel aufgebracht und stemmte die freie Faust in die Hüfte. Sie fühlte sich, als sei sie in eine geheime Verschwörung hineingeplatzt, die nun jeder leugnete. „Das ist ein bisschen schwer zu erklären“, begann Taren gedehnt. Enttäuscht musterte Olériel ihn. „Du vertraust mir nicht?“, flüsterte sie. Athónon begann, ruhig zu sprechen. „Srrig und Mèra sind Halbgötter. Mèra ist diejenige, die vor vielen Jahrhunderten die Nachtelfen als Waffe gegen das Äußere

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Volk erschuf. Wir nennen sie auch Amdovenn oder landläufig Dämonen.“ Olériel starrte noch einen Moment nirgendwohin und verarbeitete, was sie gerade gehört hatte. Götter waren für sie, ebenso wie Dämonen, bloß Lagerfeuergeschichten. Langsam drehte sie sich Athónon zu und musterte ihn ungläubig. Von der Seite sagte Taren: „Das ist die Wahrheit. Ein zweiter Dämonenkrieg steht bevor, nachdem der vorige viele Jahrhunderte her ist. Damals haben die Dämonen der Überlieferung zufolge den Krieg verloren. Doch die erste Schlacht ihrer Revanche ist schon geschlagen worden.“ Er sah zur Ratshütte von Quirmó und dachte an Mèra. „Dein Volk ist eine wehrlose Zielscheibe, solange es sein Erbe nicht antritt. Die Amdovenn fürchten das, was aus Euch werden könnte.“ „Und Srrig und Mèra erklären das gerade dem Rat?“ Olériel starrte Taren entsetzt an. Der nickte ernst. Olériel beobachtete Laura. Die Nachtelfin kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und meinte: „Du scheinst das nicht zu glauben, oder?“ „Ich sage nichts dazu“, brummte Laura. Olériel sah fragend in die Runde. Bevor jemand anderes etwas sagen konnte, seufzte Laura und schilderte doch selbst: „Ich denke, es ist so, wie Athónon und Taren sagen. Was die beiden jedoch weglassen, sind der Schmerz und die Verluste, die Dein Volk noch erleiden wird, wenn es dem Pfad dieser rücksichtslosen Halbgötter folgt. Insbesondere, wenn es nach Srrig geht. Versteh mich nicht falsch, Srrig ist ein schier unbesiegbarer Krieger, und er ist auch äußerst weise. Aber das Leben eines Sterblichen

ist für ihn nicht viel wert. Das hat er selbst angedeutet. Er lehrt mich zu kämpfen und ich bin ihm dafür dankbar, ich respektiere ihn und auch Mèra, aber keinesfalls würde ich ihm blind vertrauen und ihm einfach so folgen.“ Olériel betrachtete die Halbelfin nachdenklich, wie sie verloren dastand und die Arme am Körper herabhängen ließ. Sie konnte den Schmerz und den Verlust in Laura fast am eigenen Leib spüren. Dann sah sie zu Athónon, der ebenfalls mit glimmenden Augen ins Nichts starrte und in der Erinnerung leidvolle Szenen zu beobachten schien. „Wieso seid Ihr dann hier?“, fragte Olériel. „Wenn diese Halbgötter so viel Unglück über ihre Gefolgsleute bringen, wieso folgt Ihr ihnen dann trotzdem?“ Athónon schwieg noch immer. Lauras Miene jedoch füllte sich mit glühendem Zorn. „Irgendsoein Dämonenjünger hat meine Mutter auf dem Gewissen! Ich werde sie rächen!“, zischte die Halbelfin und hob die geballte Faust. Was sie verschwieg, war ihr Gefühl tiefster Leere und Heimatlosigkeit, das Fehlen irgendeines anderen Ziels im Leben. „Wenige müssen leiden und Opfer bringen, damit der Rest auf Hevanor in Frieden vor dem Äußeren Volk leben kann. So ist der Lauf der Dinge für ruhelose Wanderer wie uns“, raunte Athónon, ohne irgendwen anzublicken. Taren hob abwehrend die Hände und meinte: „Moment – war der Plan nicht, den Imperator zu stürzen?“ „Was?“, entfuhr es Olériel. „Das wird ja immer verrückter!“ „Das dürfte zusammenhängen“, knurrte Athónon, „da der Imperator mit den Amdovenn zusammenarbeitet.“

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Nun starrten alle den Gnom an. Bisher war niemandem bewusst geworden, dass Mèras beinaher Tod bestens zu Schattenwachts Plan passte. „Ich habe es gesehen, in seinem Palast, in der Hauptstadt Pýur“, raunte Athónon. „Wir waren dort Sklaven, nachdem wir von einer magischen Zeitreise an den falschen Ort zurückkehrten. Es gibt bereits einen ersten Handelsvertrag zwischen Schattenwacht und den Amdovenn über ein besonderes Waffenmaterial, das sie Stahl nannten. Außerdem ist Cerýllion, der Elf, der uns mit seiner Geistesmagie manipulieren wollte, ein glühender Anhänger des Drachen und sein Meisterschüler in Fragen der Zauberei. Cerýllion und Kanzler Rogáril haben nachweislich zusammengearbeitet, das spürten wir ja schon am eigenen Leib.“ „Zeitreise?“, keuchte Olériel. Sie hob resigniert die Hände, starrte zur Höhlendecke und schüttelte den Kopf. Ihre Gesichtszüge zuckten hin und her zwischen trotzigem Unglauben und aufwogender Panik. Paaldraag starrte Athónon zweifelnd an. „Du warst ein Sklave in Pýur und bist entkommen?“, rief er, wohl wissend, dass zahllose Elfenohren in der Nähe waren. „Niemand kann dem Imperator entkommen!“, zischte Paaldrag weiter. „Außer der Drache will das.“ Der Chimärier verstummte, seine Augen weiteten sich noch mehr. Sein Volk besaß keinen ausgeprägten Reflex zum Zurückweichen. Der chimärische Reflex, wenn Angst langsam heraufkroch, bestand im Zuschlagen. Paaldrag ballte die Fäuste und beherrschte sich mühsam.Athónon setzte seine Steinmiene auf und nickte. Schwer wie ein

Mühlstein hing der Vorwurf in der Luft. Dass Athónon sogar einen Teil seiner Seele an den Drachen verkauft hatte, um T’ral, den mächtigsten der Vier Könige freizukaufen, verschwieg er lieber. Insbesondere die Tatsache, dass der Imperator so jederzeit herausfinden konnte, wo Athónon war und was um ihn herum passierte, wollte er keinesfalls preisgeben. Der Gnom wusste, dass er den Weg nicht zu Ende gehen durfte, wenn er die Nachtelfen und die Halbgötter nicht in tödliche Gefahr bringen wollte. Da Schattenwacht mit Athónons Augen sehen konnte, war jegliche Überraschung zum Scheitern verurteilt. Mèra und Srrig wussten das ebenfalls, und auch Taffi. Alle anderen Personen, die von dem Seelenopfer gewusst hatten, waren lange tot. Athónon sah Laura eindringlich ins Gesicht, seine heisere Stimme wandte sich jedoch an alle. „Ich werde Euch darum auch vor dem Ende des Weges verlassen.“ Paaldrag und die anderen blickten unsicher zwischen Laura und Athónon hin und her, die sich mit lodernden Blicken durchbohrten. Fieberhaft überlegte Laura, ob sie Athónons Opferbereitschaft vor allen zur Sprache bringen sollte. Sie wusste, sie konnte nicht allein ein Wortgefecht gegen ihn auskämpfen. Konnten und wollten die anderen ihr dabei helfen? Laura verlor das Blickduell ein weiteres Mal, wie schon zuvor, als Athónon beim Tee düstere Andeutungen gemacht hatte. Sie wandte sich schwer seufzend ab. Aber sie zog auch niemand anderen in diese Auseinandersetzung hinein.

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Die unterschwellige Feststellung Paaldrags, Athónon könnte ein Werkzeug des Imperators sein, schwebte unerträglich zwischen den ungleichen Gefährten. Doch nicht nur die schwiegen. Auch die Nachtelfen um sie herum starrten auf Athónon, manche furchtsam, andere unverhohlen wütend. Laura bemerkte es als Erste. „Was glotzt ihr so?“, zischte sie leise. Sie war jedoch wenig überzeugend, da sie den Grund kannte, warum alle Athónon anstarrten. Außerdem wusste sie, dass sie in einer so kritischen Situation als Nicht-Elfin keine Autorität besaß. „Der Rat soll darüber befinden“, tönte es unbestimmbar aus der Menge der Nachtelfen. „Tut mir leid“, raunte Paaldrag schuldbewusst zu Athónon. Über die Konsequenzen seiner erhobenen Stimme hatte er offenbar nicht nachgedacht. Er war einem anerzogenen sozialen Reflex der Chimärier unterlegen; Geheimniskrämerei wurde ihnen mit diversen Methoden aberzogen. Umstehende durch Anheben der Stimme einzubeziehen, war eine der Verhaltensweisen, die ihnen zutiefst verinnerlicht wurde. „Jetzt ist es raus“, murmelte der Gnom nur.

Der neue Rat von Quirmó bestand aus dem Ältesten Pêraphèniel, aus dem Heiler Fêowyn, dem Barden Sophéion, dem Zauberer Myándirel und einem hageren, ausgezehrten Asketen namens Gamáal, der ein schlankes Eisenschwert mit langem Griff an der Seite trug. Die

Lederscheide war mit rotbraunen Runen der Zearrai beschrieben. Getrocknetes Blut? Sein Lehrmeister, der Vorsteher eines Kriegerklosters der Westtiger, hatte Gamáal die Runen persönlich gewidmet. Unter der schwarzblauen Tunika des Ratsmitglieds trug Gamáal ein Bronzekettenhemd mit kurzen Ärmeln. Seine Schienbeine wurden von dicken Lederschienen geschützt, während er an den Füßen nur dünne Schnürlederschuhe trug. Seine Augen lagen in dunklen Höhlen und glommen finster. Seinen schwarzen Zopf durchzogen Lederbänder, das Haar reichte fast bis zum breiten Schwertgürtel. Gamáal besaß keine sichtbaren Narben, wohl aber das harte Gesicht eines Mannes, der viele Länder bereist und oft Blut vergossen hatte. In Quirmó war Gamáal dafür bekannt, kaum einen Ton zu sagen und täglich wenigstens eine Stunde seine Finger- und Fußnägel gegen Steine zu schlagen und sie zu Krallen abzuhärten. Tatsächlich waren seine Nägel dick und braun, besaßen deutliche Rillen und kleine Scharten an den Kanten. Er musste sie nicht schneiden, sie nutzten sich von selbst ab. Kanmárael war Gamáal vor Jahren im Rat vorgezogen worden: Gamáal hatte darauf beharrt, dass die Legenden über Nachtelfen wahr seien, sie könnten Dämonen mit bloßen Händen verletzen. Heute glaubte man Gamáal plötzlich, außerdem war Kanmárael heldenhaft gefallen und brauchte einen Nachfolger. Gamáal mit seinen braunen Krallen galt schlagartig als größter Trumpf von Quirmó, sollte sich den Nachtelfen ein Dämon in den Weg stellen. Man hielt ihn zwar auch für einen unsympathischen

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Eigenbrötler, was ihn nicht unbedingt zu einem guten Ratsmitglied machte. Doch in Kriegszeiten gab es eben wichtigere Kriterien als Sympathie. Wenigstens ordnete man Gamáal, wie auch den Ältesten Pêraphèniel und den Heiler Fêowyn, denjenigen Nachtelfen zu, die von der Macht nicht verdorben und verführt wurden, mit der man sie ausstattete. Jeder Nachtelf von Quirmó wusste, dass der Rat das Volk mitunter manipulierte und durch Floskeln und Zerstreuungen möglichst ruhig zu halten versuchte. Doch jene Nachtelfen, welche die Quirmóer darüber hinaus auszubeuten versucht hatten, waren schon längst verstoßen und durch bessere Ratsmitglieder ersetzt worden. Die Ratsmitglieder standen im Halbkreis um den großen Tisch der Quirmóer Ratshütte. Ihnen gegenüber standen Srrig und Mèra. Auf Srrigs Schultern saß außerdem Taffi. Pêraphèniel stand in der Mitte und redete. In gleichmäßigen Intervallen breitete er dabei diplomatisch die Arme aus. „Der Rat von Quirmó heißt Euch offiziell willkommen, verehrte hohe Gäste. Wir haben viele Gerüchte darüber gehört, wer genau Ihr sein sollt, aber wir bitten Euch, uns Eure Identität und Eure Absichten selbst zu offenbaren.“ Srrig blickte stumm zu Mèra. „Dein Volk“, sagte sein Gesicht und forderte sie zum Reden auf. Mèra trat vor. Noch bevor sie den Mund öffnete, sprachen jedoch ihre Augen. Ihr Blick kündete davon, wie unsäglich müde sie innerlich war. Zu oft hatte sie Situationen wie diese durchlebt, Situationen, in denen sie die Führung

über Sterbliche hätte übernehmen sollen. Doch Sterbliche unterlagen allzu leicht dem eigenen Ego und traten in Opposition zu ihr, glaubten ihr nicht und setzten sich über ihre Weisungen hinweg, weil sie Macht und Ruhm erlangen wollten. Ganz so, wie die Prophezeiung von Theb Nor es als ewigen Fehler herausstellte. Mèra wurde so sehr von ihren alten Erfahrungen gefangen gehalten, dass sie die Mitglieder des Quirmóer Rates kaum eines offenen Blickes würdigte. Die Halbgöttin ignorierte die Frage nach ihrer Person und berichtete sofort von Schattenwacht. „Es steht uns großes Unheil bevor. Der Imperator der Chimärier hat insgeheim einen Bund mit einem sehr mächtigen Amdovenn geschmiedet, dem Kanzler des Äußeren Volkes. Gemeinsam wollen Schattenwacht und Kanzler Rogáril Hevanor unter sich aufteilen. Aus Gründen, die Ihr nicht verstehen würdet, sind wir momentan auf uns allein gestellt und dürfen keine unmittelbare Hilfe von den Göttern erwarten.“ „Götter?“, murmelte Sophéion abfällig. Der erste Gegner von Mèras Worten betrat also die Bühne. Sie sah den Barden nicht an, sondern Pêraphèniel, und redete weiter. „Auch wenn ihr nicht an sie glaubt, sie für Geschichten haltet, mit denen einfachere Völker sich ihre Schöpfung erklären und sich Vorschriften über ihr Zusammenleben machen – die Götter sind da und beobachten unsere Welt.“ Mèra verschwieg ihren eigenen katastrophalen Fehler bei Jades Wiederbelebungsversuch, der zum Schweigen der Götter beitrug. Auch von den komplizierten Regeln, denen das Gefüge der Welt unterlag, und der Zerstrittenheit der Götter untereinander mussten die Sterblichen nichts wissen.

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„Srrig und ich begleiten Euer Volk in die Tiefe, denn wir haben denselben Weg. Wir befreien einen Verbündeten, wenn Euer Volk in Sicherheit ist.“ T’ral ... Leb wohl, Randolph. „Dann ziehen wir weiter, um den Imperator zu stürzen und damit auch sein Bündnis aufzulösen, bevor Rogárils Volk auf Hevanor einfällt. Denn sollte das geschehen, würden die Götter wohl endgültig das Interesse an ihrer Schöpfung verlieren und Hevanor den Rücken kehren, anstatt einen verlustreichen Krieg zu riskieren. Und damit würden sich auch ihre Freunde, die Dahnrud nicht länger verpflichtet fühlen, den Sterblichen zu helfen, denn die dahnrudische Existenzebene ist für die Amdovenn unerreichbar. Die Dahnrud werden immer sicher sein, solange die Amdovenn nicht gerade an der Quelle der Magie herumpfuschen oder die Inferior aus ihrem Exil befreien. „Schnelligkeit ist von entscheidender Bedeutung. Wir müssen den Invasionsplänen Rogárils zuvorkommen. Die gemeinsame Macht des Imperiums und des Äußeren Volkes könnte kein anderes Bündnis der freien Völker auf halten. Auf dem Weg in die Tiefe wird Srrig Euch dennoch lehren, Euer Erbe wider dämonische Kreaturen einzusetzen, für den Fall, dass erste Truppen durch die himmlischen Sphärentore schlüpfen. Oder falls wir scheitern und die Sterblichen doch einen verzweifelten Krieg gegen zwei so mächtige Götterfeinde auskämpfen müssen.“ Pêraphèniel musterte Mèra ernst, wie sie verloren und distanziert dastand. Er schwieg. Sophéion hatte

das Gehörte hingegen noch kaum verarbeitet. Er war zu intensiv mit eigenen Gedanken beschäftigt, die nun aus ihm herausplatzten. Vorlaut fragte er in die Stille: „Was ist mit der heiligen Decke? Seid Ihr jene angebliche mystische Königin, die sie herstellte? Hat sie wirklich legendäre Heilkräfte?“ Mèra blickte den Barden ausdruckslos an. „Ihr redet von der Vergangenheit, doch ansonsten stimmen Eure Annahmen.“ Ein leises Schaudern erfasste die Ratsmitglieder. Mèra hob nur ein wenig das Kinn. Ihr Charisma erdrückte nun jeden Zweifel und jedes Aufbegehren gegen sie ohne eine gesprochene Silbe. Vor den geistigen Augen der Elfen spielten sich alte Lagerfeuergeschichten in einem neuen Licht ab. Ehrfürchtig musterten sie Mèra, die teilnahmslos die zahlreichen Blicke an sich abprallen ließ. Pêraphèniel fragte leise: „Dann seid Ihr also unsere Königin?“ Er hielt den Atem an. „Nein! Das ist lange vorbei. Ich trachte nicht danach, den Rat von Quirmó oder gar das ganze Elfenvolk anzuführen.“ Sophéion atmete erleichtert aus. Pêraphèniel hingegen musterte die Elfin mit gewölbten Brauen. „Wieso nicht?“, fragte er streng. „Wenn Ihr wahrhaftig seid, wer Ihr vorgebt zu sein, wäret Ihr weiser und mächtiger als wir alle zusammen. Es wäre für uns das Beste.“ „Nein“, wiederholte Mèra. „Ich begleite Euch nur kurze Zeit. Ich helfe Euch, wo Ihr es wünscht, aber Ihr seid die Anführer Eures Volkes und werdet es bleiben, auch wenn ich längst fort bin. Meine Aufgabe ist es, gegen den Drachen Schattenwacht und seine Verbündeten zu

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kämpfen. Eure Aufgabe ist es, die Nachtelfen zu leiten und zu beschützen.“ Pêraphèniel nickte düster und rieb die knorrigen Finger ineinander. Myándirel blinzelte mit seinen verquollenen Augen. Ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, nuschelte er: „Wieso weiß niemand sonst etwas von alledem? Versteht mich nicht falsch, ich sah in Srrigs Gedanken, dass Ihr die Wahrheit sagt. Und doch verstehe ich die Situation nicht. Wie kann es sein, dass Ihr heimlich agiert, wenn es sinnvoller wäre, die freien Völker unter einem so mächtigen Banner zu vereinen?“ Er nahm jetzt die Pfeife aus dem Mund und blies Rauch über den Tisch. Mèra forschte kühl in den Gesichtszügen des Zauberers. „Das würde viel zu lange dauern“, erklärte sie. „Es ist schon fast zu spät, um den Imperator ohne einen direkten Eingriff der Götter aufzuhalten – was einen katastrophalen, offenen Krieg im Himmel zur Folge hätte. Doch eine kleine, verborgene Truppe ist vielleicht noch schnell genug. Wir müssen den Göttern einen Beweis oder ein Geständnis bringen oder Schattenwacht schlichtweg töten. Dass niemand sonst etwas von der Gefahr weiß, liegt an der Uneinigkeit der freien Völker, an der Verdrehung der Prophezeiung von Theb Nor. Aber es liegt auch daran, dass das Äußere Volk ein Meister des subtilen und geheimen Vorgehens ist, der Unterwanderung und der Korrumpierung. Seine Absicht ist hingegen keineswegs subtil oder geheimnisvoll: Die Äußeren haben ihre eigene Welt in einem Krieg verwüstet, sie letztlich sogar verloren, und jetzt wollen

sie unsere Welt, und zwar für sich allein. Sie werden alles Leben töten und unsere Luft, unsere Temperatur, unsere gesamte Natur ihren Wünschen anpassen. Nur die Chimärier werden sie tolerieren, wenn Schattenwacht sich durchsetzt.“ „Wenn?“, rief Sophéion. „Das ist das mächtigste Wesen der Welt!“ Mèra entgegnete kühl: „Das mächtigste Wesen unserer Welt Hevanor, hier unten. Vielleicht aber nicht in den Reihen der Götter oder der Dahnrud – oder des Äußeren Volkes. Ich weiß es nicht. Ich hoffe, Ihr irrt Euch.“ „Ihr seid also schon mal nicht allwissend“, stichelte Sophéion und neigte angriffslustig den Kopf. Er tat sich offenkundig schwer damit, die neu verkündete Weltordnung der Elfen zu akzeptieren, in welcher er in der Hierarchie der Macht abgestiegen war. Pêraphèniel funkelte den Barden strafend an. Aber Mèra schüttelte nur traurig den Kopf. „Nein, bin ich nicht. Und wie die Götter reagieren werden, ob sie auch weiterhin unser Schicksal in unsere eigenen Hände legen oder nicht, ob sie einen offenen Krieg zwischen sich und den Amdovenn riskieren werden oder nicht, weiß ich auch nicht, um Eure nächste Frage vorweg zu beantworten. Der Einfluss der Götter besteht bereits darin, dass Srrig und ich überhaupt hier sind. Vielleicht ist das alles, was sie tun werden.“ „Die Legende sagt, Ihr seid einst sterblich gewesen“, kratzte Myándirels raue Stimme. Mèra nickte knapp. „Ja, vor langer Zeit war ich nicht anders als Ihr. Doch zwei weitere Könige sowie Srrig und

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ich rebellierten gegen die damaligen Götter. Zwar retteten wir so Hevanor vor dem Äußeren Volk, doch waren wir fortan verflucht, alterslos die Welt zu durchstreifen, als Wächter, falls die Amdovenn sich abermals zeigten. Vor einigen Jahrhunderten wurden wir zu vorübergehender Ruhe gebettet, dank einer Intrige des Imperators gegen uns und die Götter. Schattenwacht hatte es geschafft, die Götter glauben zu machen, er allein könne unsere WächterAufgabe gegenüber dem Äußeren Volk übernehmen, das auch sein Feind sei, und uns könne die verdiente Ruhe zuteilwerden. So konnte er im Rücken der Götter seine Ränke schmieden. Wir Wächter waren nicht mehr da, um einzugreifen.“ Sie senkte ihren kalten Blick für einen Moment, um mit einem Lodern in den Augen wieder aufzusehen. „Doch nun, da die Gefahr erneut bevorsteht, schicken die Götter uns wieder in den Krieg.“ Von draußen rief ein Nachtelf: „Es tut mir leid zu stören, aber es gibt wichtige Neuigkeiten!“ Pêraphèniel stützte sich seufzend auf den Tisch. „Dann komm herein“, rief er. Der unscheinbare Nachtelf trat ein und verneigte sich vor dem Rat. Verschüchtert musterte er Srrig und Mèra, während er berichtete: „Ältester, der Gnom Athónon hat erzählt, dass er ein Sklave des Imperators war. Er hat nicht geleugnet, dass er vermutlich nur noch lebt, weil der Drache es so wollte! Er muss ein Spitzel oder gar ein Diener des Drachen sein! Was sollen wir mit ihm machen? Wir können ihn doch nicht mitnehmen! Vermutlich wurden wir nur seinetwegen angegriffen.“

„Keine voreiligen Schlüsse!“, mahnte Pêraphèniel streng. Die anderen Ratsmitglieder warfen sich vielsagende Blicke zu und musterten auch Srrig und Mèra düster. Doch alle schwiegen und warteten darauf, was der Älteste sagen würde. Pêraphèniel legte die Hände auf den Rücken und blickte mit geschürzten Lippen zur Decke. Doch schnell bemerkte er, dass diese gewohnheitsmäßige diplomatische Maske nicht zum Ernst der Vorwürfe passte. Er stemmte die Hände in die Hüfte und zog die Brauen zu einer tiefen Sorgenfalte zusammen. Schließlich seufzte er und schlug vor, zu Athónon zu gehen und ihn genau zu befragen. „Dein Bericht weist zu viele Lücken auf, Lawéruel“, fügte der Älteste hinzu. „Wie Ihr wünscht“, nickte Lawéruel höflich und verließ zügigen Schrittes das Haus. „Tja dann – gehen wir!“, rief Pêraphèniel mit ausgebreiteten Armen und eilte voraus. Myándirel ergriff Fêowyns Schulter und ließ sich führen. „Ich sehe nicht mehr so gut“, brummte er leise. Srrig, Mèra und Taffi warfen sich finstere Blicke zu, während sie den Ratsmitgliedern folgten.

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17 Um Athónon und seine Reisegefährten hatte sich ein schimpfender Aufruhr gebildet. Pêraphèniel bahnte sich mit erhobenen Armen eine Gasse. Auch Olériel war von den übrigen Nachtelfen eingeschlossen worden, da sie nicht von Tarens Seite gewichen war. In der Luft, in den Augen der Nachtelfen schwelte der unausgesprochene Wunsch, Steine in die Hände zu nehmen und die Fremden damit blutig zu schlagen und zu vertreiben. Noch hatte niemand dem Wunsch nachgegeben. „Schluss damit! Beruhigt Euch alle wieder!“, beschwichtigte der Älteste und hob die Arme noch höher. Er schob sich, weder zu sanft noch zu ruppig, durch Schultern, Arme und Körper bis zu Athónon hindurch. Die Nachtelfen wurden leiser. Sie wichen aber nicht zurück und funkelten den Gnom und die anderen Fremden weiterhin feindselig an. „Nun, Athónon!“, begann Pêraphèniel und legte die Hände auf dem Rücken zusammen. „Was war das für eine Geschichte mit Dir und dem Imperator der Chimärier?“ Athónon blickte reglos zum Ältesten auf. Gelassen antwortete er: „Ich erkaufte die Hilfe des Drachen, um einen mächtigen Zauberer zu befreien, der für das weitere Schicksal Hevanors unerlässlich gewesen war: T’ral, einen der legendären Vier Könige aus der Prophezeiung Theb Nors. Der Preis war ein kleiner Teil meiner Seele. Seitdem kann der Imperator mich überall finden und außerdem sehen, was um mich herum vorgeht. Ich werde Euch deshalb nicht mehr weit begleiten.“

Athónon blickte an Pêraphèniel vorbei in Mèras versteinertes Gesicht. Stille. Alle schwiegen. Zornige Spannung baute sich auf, bis zum Glühen aufgeheizt durch Blicke, Armbewegungen, verzogene Lippen, scharfes Einatmen. Dann begann das Murren der Nachtelfen erneut. Erst leise, dann immer lauter. „Lügner!“, schrien einige. „Verräter!“, kam von anderen. Bevor die Situation weiter eskalierte, hob der Älteste beschwörend die Hände und rief: „So beruhigt Euch! Der Gnom hat uns nichts getan, im Gegenteil! Ich verstehe Eure Angst und teile sie, aber das ist kein Grund, die Kontrolle zu verlieren. Immerhin sind wir Elfen!“ Der Aufruhr schlug nun kleinere Wellen. Doch das unterschwellige Murmeln hielt an. Die Glut war nicht erloschen. Feindselige Seitenblicke trafen Athónon von überall. Srrig trat neben den Ältesten. Laut rief er in die Menge: „Der Gnom ist keine Gefahr für Euch. Er wird uns begleiten, weil er gebraucht wird.“ Pêraphèniel blickte überrascht in Srrigs fremdes Tigergesicht, um darin zu lesen. Athónon nickte derweil mit seiner Steinmiene. Mèra wandte sich ab, auch ihr Gesicht war versteinert. Schon viele seiner Freunde waren vor Athónon gestorben, weil sie „gebraucht“ wurden. Seinen Mentor Tugibenn, den er wie einen Vater geliebt hatte, vermisste er bis heute. Die letzte Tote war Jade gewesen. So wie Srrig das Wort betont hatte, gab es keinen Zweifel an seiner tödlichen Bedeutung.

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Laura begriff das als Nächste. „Nein!“, schrie sie und packte Athónon an den Schultern. Gehetzt starrte sie ihn an und schüttelte den Kopf. „Nein!“, wiederholte sie flehend. „Du musst gehen, solange Du noch kannst! Es gibt immer eine Alternative!“ „Allerdings“, knurrte Athónons alte Stimme, „doch sie gefällt mir nicht.“ Er streifte Lauras Arme von sich und blickte zu Pêraphèniel auf. „Wenn Srrig es so vorhersieht, könnt Ihr Euch gewiss auf sein Urteil verlassen“, sagte er gepresst zum Ältesten. Taffi hatte bisher auf Srrigs Schultern gesessen. Jetzt sprang er hinab, flitzte zu Mèra und rannte an ihr hoch bis auf ihre Schulter. Die Miene des Chamäleons war nicht zu deuten. Auch Taffi vermisste Tugibenn, den gnomischen Meisterzauberer. Kleine Krallen gruben sich in Mèras Schultern, unsichtbar für alle anderen. Falls die beiden telepathisch miteinander redeten, war es ihnen nicht anzusehen. Laura trat voll hilflosen Zornes auf der Stelle und ballte die Fäuste. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte oder tun konnte. Myándirel trat vor. Er zog nachdenklich an seiner Pfeife und raunte: „Sogar ein Blinder kann sehen, dass Ihr etwas verschweigt.“ Pêraphèniel verdrehte die Augen, gleichzeitig schwoll der wütende Aufruhr wieder an.„Oh“, machte Myándirel leise und wurde rot. Schlagartig wurde ihm klar, dass er noch viel darüber lernen musste, was es hieß, Ratsmitglied zu sein. „Hört auf!“, schrie Laura plötzlich die Nachtelfen an. „Was er verschweigt, ist, dass er bald sterben will, anstatt

eine bessere Lösung zu suchen! Für Euch will er sterben, Ihr Dummköpfe!“ Tatsächlich verebbte der Aufruhr, bis nur noch ein unwilliges Murren übrig blieb. Laura fuhr fort, doch leiser und an Athónon gewandt: „Aber das kann ich nicht akzeptieren! Du gibst zu schnell auf! Es gibt einen besseren Weg, es muss einen geben!“ Athónon musterte sie ausdruckslos. Innerlich hatte er längst aufgegeben. Dreißig Jahre Leid als Diener der Götter hatten ihn zermahlen wie ein einsames Weizenkorn zwischen gigantischen Mühlsteinen. Verzagt drehte Laura sich weg. Pêraphèniel wandte sich Srrig zu und sagte leise: „Ich denke, ich habe genug gehört.“ Lauter, in die Menge gerichtet, rief er: „Ich verfüge, dass Athónon nicht länger behelligt wird. Diese Angelegenheit ist keine Gefahr für uns, und alles Weitere geht uns nichts an. Wir können dankbar sein, dass diese Fremden uns beigestanden haben. Vergesst das niemals! Ich erwarte ab sofort, dass Ihr unseren Gästen und Waffenbrüdern mehr Respekt entgegenbringt!“ Der Älteste kam mit dem Mund nah an Srrigs Ohr. Seine leisen Worte klangen fast wie eine Drohung: „Ich vertraue darauf, dass Ihr wirklich die Kontrolle über diese Sache habt und dass ich mein Volk soeben nicht belogen habe.“ Energisch drehte der Älteste sich auf dem Absatz herum und stapfte in die Ratshütte, so schnell sein Alter es zuließ. Die anderen Ratsmitglieder folgten ihm. Srrig, Mèra und Taffi blieben zurück. Insbesondere Olériel starrte mit großen Augen die Fremden und Taren an. „Ihr seid wohl ziemlich viel herumgekommen, wie?“, fragte sie

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beeindruckt. Sie spürte aber auch den Schmerz, der in der Luft lag, und wie wenig ihre Bemerkung gelungen war.

Einige Nachtelfen verließen ihr Heim nur widerwillig. Doch die Leichen, die auf dem Schlachtfeld unmittelbar vor der Stadt aufgereiht wurden, sprachen eine deutliche Sprache. Die letzten magischen Lichter erloschen. Die Kohlenbecken wurden nicht mehr aufgefüllt und glühten nur noch schwach. Schließlich war Quirmó geräumt und wurde zu einer einsamen Ansammlung leerer Steinhäuser. Verstreute Gegenstände hier und da, in einem Fenster, neben einer Tür, auf den Wegen, spiegelten die zerstörten Träume und Wünsche wider, das Leben, das hier gewohnt hatte: Ein Webrahmen, eine Puppe, ein üppiger Satz bemalter Tonkrüge. Die Ratsmitglieder gingen mit Mèra in der Mitte des Zuges, dicht gefolgt von den großen Karren mit den Verwundeten. Je sechs Nachtelfen zogen einen Karren mit Hilfe eines Ledergeschirrs. Der Mittelpunkt des Zuges wurde von bewaffneten Nachtelfen und Bogenschützen flankiert, jenen, deren Rüstungen noch nicht oder nur leicht beschädigt waren. Der Rest des kleinen Volkes marschierte zu gleichen Teilen davor und dahinter, ein jeder mit einem dicken Rucksack bepackt – nicht mehr und nicht weniger. Um des Friedens willen wurde der Zug nur von Fackelschein begleitet, nicht von magischen Lichtern. Der Streit darüber, ob man die Magie zum Wirken zwingen durfte oder stets nur darum bitten musste, heizte

sich allmählich auf. Vor der Schlacht um Quirmó hatten die Nachtelfen sich mit dieser offenen Frage arrangiert. Aber da nun eine völlig neue Situation entstand, vertraten viele Quirmóer ihre Meinung noch einmal ganz von vorn und versuchten, den Einfluss ihrer jeweiligen Ansicht auf alle auszudehnen. Srrig begleitete die Vorhut. Sie wurde ausnahmslos von Quirmóern gebildet, allesamt mit einer magischen Dunkelsicht verzaubert, die ihnen normales Sehen ohne Fackelschein erlaubte. Auch Srrig hatte sich von Mèra die Tigeraugen auf diese Weise verzaubern lassen. Athónon, Laura, Brommil, Paaldrag, Taren und Olériel marschierten am Schluss des Zuges, jedoch noch vor der Nachhut; man vertraute den Fremden mit Ausnahme von Srrig und Mèra nicht mehr genug, um ihnen wichtige Aufgaben zuzuweisen, obwohl Athónon ein ausgezeichneter Späher gewesen wäre. Manche Stimmen waren selbst jetzt noch nicht zufrieden und hatten hinter vorgehaltener Hand verlangt, man müsse die Fremden entwaffnen, damit sie keinen Verrat begehen konnten. Insbesondere Paaldrag und natürlich Athónon zogen ängstliche und böse Blicke auf sich. Während Paaldrag finster dreinstarrte, erduldete Athónon die Ablehnung ungerührt. Taffi saß entgegen seiner Gewohnheit außen auf Athónons Rucksack und war sehr schweigsam. Seit sie aufgebrochen waren, trug Athónon einen großen Kasten aus Kiefernholz unter dem Arm. „Was hast Du da eigentlich?“, fragte Laura und tippte auf den Kasten.

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„Die Klappkarte“, erzählte Athónon freudlos, „ein weiteres Artefakt meines Mentors Tugibenn. Es zeigt Hindernisse und Lebewesen in verschiedenen Farben. Die Farben ändern sich je nachdem, ob ein Wesen Freund oder Feind ist, dämonisch oder natürlich. Ich verstehe die Seele des Artefaktes leider nicht sehr gut. Aber meistens tut es, was ich möchte. Wenn wir in unbekanntes Gebiet kommen, wüsste ich gern, wann wir beschlichen werden, auch ohne bei der Nachhut zu sein. Bei der Vorhut ist ja Srrig, da gibt es keinen Grund zur Sorge. Doch die Nachhut könnte unsere Schwachstelle sein. Die Tunnelläufer, die hinter uns wachen, schienen nicht sonderlich erfahren zu sein.“ „Kannst Du mir sie mal vorführen, diese Klappkarte?“, bat Laura. „Lieber nicht hier, wo so viele Augen uns sehen. Die Klappkarte ist ein kleiner Schatz, und ich will niemandes Neid wecken“, murmelte Athónon. „Kleiner Schatz“ war eine drastische Untertreibung für dieses Artefakt, für das ein steinreicher Zauberer einmal eine vierstellige Summe Goldmünzen angeboten hatte. Laura nickte, während sie den Kopf zu den Seiten drehte, aus den Augenwinkeln jedoch nach vorn spähte. Viele verhohlene, manchmal aber auch offene Blicke der Nachtelfen schienen jeden Schritt der Fremden zu beobachten. „Sie begaffen uns wie dumme Schafe“, zischte Laura böse. „Haben die gar keine Manieren?“ Sie wusste, sie sollte sich darüber nicht aufregen, weil es sinnlos war. „In einsamer Wildnis hätte keiner von den Gaffern sich das getraut!“, regte Laura sich trotzdem weiter auf.

„Wenn mir etwas zustößt, möchte ich, dass Du meine Sachen bekommst“, erklärte Athónon unvermittelt, den Blick stur geradeaus haltend. Laura erschrak. „Sag so was nicht! Es gibt einen Ausweg!“ „Wie Du meinst“, brummte Athónon bloß. „Taffi schläft gern auf der Elfendecke, falls er Dich begleiten möchte. Du solltest dann im Rucksack also immer etwas Platz unter dem Deckel lassen.“ „Hör auf!“, schrie Laura zornig. Im Gehen packte sie Athónons Schulter. „Wir werden diese Odyssee beide überleben! Du musst nur fest genug daran glauben, dann wird sich uns auch ein Weg offenbaren!“ Athónon schüttelte den Kopf. „Du hast es wohl doch noch nicht verstanden“, seufzte er. „Was verstanden?“, murrte Laura und ließ Athónons Schulter los. „Dass Dein Dickkopf Dir mehr schadet als nützt. Du musst Dich vom Denken befreien“, philosophierte Athónon zermürbt. „Du bist in der Begleitung von Halbgöttern. Sie lenken und benutzen Dich, ob Du es merkst oder nicht. Deine Gedanken und Sorgen spielen keine Rolle mehr.“ „Mein angeblicher Dickkopf hat mir schon oft geholfen!“, widersprach Laura trotzig. Athónon seufzte abermals. Dann knurrte er sie an: „Im sportlichen Ringen? Oder dabei, nicht auf Deine Schwester aufpassen zu müssen? Oder nach Einbruch der Dunkelheit noch unterwegs sein zu dürfen?“ Laura schwieg gekränkt. Schon taten Athónon seine Worte leid, doch das änderte nichts daran, dass sie richtig waren. Bloß weil eine Wahrheit schmerzte, wurde

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sie nicht weniger treffend, und Athónon war – wie Srrig – der Ansicht, dass alle anderen Abwägungen sich unterzuordnen hatten. „Wieso genau hast Du mich noch mal überredet, diese zerbrechlichen Kreaturen zu begleiten?“, grollte Paaldrag leise zu Brommil herab. „Ich habe es auch vergessen“, knurrte der Zwerg. Die beiden fühlten sich ebenfalls unbehaglich unter den Blicken der Quirmóer. Taren hatte die ungeladene Drachenarmbrust geschultert. In der anderen Hand hielt er den Streitkolben einer toten Schlangenblüterin. Die Waffe war aus schwerem Eichenholz und einem dornigen Bronzering gebaut. Auf den Rücken hatte Taren sich einen lädierten Holzschild geschnallt, den er einer nachtelfischen Leiche abgenommen hatte. Unter Menschen wäre dies ein Diebstahl an den Toten gewesen, ein Sakrileg. Doch Taren wusste von Nenúriel, dass Elfen nicht so dachten. Tarens Unterarme und Schienbeine wurden nun von ledernen Schienen geschützt. Bloß eine passende Körperrüstung hatte er nicht gefunden: Elfen und Schlangenblüter waren einfach zu schmal für seine Maße. Er besaß keine passenden Bolzen für die Drachenarmbrust mehr. Der letzte war nach der Schlacht, während der er von seinem Wachposten aus die feindlichen Flanken beschossen hatte, unauffindbar geblieben. Dennoch wollte er die wertvolle Waffe nicht zurücklassen, sondern lieber versuchen, selbst neue Bolzen herzustellen. Olériel könnte

die Bolzenspitzen schmieden, er müsste sich dann nur noch um Schäfte und Fiederungen sorgen. „Stimmt es, dass Athónon ein Sklave des Imperators war, eine Zeitreise gemacht hat und all diese Dinge?“, fragte Olériel leise in Tarens Ohr. „Ich war nicht dabei, aber ich denke, dass alles wahr ist“, nickte Taren. „Athónon ist ein außergewöhnliches Wesen. Zunächst völlig unscheinbar und doch voller Überraschungen. Ich glaube, sein Geheimnis ist, dass er wegen seiner Größe maßlos unterschätzt wird und er seine Gegner in Sicherheit wiegt. In Wahrheit jedoch ist er ein ruhmreicher und gefährlicher Krieger.“ Hinter ihnen wäre beinahe ein Mundwinkel Athónons nach oben gezuckt, obwohl Taren und Olériel ein paar Schritte Abstand hielten und sehr leise geflüstert hatten. Doch Athónon war durch solche Schmeicheleien jetzt nicht aufzuheitern. Er bekam die grausamen Bilder nicht aus seinem Kopf, Bilder, in denen Laura von Pfeilen durchbohrt wurde und über ihm zusammenbrach, wie schon ihre Mutter vor ihr. Laura hatte recht – es gab eine Alternative zu seinem Tod: ihren. Doch Athónon würde seinen Weg durchsetzen, selbst wenn er dazu gegen den Willen von Srrig und Mèra handeln musste. Wohin sonst sollte er auch gehen, wenn er sich nicht an Lauras Stelle opferte? Niemand wartete auf ihn. Er würde zudem niemals zugeben, dass sein altes Kreuz ihn marterte und seine Knie schon jetzt schmerzten, obwohl er gerade erst losmarschiert war. Kurzfristig würde ein heißer Kräuterwickel oder ein erholender Zauber die Schmerzen lindern, doch was dann? Wenn er sich zu sehr betäubte,

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um die Schmerzen nicht wahrzunehmen, konnte er auch niemandem mehr nützen. Das Alter war keine Wunde, die sich mit gewöhnlicher Zauberei heilen ließ.

18 Melek lag seit Stunden reglos im Schatten. Seine Muskeln waren ein einziger Schmerz. Von der Klippe aus hatte er die Versammlung der Nachtelfen bis zum Aufbruch verfolgt. Laura würde vermutlich zu keinem Zeitpunkt so allein sein, dass er sie ungehindert erreichen konnte, ob unsichtbar oder nicht. Als die Nachhut aus der Quirmóer Haupthöhle verschwand, schlug Melek wutschäumend die Fäuste auf den Fels. „Ich verfluche Dich, Laura! Ich hasse Dich!“, zischte er. „Mögest Du niemals sicher vor den wahren Jägern sein! Mögest Du ständig auf der Flucht vor ihnen sein! Wenn ich Dich nicht kriegen kann, wird es ein anderer für mich tun!“ Was ihn nach wie vor marterte, war, dass Lauras Bedeutung in der Geschichte Hevanors die seine überragen sollte. Mit Halbgöttern zog sie fort und Melek fühlte sich trotz all seiner Erfolge dagegen verblassen. „Dabei unterscheiden wir uns doch kaum!“, dachte er. Indem sie ihm entkam, besiegte sie ihn, ohne es zu wissen: Melek hatte sich von einem Sieg über eine Begleiterin von Halbgöttern jenes Maß von Anerkennung erhofft, das seinen Weg als Menschenjäger hätte unsterblich werden lassen. Er sprang auf und streckte sich. Hastig kletterte er in die Haupthöhle zurück, wo vor Kurzem noch Laura schlafend dagelegen hatte, beschützt von wachsamen Spähern. Melek stampfte zwischen den leeren Häusern umher und sah sich unwillig um, obwohl er innerlich zu getrieben von

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seinem Hass war, um Einzelheiten zu registrieren. Seine Geduld war aufgebraucht. Überall lagen Tote in braun getrocknetem Blut herum, verkrümmt und ausgestreckt, von Klingen und Pfeilen getötet. Die Gerüche von Blut und Angst hingen wie ein Säurehauch über der Stadt. Sorgsam aufgereiht, lagen auf einem Platz auch die Toten der Nachtelfen. Für ein Begräbnis war keine Zeit gewesen. Manchen Elfenleichen waren bunt bemalte Steine auf Stirn oder Hände gelegt worden. Melek konnte seinen Hass nicht unter Kontrolle bringen. Mit dem Fuß trat er eine rötlich geschuppte Frauenleiche in Fell und Leder. Sie rollte von der Seite auf den Rücken und offenbarte so ihre Todesart: Die rechte Hälfte ihres Kopfes war zertrümmert worden, vielleicht von einer Dornenkeule, vielleicht von Paaldrags Faust. Gelangweilt trat Melek mit dem Fuß ihre Schenkel auseinander. Sein Blick ging auf Wanderschaft, von den Füßen bis zum Kopf, über die Hügel und Täler dieses Körpers – doch die Zufriedenheit des Wanderers ob einer perfekten Landschaft stellte sich nicht ein. An der Kehle wurden die rötlichen Schuppen von kleinen Narben übersät. Als Melek genauer hinsah, erkannte er Muster. „Brandrunen“, flüsterte er. Sein Großvater hatte Schauermärchen über einen dunklen Gott erzählt, dessen Anhänger sich mit glühendem Kupfer Runen in den Hals brannten, um den Tod zu besiegen. „Hat wohl nicht funktioniert“, dachte Melek. Er schauderte, weil jedes Anzeichen eines mystischen Höheren ihn einschüchterte.

Melek wandte sich ab. „Kalt, wehrlos, langweilig“, knurrte er und sah nicht mehr hin. Die Müdigkeit hinter seiner Stirn wurde ihm wieder bewusst, und mit ihr die lauernde Wanderin. Er taumelte und wunderte sich im nächsten Moment darüber, wie sehr der Schlafmangel ihn bereits geschwächt hatte. „Ich werde wohl alt?“, flüsterte er und lachte lautlos. Er schloss die Augen. Sofort konnte er den unmenschlichen Ruf der Wanderin hören, die ihm immer näher kam. Melek legte den Kopf in den Nacken und hob die Lider wieder. „Meine Zeit ist um“, flüsterte er und wusste nicht, ob er aus Verzweiflung lachen oder weinen sollte. „Ich verfluche Dich, Laura!“, schrie er und ballte die zitternden Fäuste. Melek wirbelte herum und trat die Leiche mit den Brandrunen. Plötzlich fröstelte er. Vor Toten hatte er ebenfalls eine gewisse Furcht entwickelt, denn manchmal bekam er Albträume, in denen seine Opfer sich aus den Gräbern erhoben und ihre modrigen Finger in sein Fleisch drückten. Er hielt inne. Etwas, das er nicht benennen oder begreifen konnte, lähmte ihn. Kälte biss in sein Fleisch, von den Zehenspitzen durch die weichen Knie, die beklommene Brust und den rauschenden Schädel. Die Höhle drehte sich, seine Sicht trübte sich wie im Fieber. Er würgte panisch, doch nur ein schwächlicher Laut fiel ihm aus dem Mund. Eine Hand umschloss seinen Knöchel wie kaltes Eisen, obwohl er unsichtbar war. Melek riss Mund und Augen auf. Er wollte nur noch weg, taumelte auf der Stelle. Doch die Hand – sie gehörte der getretenen Leiche – gab seinen

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Knöchel nicht frei. Melek kippte, keuchte weinerlich und schlug mit der Schläfe auf den Fels. Er floh durch einen Tannenwald. Dornen stachen in seine Fußsohlen und Nadelzweige schlugen ihm ins Gesicht. Die Wanderin schritt ihm gemütlich nach, dennoch holte sie ihn ein. Ihr folgte eine Kinderhorde, alle sahen gleich aus: Melek, als er sechs Jahre alt war, bewaffnet mit einem Wurfdolch. „Ich habe Deinen Fluch vernommen“, krächzte die Leiche neben Melek. Sie ließ ihn los und tastete nach ihrer zertrümmerten Gesichtshälfte. Melek quiekte wie ein verwundetes Tier. Er strampelte wild und sprang auf die Füße, weg von der Untoten. Dann riss er die Gewalt über seinen Körper wieder an sich. Melek ballte die Fäuste und zischte kampfbereit durch die Zähne. Mit verengten Augen, stoßweise aus- und einatmend, starrte er die Untote an, die ihn offenbar sehen konnte. Sie setzte sich langsam auf und schien genauso irritiert zu sein wie er. „Ich werde Deinen Fluch in die Tat umsetzen!“, murmelte die Untote verwirrt. „Deine unbändige Energie scheint mich zurückgebracht zu haben. Jedenfalls habe ich keine andere Erklärung. Dein Fluchen war das Erste, was ich seit meinem schmerzvollen Tod wahrgenommen habe, zunächst als unsägliche Kälte, dann als Worte.“ Plötzlich grinste die Untote. Ihre Grabesstimme krächzte: „Aber ich verlange einen Gefallen für meine Hilfe.“ „Wer bist Du?“, fragte Melek lauernd und blieb kampfbereit. Seine erste Furcht hatte er niedergerungen, denn scheinbar befand er sich in keinem seiner Albträume. Noch hatte die Wanderin ihn nicht zur Strecke gebracht.

„Ich bin nur ein ruheloser Geist, der ebenfalls Rache will, so wie Du. Jedenfalls ist Rachedurst das Gefühl, dass ich in Dir spüre. Du willst Rache für die Niederlage durch ein Wesen, dem Du Dich überlegen wähntest.“ Melek erschauderte, sein Atem setzte aus. „Woher weißt Du, was ich will?“ Die Untote redete unbeirrt weiter. „Ich könnte Dich vielleicht töten, weil Du meine Ruhe gestört hast, doch andererseits kannst Du mir helfen: Ich erfülle Deinen Fluch, dafür tötest Du den, der mich auf der Flucht erschlug: einen bärtigen Menschen mit einer Dornenkeule, der mit den Nachtelfen verschwand.“ „Du meinst Taren.“ Melek beruhigte sich allmählich. „Den würde ich nur zu gerne umbringen. Aber ich komme nicht an ihn heran, obwohl ich unsichtbar bin. Er ist mitten unter Nachtelfen. Genau wie Laura, die ich suche.“ „Meine Brandrunen haben vielfältige Kräfte. Ich habe die Macht, ihn fortzulocken. Aber jemand muss zu ihm gelangen und die Klinge für mich führen. Jemand, der unsichtbar und lautlos ist, wäre dafür hervorragend geeignet.“ Meleks Herz beschleunigte wieder. Er konnte die Angst vor der Untoten nicht vollends verbannen, da sie nun auf ihre unheimlichen Kräfte anspielte. Zunächst grinste er schief. Dann hörte er schlagartig damit auf und knurrte: „Wenn Du so etwas kannst, wieso brauchst Du einen Henker? Ein bisschen Schleichen ist doch leicht.“ „Die Brandrunen sind stark, aber nicht allmächtig. Helfen wir uns nun gegenseitig bei unseren Racheplänen, oder hast Du Angst?“

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Melek schwieg. Das Schicksal der Schlangenblüterin war ihm egal. Er wusste zu ihrer Geschichte nichts zu sagen und er hatte auch keine Lust dazu. Seine lodernden Augen verrieten jedoch, dass ihm der Plan der Untoten zu gefallen begann. Er besiegte seine Angst. „Ich kriege also meine Rache an Laura durch einen Fluch. Auch wenn ich sie nicht persönlich töten kann. Dafür muss ich Taren töten. Den lockst Du weg“, fasste Melek zusammen. „Wie sieht der Fluch aus?“, fragte er vorfreudig. Die Untote grinste mit der verbliebenen Gesichtshälfte. „Jeder Mann wird sie schänden wollen. Der Fluch wird seine Wirkung in dem Moment beginnen, wo mein Mörder stirbt! Eine andere Bedingung gibt es nicht, Laura erhält keine Möglichkeit, den Fluch aus eigener Kraft zu brechen. Auch Du kannst es Dir nicht später anders überlegen. Mein Geist wird weiterziehen zu dem Betrüger, der mir diese fehlerhaften Runen eingebrannt hat. Ich werde ihm meine Geisterhand ins Herz rammen und ihn ...“ „Also fang an!“, rief Melek dazwischen. Die Untote lachte wild, stand auf und schlang Melek die kalten Finger um den Kopf. „Der Meucheltod eines Tempelkriegers wird mir unsägliche Macht verleihen!“, kicherte sie. „Jetzt geh und opfere ihn mir, mein treuer Diener!“ Melek wunderte sich über die letzten Worte, die er nicht recht verstand. Doch war er viel zu besessen von seinem Triumphgefühl, um länger darüber nachzudenken. Er würde nie erfahren, mit wem er gerade einen Pakt geschlossen hatte.

Cerýllion kniete in seinem Turmzimmer auf einem Kissen. Ohne den Raum verlassen zu haben, hatte er magische Trugbilder von sich selbst durch die Höhlengänge bewegt, um die eingedrungene Chimärier-Patrouille, die ihn fangen sollte, in das Gebiet der Schlangenblüter zu locken. Seinen Sporks und dem Geistertroll hatte er telepathisch befohlen, auf sein Signal zu warten. Sobald die zahlenmäßig weit überlegenen Schlangenblüter die Chimärier erschlagen hatten, konnten Cerýllions eigene Krieger die Verbliebenen leichter töten. Dann würde er das Schwert von Theb Nor an sich nehmen, eines der mächtigsten Artefakte Hevanors. Nicht dass er die Klinge für etwas Bestimmtes brauchte, er ging einfach seiner Gier nach. Momentan befand das Schwert sich noch in den Händen der Anführerin der Schlangenblüter. Als göttliche Stimme hatte Cerýllion sie dazu gebracht, Quirmó anzugreifen, denn eine seiner Aufgaben im Dienste Schattenwachts war es, möglichst alle Nachtelfen zu vernichten. Jeder Nachtelf konnte zu einer Gefahr für Schattenwachts Verbündete, die Amdovenn, werden. Die Schlangenblüter hatten ihre Enklave zum Teil selbst dezimiert, als die Frauen die Macht ergriffen hatten und nur wenige ausgesuchte Männer am Leben gelassen hatten. Nach dem Vorbild von Tebaarshas Matriarchat, dem Reich einer abtrünnigen Chimärierin tiefer in den hiesigen Gängen, hatten die Schlangenblüterinnen sich neu organisiert. Doch fehlte ihnen bei Weitem die Weisheit von Tebaarsha.Die Schlangenblüter hatten sich von den Nachtelfen weiter dezimieren lassen, einer Aufwiegelung Cerýllions folgend. Sobald auch noch die

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Chimärier von Tebaarshas Matriarchat über die Reste dieses Volkes hergefallen waren, würden die Sporks auf wenig Gegenwehr stoßen. Zweifellos würden die Schlangenblüter Tebaarshas Chimärier sofort angreifen, hatte Cerýllion doch etliche von ihnen durch seine Magie bei lebendigem Leibe verbrannt – in der Trugbild-Gestalt eines feuerspeienden Chimäriers, der sie lautstark als schlachtenswerte, niedere Tiere beschimpft hatte. Cerýllion schmunzelte zufrieden und beobachtete durch seine magische Sicht, wie die fünf Chimärier in die Schlangenblüter-Enklave einfielen. Sie traten das vorderste der Kohlenbecken um und brüllten wütend: „Ihr versteckt den Elfenzauberer! Gebt ihn uns!“ Einer der Chimärier hielt zwei Armbrüste vor sich. Die Schlangenblüter sahen die Chimärier und hörten auf zu denken. Mit wildem Kriegsgebrüll griffen sie zu den Waffen und stürzten sich auf sie. Zwei Frauen wurden von Armbrustbolzen von den Füßen gerissen und stürzten tot auf die Rücken. Der Schütze ließ die Schusswaffen fallen und zog zwei Klingen. Die Chimärier waren in einer drastischen Unterzahl, doch sie waren Chimärier. Jeder von ihnen wog mehr als das Dreifache einer Gegnerin und war viel größer. Ihre Waffen waren weitaus länger und schwerer, außerdem waren sie viel besser gepanzert. Mit wildem Gebrüll metzelten sie sich in einer Keilformation durch die Schlangenblüter, deren Schlachtreihe sich binnen weniger Lidschläge in einem blutigen Chaos auflöste. Klägliche Todesschreie und stürzende Körper drangen durch seine Magie an Cerýllions

Ohren. Der Unsterbliche hatte zahllose Stämme, Städte und Kulturen aufsteigen und fallen sehen. Er schürzte die Lippen und genoss das blutige Schauspiel. „Schade“, äußerte er plötzlich Bedauern. Die Bogenschützen der Schlangenblüter rannten herbei und gingen in der Tiefe der sich ständig verbreiternden Schlucht in Stellung. „Oh!“, machte Cerýllion verzückt. Einer der Chimärier besaß einen Schild. Er kauerte sich dahinter zusammen und wartete den Pfeilhagel ab. Die anderen Chimärier packten sich jeder eine Leiche und hielten sie im Vorwärtsmarsch vor sich, um die Pfeile abzufangen. Einer der Chimärier wurde in die Schulter getroffen. Mit einem wütenden Knurren brach er den Pfeil ab und schien kaum beeinträchtigt zu sein. Brüllend ließen die Chimärier nach dem Pfeilhagel die gespickten Leichen fallen und stürmten mit riesigen Schritten vorwärts. Noch bevor die entsetzten Frauen neue Pfeile abfeuern konnten, waren die Chimärier über sie gebrandet und schlugen ihre Körper in Fetzen. Auf einmal ging ein weitaus größerer Pfeilhagel nieder. Von großen Felsen an den Rändern der Schlucht aus, rings um die Chimärier, schossen zwei Dutzend Schlangenblüter ihre Pfeile ab. Ein Chimärier nach dem anderen sank brüllend in die Knie, donnerte auf den Fels und starb. Sie waren in eine geschickte Falle gelaufen, auch wenn einige Schlangenblüter sich hatten opfern müssen. Cerýllion nickte anerkennend, während er seine Sporks und den Geistertroll telepathisch über die Beschaffenheit der Schlucht und des Hinterhalts informierte. „Fünf Chimärier und ...“ Cerýllion zählte die Leichen. „Fünf

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Chimärier und sechsundzwanzig Menschlein erledigt – in so kurzer Zeit“, sagte er zufrieden zu sich.

„Ooooh! So viele Augen, alle noch warm! Und es wird bestimmt keiner böse, wenn ich sie esse!“, schwärmte Zeeris, den lauwarmer Schwefelgeschmack im Mund immer hungriger machte. Über eine Stunde hatte er die Chimärier verfolgt, und jetzt hatte sich die Geduld endlich gelohnt. Der letzte Chimärier krümmte sich im Inneren der Schlucht. Zeeris griff sich am Eingang den Lockenkopf einer Toten und schlug die Krallen in die Augenhöhle. Er trennte den Augapfel sauber ab und hielt ihn freudestrahlend in der Hand. „Ganz frisch!“, rief er, schmatzte und schlang die Delikatesse hinunter. Beiläufig bemerkte er, dass die vermeintliche Tote noch gestöhnt und mit den Händen gezuckt hatte. Erst jetzt verebbte der Blutstrom aus ihrer klaffenden Rippenwunde. „Oh-oh! Das hätte Cesius gar nicht gefallen! Und Athónon auch nicht!“, krähte Zeeris und wiegte den Kopf unschlüssig hin und her. Zeeris schwebte zur nächsten Leiche, deren Haut bräunlich schillerte. Er stupste ihren kahlen Kopf an. Die Tote blieb reglos liegen. „Haha!“, rief Zeeris triumphierend und schlug ihr die Hand in die Augenhöhle. Gierig verschlang er den Augapfel mit der geschlitzten Schlangenpupille. Sein Kauen wurde plötzlich immer langsamer. Seine drahtigen Brauen arbeiteten.

Andächtig schwebte er zur nächsten Leiche, die rosige Menschenhaut, aber türkisfarbenes Haar besaß, und stupste auch diese an. Die Leiche stöhnte leise, bewegte einige Finger neben ihrem Gesicht und zuckte mit den Augenlidern. „He! Du bist ja gar nicht tot!“, rief Zeeris teils beleidigt, teils erfreut. „Hilfe ...“, hauchte die Nicht-Tote. Zeeris setzte sich an Ort und Stelle auf den Hintern und dachte angestrengt nach. „Nicht-Tote ... Untote ... Cesius hat die immer umgebracht, wenn sie vorher schon tot waren. Aber vielleicht ist das eine von diesen Noch-nichtToten, die nur tot aussehen. Dann hieße das ja heilen, weil sie noch lebt! Wieso muss das eigentlich so schwierig zu unterscheiden sein? Diese weichen Hautbeutel sind alle gleich kalt im Vergleich zu Teufelchen!“ „Hilf mir“, hauchte die Nicht-Tote und schob ihre Hand in Zeeris’ Richtung. Zeeris fixierte unwillkürlich ihre Augäpfel, als sie Kopf und Lider hob. „Ich kann heilen!“, krähte Zeeris und reckte den Zeigefinger in die Luft. „Aber ich muss Deine Wunde anfassen, die Hände da drauflegen, weißt Du? Dreh Dich mal um.“ Zeeris stemmte die Fäuste in die Hüfte und stellte sich vor dem Bauch der Nicht-Toten auf, unter dem ihr Blut in einer größer werdenden Pfütze hervorquoll. Ungeduldig sah er zu ihrem Gesicht. „Also, ich kann Dich nicht umdrehen“, blaffte Zeeris sie schnippisch an. Die Schlangenblüterin wusste nicht, ob ihr der nahe Tod Streiche spielte oder ob sie wirklich ein rotes Teufelchen neben sich hörte, das dummes Zeug redete. Doch es hatte

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gesagt, es könnte sie heilen, wenn sie es nur schaffte, sich selbst umzudrehen. Mit Hand und Knie drückte sie sich vom Fels ab. Zeeris schob am Hüftknochen nach, und tatsächlich rollte die Schlangenblüterin stöhnend auf die Seite und dann auf den Rücken. „Haha!“, rief Zeeris begeistert und starrte den quer aufgeschlitzten Bauch an. „Sie haben Dich nur mit der Spitze gestreift, sonst wärst Du in der Mitte durchgehackt worden und Deine Gedärme würden raushängen!“ Obgleich man es ihm nicht zutraute, hatte Zeeris schon viele Schlachtfelder und zahllose Leichen gesehen. Er legte seine kleinen Hände auf das hervorquellende Blut. Zeeris schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und räusperte sich. Dann rief er laut: „He, Domaore! Oh Göttin der Veteranen und des Friedens! Ich will, dass Du diese Nicht-Tote hier gesund machst! Sie soll nicht weiterbluten, weil sie sonst stirbt! Machst Du das für sie? Das wäre wirklich nett von Dir.“ Wenn auch in sicherlich anderem Ton, hatte der Tempelkrieger Cesius dem Teufelchen so vor zwanzig Jahren das Beten um Heilung bei schweren Wunden beigebracht. Plötzlich erfasste Zeeris ein starker Sog, der ihn vom Körper der Schlangenblüterin fortpurzeln ließ. Die magische Strömung, die Zeeris durch seinen Körper gelenkt hatte, war überraschend stark ausgefallen. „Domaores Atem“ hatte Cesius diesen Effekt genannt. Das Teufelchen war benommen und konnte kaum etwas sehen vor bunt flirrenden Sternchen. Alles drehte sich in unregelmäßigen Ellipsen. Zeeris taumelte

und fühlte sich, als sei er wenigstens eine Stunde mit Höchstgeschwindigkeit geflogen. „Das glaube ich ja nicht“, hörte Zeeris in weiter Ferne eine Frauenstimme. Seinen breiten Teufelsschwanz als Stütze nutzend, blieb Zeeris stehen und blinzelte in die Richtung, aus der die fremde Stimme gekommen war. Mehrere Frauen mit Waffen standen dort und starrten auf ihn. Hinterrücks stupsten ihn plötzlich Finger an. Erschreckt sprang er zur Seite. Die Nicht-Tote, die er geheilt hatte, hob mühsam den Kopf und flüsterte: „Danke – wer oder was immer Du bist.“ „Ich bin Zeeris!“, verkündete das Teufelchen stolz und streckte die gepanzerte Brust raus.

Cerýllion verfolgte die Szene durch einen Zauber. Über Zeeris schüttelte er schmunzelnd den Kopf. „Sieh mal an, von Dir habe ich auch schon gehört. Wie nett von Dir, Viech, Dich in meinem Refugium zu zeigen. Sicher wirst Du zu Deinen Freunden zurück wollen, und wenn Du sie gefunden hast, erfahre ich ebenfalls, wo sie sind. Meine einfacheren Beobachtungszauber reichen leider nicht beliebig weit und nicht gleichzeitig in alle Richtungen. Mögliche magische Tarnungen durch Mèra kann ich dank Dir auch umgehen.“ Cerýllion dachte nach. Er strich sich mit den Fingern über das Kinn. „Die letzten Schlangenblüter werden ganz sicher noch ein paar Rachegelüste für die verlorene Schlacht hegen, die sie dank des Teufelchens befriedigen

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könnten, wenn es sie hinführt. Vielleicht sollte ich den Schlangenblütern das Schwert von Theb Nor erst abnehmen, wenn sie die Drecksarbeit für mich erledigt und Mèra getötet haben. Andererseits, da Mèra wiederhergestellt wurde und Srrig an ihrer Seite steht, dürften die paar verbliebenen Schlangenblüter kaum Erfolg haben. Nein, ich werde sie den Sporks zum Spaß und zum Fraß gönnen. Eine motivierte Truppe ist schließlich wichtig. Ich sollte lieber das Teufelchen im Auge behalten.“

„Prüfungen teilen unsere Zeit ein. Sie machen uns stärker durch den Druck. Sie entlarven unsere Blindheit für das größere Ganze. Sie machen uns abhängig von einem Mentor und seiner Schule. Die letzte Prüfung ist darum der Mut zur Freiheit.“ Melgiru Szur, Großmeister des Schwertes vom geheimen Panthervolk, über den Wert von Prüfungen in der Ausbildung zum Krieger

19 Nach zwei Stunden legte der Zug der Nachtelfen die erste Rast in einer schlauchförmigen Höhle ein. Niemand hatte es eilig. In der vorderen Hälfte der Höhle stiegen magische Lichter unter die Felsdecke. Bloß ein einzelnes Kochfeuer wurde ohne Zauberei entzündet. In der hinteren Hälfte der Höhle hingegen versammelten sich diejenigen Quirmóer, welche jeglichen Einsatz von Magie ablehnten, so er nicht absolut unerlässlich war. Viele kleinere Feuer prasselten dort und füllten die Höhle und abgehende Gänge schnell mit Rauch. Gelegentlich zauberte Myándirel deshalb einen Windstoß von einem Gang in den anderen, sehr zum Unwillen der magieablehnenden Fraktion. Außerdem entbrannte während der Rast der Streit um die magischen Lichter, wie sie nun im vorderen Höhlenteil leuchteten, erneut. Unter Gezeter verlöschten sie von Zeit zu Zeit, und unter noch mehr Gezeter schnellten sie wieder hoch. Erste Gerüchte kamen unter den Magieablehnenden auf, man müsse ohne Magie womöglich nicht nur das Wasser, sondern auch das Feuerholz rationieren, bis man neue Aufgänge zur Oberwelt gefunden hätte. Die Gruppe der Fremden, mit Ausnahme von Srrig und Mèra, hatte sich am Rand der Höhle sitzend aufgereiht. „Ob die wissen, wie viel so ein Chimärier essen muss?“, grollte Paaldrag leise und kramte aus seinem Rucksack die letzten Fleischreste zusammen. Olériel lag mit dem Kopf an Tarens Schulter. Gedankenverloren strich sie mit

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dem Zeigefinger über seine Tunika. Athónon hatte die Klappkarte wieder verstaut. Sie zog für seinen Geschmack zu viele Blicke an. Srrig und Mèra standen weit abseits in einem Tunnel und redeten ernst miteinander. Srrig verschwand in der Dunkelheit. Nach kurzer Zeit kam er mit einem Lederbeutel wieder. Vor Jahrhunderten hatte er den Beutel hier deponiert, unmittelbar bevor er schon einmal am Strand von Harkýior gegen den unrechtmäßigen König der Elfen Cerýllion gekämpft hatte. Srrig war damit einer vagen Vorhersehung gefolgt, dessen Sinn er auch heute noch nicht erkannte. Doch er vertraute den göttlichen Visionen blind. Sie waren zur rechten Zeit stets wahr geworden. Manchmal auf sehr harte Weise, doch allzeit richtig für das höhere Wohl Hevanors. Er würdigte den seltenen Moment, in dem er trotz seines Alters eine Empfindung spüren konnte, mit einem Lächeln: Er war neugierig. Neugierig, was der wertvolle Inhalt dieses Beutels bedeuten und welche Tragweite sein Auffinden besitzen würde. Eine Kleinigkeit konnte es kaum sein. Der Strand, an dem heute die imperiale Stadt Harkýior stand, schien ohnehin eines der mystischen Zentren Hevanors zu sein, an dem in der Vergangenheit immer wieder Großes geschehen war – und wo sich nun ein weiteres Mal Schicksalhaftes zutragen würde. Srrig gesellte sich zu seinen sterblichen Begleitern. Vor Laura blieb er stehen und bedeutete ihr, aufzustehen. „Zeit für Dein tägliches Training.“ Er hielt eine brennende Fackel in einer Hand und den rätselhaften Lederbeutel in der anderen.

Strahlend erhob sich Laura und folgte Srrig in den Tunnel. Sie passierten Mèra und die fragend dreinblickende Vorhut. Durch zwei weitere kleine Tunnel gingen sie in eine enge Höhle, die kaum mehr als eine Verbreiterung des Ganges war. Tropfsteine wuchsen zudem in der Mitte. Srrig warf die Fackel auf den Boden, wo sie weiterbrannte. Er öffnete den Lederbeutel und zog ein langes weißes Seidentuch heraus. Ernst blickte er Laura an. „Leg Dein Schwert ab!“, verlangte er und wartete. Laura schnallte den Schwertgürtel ab und ließ ihn an der Höhlenwand fallen. „Bisher mussten all meine Schüler eine Aufnahmeprüfung bestehen, um ihren unbedingten Willen und ihr Vertrauen zu beweisen“, erklärte Srrig. Er spürte, dass seine Worte nur ein Vorwand für eine schicksalhafte, größere Fügung waren, die er noch nicht absah. „Ich hatte bei Dir gedacht, das sei überflüssig. Aber ich habe den Eindruck gewonnen, dass Du mir nicht vorbehaltlos vertraust. Bedingungsloses Vertrauen zwischen Meister und Schüler ist jedoch eine Grundvoraussetzung, um die traditionelle Kampfkunst der Tigermenschen zu erlernen. Man kann sich nicht die vermeintlichen Vorteile herauspicken und den Rest liegen lassen. Vielmehr sind alle Aspekte der Tiger-Kampfkunst eine untrennbare Mischung, die nur gemeinsam mehr als die Summe ihrer Teile ergibt. Auch der blinde Gehorsam des Schülers für den Meister gehört dazu, so unbequem das für den Schüler zunächst erscheinen mag.“ Laura schluckte. Ihr Blick eilte nervös hin und her. Sie kratzte sich am Arm und trat von einem Fuß auf den anderen. Das Unwohlsein grub sich deutlich in ihre Mundwinkel. Sie hatte zu Athónon gesagt, dass sie

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Srrig nicht vertrauen würde, weil ihr dessen Einstellung gegenüber Sterblichen nicht gefiel. Hatte er das mitbekommen oder spürte er es auch so? Gewundert hätte sie beides nicht. Sein Blick forderte sie auf, etwas zu sagen. Sie musste jedes Wort zwingen, ihren Hals mit brüchiger Stimme zu verlassen. „Ich bin bereit, Meister.“ Srrig nickte und sah sie undeutbar an. Er legte den Beutel neben ihr Schwert, trat mit dem weißen Seidentuch hinter sie und band es über ihren Augen fest. Nun war sie blind. Srrig ließ sie hören, wie er an ihr vorbeistrich und vor ihr stehen blieb. „Nun, vertraust Du mir?“ Seine sanfte Stimme klang in Lauras Ohren wie das hypnotische Zischeln einer zweihundertfünfzig Pfund schweren Giftschlange. Sie nickte. „Deine Prüfung besteht darin, Dich zu verteidigen“, sagte Srrig. „Hast Du verstanden?“ Lauras Nackenhaare stellten sich auf, ihr Magen rumorte. „Kämpfen?“, keuchte sie. „Gegen Euch?“ „Vertraust Du mir nicht?“, zischelte Srrig belustigt. Laura war mit ihren Gedanken schrecklich allein, in Dunkelheit gefangen unter der Augenbinde. Belauert von einer Situation, deren Gefährlichkeit sie nicht einschätzen konnte. Sie spürte sich schwer schlucken, schien sich selbst über die Schulter zu blicken. Ihre Knie drohten einzuknicken. Ihr Blut rauschte wild in den Ohren. Wie viel Zeit war gerade vergangen? Sie hatte noch nicht geantwortet. Ihr Mund war staubtrocken, ihre Lippen rissig. Lauras Stimme vibrierte und hatte kaum Kraft. „Ich bin bereit, Meister. Ich will Eure Kampfkunst lernen.“

Erschreckend laut verkündete Srrig: „Also gut!“ Er betrachtete Lauras Nase, die etwas breit geworden war von mehreren Brüchen. Er roch ihre Angst und sah ihre nervös geballten Fäuste. Srrig schlug ihr die flache Hand auf die Nase. Laura fiel betäubt auf den Rücken und schwieg mit offenem Mund. Für einen ganz kurzen Moment wollte sie jammern und liegen bleiben, sich die Augenbinde wütend herunterreißen. Doch sie bekam eine seltsame Empfindung von Bedrohung. Sie rollte sich über die Schulter nach hinten und landete auf den Füßen. Das Kettenhemd bremste sie durch das ständige Tragen kaum noch. Schniefend wischte sie sich das Blut von Nase und Lippen und stand kampfbereit da. Ihr Herz schlug bis zur Zunge und ihr Blut rauschte laut wie ein stürzender Wasserfall, zerrte an ihrem Körper, sodass sie zitterte. Ich kämpfe gegen einen Halbgott! „Gut!“, knurrte Srrig und stellte seinen erhobenen Tigerfuß wieder ab. Er hätte Laura damit getreten, hätte sie seine Absicht nicht gespürt. Es war mehr Srrigs als Lauras Verdienst, dass sie den Angriff geahnt hatte. Srrig hatte ihr die Empfindung mit aller Kraft in den Geist gesandt. Obwohl ihre Sinne hierfür noch äußerst unscharf und ungeübt waren, hatte sie immerhin erkannt, dass es diese Sinne gab. „Entspann Dich. Nur wenn Du innerlich ruhig bist, wird auch Deine Kampfweise ruhig. Eine ruhige Kampfweise ist die erste Stufe, die es zu erklimmen gilt“, erklärte Srrig. Dann kam er Laura lautlos näher. Ruhig bleiben? Entspannen? Laura wollte hysterisch lachen, schaffte es aber, die Lippen fest zu schließen.

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Und sie schaffte noch mehr. Wieder schien Srrig ihr auf empathische Weise zu helfen. Die Halbelfin entspannte sich Muskel für Muskel, bis sich alle Anspannungen lösten und sie gelassen und aufrecht dastand. Sie horchte konzentriert. Wieder bekam sie ein Gefühl von Bedrohung im Nacken, doch da traf sie bereits Srrigs Faust in die Rippen. Laura knallte mit dem Rücken an die unförmige Höhlenwand und bekam keine Luft. In ihren Lungen stach ein Schmerz, als sei eine Rippe gebrochen und hätte sich hineingebohrt. Dabei hatte das Kettenhemd den Schlag noch gedämpft. Sie hustete Blut und ergriff panisch die Augenbinde. Doch Srrig hielt ihre Hände fest. „Wenn Du jetzt aufgibst, bestehst Du die Prüfung nicht und ich werde Dich nicht weiter unterrichten.“ Was er wirklich meinte, war: Wenn Du jetzt aufgibst, wird das Schicksal nicht seinen Lauf im Sinne meiner Herren und Götter nehmen. Srrig sah noch immer nicht ab, wohin die Situation führte, aber er war sicher, das Richtige zu tun. Laura brachte keinen Ton heraus, rang nur verzweifelt nach Luft und würgte noch mehr Blut hervor. Was sollte sie daraus lernen, zusammengeschlagen zu werden? Wie im Kampf gegen Melek, spürte sie die dunkelsten Seiten ihres tief vergrabenen Menschenerbes in sich aufbegehren. Hass loderte auf, ungestüme Energie wollte sie zuschlagen lassen. Srrig ließ ihre Hände los und trat einen Schritt zurück. Leise sagte er: „Stell Dir stets vor, es ginge um Dein Leben. In einem echten Kampf kannst Du nicht einfach aufgeben oder Dich gehen lassen, bloß weil Du verwundet bist. Eigentlich weißt Du das auch schon.“

Laura ließ die Hände vom Gesicht herabsinken und umklammerte ihre Rippen. Sie schloss die zitternden Lippen und stellte sich so gerade hin, wie sie es vermochte. Srrig gab ihr einen Moment Zeit, dann schlug er ihr die Faust in den Magen. Sie stieß einen kläglichen Würgelaut aus und stürzte gekrümmt auf alle viere. Bewegungsunfähig blieb sie genau so vor Srrig knien, öffnete nur den Mund und kniff die Augen unter dem Tuch zusammen. Die dunkle Seite ihrer Seele warf sich rasend vor Wut gegen die Gefängniswände ihres Willens. „Du musst wieder aufstehen, der Kampf ist noch nicht vorbei“, sagte Srrig, es klang beinahe aufmunternd – er verspottete sie. Laura rührte sich nicht von der Stelle, nur ihre Arme zitterten heftig. Noch immer stand ihr Mund weit auf und ihr Gesicht war vor Schmerz verzerrt. Mit ihrer letzten Luft stieß sie einen heiseren Schrei aus, doch einatmen konnte sie immer noch nicht. Sie wusste, dass Srrig ihr jetzt in die Rippen treten oder ihr auch gleich das Rückgrat brechen konnte, doch sie schaffte es einfach nicht, sich zu rühren. Srrig packte sie im Genick und riss sie hoch. „Willst Du etwa aufgeben?“, knurrte er ihr ins Ohr.Ihr Kiefer bewegte sich, ihr Gesicht verzerrte sich vor Qual, aber sie brachte keinen Ton heraus. Sie schüttelte jedoch schwach den Kopf. „Wirklich tapfer“, sagte Srrig, offenkundig spöttisch. Gerade als Laura deshalb um so mehr Angst bekam, schlug er ihr die Faust in die Niere. Unsäglicher Schmerz explodierte in ihrem Rücken, sie stürzte wieder und blieb bäuchlings liegen. Ihre Finger verkrampften sich um den

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Fels. Sie biss die Zähne zusammen, konnte sich aber nicht bewegen. Ihre Glieder verzogen sich wie kurz vor einem Krampf, als sie es versuchte. Mit dem Fuß drehte Srrig sie auf den Rücken und kniete sich neben sie. „Der Kampf ist noch nicht vorbei. Was tust Du jetzt? Wenn ich ein Feind mit einer Klinge wäre, würde ich Dich jetzt einfach abstechen! Oder wenn ich Melek wäre ...“ Seine Krallen streiften ihren Innenschenkel hoch und gruben sich hinein, bis Blut hervorquoll. N’rracorr rief nach ihm. Doch Srrig erfüllte den Willen der Götter, indem er sich mit Laura befasste. So beherrscht vom Höheren, wankte Srrigs Seele kein bisschen bei den Verlockungen des Blutdämons. Laura wimmerte leise und fletschte gleichzeitig die Zähne, hin- und hergerissen zwischen Wut und Panik. Srrig packte ihre Kehle und drückte zu, seine Krallen ritzten auch dort die Haut. Laura bäumte sich auf und röchelte, ihre Finger zerrten vergeblich an Srrigs Faust. „Du musst nur die Augenbinde abnehmen, dann ist Dein Martyrium vorbei“, führte Srrig sie in Versuchung und ließ nicht los. „Auch vor einer echten Schlacht ist es viel leichter, rechtzeitig umzukehren und nach Hause zu gehen, als sich ins blutige Getümmel zu stürzen. Ich sagte es Dir schon einmal.“ Plötzlich erschien ihm seine Eingebung vom Schicksal absurd: Wie sollte dieser sterbliche Wurm zu seinen Füßen eine wichtige Bedeutung in den Augen der Götter haben? Doch noch blieb sein Vertrauen unerschütterlich. Lauras Hände ruckten zum Seidentuch, beschmierten es mit ihrem Blut und gruben sich hinein – doch sie nahm

es nicht ab. Stattdessen schlug sie mit der flachen Hand in Srrigs Gesicht und fand seine Augen. Sie drückte mit aller Gewalt einen Finger gegen das Lid. Doch er reagierte kaum. Er zog den Kopf nur etwas zur Seite – und biss ihr mit mäßiger Kraft in die Hand. Sie bäumte sich noch stärker auf, aber Srrigs Pranke um ihren Hals blieb eisern. Er drückte nicht mal so sehr auf die Kehle, er drückte ihr vor allem die Adern ab. Verzweifelt strampelte Laura und schlug mit beiden Fäusten auf seinen würgenden Arm ein, die Bisswunde ignorierte sie. Doch sie war hilflos. „Was würdest Du tun, wenn dies ein echter Kampf wäre?“, raunte Srrig, während sie sich immer schwächer wehrte und immer kläglichere Laute von sich gab. Er schob seine freie Hand unter das Kettenhemd und schnitt mit den Krallen über ihren Bauch. Plötzlich ließ er sie einfach los und stand auf. Sie rollte sich blitzschnell auf die Seite und krümmte sich so eng zusammen wie sie nur konnte. Den Kopf vergrub sie zwischen den Armen. Bebend blieb sie so liegen und keuchte. Noch immer streifte sie die Augenbinde nicht ab. Srrig hörte jemanden heraneilen. Er roch bereits, wer es war, außerdem kannte er das Geräusch der Schritte. Mèra bog in den Tunnel ein, dicht gefolgt von Athónon. Sie sagte nichts und lief zu Laura, während Athónon unschlüssig im Eingang stehen blieb. Mèra kniete sich zu Laura und legte die Hände nur in den Schoß. Sie betrachtete die Wunden und sagte leise: „Ist schon gut. Du musst nichts sagen. Ich heile Dich, sobald Du bereit bist.“ Mèra streckte Laura die Hand entgegen,

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doch die verzog nur die Mundwinkel nach unten. „Geh weg!“, wimmerte die Halbelfin. „Ich will nicht, dass mich jemand so sieht!“ Weder ergriff sie Mèras Hand, noch nahm sie das blutige weiße Seidentuch ab. Im nächsten Moment fragte sie sich selbst, weshalb sie ständig auf ihren falschen Stolz hereinfiel. Doch sogleich fiel ihr die Antwort wieder ein. Hinter Lauras Kopf wuchs ein Stalagmit in die Höhe, sie streckte die Hand danach aus. Noch war die Prüfung nicht vorbei. Mèra sah zu, wie Laura sich stöhnend auf den Bauch wälzte, zu dem Tropfstein robbte und sich Fingerbreit für Fingerbreit daran hochzog. Sie bot einen elenden Anblick, doch mit jedem Stückchen, dass Laura sich hocharbeitete, löste der durchschimmernde Stolz auf ihre Kraft diesen Eindruck ab. Schließlich kam sie auf die Füße, obgleich sie wankte. Auch Mèra erhob sich und musterte die Halbelfin emotionslos. Laura machte einen wackeligen Schritt nach dem anderen und hob tastend die Hände. „Es kann weitergehen“, verlangte sie mit brüchiger Stimme. „Ich bestehe Eure Prüfung, Meister!“ Mèra blickte vorwurfsvoll zu Srrig, trat aber zur Seite und ließ Laura vorbei. Auch Mèra spürte längst, dass dem jungen Mädchen bald eine große Bedeutung zukommen würde. Doch sie verstand noch weniger als Srrig, weshalb er sie quälte. Srrig betrachtete ausdruckslos, wie Laura auf ihn zutappte. „Wie bitte?“, fragte er plötzlich leise und blickte die Halbelfin verwundert an.

„Ich bestehe Eure Prüfung, Meister!“, sagte sie mit bebender Stimme und wankte weiter auf die Stelle zu, wo sie ihn vermutete. Srrig kam ihr langsam entgegen und musterte ihre Wunden von oben bis unten. Als sie ihn fast erreicht hatte, ergriff er ihre Schultern und hielt sie fest. Srrig nahm ihr die Augenbinde mit einer Hand ab und ließ sie achtlos fallen, worauf Mèra lächelte, aber schon im nächsten Moment verstand sie, dass die Prüfung noch nicht vorbei war. Auch Laura lächelte nicht und stand stocksteif da. Srrig hielt ihr die Hand vors Gesicht. Die Krallen von Zeige- und Ringfinger schwebten vor ihren Augen. „Lass die Augen auf“, raunte Srrig, während seine Krallen ihren Pupillen immer näher kamen. Laura zitterte immer stärker vor Angst, bis die Krallen fast schon ihre Augäpfel berührten. Doch sie riss die Lider immer wieder auf, wenn sie auch blinzelte. Sie wimmerte, als die Krallen ihre Augäpfel antippten, aber selbst jetzt riss sie die Lider hoch und ertrug die Panik. „Sind es Deine Augen wert?“, flüsterte Srrig und drückte ein wenig stärker auf die Pupillen. Lauras Kiefer bebte, Tränen liefen über ihre Wangen. Sie hielt still. „Ich vertraue Euch, Meister!“, flüsterte sie dieses Mal. Sie wollte nicht länger eine Prüfung bestehen, sie wollte Srrig vertrauen – sie stellte ihr Ego und ihren Siegeswillen zurück und ordnete sich unter. Srrig nahm schlagartig die Hand fort und trat einen Schritt zurück. „Ich weiß nicht, wie ich Dich noch weiter prüfen sollte, ohne das Gesicht zu verlieren“, erklärte Srrig sanft. Er kam wieder näher, blickte neugierig in ihre

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Augen und raunte: „Noch nie. Noch nie ist jemand so weit gegangen.“ Während er Mèra ansah, behauptete er: „Ich bin wirklich beeindruckt, dass eine Sterbliche mich überraschen konnte.“ Mèra wusste, dass „noch nie“ gelogen war, doch sie wusste auch, dass er Laura auf diese Weise um so mehr Kraft für die Zukunft mit auf den Weg gab. Laura lächelte nicht, aber sie beruhigte sich ein wenig. Auf einmal spürte sie wieder, wie weich ihre Knie waren. In seiner Hand hielt Srrig ein goldenes, prachtvoll verziertes Amulett, das er Laura nun zeigte. „Sieh, das bekommen alle, die meine Prüfung bestehen“, sagte er leise. „Aber Du verdienst es nicht.“ Ruckartig hob Laura den Kopf und starrte den Halbgott hasserfüllt an. Srrig ließ das Amulett fallen, während er ihren Blick lächelnd erwiderte. „Es ist nur ein kitschiges Stück lebloses Gold, eine oberflächliche Trophäe, damit meine Schüler sich stolz auf die Schultern klopfen können.“ Srrig ging zu seinem Lederbeutel, während Laura mit brennenden Augen auf das Amulett am Boden starrte. Als er zu Laura zurückkehrte, umklammerte seine Hand einen anderen kleinen Gegenstand. In seiner Stimme mischte sich ein Zwiespalt aus Geringschätzung für Sterbliche im Allgemeinen und Respekt für Laura im Besonderen. „Ich hätte nicht gedacht, dies hier jemals zu verschenken, erst recht nicht an eine ... sterbliche Schülerin“, verkündete er und sah sie streng an. Nun wusste er endlich, wieso auch das zweite Amulett im Beutel gelegen hatte, die ganze Zeit hatte er sich gewundert. Jetzt hatte er den Willen

seiner Götter erkannt und fügte sich, so schwer es ihm in diesem Fall auch fiel. Er nahm Lauras Hand und legte ein schlichtes Silbermedaillon an einem Lederband hinein. „Es sieht unscheinbar aus, doch ist es viel wertvoller als das goldene Ding. Es ist sehr alt und weise. Dieses Amulett hat schon viele Generationen großer Meister der Tigerkampfkunst ausgebildet. Behandele seine Seele mit Respekt, es verdient ihn. Solch alte Artefakte verschenkt man sonst nicht, wenn man die magische Seele erst einmal kennt, aber ich weiß, das Amulett ist in diesem Fall damit einverstanden.“ Laura stand zögernd da und betrachtete das Silberamulett in ihrer Hand. Da nahm Srrig es noch einmal und hängte es ihr um. „Das Lederband kann übrigens nicht zerreißen, darüber brauchst Du Dir keine Sorgen zu machen“, fügte Srrig hinzu. Dann trat er einen Schritt zurück und seufzte wehmütig, einen letzten Blick auf das Amulett werfend, das auch ihn in jungen Jahren zum Meister ausgebildet hatte. „Jetzt solltest Du Dich ausruhen, das hast Du Dir ebenfalls verdient“, rief Srrig über die Schulter, während er Fackel und Lederbeutel ergriff. Das goldene Medaillon ließ er achtlos liegen. Srrig war noch immer nicht vorbehaltlos zu dem Gedanken fähig, dass die prophetische Bedeutung des Silberamuletts etwas mit einer einfachen Sterblichen wie Laura zu tun haben könnte, und doch schien es exakt so zu sein. Die höhere Weisheit seiner Götter hatte darin bestanden, Srrig mit dem unbändigen Willen einer Sterblichen zu überraschen. Dass sie sein Amulett bekommen sollte, erhob sie auf eine Stufe mit ihm, selbst

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wenn sie noch jung war und viel zu lernen hatte. Doch dies musste der Ratschluss der Götter sein. Einen anderen Grund dafür, dass er sein Amulett vor so langer Zeit hier hatte deponieren sollen, sah er nicht. Laura atmete sehr flach, um den Schmerz im Brustkorb gering zu halten. Sie versuchte, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Mèra trat neben sie und lächelte warm. Auch sie kannte die Bedeutung des Silberamuletts, von dem Srrig sich nie getrennt hatte, bis zu dem Tag, da er das Amulett hier deponierte. Mèra reichte Laura den Schwertgürtel und auch das blutige Seidentuch. Nachdem die Halbelfin sich andächtig den Gürtel umgeschnallt hatte, knotete sie das Seidentuch daran. Auch Athónon kam nun zu ihr und beglückwünschte sie ruhig. Allmählich konnte Laura etwas lächeln, obwohl sie Mühe hatte, die Augen auf einen bestimmten Punkt auszurichten. Laura hatte zwei Dinge über sich gelernt: Dass ihr Willen ihr größter Schatz war und dass sie bereit war, jedwedem Monster blind zu vertrauen, wenn sie dafür nur die Bestätigung erhielt, eine Kriegerin von Wert sein zu können. An dieses Ziel klammerte sie sich mit aller Gewalt, mehr als es ihr vor ihrer Prüfung bewusst gewesen war. Das Amulett schmiegte sich warm an ihre Haut. Nun besaß sie bereits zwei unermesslich wertvolle, lebende Artefakte. Noch vor wenigen Tagen wäre sie deswegen unglaublich stolz und eingebildet gewesen. Sie lächelte dünn und streichelte über den Knauf ihrer Waffe. Noch wusste sie keinen Namen. Laura war nicht sicher, was sie eigentlich empfand bei dem Gedanken an diese großen

Ehren, die sie empfangen hatte. Denn auch die Schmerzen, Ängste und Gefahren – und Verluste – auf dem Weg dahin waren ungleich größer gewesen als alles, was sie je zuvor erlebt hatte. Sie konnte noch immer nicht richtig atmen, und je mehr die Aufregung verflog, desto schlechter fühlte sie sich, von den Schmerzen ganz zu schweigen, die jetzt den Weg in ihre Gedanken fanden. Bevor Laura die lagernden Nachtelfen erreichte, sank sie stöhnend an eine Wand und umklammerte ihre gebrochenen Rippen. Sie schmeckte neues Blut auf der Zunge und verdrehte vor Schwäche die Augen. „Nicht schon wieder herumliegen ...“, raunte sie scherzhaft und versuchte zu grinsen, was ihr allerdings nicht gelang. Mèra und Athónon waren gleichzeitig bei ihr, Athónon warf ihr die magische Decke um die Schultern und Mèra legte die Hände auf Lauras Rippen. Srrig blieb stehen und blickte ausdruckslos zu den dreien hinter sich. Die Empfängerin seines größten Schatzes, den nun sie um den Hals trug, wäre ohne die exzellente Ausstattung Athónons und ohne Mèras Hilfe schon lange tot. Offenkundig taten die Götter alles, um Laura am Leben zu halten, doch Srrigs Sorge um sein Amulett verflog trotzdem nur langsam.

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20 Allmählich hatten alle Quirmóer sich an Myándirels gelegentliche Windstöße gewöhnt, die den Rauch der Feuer aus der Höhle bliesen. Nur jene, die mit dem maßlosen Magiegebrauch, wie sie es nannten, nicht einverstanden waren, murrten darüber und bezeichneten Myándirel sogar als Verräter. In der Tat hatte er früher – vor seiner Zeit im Rat – nicht ständig jeden minderwichtigen oder auch weltlich erreichbaren Handschlag durch einen Zauber ersetzt. Spähtrupps waren in verschiedene Richtungen ausgeschickt worden, um den weiteren Weg in die Tiefe auszukundschaften. Es war die vierte Stunde des Aufbruchs der Nachtelfen von Quirmó, und allmählich bildeten sich Grüppchen in der Höhle, die sich auch räumlich in verschiedene Ecken und Winkel aufteilten. Eine Gruppe war dagegen, dass die Fremden sie begleiteten und auch gegen die Magie. Einer anderen Gruppe war beides egal, eine weitere fand beides sogar gut und wollte den Rest von ihrer Meinung überzeugen. Eine Gruppe fand Magie schlimm, die Fremden aber nicht, eine weitere Gruppe sah das genau umgekehrt. Die Ratsmitglieder saßen zermürbt in der Mitte des Ganzen und machten sorgenvolle Mienen. „Wenn wir jeder selbst ernannten Gruppe erlauben, eigene Wachen an ihren Tunneln aufzustellen, haben wir die erste Schlacht in diesem Krieg verloren“, krächzte der greise Pêraphèniel erschöpft. „Dann hätten wir nämlich ihre Unabhängigkeit voneinander anerkannt.“

Gamáal nickte finster. Seine braunen Krallen gaben dem hageren Krieger schon dann etwas Unheimliches, wenn er sich nur an der Schulter kratzte. „Wir müssen die Wachen weiterhin zentral an alle Tunnel verteilen, egal welche persönliche Meinung die Einzelnen haben“, sagte er mit leiser, tiefer Stimme. „Ich werde das durchsetzen“, fügte er gespenstisch hinzu. Die anderen Ratsmitglieder musterten ihn verunsichert, schwiegen jedoch. Gamáal nickte dem Ältesten zu und verschwand. Drei Nachtelfinnen aus einer Gruppe, die nur aus Frauen bestand, traten an die Ratsmitglieder heran, kaum dass Gamáal gegangen war. Ohne Gruß sagte die vorderste Nachtelfin: „Wir sind nicht damit einverstanden, nur von Männern geführt zu werden. Wir bestehen darauf, dass mindestens ein Ratsmitglied durch eine Vertreterin unserer Gruppe ausgetauscht wird. Am besten ersetzt Ihr Sophéion, denn Frauen sind sowieso einfühlsamer und begabter für die Musik und haben schönere Stimmen.“ Sprachlos blickte der sitzende Pêraphèniel zu der Frau auf, während Sophéion ärgerlich durch die Nase schnaubte und sich erhob. „Ein Ratsmitglied zeichnet sich am wenigsten durch seine schöne Stimme aus“, konterte der Barde. Sein Marmorgesicht verfinsterte sich. „Außerdem haben wir wahrlich andere Sorgen. Also setzt Euch wieder hin. Wir können darüber diskutieren, wenn wir eine neue Heimat haben und Ruhe in unser Volk eingekehrt ist. Seht Ihr nicht, was hier los ist?“ Pêraphèniel nickte. „Wir können jetzt keinen Zwist innerhalb unseres Volkes gebrauchen. Wir haben

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mit dieser Grüppchenbildung schon ein ausreichend schwerwiegendes Problem, das schlimmstenfalls in Spaltung und Zersplitterung endet.“ Die Nachtelfin hob angriffslustig das Kinn und widersprach: „Nein! Irgendetwas wird immer sein, womit Ihr uns abwimmeln könnt. Ich sage, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, dann haben wir es hinter uns. Es ist doch ganz einfach: Entlasst Sophéion, ersetzt ihn durch eine von uns und gebt die Änderung bekannt. Das dauert nicht lange.“ „Eure Forderung ist nicht akzeptabel“, sagte Pêraphèniel mit fester Stimme. Noch immer blieb er sitzen, während Sophéion mit verschränkten Armen dastand und die Frauen verärgert anfunkelte. Die Wortführerin schwieg grimmig, bis sich ein böses Lächeln in ihre Miene schlich. „Eure Position ist auch nicht mehr die beste, Ältester. Einige Mitglieder unseres Volkes fanden Eure Entscheidung in Bezug auf diesen Athónon reichlich charakterschwach. Ihr habt Euch von Srrig einschüchtern lassen!“ Pêraphèniel hob überrascht die Brauen und starrte die Frau an. „Also gut!“, rief Fêowyn von der Seite. „Ich trete zurück, um des Friedens willen.“ Er wollte schon aufstehen, aber Sophéion hielt ihn an der Schulter fest. „Nein“, sagte der Barde. „Wir können nicht bei jeder kleinen Schwierigkeit sofort nachgeben, sonst gibt es bald keinen Rat mehr. Außerdem sollst Du nicht für mich den Kopf hinhalten. Niemand wird heute den Rat verlassen.“ Er wandte sich den drei Frauen zu und knurrte: „Und Ihr setzt Euch jetzt wieder auf Eure Plätze und hört auf,

Ärger zu machen, sonst wird sich Gamáal Eures Anliegens annehmen.“ Die vorderste Frau zuckte nur minimal mit den Brauen und schwieg, doch die beiden Elfinnen hinter ihr blickten empört und auch verschüchtert drein. „Ist das eine Drohung?“, fragte die vorderste Elfin scharf. „Natürlich!“, lachte Sophéion belustigt. Myándirel nahm die Pfeife aus dem Mund und brummte: „So wird das auch nichts.“ Der Zauberer erhob sich ächzend, sah in die Runde und machte den Frauen einen neuen Vorschlag: „Ihr könnt nicht einfach einen Ratsposten verlangen, bloß weil Ihr Frauen seid. Es gab schon viele Frauen im Rat, aber jedes Individuum musste sich seinen Posten verdienen. Das gilt für Euch genauso. Wenn Ihr also einen Posten haben wollt, macht Euch um den Erhalt unserer traditionsreichen Elfenkultur verdient, indem Ihr beispielsweise dafür sorgt, dass diese Grüppchenbildung unterlassen wird, bloß weil einige kurzsichtige Egoisten meinen, auch mal wichtig sein zu wollen.“ Die Ratsmitglieder nickten allesamt zustimmend. Pêraphèniel erhob sich mühselig, um der Elfin doch noch den Respekt zu erweisen, ihr von Angesicht zu Angesicht zu antworten: „Myándirel hat einen sehr klugen und gerechten Vorschlag gemacht. Ich sehe keinen vernünftigen Grund, diesen Vorschlag nicht als offiziellen Ratsschluss im Interesse des Volkes von Quirmó zu behandeln.“ Nachdenklich ließ die Frau den Blick sinken. Sie drehte sich zu ihren Begleiterinnen um, die drei tuschelten. Schließlich wandte die Frau sich wieder dem Ältesten zu.

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„Wir sind nicht einverstanden. Ihr haltet uns hin. Wenn Ihr das Problem nicht lösen konntet, können wir es auch nicht schneller.“ Pêraphèniel grinste. „Nun, aber wenn Ihr es auch nicht besser könnt, wieso solltet Ihr dann besser in den Rat passen? Es scheint mir eher, als wenn Ihr bloß ein paar machtgierige Intrigantinnen seid, welche die Gunst der Stunde nutzen wollen. Doch damit ist jetzt Schluss! Geht und seid friedlich, ihr Giftschlangen! Der Rat muss sich mit wichtigeren Angelegenheiten befassen als Eurem Geltungsbedarf.“ Der Älteste winkte die drei abfällig von sich und wandte sich ab. Sophéion stützte ihn, als er sich wieder setzte. Wutschnaubend fuhr die Wortführerin auf dem Absatz herum und stürmte davon, gefolgt von ihren etwas weniger wütenden Begleiterinnen.

Olériel hatte vom Rand der Höhle aus die drei Elfinnen beim Rat beobachtet. Zwar hatte sie kaum hören können, was gesprochen worden war, doch sie kannte das Gesicht der Wortführerin von anderen Gesprächen. Schon oft hatte diese abfällig über die Männer gesprochen und dass ihrer Meinung nach die Falschen im Rat säßen. „Erzähl mir vom Anführer Deines Volkes“, bat Olériel Taren, nachdem sie über eine möglichst unverfängliche Formulierung dieser Frage nachgesonnen hatte. „Mein Volk ist zersplittert und hat keinen richtigen Anführer. Jeder Stadtstaat und jeder Dörferbund steht

für sich allein“, berichtete Taren. Voller Sorge dachte er an seine Heimat Silberberg, an eine von nur drei wirklich großen Städten der Menschen. Silberberg musste ganz allein der Belagerung durch die Chimärier standhalten. Laut Athónon gab es die Stadt vielleicht schon gar nicht mehr. Der von Gerüchten und Geheimnissen umwitterte Königskult hatte mit einem Artefakt, das die Vier Könige ins Leben zurückrufen konnte, Schattenwacht erpresst und damit die Chimärier vom entscheidenden Schlag abgehalten. Doch die Erpressung war laut Athónon hinfällig, da die Vier Könige das Totenreich ja längst verlassen hatten.Taren räusperte sich. Mit den Einzelheiten, wieso die Stadt überhaupt so lange gegen solch eine Übermacht durchgehalten hatte, wollte er seine neue Gefährtin nicht langweilen. Olériel sah sich traurig um und raunte: „Tja, es scheint, als wenn mein Volk bald auch in viele winzige Gruppen zerfällt, so sehr es sich auch an seiner Kultur festzuklammern glaubt. An irgendeiner ominösen Waldelfen-Tradition, die hier die wenigsten wirklich kennen. Eigene Gruppen! Wieso nur tun die so etwas Dummes? Das hilft doch niemandem“, beschwerte sie sich. „Vielleicht hätte Mèra doch wieder Königin werden sollen.“ „So ist die Natur des Geistes: Er kann sich wider besseres Wissen verhalten, und prompt muss er davon ständig Gebrauch machen“, spottete Taren. Doch seine Augen glühten finster. Es schadete der Welt, dass nicht alle Völker von Theb Nors Prophezeiung wider das Wissen beschützt wurden. „Jemand sollte ein Gesetz dagegen erlassen“, grollte Olériel.

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Taren drehte ihr überrascht das Gesicht zu und fragte: „Wogegen? Gegen den Geist?“ Gibt es schon. Nur erkennen die Elfen Theb Nor nicht als Propheten an. Olériel schwieg. Nach einer Weile erwiderte sie: „Nein, erst einmal nur dagegen, sich dem Rat zu widersetzen.“ „Und wenn eines Tages böse Elfen den Rat beherrschen, sollte man sich ihm dann trotzdem nicht widersetzen dürfen? Je mächtiger und reicher der Rat gemacht wird, desto eher werden die Falschen ihm beitreten wollen, anstatt dass sich nur die Klugen und Weisen für diese Aufgabe interessieren.“ Die von den Göttern geleitet werden, ohne selbst zu viel zu denken. „Früher hatte mein Volk Tempelkönige, denen man nicht widersprechen durfte. Viele Tempelkönige erlagen der großen Macht jedoch oder wurden von den Amdovenn verführt. Sie unterdrückten das Volk, um sich zu bereichern.“ „Böse Elfen im Rat?“, lachte Olériel künstlich. Doch ihr Blick verriet eine unterschwellige Furcht, die Taren wachgekitzelt hatte. Sie sprach eine andere Vermutung aus: „Ich glaube eher, dass die wirklich Klugen und wirklich Weisen kein Interesse daran haben, sich mit den Problemen des einfachen Volkes zu befassen.“ Voll Bitterkeit knurrte sie: „Wer wirklich klug und weise ist, opfert sich nicht für andere auf. Wer zu schwach ist, sich um sich selbst zu kümmern, der stirbt eben. Sehen es so nicht auch die Chimärier? Nun, erfolgreich sind sie wohl, in gewisser Weise.“ Taren blickte sie aufmerksam von der Seite an. „Die wirklich Klugen und Weisen werden von den Göttern für solche Aufgaben bestimmt, ob sie wollen oder nicht.“

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Sie erwiderte den Blick nicht. Der Tempelkrieger seufzte. Er wusste, dass Olériel nichts von Göttern hielt. Taren lächelte dünn und legte ihr den Arm um die Schultern. Dankbar schmiegte sie sich an ihn und schloss die Augen. Er nahm den anderen Gesprächsfaden wieder auf: „Ein Chimärier nimmt niemals Hilfe an, das stimmt. Sie halten sowohl Anbieten als auch Annehmen von Hilfe, wenn es nicht einem unmittelbaren Sieg dient, für eine der schlimmsten aller Schwächen. Sie glauben, damit ihrem Volk erheblich zu schaden. Im Gegensatz zu den anderen Völkern sind sie in der Erziehung extrem streng und lassen selbst geringe Verweichlichungen ihrer Grundsätze nicht zu. Sie haben ein Sprichwort: Auch der erste Schritt der falschen Reise entführt das Auge in die falsche Richtung.“ Ohne eine nähere Erklärung hatte Taren doch verstanden, dass Olériel ihre Fragen nur aus Trauer um ihre vor langer Zeit beim Handeln getötete Familie geäußert hatte. Er hatte schon zu viel geredet. Taren war überrascht, wie gut er die Elfin verstand, obwohl er sie erst wenige Stunden kannte. „Hat Dein Volk viele Gesetze?“, fragte Olériel nach einer Weile. Den Kopf ließ sie an Tarens Brust liegen. Er genoss ihre knisternde Nähe und ihren Atem, der sich wie ein Streicheln anfühlte. Taren schilderte: „In vielen Stadtstaaten der Menschen gibt es klare und feste Gebote, ja. Der Kulturtrieb ist nicht nur bei den Elfen stark. Es gibt aber immer wieder Einzelne bei uns, die sich mit ihren spitzen Zungen gegen die Gebote wehren oder glauben, sie aufgrund ihrer exakten Wortwahl umgehen zu können. Das wirklich

Wichtige ist deshalb für mein Volk, kluge Richter, Räte oder Könige zu haben, die den Gehalt der Gebote mit dem Herzen verstehen und ehren und sie konsequent durchsetzen, ohne sich mit Haarspaltereien und spitzen Zungen aufzuhalten. Denn Worte sind bekanntlich dehnbar und manipulativ, Waffen der Amdovenn. Sie halten im Zweifelsfall bloß auf – selbst wenn jene, welche sie als Geisteswaffen vorschützen, das inbrünstig bestreiten. Alle Gesetze und jeden Einzelfall in exakte Worte fassen zu wollen, wäre wohl ein Fass ohne Boden und niemand könnte sich das alles merken.“ „Genau wie bei uns“, murmelte Olériel. „Was macht Dein Volk, wenn seine Anführer nichts taugen?“, fragte sie vorsichtig. „Meist gibt es einen besseren Kandidaten, der seinen Vorgänger mit Hilfe unserer Götter ablöst. Schwierig wird es nur, wenn ein König allein zu viel Macht besitzt und gleichzeitig sein Volk nicht achtet und es schlecht behandelt. Ich kenne solche Städte nicht selbst, hörte aber davon. Das Volk kann meist nichts dagegen tun, außer die offensichtlich erzürnten Götter wieder zu beruhigen, damit diese eingreifen.“ „Tja, wir haben für solche Fälle keine Götter“, murmelte Olériel. „Hoffen wir, dass uns Männer wie Pêraphèniel noch lange erhalten bleiben.“ „Was ist mit den anderen Ratsmitgliedern?“, wollte Taren wissen. Doch Olériel seufzte nur leise zur Antwort. Plötzlich setzte sie sich gerade hin, lächelte Taren an und rief: „Lass uns von etwas Schönem reden! Diese ganze Politik stimmt mich nicht gut.“

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„Von etwas Schönem? Wie Dir?“, grinste Taren zurück und vergaß seine Neugier rasch. „Ich dachte mehr an Deine Lippen“, raunte Olériel. Damit setzte sie sich auf Tarens Schoß, küsste ihn und grub ihre Finger in seine Schultern.

„Bist Du Taren?“, fragte eine grazile Nachtelfin sehr leise. Ihr weites, schlichtes Kleid war so grau wie der Fels ringsum. Ihr Haar war zu einem festen Knoten aufgesteckt. Obwohl die unscheinbare Person sofort in jeder Nachtelfen-Menge verschwunden wäre, fiel Brommil doch auf, dass sie sehr gepflegt war. Ihr Kleid wies kein bisschen Staub oder Schmutz auf, trotz des Marsches. Kein noch so kleines Strähnchen wehte an ihrem Kopf, sie saßen alle fest im Haarknoten. Ihre dünnen Finger spielten nervös vor ihrem Bauch miteinander, ihren kleinen Kopf und den furchtsamen Blick hielt sie gesenkt. „Nein, der dort ist Taren, mit der Nachtelfin auf dem Schoß“, antwortete Brommil und zeigte ein paar Schritte weiter auf Taren. Die Unscheinbare bedankte sich hastig und eilte mit kleinen, schnellen Schritten weiter zu Taren und Olériel, die Brommils Antwort gehört hatten. Die beiden trennten ihre Lippen und Zungen voneinander und erwarteten die Nachtelfin. Gamáal hatte ihr bloß gesagt, Taren sei ein kleiner, bärtiger Mensch. Woher hätte sie wissen sollen, dass es hier gleich zwei davon gab. Von Zwergen hatte sie nur vage

Gerüchte gehört, und sie stellte sich Zwerge als höchstens handgroße Wesen vor, welche die meiste Zeit unsichtbar blieben und Elfen wegen ihrer Größe beneideten und piesackten, wenn sie konnten. „Bist Du Taren?“, fragte die Unscheinbare sicherheitshalber noch einmal, als sie den Menschen erreichte. Ihre dünne Stimme war sehr leise und scheu. Nach wie vor spielten ihre Finger vor ihrem Bauch miteinander, und auch den Kopf hielt sie geradezu ehrfürchtig gesenkt. „Ja, was gibt es?“, nickte Taren freundlich und beugte sich vor, um ein wenig mehr vom Gesicht der Nachtelfin zu sehen. Hastig senkte diese daraufhin den Kopf noch weiter, bevor sie berichtete: „Gamáal ist im Auftrag des Rates für die Wachen zuständig. Er hat mir aufgetragen, Dir zu sagen, dass Du und Deine Begleiter auf keine Splittergruppe hören, sondern Euch direkt an den Rat wenden sollt, wenn es wegen der Wachen zu Schwierigkeiten kommt. Der Rat will nicht, dass die Splittergruppen eigene Entscheidungen treffen. Auch wünscht der Rat nicht, dass unsere Gäste sich zu sehr mit dem Rat gut stellen, weil das die Spaltung unseres Volkes noch vertiefen könnte. Deswegen sprechen sie auch nicht persönlich mit Dir und den anderen, sondern haben mir das aufgetragen.“ „In Ordnung“, antwortete Taren ernst. Die Unscheinbare trippelte unschlüssig um die eigene Achse, dann hastete sie mit ihren schnellen, kleinen Schritten davon. Taren sah grinsend zu Olériel.

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„Arme Famárial“, raunte Olériel, während sie ihr nachsah. „Du kennst sie?“, hakte Taren nach. „Sie ist Gamáals Gefährtin. Man sagt, sie ist bei ihm geblieben, seit er sie und ein paar andere Nachtelfen vor Jahren aus einer langen Gefangenschaft aus der Tiefenwelt befreit hatte. Mehr weiß ich darüber zwar auch nicht, aber wenn man Famárial so sieht, will ich mir ihr Schicksal auch gar nicht genauer vorstellen.“ „Und was findet Gamáal dann an ihr?“, wunderte sich Taren. Olériel zuckte mit den Schultern und blickte wieder verliebt in Tarens Augen.

21 Klom, der Zweite unter Cerýllions Sporks, stand mit verschränkten Armen vor seinen zwanzig Kriegern, die er in einem breiten Höhlengang versammelt hatte. In Kloms zahllosen Augen spiegelte sich der Feuerschein einer Fackel, die neben ihm lag. Hinter ihm stand Nachtmahr, der haarige Geistertroll, und ließ die dolchgleichen Krallen am toten Körper herabbaumeln. Mit seiner glitschigen Stimme knurrte Klom die Krieger an: „Cerýllion befiehlt uns, die Enklave zu stürmen und nichts am Leben zu lassen. Bleibt am Höhlenrand, in der Mitte könnt Ihr zu leicht von Pfeilen getroffen werden. Oben sind Schützen! So weit, so einfach. Ich erwarte, dass jeder von Euch sich trotzdem erst dann mit Beutemachen beschäftigt, wenn der Kampf gewonnen ist! Wen ich vorher erwische, den werde ich töten. Alles verstanden?“ Die Sporks stießen ihre Speere auf den Boden und schrien mit einer Stimme: „Ja, Zweiter!“ Sie hatten eine oberflächliche Disziplin erlernt, die sich im Kampfgetümmel jedoch schnell auflösen konnte. „Dann los!“, rief Klom und streckte seinen breiten Bronzesäbel, den er vom Buckel gezogen hatte, in die Luft. Die Sporks brüllten und rannten um eine dunkle Ecke. Am Ende des Gangs glommen die ersten Kohlenbecken der Schlangenblüter-Enklave. Nachtmahr folgte den Sporks mit trägen, doch sehr weiten Schritten. Seine langen Arme pendelten hin und her und seine klingengleichen Krallen zuckten aus lauter

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Vorfreude. Das zerfetzte, verweste Gesicht des Geistertrolls grinste böse. Sein linkes Auge funkelte mordlüstern und seine skelettierte rechte Augenhöhle glühte in einem blutigroten Höllenfeuer. Zeeris wandte sich den Schlangenblütern zu, aber sie wichen furchtsam vor ihm zurück. Auch die Verwundete neben Zeeris robbte stöhnend von ihm fort, so schnell sie vermochte. „Ich tue Euch nichts“, erklärte Zeeris mit nobler Stimme und winkte beschwichtigend ab. Stolz reckte er die Brust raus und stemmte eine Hand in die Hüfte. Die andere hielt er vors Gesicht und betrachtete gelassen die kleinen Krallen. Dann registrierte er endlich das Sporkbrüllen hinter sich und fuhr erschrocken herum. Aus der Dunkelheit sprengte eine wilde Horde Sporks herbei. Das Teufelchen schrie entsetzt und wurde unsichtbar. Mit müden Flügeln erreichte Zeeris einen Felsvorsprung unter der Decke und fiel auf den Bauch. Schwefeldampf stieg aus seinen Poren auf, gleichzeitig fröstelte er vor Erschöpfung. Er war unsicher, ob er noch einmal so schnell so hoch würde fliegen können. Auf jeden Fall konnte er nicht unsichtbar bleiben. Die Heilung der Schlangenblüterin hatte ihn arg gebeutelt, und hätten die Sporks nicht so einen Lärm veranstaltet, das Teufelchen wäre eingeschlafen. Die Sporks stürmten rechts und links am Höhlenrand entlang. Die Hälfte der Schlangenblüter hatte die oberen Felsen bereits wieder verlassen und stand im Inneren der

Höhle, während das andere Dutzend über den Köpfen der Sporks neue Pfeile auflegte und die Bögen spannte. Die Schützinnen mussten sich jedoch weit über den Fels lehnen, um auf die Sporks zielen zu können. Einige Frauen legten sich bäuchlings hin. „Kletterer vor!“, kommandierte Klom. Drei Sporks an jeder Seite klemmten die Speere zwischen die Kiefer. Die Kletterer nahmen ihre besonders langen Spinnenbeine zu Hilfe und rannten die Schluchtwände auf allen vieren genauso leicht hinauf, wie sie auf ebenem Boden gelaufen waren. Die Schützinnen stierten die Sporks entsetzt an und sprangen von den Vorsprüngen zurück. Ein Spork war so schnell oben, dass er einer Kriegerin den Speer durch den Rücken bohrte, bevor sie sich aufgerichtet hatte. Sie bäumte sich auf, da schleuderte der Spork sie bereits mit einem triumphierenden Fiepen über den Vorsprung, um seine Waffe zu befreien. Eine zweite Schützin holte aus, der Spork konnte den Speer nicht mehr schnell genug herumreißen. Er stieß jedoch den Speerschaft vor ihre Stirn und stoppte den Ansturm. Dann wirbelte er herum und zielte mit der Speerspitze auf ihre Kehle. Er traf aber nur die Wange und wurde gleichzeitig von einer dritten Kriegerin auf der anderen Seite angesprungen. Mit einem Stich in die Luft scheuchte er diese zurück. Eins seiner langen Spinnenbeine wischte an seinem Gürtel entlang und schleuderte ungezielt einen Wurfdolch auf die andere Schlangenblüterin. Zwar wurde sie nur mit der Breitseite getroffen, doch war sie erschrocken zurückgewichen, der Spork hatte sich Zeit verschafft. Er stieß den Speer von oben ins Bein der näher

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stehenden Kriegerin und blockte ihren Schwerthieb, indem er mit dem Faustrücken in ihren Unterarm schlug. Kurz ließ er den Speer auch mit der zweiten Hand los, packte Schopf und Kinn und brach ihr Genick. Dann riss er seine Waffe frei, gerade als die andere Kriegerin zuschlug. Er wurde am Arm getroffen, stach der Gegnerin aber gleichzeitig den Speer ins Gesicht und rammte sie in den Boden. Er lief über ihren Waffenarm, damit sie im Sterben nicht nachsetzte. Den Speer einhändig führend, den verwundeten Arm an den Körper gepresst, stellte er sich der nächsten Schlangenblüterin. Alle Schützinnen hatten kurze Waffen oder bereitliegende Schwerter und Speere ergriffen. Doch die Sporks überrollten die aufgescheuchten, schlecht bewaffneten Schlangenblüter und stachen und schnitten mit ihren Speeren wild um sich, obwohl jeder Spork zwei Gegnerinnen vor sich hatte. Nach wenigen Lidschlägen waren zwei Sporks, aber zwölf Kriegerinnen tot.

„Givríja!“, rief eine Frau mit schlohweißem Haar und einem Rubin auf der faltenreichen Stirn. Sie lief mit wehender gelber Robe der verwundeten Kämpferin entgegen, die Zeeris geheilt hatte. Dabei löste sie sich aus den tiefen Höhlenschatten und geriet ins Sichtfeld der Sporks. Givríja kroch unter Schmerzen weiter, blickte der Weißhaarigen jedoch verzweifelt entgegen. „Bleib zurück, Mutter!“, rief sie mit dünner Stimme. Die Sporks hatten

Givríja fast erreicht, der erste hob bereits triumphierend den Speer. „Giv hat recht, Mutter!“, rief eine Jugendliche. Die bronzene Kettenrüstung aus Hemd, Rock und Haube war ihr etwas zu groß. Nur an den Schienbeinen trug sie gut sitzende Lederschienen über festen Stiefeln. Mit sanfter Gewalt stieß sie die alte Mutter zur Seite und rannte auf Givríja zu. In der Hand hielt sie ein eisernes Kettenbündel, das sie über dem Kopf zu schwingen begann, als sie gleichzeitig mit dem Spork Givríja erreichte. Die dünne Eisenkette war drei Schritt lang, als das Mädchen sie zu voller Länge aus der Hand entließ und sie nur noch am Ende festhielt. An der Vorderseite zischte eine dornige Eisenkugel, die den Spork beinahe am Kopf getroffen hätte, wäre er nicht zischelnd zurückgewichen. Die Kugel streifte die Höhlenwand, behielt ihre Bahn aber bei. „Beeil Dich, Schwester!“, rief die Kettenschwingerin. Givríja kroch schneller, so sehr ihr das auch sichtlich Schmerzen bereitete. Die Mutter war näher gelaufen, tief unter die Kette geduckt, und ergriff Givríjas Hände, um sie zu ziehen. Unmittelbar vor den dreien bildeten die letzten Schlangenblüter eine zornige Schlachtreihe, um die Sporks zu empfangen. In ihrer Mitte stand die schwarzhaarige Anführerin mit dem Runenschwert von Theb Nor. Die vier verbliebenen Sporks bei den toten Schützinnen sprangen in diesem Augenblick die Felsen wieder hinab, um ihren Kameraden zu helfen. Sie landeten leise hinter der Schlachtreihe der Schlangenblüter und erschlugen

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jeder eine, noch bevor die Kriegerinnen die Gefahr bemerkt hatten. Wie auf ein unausgesprochenes Signal warfen die vorderen Sporks sich brüllend in den Kampf. Die ungleiche Kampferfahrung beider Scharen war nicht länger zu leugnen. Immer mehr helle Schreie erstarben. Die Kettenschwingerin sah aus der zweiten Reihe der Sporks einen Speer auf sich zufliegen und riss die Augen auf. Doch da hörte sie bereits den dumpfen Knall und wurde auf den Rücken geschleudert. Ungläubig starrte sie auf den Speer, der so nah vor ihrem Gesicht aufragte. Die Kette wirbelte nutzlos davon. Das Mädchen spürte noch keinen Schmerz, aber sie konnte auch nicht atmen und nicht aufstehen. Dennoch lächelte sie gequält, denn ihre Schwester war inzwischen hinter ihr. Grimmig starrte sie dem Spork entgegen, der sie getroffen hatte und nun mit einem anderen Speer in ihr Sichtfeld trat. Die Mutter hielt Givríja im Arm und sah gleichzeitig, wie ihre andere Tochter hilflos am Boden lag, während ein Spork vor ihr stand und zum Todesstoß ausholte. Die Frauen daneben kämpften allesamt erbittert mit anderen Sporks und konnten nicht helfen. „Tanesa!“ Die Mutter schrie verzweifelt den Namen ihrer Tochter und sah sich gehetzt in der Höhle um. Ihr Blick fiel auf einen spitz zulaufenden Felsvorsprung. Sie streckte die Hand danach aus und verzog die Miene zu einer wilden Grimasse. Der Vorsprung knirschte und bebte. Plötzlich brach er mit einem Knall ab. Er raste wie ein Pfeil auf den Spork zu, der Tanesa erstechen wollte.

„Aaaah!“, kreischte Zeeris und hielt sich mit aller Kraft an dem Vorsprung fest, auf den er sich vor dem Kampf gerettet hatte – aber der jetzt wie unter einem Erdbeben erzittert und abgebrochen war und in eine Richtung raste, die nicht der kürzeste Weg zum Erdboden war. Blut und Augen spritzten um Zeeris herum, als der spitze Felsbrocken den Kopf eines Sporks zum Platzen brachte. Zeeris landete neben einer Nicht-Toten mit einem Speer in der Brust, die ihn überrascht anstarrte. „Meine Sinne spielen mir Streiche“, stöhnte sie und schloss die Augen. Als sie die Lider wieder hob und Zeeris mit einem Sporkauge in jeder Hand schmatzend dastand und dem Gemetzel vor seiner Nase zusah, schloss Tanesa die Augen abermals und ließ den Hinterkopf auf den Fels sinken. Inzwischen spürte sie die Schmerzen immer mehr, die in ihrem Brustkorb wüteten und sie zu zerreißen drohten. Das Bronzekettenhemd hatte den Speer zwar gebremst, aber nicht genug, um einen tödlichen Treffer zu verhindern. Khassedra, die Anführerin der Schlangenblüter, schwang das beidhändige Runenschwert mit unmenschlicher Kraft durch die Speere und Körper der Sporks. Sie wusste, dass die Runen ihr diese Macht gaben, und sie ahnte, dass diese Macht einen Preis haben würde. Doch das war ihr gleich, denn um sie herum schrien ihre Kriegerinnen verzweifelt und stürzten tot zu Boden. Schritt um Schritt musste Khassedra zurückweichen, immer mehr Speerspitzen zuckten in ihre Richtung. Ihre Prophezeiung vom eigenen Frauenreich würde sich nicht erfüllen, verstand

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sie. Vermutlich würde nicht einmal mehr jemand übrig bleiben, um ihr das vorzuwerfen. Ein Speer traf sie in die Seite, weil sie nicht aufgepasst hatte – sie schrie wütend und taumelte zurück, hinter die schwindende Reihe ihrer Kriegerinnen. Als ihre Anführerin und damit das heilige Schwert sie verließ, ergriff Furcht die letzten Kriegerinnen wie Fesseln. Kaum dass die gekrümmte Khassedra richtig hingesehen hatte, war eine nach der anderen gefallen. Der Schlachtenlärm verebbte. Khassedra stand allein vor neun Sporks. Einer davon schien der Anführer zu sein, da er als Einziger eine andere Waffe trug, einen Bronzesäbel. Das Schwert von Theb Nor hing schwer an Khassedras rechtem Arm, während sie den linken auf ihre blutende Seite presste. Mühsam richtete sie sich auf. Sie wollte dem Tod mit Würde ins hässliche Gesicht blicken. „Fordere den Stärksten zum Duell“, kratzte eine alte Stimme.„Was?“, keuchte Khassedra und blickte sich um. Außer den Sporks war allerdings niemand mehr in ihrer Nähe. „Eine neue göttliche Stimme!“, flüsterte sie voller Ehrfurcht zu sich. „Wieso erst jetzt, wo alle tot sind?“, schluchzte sie wütend. „Gehorche, sonst töten sie Dich!“, verlangte die Stimme bloß. „Wer bist Du?“, knurrte Khassedra. Trotz der Schmerzen stand sie jetzt ganz aufrecht. Die Sporks blickten sie irritiert an. Klom trat unvermittelt vor und hob den Säbel. Khassedra schloss die Augen, doch als Klom zuschlug, ruckte Theb Nors

Runenschwert von allein dem Säbel entgegen, Khassedras Arm schien nur zufällig daran festzuhängen. Ein Spork öffnete drohend den Spinnenkiefer und hob den Speer. Sprungbereit schlich er auf Zeeris und Tanesa zu. Die anderen Sporks standen im Halbkreis um Khassedra und ignorierten die am Boden liegende Tanesa und das winzige Teufelchen. Von der alten Mutter und der verwundeten zweiten Tochter war nichts zu sehen. „Sie werden sich in Sicherheit gebracht haben“, murmelte Zeeris und schielte traurig auf Tanesa, die reglos dalag und verblutete. Der Spork erreichte Zeeris und hob den Speer siegessicher noch höher, um das Teufelchen aufzuspießen. Zeeris riss seinen Blick von Tanesa los und ballte die Fäustchen. „Du machst mich wütend, Du Ding!“, knurrte er den Spork an. Das riesige Ungetüm stieß fiepende Gluckslaute aus, vermutlich ein Lachen. Als der Spork blitzschnell zustieß, traf er nur den Boden. Überrascht blickte der Krieger zu allen Seiten, erspähte Zeeris jedoch nirgends. Das Teufelchen hatte sich nicht unsichtbar gemacht, um seine Kräfte zu schonen. Es schwebte grinsend über der einzigen Stelle am Hinterkopf des Sporks, wo kein Auge war. Langsam ließ es sich absinken, bis seine Krallen beinahe in Reichweite der ersten Sporkaugen waren. Der plötzliche Start ließ es schweflig schwitzen, es war noch immer ausgelaugt vom Zaubern. Doch die Lebensgefahr hatte Reserven aktiviert. Langsam streckte Zeeris die Krallen immer weiter nach den Augen aus.

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Laura übte leise auf Wenndurs Laute die Griffe, die Mèra ihr gezeigt hatte. Doch wirklich bei der Sache war sie nicht. Das Grüppchen-Gezeter der Quirmóer störte sie. Außerdem hatte sie Angst, einer der Elfen könnte ihr unbeholfenes Herumprobieren auf dem Instrument hören. Zu sehr erinnerte sie diese Gefahr an ihr Dasein als Außenseiterin in ihrer Heimat. Und sie hatte sich doch vorgenommen, ihr Dorf als ungetrübte Idylle im Gedächtnis zu behalten, trotz des Todes ihrer Mutter. So wollte sie Kraft für die Zukunft schöpfen, einen Grund haben, um all die Kämpfe und Qualen durchzustehen, die ihr bevorstanden. Um nicht eines Tages wie Athónon zu enden. Ihre Gedanken kreisten und wirbelten um ihre Mutter, um Wenndur, um ihren Ziehvater und ihre kleine Halbschwester, außerdem um das Geheimnis ihres leiblichen Vaters. Und um das neue, magische Schwert und ihre Prüfung, durch die sie ein unscheinbares, doch vermutlich sehr altes und mächtiges Amulett erhalten hatte. Srrig hatte ihr seit der seltsamen Prüfung nichts mehr darüber erzählt. Nun war sie also eine vollwertige Schülerin des Halbgottes. Stolz beschleunigte ihr Herz. Wieder einmal waren ihre Wunden durch Magie nahezu spurlos verschwunden, wieder einmal wäre sie ohne Mèras Heilmagie gestorben. Sie hätte am liebsten tagelang allein auf ihrem Lieblingsbaum in ihrem Dorf gesessen, um all die Geschehnisse zu verarbeiten, die in den letzten Stunden über ihr zusammengestürzt waren. Stumm betete sie zur Lieblichen, zur Naturgöttin Heva, die vor lauter Felsen hier ferner denn je zu sein schien.

Laura versteifte sich und hörte auf, die Saiten zu streicheln, als Paaldrag auf sie zutrat. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah beherrscht zu dem schuppigen Riesen auf. In der Rechten hielt er den Griff seines Schwertes, das lässig über der Schulter lag. In der Linken hielt er das blutige Seidentuch, das Srrig Laura bei der Prüfung um die Augen gebunden hatte. „Du hast was verloren“, sagte Paaldrag leise, beugte sich vor und hielt Laura das Tuch hin. Ohne den Blick von dem Chimärier zu nehmen, ergriff Laura es langsam, nickte vorsichtig und bedankte sich. Sein heißer Schwefelatem strich durch ihre Locken und über die Ohrspitzen. „In meiner Heimat war das Fallenlassen eines blutigen Tuches eine eindeutige Aufforderung. Aber ich nehme an, das hast Du nicht so gemeint“, behauptete Paaldrag mit einem breiten Grinsen, noch immer vor Lauras Gesicht gebeugt. Laura wurde knallrot und knüllte das Tuch eilig in der Hand zusammen. Sie verneinte, ununterbrochen Paaldrags Drachenaugen und seine scharfen Zähne fixierend. „Ist Deine Nase eigentlich in letzter Zeit breiter geworden?“, feixte Paaldrag. Nun ließ Laura den Kopf hängen und sah an Paaldrag vorbei zu Boden. Unwillkürlich tastete sie mit der freien Hand nach ihrer Nase und ließ die Laute auf dem Bauch liegen. Der Chimärier raunte ernst: „Du fühlst Dich hier ziemlich unwohl, oder?“ Er setzte sich schwerfällig, legte sein großes Schwert neben sich und faltete unter

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Zuhilfenahme der Hände die sperrigen Beine zum Schneidersitz. „Mir geht es genauso“, fügte er hinzu und blickte Laura ruhig an. Etwas verwundert starrte sie zurück und antwortete: „Da sind zwei Halbgötter und ein großer Held wie Athónon oder ein Krieger wie Du. Und ich sitze dazwischen und wäre schon ich-weiß-nicht-wie-oft getötet worden, hätte Mèra mich nicht jedes Mal mit ihrer göttlichen Heilkraft gerettet.“ Paaldrag wurde so ernst, wie Laura es bisher nicht bei ihm mitbekommen hatte. „Als ich noch Offizier war, hatte ich viele junge Untergebene wie Dich. Lass Dich nicht entmutigen, Du wirst eine große Kriegerin, weil Du die besten Lehrer hast.“ „Du warst Offizier?“, wunderte sich Laura. „Ich hatte eine große Karriere vor mir, alle Türen standen offen. Aber ich habe wohl zu viel nachgedacht“, brummte Paaldrag bitter. Laura setzte zu einer weiteren Frage an, aber Paaldrag hob abwehrend eine Hand und grollte: „Darüber will ich nicht reden.“ Er stand auf und ging. Gleichzeitig hörte Laura einen Streit zwischen zwei Nachtelfen eskalieren. Ebenso alarmiert wie neugierig sah sie hin. Ein Nachtelf mit sehr ordentlichem Kurzhaar stand Gamáal gegenüber. Hinter ihm wartete ein Dutzend finster dreinblickender Gefolgsleute. Der Nachtelf wedelte mit gefalteten Händen vor der Brust, während er mit offenkundig heuchlerischer Freundlichkeit auf Gamáal einredete. Laura fiel insbesondere das breite, knochige

Gesicht des ansonsten hageren Mannes auf, das ihn für ihre Augen brutal erscheinen ließ – wie einen Menschen. Gamáal zischte eisig: „Ihr bleibt hier. Niemand verlässt die Gemeinschaft, das wäre zum Nachteil aller.“ Seine braunen Krallen hielt er gesenkt. Sein taillenlanges Haar schlängelte sich jedoch auf seinem Rücken, beinahe wie eine verborgene Schlange, die sich an ihre Beute anschlich. Sein Gegenüber blickte Gamáal nicht direkt in die Augen und gestikulierte mit den gefalteten Händen auf und ab, als er entgegnete: „Ihr könnt uns nicht zwingen. Wir ertragen diese ständige Zauberei nicht länger, ebenso wenig die Anwesenheit der Nicht-Elfen und des Drachenspions Athónon.“ Gamáals Mundwinkel verzogen sich nach unten. Auf einmal zog er das Schwert, so schnell, dass Laura meinte, es sei ihm von selbst in die Hand gesprungen. „Ihr bleibt alle hier, Daráyon!“, knurrte der Krieger und hielt seinem Gegenüber die Schwertspitze unter die Nase. Athónon stand inzwischen neben Laura und beobachtete die Szenerie. Seine Steinmiene verfinsterte sich mehr und mehr. „Sollten wir nicht irgendetwas tun? Eingreifen, jemandem Bescheid sagen?“, fragte Laura. Athónon schüttelte langsam den Kopf. Daráyons falsches Lächeln blieb ungetrübt. Er ließ lediglich die gefalteten Hände absinken. „Wenn Du mich tötest, kann ich auch nicht mitkommen, Du kranker Bastard“, lächelte der Nachtelf böse und blickte Gamáal nun kalt in die Augen. Die Schlange auf Gamáals Rücken erstarrte und lauerte.

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Laura sprang entrüstet auf und lief auf die beiden zu. „Hört auf damit! Beruhigt Euch!“, rief sie aufgebracht. Immerhin war sie die Schülerin eines Halbgottes und kein Niemand mehr, dachte sie. „Misch Dich nicht ein“, knurrte Gamáal und sah sie nicht mal an. „Dein Schwert schneidet Eure Gemeinschaft doch erst recht auseinander!“, protestierte Laura. Daráyon wollte ihr schon beinahe recht geben, aber er verkniff sich den Kommentar, um einer Nicht-Elfin nicht zustimmen zu müssen. Die Fronten blieben verhärtet. Gamáal und Daráyon funkelten sich herausfordernd an, während Laura sich plötzlich lächerlich vorkam.

22 „Ich fordere Dich zum Duell!“, knurrte Khassedra. Ihre Schlangenzunge zuckte zwischen den Giftzähnen hervor. Klom fiepte amüsiert und erwiderte mit seiner glitschigen Stimme: „Wie Du meinst! Ich brauche keine Hilfe, um ein dünnarmiges, blutendes Menschlein zu töten!“ Er trat einen Schritt zurück und senkte den Säbel, so als bestünde keine Gefahr. Khassedra nahm die Hand von der Wunde und stand scheinbar entspannt da. Doch im Stoff ihrer Beinlinge, an ihrer Hüfte hatte sich ein triefender Blutfleck gesammelt. „Wer bist Du und wieso hilfst Du mir?“, dachte Khassedra und versuchte, in ihrem Kopf den Besitzer der fremden Stimme zu finden. „Ich war das Schwert von Theb Nor und meine Macht ist zu groß für den Herrn der Sporks. Ich darf ihm nicht in die Hände fallen, also sorge ich dafür, dass Du mich behältst, obwohl Du mich nicht verdienst. Wenigstens wirst Du nämlich keinen Schaden mit mir anrichten können, dafür bist Du viel zu klein und unbedeutend.“ Khassedras Miene wurde bitter und ausgebrannt. Sie war also nur ein niederes Werkzeug in der Hand einer magischen Waffe – sie hatte sich das Gegenteil eingebildet. Doch nun erkannte sie, dass sie bloß ein Insekt in den Plänen der Mächte war, welche die Welt wirklich verändern konnten. Klom starrte sie wütend an, während sie nur reglos dastand und blutete. „Worauf wartest Du? Los, töte mich!“,

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schrie der Spork in seinem Kampfrausch, untermalt von glucksenden und fiependen Geräuschen. Khassedra wollte all ihre Wut in ihren Angriff legen. Wut über die Sporks, die ihr Volk getötet hatten, Wut über sich selbst und Wut über das mächtige Artefakt in ihrer Hand, dessen Sklavin sie war, wenn sie überleben wollte. Sie stutzte. Entweder lebte sie als Sklavin oder starb als freie Frau, wie sie es sich immer in jugendlicher Naivität erträumt hatte. Jetzt, wo sie wahrhaftig vor der Entscheidung stand, dämmerte in ihr jedoch die Erkenntnis, dass sie nur einer oberflächlichen, parolenhaften Doktrin aufgesessen war, die sie gar nicht ernsthaft nachfühlen konnte. Als Sklavin der Sporks andererseits wollte sie erst recht nicht enden. Khassedra machte einen Ausfallschritt und stach mit der Schwertspitze zu den Augen des Sporks, wohl wissend, dass ein erfahrener Kämpfer leicht würde ausweichen können. Klom pendelte zur Seite und dachte: „Was für ein lächerlicher Angriff.“ Er schlug mit seinem Säbel gegen die Breitseite der gegnerischen Waffe und schleuderte so Khassedras ganzen Arm nach außen. Doch die Kriegerin nutzte den Schwung, der sie auf das rechte Bein drückte, und hob gleichzeitig das linke Bein zum Tritt. Der Treffer entlockte Kloms Brustkasten ein dumpfes Geräusch. Der Spork lachte aber nur, drehte sich zur Seite und umklammerte mit dem Spinnenbein Khassedras Bein, noch bevor sie es wieder abgesetzt hatte. Klom wollte ihr mit dem Säbel durch den gefangenen Schenkel schneiden, doch Khassedra riss das Schwert mit überraschender Kraft zurück und auf Kloms Kopf zu.

Sie selbst war genauso überrascht über die Bewegung, die nicht sie selbst, sondern das Schwert für sie gemacht hatte. Der Spork verzog den Säbel zur Seite, um aus der Armbewegung heraus zu parieren, doch er unterschätzte die unmenschliche Kraft, die das Schwert von Theb Nor seiner Trägerin verlieh. Da er sich nicht mit dem ganzen Körper gegen den Schlag gestellt und die Hüfte nicht mitbewegt hatte, schlug die Wucht der Klinge seinen Säbel einfach aus dem Weg und hackte sich tief in seinen Kopf. Khassedras Bein hing noch immer fest, die Widerhaken der Spinnenbeine erzeugten in Kloms Todeskrampf blutige Kratzer. Khassedra schlug sie kurzerhand mit einem einzigen Schlag von oben nach unten durch und stand nun wieder aufrecht vor dem zuckenden Spork. „Na schön! Wenn ich nicht sterben darf, dann nehme ich eben Rache!“, grunzte sie tief befriedigt. Klom sank still zu Boden und zuckte ein letztes Mal. Khassedra stellte die Schwertspitze demonstrativ vor ihre Füße und lehnte sich auf den Knauf. Sie erwartete nicht wirklich, dass die verbliebenen Sporks sie nach diesem Duell gehen lassen würden, doch was sie gar nicht erwartet hatte, war der Geistertroll Nachtmahr.

Zeeris’ Krallen berührten beinahe die Augen des Sporks, als dieser das Teufelchen schlichtweg vergaß, das er eben noch hatte erstechen wollen. Er trat weiter auf das Mädchen mit dem Speer in der Brust zu, das ihn hergeführt hatte. Tanesa rührte sich kaum noch und hatte

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die Lider geschlossen, atmete aber schwach. Der Spork trat zwischen die Beine des Mädchens und starrte gierig auf ihren Kettenrock. „So klein und jung!“, grunzte er und warf den eigenen Speer weg. „So dumm!“, dachte Zeeris böse bei sich und schoss mit den Krallen vor in die Augen des Sporks. Die Kreatur kreischte wild, während Zeeris ihm ein Auge nach dem anderen ausriss. Als der Spork blind im Kreis wirbelte und panisch um sich schlug, nahm Zeeris genug Abstand für einen Sturzflug und rammte dem Spork seine Krallen mit Höchstgeschwindigkeit in den Kopf. Das Teufelchen hing zunächst fest, während der Spork zusammenbrach. Mit einem wütenden Ruck befreite sich Zeeris und der Spork wurde still. Taumelnd und vor Schwefelschweiß am ganzen Körper dampfend, hüpfte Zeeris über den Sporkkörper hinweg zu der Sterbenden. „Ich kann heute keine Nicht-Toten mehr heilen!“, keuchte Zeeris erschöpft und betrachtete voller Mitleid die Wunde. In wenigen Schritten Entfernung grölten die anderen Sporks gerade, scheinbar hatten sie den Kampf gewonnen. „Aber dann werden sie sich gleich umdrehen und mich und die Nicht-Tote sehen!“, wisperte Zeeris aufgescheucht. „Ich kann mich auch nicht noch einmal unsichtbar machen!“ „Du musst sie da wegholen!“, flüsterte Givríja und wischte sich schweißnasse, türkisfarbene Strähnen aus dem Gesicht. Die weißhaarige Mutter berührte den Rubin auf ihrer Stirn und schloss die Augen. „Mächte der Ahnen, bitte sagt

mir, was für ein Wesen der kleine rote Kerl ist“, murmelte sie. Auf ihrer Stirn bildeten sich tiefe Furchen. Zeeris fröstelte plötzlich, doch nicht vor Erschöpfung. Hätte er Nackenhaare gehabt, sie hätten sich gesträubt. Er blickte sich alarmiert um. Außer den Sporks, die ihn noch nicht beachteten, fand er aber niemanden. „He! Wer zaubert da an mir herum?“, wollte er zornig rufen, doch er wollte die Sporks nicht auf sich aufmerksam machen. Er fand sich zu erschöpft, um noch länger zu fliegen oder sich unsichtbar zu machen. „Ich muss mich verstecken!“, erkannte er und schlug sich triumphierend mit der Faust in die andere Handfläche. Zeeris kroch dem verwundeten Mädchen unter das Kettenhemd und streckte sich so flach wie möglich auf ihrem weichen Bauch aus. Den Kopf schob er zwischen ihre sanften Brustwölbungen, bis er mit der Nase an den Speer stieß. Den Teufelsschwanz schob er ihr unter den Rockbund, um diesen ebenfalls zu verbergen. Ihr Blut lief an seinen Mund und sie stöhnte schwach, doch das war ihm alles egal. Dass er nach wenigen Lidschlägen trotzdem wieder hervorkroch, lag daran, dass ihm eingefallen war, dass die Sporks sich zweifellos über die Sterbende hermachen und sie nicht ignorieren würden, und dann würden sie ihn auch finden. Schon oft hatte er das Verhalten von Kriegern auf Schlachtfeldern beobachtet. Er brauchte ein besseres Versteck. „Was macht das Mistvieh da?“, knurrte Givríja böse. „Es hat Angst und ist unbeholfen“, erklärte die Mutter neben ihr leise. „Was mir mehr Sorgen macht, ist der

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Zauber, von dem es berührt wird. Jemand beobachtet das Teufelchen, glauben die Ahnen, aber sie sind sich bei der Struktur des Zaubers nicht sicher. Er ist außergewöhnlich komplex. Ich habe durchaus Erfahrung darin, die Visionen der Ahnen zu deuten, doch dieses Mal hatte ich das Gefühl, als würde ich mit einer hilflosen Babyhand auf Stoff und Nadel patschen, um etwas zu nähen.“ „Was bedeutet das?“, wisperte Givríja erschrocken. „Ich weiß es nicht. Jemand Mächtiges beobachtet das Teufelchen, vielleicht ist es selbst auch mächtig. Ob der Beobachter ihm gut oder schlecht gesinnt ist, weiß ich ebenso wenig, aber ich denke zumindest, dass das Teufelchen von eher harmloser Gesinnung für uns ist. Immerhin hat es einen Spork getötet und versteckt sich vor den anderen. Es heilte Dich. Sieh, jetzt kriecht es gerade in einen Wandspalt.“ Givríja nickte, doch schon im nächsten Moment zischte sie: „Wir müssen Tanesa retten, solange die Sporks noch abgelenkt sind!“ „Aber wie? Sie haben das winzige Teufelchen nicht bemerkt, aber Dich und mich werden sie sofort sehen! Wir sollten Khassedra vertrauen. Sie hat das heilige Schwert und wird die Sporks auch allein besiegen. Die Ahnen haben mir versichert, dass dieses Schwert ihr die Macht dazu verleihen kann.“ Ungläubig musterte Givríja ihre Mutter. „Eine einzige Frau gegen ein knappes Dutzend kampferprobter Sporks, und das Schwert soll das ausgleichen können?“ „Bei den Ahnen!“, keuchte die Mutter plötzlich und starrte an ihrer Tochter vorbei zu den Feinden.

Nachtmahrs hagere Fellgestalt überragte die Sporks um drei Köpfe. Ehrfürchtig, vielleicht sogar furchtsam, bildeten sie eine Gasse und ließen den Geistertroll auf Khassedra zuschreiten. Verwesungsgestank breitete sich um ihn aus. Seine langen Beine federten stark, wodurch seine Pranken und seine dolchartigen Finger an seinen überlangen Armen sich wellenförmig über dem Boden bewegten. Ohne dass Nachtmahr sein halb skelettiertes Gesicht bewegte, spukte seine Stimme durch die Schlucht: „Gib mir das Schwert, oder Deine Qualen werden ewig und unvorstellbar sein.“ Die Worte klangen weder drohend noch theatralisch, sondern faktisch und nüchtern. „Keine Furcht“, hörte Khassedra in ihrem Kopf. Das Schwert klang beinahe amüsiert. Die Anführerin reckte stolz das Kinn und sah zu dem Geistertroll auf, der mit seinen meterlangen Schritten auf sie zustakste und so nah vor ihr stehen blieb, dass ihr sein stechender Modergestank in die Nase kroch. Khassedra spürte das Schwert plötzlich ganz leicht werden, beinahe so, als hätte sie es gar nicht mehr in der Hand. Während der Geistertroll ruhig dastand und eine Hand fordernd ausstreckte, zuckte die Klinge plötzlich vor und bohrte sich tief in seinen Bauch. Nachtmahr blickte an sich herab und dann wieder zu Khassedra zurück. Langsam schüttelte er den verwesten Trollkopf. Das Schwert in seiner Wunde begann zu brennen und sengte sein Fell an – nun knurrte er leise. Mit seiner riesigen Klaue schlug er Khassedra durch den knackenden Schädel und hinterließ blutspritzende Furchen. Wie ein Sack Steine stürzte die Kriegerin auf

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den Bauch und blieb mit gebrochenem Blick liegen. Ihre Schlangenzunge hing aus ihrem Mundwinkel und berührte den rot gefärbten Boden. Das Schwert in Nachtmahrs Bauch loderte in weißem Feuer auf. Der Gestank verbrannten Fells breitete sich aus. Nachtmahr packte den Griff mit beiden Fäusten und zerrte die Klinge aus der Wunde. Sein Brüllen jagte durch die Schlucht, die Sporks zogen die Köpfe ein. Auf einmal war das Schwert frei und der Geistertroll reckte es mit einem geisterhaften Heulen in die Luft. Seine Wunde schloss sich binnen weniger Lidschläge. Sein versengtes Fell rieselte zu Boden, während neues nachwuchs. Das heilige Schwert dachte: „So, Du bist also untot. Na schön, dann bringst Du mich eben zu Cerýllion. Aber ich werde ihn köpfen, sobald ich ihn sehe. Nie wird er mich benutzen. Die Götter und die Dahnrud, die durch seine Kriegstreiberei gefallen sind, werden gerächt werden – auf die eine oder andere Weise. Ich trage die Macht all meiner prophetischen Träger der letzten zweitausend Jahre in mir, und sie alle gaben ihre Seelen für dieses eine Ziel: Rache für den Verrat an den Sterblichen und ihren Göttern.“ „Sieg!“, schrie Nachtmahr den Sporks entgegen und präsentierte das Runenschwert hoch über dem Kopf. Die Sporks brüllten ebenfalls und schlugen ihre Speerschäfte auf den Boden.„Nehmt Eure Beute, wir haben Zeit!“, ermunterte Nachtmahr die Sporks. „Ich übernehme die Führung, bis ich Euch in die Obhut Eures Hauptmanns übergebe.“ Die Sporks stürzten sich auf die Toten und Verwundeten und rafften außerdem alle Waffen und Rüstungen an sich,

die sie gebrauchen konnten. Von Tanesa lag nur noch der blutige Speer am Boden. Das Schwert von Theb Nor beruhigte sich rasch, als es die wahren Absichten Nachtmahrs zu spüren begann.

Athónon zog Laura von den beiden Streithähnen Daráyon und Gamáal fort. Laura folgte dem Gnom widerwillig, blickte aber ständig über die Schulter zurück. Sie wollte sehen, ob der düstere Krieger die Klinge vom Hals des heuchlerischen Nachtelfs nahm. Doch als Athónon Laura um eine Ecke und in eine abgelegene Nische zog, standen Daráyon und Gamáal sich immer noch eisig schweigend gegenüber. „Ich hole Deine Sachen. Schlaf ein wenig“, riet Athónon der Halbelfin und war verschwunden, bevor Laura Einwände äußern konnte. Laura blieb in der Nische sitzen, um ihre Gedanken zu ordnen. Als sie sich gerade dazu entschlossen hatte, den Streit zwischen den Nachtelfen weiterzubeobachten, kehrte Athónon mit ihrem Gepäck zurück. Er drückte ihr den Rucksack in den Arm und warf seine magische Decke in der Nische aus. „Hinlegen“, murmelte er bloß und ließ keinen Widerspruch zu. Athónon blieb so vor Laura stehen, dass sie um ihn herum hätte krabbeln müssen, um den Streit zu sehen, und hinlegen konnte sie sich, indem sie sich einfach nach hinten fallen ließ. Mit einem resignierten Seufzer gab sie nach und sank auf den Rücken. Die magische Elfendecke

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schien sie im Nacken zu streicheln und sich an ihre Schultern zu schmiegen, aber so unscheinbar, dass es auch Einbildung hätte sein können. Athónon verlagerte sein Gewicht auf das rechte Bein, denn sein linkes Knie schmerzte schon seit Stunden. Er beobachtete Lauras Gesicht und ihre geschlossenen Augen. Die Halbelfin brauchte nur wenige Lidschläge, um in einen tiefen, verdienten Schlaf zu fallen. Der Gnom gewann sie allmählich lieb, gerade weil sie sich, wie er, im Umgang mit anderen schwer tat. Auch Athónon hatte sein Dorf als junger Außenseiter verlassen, weil ihm das dortige Leben zu klein gewesen war und er somit all jene, die das Dorfleben mochten, beleidigt hatte. Auch er hatte seinen eigenen Weg gesucht und gefunden. Doch er war daran zerbrochen. Athónon wollte Laura nicht nur vor überlegenen Gegnern im Kampf schützen, sondern auch davor, wie er zwischen den Mühlsteinen der Götter zermahlen zu werden. Der alte Gnom rieb sich wieder das stechende Knie und ließ verbittert den Kopf hängen. Wie viel Zeit hatte er noch, um Laura beizustehen? Durfte er zulassen, dass er ihr umgekehrt genauso ans Herz wuchs wie sie ihm? Laura saß im Traum mitten unter spielenden Elfenkindern auf einer Sommerwiese. Mèras heilige Decke bewirkte dies. Honigbienen summten an ihr vorbei und warmer, süßer Wind strich ihr über Wangen und Haar. Die Sonne im Himmelblau verscheuchte jeden dunklen Gedanken, ohne Chance auf Gegenwehr.

In der Ferne lockte ein Bach mit seinem hellen Gurgeln. Rauschende Birken und schützende Weiden standen an seinen Ufern und kündeten vom nahen Wald, doch Laura blieb liegen und genoss das milde Sonnenbrennen im Gesicht. Sie glaubte, beinahe sehen zu können, wie die Lebenskraft aus diesem magischen Traum in ihre Adern und Haut strömte. Plötzlich traf sie ein Schatten und sie öffnete die Augen. Athónon stand über ihr und hielt sein Kurzschwert in der Faust. Das weiße Haar des Gnoms war blutverklebt, seine Haut grau mit roten Sprenkeln. Seine Augen waren schwarze Striche, seine Mundwinkel zog er tief hinab. Hatte er so in der Waldhöhle ausgesehen, als er Lauras Mutter getötet hatte? „Du bist verflucht!“, presste der Gnom mit verzerrter Stimme hervor, seine Lippen teilten sich kaum. „Athónon?“ Verschüchtert erhob Laura sich. Bevor sie gerade stand, sprang er sie an und durchbohrte sie mit der Klinge. Wortlos riss er das Schwert zurück und musterte Laura, wie sie ungläubig dastand, mit weit offenem Mund. Zäh knickten ihre Beine ein. Eine Hand legte sie auf die klaffende Wunde, die andere Hand streckte sie nach Athónon aus. Der Gnom trat einen Schritt zurück und sah grimmig auf die Halbelfin herab, als sie ins Leere griff und vornüberkippte. Wild schreiend erwachte Laura und sprang von der Decke. Athónon war sofort bei ihr und sah ihr besorgt ins Gesicht, doch sie wich furchtsam vor ihm zurück. Athónons Miene regte sich nicht, als er fragte, was los sei. Laura antwortete nicht, sondern starrte an sich herab – sie war unversehrt.

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Der Gnom trat auf sie zu und diesmal blieb sie stehen. Athónon ergriff vorsichtig ihre Hand und drehte die Handfläche zu sich – frisches Blut tropfte von dort zu Boden. Laura schnappte nach dem nächstbesten Stück Stoff – der heiligen Elfendecke – und wischte panisch über die Handfläche, um das mysteriöse Blut loszuwerden. Irgendwo im wabernden Nichts der Geisterwelt, jener Sphäre zwischen den Lebenden und den Göttern, wo die Magie sichtbar war, redeten zwei Persönlichkeiten miteinander. Eine war eine riesige, gleißende Lichtkugel, die andere ein kleiner Leuchtpunkt. „Wieso hast Du das gemacht?“, piepste der kleine Punkt. „Sie wurde von einem Feind verflucht. Ich habe sie gewarnt und geweckt. Sie darf jetzt nicht schlafen. Sobald ich weiß, wer dieser Feind ist, werde ich sie auch das wissen lassen. Auf jeden Fall sollte sie jetzt wachsam sein“, antwortete das Gleißen mit ruhiger Stimme, völlig vom eigenen Handeln überzeugt. „Aber wieso hast Du das Gesicht eines Freundes benutzt? Jetzt spüre ich Angst vor ihm bei ihr.“ „Sie soll diesem Freund misstrauen, damit sie sich nicht für ihn opfert. Er hat mich selbst darum gebeten. Zwei Nachrichten in einer.“ „Du kannst spüren, was andere Wesen als Dein Träger denken?“, staunte der kleine Leuchtpunkt. „Und andere Wesen als Dein Träger können Dir etwas mitteilen?“ Der kleine Punkt wurde vor Ehrfurcht noch kleiner. „Eines Tages lernst auch Du, mit den Wesen der Anderwelt zu sprechen, nicht nur mit Deinem Träger, kleines Schwert.

Dass aber Wesen der Anderwelt von sich aus Kontakt zu Dir aufnehmen können, wird selten bleiben.“ Laura wich Schritt für Schritt von Athónon fort und starrte ihn entsetzt an. „Was ist in der Höhle mit meiner Mutter passiert?“, wimmerte sie und konnte die Tränen nicht aufhalten. Ihre blutverschmierte Hand begann zu zittern, sie warf die Elfendecke achtlos von sich. „Was hast Du geträumt?“, fragte Athónon zurück. In seiner Stimme schwang plötzlich eine alarmierte Spannung. Gleichzeitig dachte er, an das intelligente, mächtige Amulett von Srrig gerichtet: „Gut so.“ „Sie sind verflucht!“, schrie plötzlich eine hysterische Stimme hinter den beiden. Ein Nachtelf sprengte davon und schrie durch die ganze Höhle: „Die Fremden sind verflucht! Verflucht! Ich habe es in einer Vision gesehen! Wir sind verloren! Ich habe es vorhergesehen! Ein Fluch liegt auf dem Mischling!“ Laura starrte gequält zwischen ihrer blutigen Hand und Athónon hin und her. „Das ist alles zu viel!“, schluchzte sie und wandte sich ab. Auch Athónon schaute irritiert umher – sollte er sich zuerst um Laura kümmern oder um den hysterischen Seher und die Probleme, die er herbeischrie? Hatte der Nachtelf das mysteriöse Blut an Lauras Hand nur überinterpretiert oder hatte er etwas Handfestes gespürt? Athónons Blick fiel auf das blutige Seidentuch neben Lauras Rucksack, mit dem Srrig ihre Augen verbunden hatte. Beinahe wollte er es triumphierend aufheben, doch das Blut im Tuch war längst getrocknet, das an Lauras Hand jedoch frisch.

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„Vielleicht ein wenig zu drastisch“, dachte Athónon an Lauras Amulett gerichtet. Er hatte sich von der Seele des Artefaktes, die er sofort nach der Prüfung um Lauras Hals erspürt hatte, zwar tatsächlich gewünscht, dass sie Laura gegen Athónon manipulierte. Das sollte ihr die Trennung von ihm erleichtern. Allerdings hatte er nichts von dem Fluch gewusst und er durchschaute noch nicht, dass dies mitnichten die Methode war, mit der das Artefakt Athónons Manipulationsbitte umsetzte, sondern die Wahrheit.

Mèra und Srrig standen abseits in einem dunklen Tunnel. Srrig redete in uralter Tigersprache, einer Sprache, die zwar Mèra, aber garantiert kein heimlicher Lauscher verstehen würde. „Athónon und Taren passen auf die Nachtelfen auf. Die Hysterie wegen des vermeintlichen Drachenspions legt sich bereits wieder. Zum Glück ist Dein Volk nicht gerade hartnäckig. Die Schlangenblüter sind vermutlich auch keine Gefahr mehr, so wenige, wie sie geworden sind. Außerdem gibt es im Zweifelsfall noch genug andere Nachtelfen an anderen Orten, wenn ich genauer darüber nachdenke. Wir können also los.“ „Wir sollten sie nicht allein lassen. Es gibt noch mehr Gefahren in der Tiefenwelt, denen sie zum Opfer fallen können“, widersprach Mèra. „Fängst Du schon wieder damit an, die Sterblichen überzubewerten?“, brummte Srrig.

„Wieso hast Du Laura als Schülerin angenommen, wenn Du ohnehin fort wolltest?“, konterte Mèra und wich Srrigs Frage aus. „Wir spüren beide, dass sie für ein höheres Schicksal geboren wurde. Wir dürfen sie nicht fallen lassen.“ „Sie ist nicht allein, sie hat das Amulett“, konterte Srrig. „Das war der einzige Sinn dieser Prüfung. Antworte lieber auf meine Frage.“ „Ich bewerte die Sterblichen nicht über, aber Du opferst sie sinnlos!“ Srrig rief halblaut: „Sinnlos? Wir wissen nicht, wie viel Zeit Randolph und T’ral in ihrer Gefangenschaft noch bleibt, falls sie im Gegensatz zu uns ihr Gedächtnis noch nicht zurück haben oder der Drache sich gar persönlich einmischt! Oder falls ein weiterer Amdovenn auf den Plan tritt.“ Mèras Blick sank zu Boden, sie schwieg. Sie versuchte, noch nicht um Randolph zu trauern. Noch hatten sie ihn nicht zurückgelassen. Sie musste sich ihre Gefühle gut einteilen, sie hatte so wenige. „Wir können nicht auf die zankenden, langsamen Nachtelfen warten, das höhere Ziel hat Vorrang vor ihnen. Komm jetzt“, flüsterte Srrig, packte Mèra am Arm und zog sie mit sich. „Wir sollten uns wenigstens verabschieden!“, protestierte Mèra zaghaft, doch sie kannte Srrigs Antwort auf Sentimentalitäten, wie er es bezeichnete. Die Heilerin fügte sich dem Krieger.

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Myándirel nahm die Pfeife aus dem Mund und betrachtete den hysterisch gestikulierenden Nachtelfen, der vor ihm herumwirbelte und etwas von einem Fluch der Fremden plapperte. Der Zauberer erkannte mit seinen schlechten Augen nichts Brauchbares von der Mimik des jungen Sehers, doch die sich überschlagende Stimme und die Körpersprache verrieten dem abgeklärten Ratsmitglied genug über Gemüt und Reife des Berichtenden. Während der junge Nachtelf weiter und weiter redete, ohne sein enormes Tempo zu zügeln, murmelte Myándirel leise mit sich selbst und nickte gelegentlich träge. Schließlich nahm er die Pfeife wieder in den Mund und ließ den Nachtelfen mitten in seinem rasenden Bericht stehen. Myándirel trottete in die Richtung, in welcher er Laura und Athónon vermutete. Ohne zurückzublicken, winkte er den verdutzten Nachtelfen hinter sich her und nuschelte: „Komm schon, sehen wir es uns an.“ Die anderen Ratsmitglieder blieben bei ihrem Feuer und sahen den beiden nach, teils besorgt, teils ein wenig amüsiert über den exzentrischen Zauberer. Etliche Nachtelfen folgten Myándirel mit etwas Abstand. Ihre Blicke waren zumeist besorgt, zornig oder ängstlich. Immerhin waren sie darin wieder vereint, anstatt in ihren Grüppchen voneinander getrennt zu bleiben. Laura hielt die Augen geschlossen und presste die Fäuste auf die Schläfen. Athónon stand schweigend vor ihr, sah zu ihr auf und rührte sich nicht, bis Myándirel näher kam. „Ist es wahr?“, fragte Athónon dann bloß. Mit Ausnahme seiner Lippen hatte er nichts bewegt.

Myándirel passierte Athónon und kniff die Augen zusammen. Er schob sein Gesicht so nah an Lauras, dass die Halbelfin ihn beinahe erschrocken zurückgestoßen hätte, als sie die Augen öffnete. Eine Sorgenfalte zog sich über Myándirels Stirn und wurde immer tiefer. Würziger Pfeifenrauch stieg Laura in die Nase und ließ sie angewidert das Gesicht verziehen. Doch sie hielt still, während der Zauberer ihre Haut musterte und mit seinen verquollenen, blinzelnden Augen auf seltsame Weise durch sie hindurchzublicken schien. Plötzlich riss er die Augen auf und atmete erschrocken ein. „Was ist das denn?“, krächzte er, beinahe wäre ihm die Pfeife aus dem Mund gefallen. Er tastete mit spitzen Fingern über Lauras Brustbein und berührte durch das Kettenhemd Srrigs Amulett. „Beeindruckend“, murmelte er und gewann nur langsam seine Fassung zurück. „Bin ich verflucht oder nicht?“, zischte Laura ungeduldig. Myándirel seufzte und wiegte träge den Kopf hin und her. Während er trübsinnig auf Lauras Brüste schielte, nuschelte er: „Ja, allerdings, ein Totenf luch, sehr stark. Du kannst ihn vermutlich nur brechen, wenn Du den Urheber tötest oder denjenigen, der den Fluch erbeten hat. Die Urheber von Flüchen sind aber stets sehr mächtige Wesen, deren Wege man besser nicht kreuzen sollte.“ Zu den lauschenden Nachtelfen gedreht, rief der Zauberer: „Jemand hat ein persönliches Problem mit Laura, doch das betrifft keinen einzigen Nachtelfen. Geht wieder in Eure dummen Grüppchen zurück.“

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Laura starrte den Zauberer fassungslos an und wankte rückwärts. Sie brachte kein richtiges Wort heraus, ihre Stimme versagte. „Welcher Natur ist der Fluch?“, fragte Athónon an Lauras Stelle zerknirscht. Myándirel musterte Laura noch immer, während er Athónon mit kratzender Stimme antwortete: „Sagen wir mal, sie sollte sich einen Sack und eine Kapuze anziehen, sich nur mit Frauen als Wachen umgeben und sich irgendwo verstecken, bis der Fluchwünscher oder notfalls der Urheber gefunden wurde. Zumal der Fluch seine volle Stärke gerade erst zu entfalten beginnt.“ „Ich werde Mèra holen. Sie kann sicher helfen“, sagte Athónon und marschierte eilig los, um die Elfin zu suchen.

23 Mit Tarens Tod sollte Lauras Fluch beginnen, hatte die Untote versprochen. Taren zu finden war genauso einfach gewesen, wie das Einschleichen unter die Quirmóer. Die Untote hatte ihr Versprechen gehalten, dass Taren sich abseits aufhalten würde. Melek hatte sich an den Rändern der Höhle herumgedrückt und einfach Augen und Ohren aufgesperrt. Die größte Tugend des Jägers war Geduld. Aus einem Seitengang hatte er Tarens Namen gehört, leise geraunt von einer Frauenstimme. Eine halbe Stunde zuvor. Olériel hatte sich umgezogen, bevor sie mit Taren in den einsamen Seitengang spaziert war. Sie trug nun ein kurzes Kleid mit tiefem Ausschnitt, so schwarz wie ihr Haar, sonst nichts. Tarens Hand in ihrer war warm und klamm. Unverhohlen und so ernst, als stünde eine Schlacht bevor, schielte er immer wieder auf die wallenden Bewegungen unter ihrem Kleid, bis die beiden sich tief genug im Schatten des Gangs fühlten. Ohne weitere Worte schmiegten sie sich aneinander und küssten sich leidenschaftlich. Olériel ließ sich bereitwillig an die Wand drücken, räkelte sich und raunte wohlig, genoss Tarens Hände überall an sich. Nach kurzer Zeit jedoch blickte sie über seine Schulter hinweg und wurde leiser und ruhiger. „Du musst Dich nicht benehmen. Ich mag es nicht so zahm“, f lüsterte sie in Tarens Ohr, als er gerade stutzte.

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Taren legte den Kopf schräg und verstand nicht recht, was sie von ihm wollte. Er dachte: „Will sie, dass ich sie schlechter behandele, oder was meint sie? Sie soll doch froh sein, dass ich galant bin!“ Als hätte sie seine Gedanken erraten, legte sie die Lippen an seine Wange und flüsterte: „Die meisten Elfenmänner sind genauso butterweich. Das wird irgendwann langweilig. Ich will mehr Aufregung!“ Taren schürzte verlegen die Lippen und fragte leise: „Also was erwartest Du?“ Olériel verdrehte die Augen und brummte: „Worte sind wie dreckiges Werkzeug, kaum fasst man sie an, saut man sich ein. Lass Dich einfach mal gehen! So was kann man doch nicht planen!“ Taren stutzte immer noch, hilflos dastehend. „Gehen lassen?“, dachte er irritiert. „Im Tempel hatten die Sklavinnen manchmal auch blaue Augen und Flecken – wie kann sie so etwas mögen?“, grübelte er. Taren hatte sich von den Sklavinnen immer ferngehalten. Anders als die meisten Priester, empfand er zu viel Respekt vor Frauen und konnte sie nicht bloß benutzen. Olériel packte ihn seufzend am Kragen und zog ihn mit sanfter Gewalt zu Boden, wo sie sich auf ihn setzte und seine Handgelenke niederpresste. Natürlich war Taren viel stärker, doch er ließ es sich gefallen. „Wehr Dich!“, zischte Olériel, halb böse, halb lustvoll. Taren hob die Nachtelfin vorsichtig hoch, indem er sich mühelos in die Brücke stemmte. Dann drehte er sie behutsam um und lag nun auf ihr. Sie seufzte resigniert.

„Was?“, fragte Taren missmutig, erhob sich jedoch noch nicht, sondern packte Olériels Handgelenke nun selbst. „Wir probieren etwas anderes“, meinte sie, rollte den anstandslos gehorchenden Taren auf den Rücken zurück und öffnete seinen Gürtel. Es geschah jedoch nicht, was Taren vermutet hatte, denn die Nachtelfin zog den Gürtel nun aus den Beinlingen, legte Tarens Handgelenke über seinem Kopf zusammen und knotete den Gürtel darum. Taren versteifte sich unwillkürlich, ließ es sich aber gefallen. Er war jetzt nicht mehr kampfbereit für den Fall aller Fälle, und das missfiel ihm, obgleich er das nicht in dieser Situation zugeben wollte. Anders als in Srrigs Gegenwart, spürte er hier kein höheres Schicksal nahen. Olériel saß auf ihm und fuhr mit den Fingernägeln über seine Brust. „Ich habe Dich!“, raunte sie, warf den Kopf in den Nacken und rutschte ein wenig auf seiner Hüfte hin und her. Ihre Stimme erklang voll und lieblich. „Mmh, das gefällt Dir scheinbar.“ Während er zusah, hob sie ihr Kleid ein wenig höher, gerade nicht bis zur Taille. Sie wiegte sich in einem sitzenden Tanz und raunte leise, während sie die Augen schloss. Taren lag einfach da und starrte sie an. Plötzlich warf sie sich nach vorn, nah vor sein Ohr und flüsterte: „Ja, das ist besser.“ Mit einer Hand griff sie hinter sich und zog Tarens offene Beinlinge zurück. Während sie sich genussvoll zurückschob, glitten ihre Lippen über seinen Bart, dann über Mund und Hals. Fingerbreit für Fingerbreit drückte sie sich weiter, ein wohliges Stöhnen entfloh ihren Lippen.

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Sie warf den Kopf zurück und richtete sich auf. „Stell die Beine auf“, hauchte sie. Taren gehorchte stumm. Olériel lehnte sich zurück, bis ihr Rücken an seinen Oberschenkeln lag. Taren hob den Oberkörper und streckte die gefesselten Hände zu ihr aus, doch Olériel stieß ihn mit aller Kraft zurück zu Boden. Sie schloss die Augen und fuhr sich mit den Händen durch Kleid und Haar, während sie sich ein wenig mit den Beinen hochdrückte und wieder sinken ließ. Regungslos neben den beiden lag Melek. Er grinste und beobachtete das schneller und lauter werdende Treiben. Olériel wäre ihm eigentlich schon zu alt gewesen, doch die Nachtelfin entbehrte nicht einer gewissen Ausstrahlung und Schönheit, so wie auch eine reife Kirsche besser als eine ganz junge schmeckte. Melek hätte jedoch niemals erlaubt, dass eine Frau Macht über ihn ausübte. Taren hielt er nun für einen innerlich weibischen Schwächling, der sich schier alles gefallen ließ und kein Rückgrat besaß. „Kein Wunder, dass die Elfin sich über ihn beschwert hat und ihn für unmännlich gehalten hat.“ So interpretierte Melek Olériels Kommentare jedenfalls. „Solche Probleme habe ich wahrlich nicht“, dachte er selbstzufrieden. Er musste sich in seinem abweichenden Denken regelmäßig selbst bestätigen, um den Glauben an seine – oder besser gesagt Gozbads – Doktrin nicht zu verlieren. Melek genoss das Schauspiel, sog den Duft der Nachtelfin ein und lauschte. Er wartete, bis der gefesselte Taren die Augen schloss und den Mund öffnete.

Blitzschnell sprang Melek vor und schnitt Taren die Kehle durch. Der Nachtelfin schlug er den Dolchknauf auf die Nase, noch bevor sie überhaupt verstanden hatte, was gerade geschehen war. Taren zuckte noch ein paar Mal und bäumte sich stumm auf, dann brach sein Blick und seine Augen stierten entsetzt an Melek vorbei. Olériel lag bewusstlos zu seinen Füßen. Ihr Kleid war nicht zurück über die Beine gerutscht und Melek verharrte für einen Moment wie hypnotisiert, um sie anzustarren. Vermutlich hatte Taren erwartet, dass die Götter seinen Tod heldenhaft und spektakulär inszenieren würden. Immerhin war er ein Tempelkrieger, der Halbgötter begleitete. Er hatte in einem großen Kampf gegen einen bedeutenden Feind fallen wollen, wenn er schon sterben musste. Aber sein Gott und sein Schicksal scherten sich offenkundig nicht um sentimentale Gefühle, um Klischees oder Wunschdenken. Auch die Dämonidin Calvraka war still und unbemerkt gefallen, allem zurückliegenden Ruhm zum Trotz. Die Wirklichkeit war schnörkellos, kalt und hart. Sie ergab nicht immer eine schöne Geschichte mit vorhersehbarer Struktur zum Mitfiebern. Sie war unbequem und richtete sich nicht nach den Wünschen von Zuhörern in warmen, behüteten Tavernen, die bloß eingelullt und über ihren Alltag hinweggetröstet werden wollten. Die Schwachen wurden von ihr eingeschüchtert und verjagt, nur die Starken stellten sich ihr gern.

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Melek hatte Tarens Geschichte vom makellosen Tempelkrieger auf den Fersen eines Mörders oftmals gestört, weil er sich nicht hatte fangen lassen. Von den Geschichten der zahllosen Opfer ganz zu schweigen, die nie ein gutes Ende nahmen. Und nun hatte Melek auch Tarens Geschichte für immer verunstaltet und vorzeitig abgebrochen. Meleks eigene Geschichte hatte dafür einen weiteren Höhepunkt erlangt, obgleich sie außer ihm selbst niemand hören wollte. Was immer es war, was sich am Strand von Harkýior zusammenbraute und was auch Taren gespürt hatte – Taren würde kein Teil mehr davon werden. Jedenfalls nicht sein Körper ... Lauras Fluch war entfesselt worden. Taren von Silberberg wurde völlig unbemerkt getötet und das Böse hatte eine weitere wichtige Schlacht gewonnen. Taren blieb unbesungen von Barden in Tavernen, denn dafür fehlte der Geschichte ein heldenhaftes Moment, ein Trost oder sonst eine Erfüllung der Publikumswünsche. Überdies wurden Geschichten nur von den Siegern erzählt, und das Böse, das hier gesiegt hatte, besaß keinen Sinn für Lieder und andere wenig zielstrebige Aktivitäten. Melek war sich nicht im Geringsten darüber bewusst, wem er gerade geholfen hatte und dass er zum Untergang seiner eigenen Welt einen Stein im Puzzle beigetragen hatte. Er hatte den Tempelkrieger einem Dämon als Blutopfer gebracht.

Melek kniete sich neben Olériel und schnitt andächtig einen Träger ihres Kleides über der Schulter entzwei. Dabei blieb Tarens Blut an ihrer Haut haften. „Eigentlich sollte ich auf Laura warten“, dachte Melek bei sich und strich mit den Fingerspitzen das aufgeschnittene Kleid zur Seite. Ihre Brustknospe wiegte sich unter seinen Fingern wie ein Blättchen im Wasser. „Und das werde ich auch“, entschied er. Melek schnitt seiner Beute vorzeitig die Kehle durch und stürmte davon. „Keine Zeugen“, dachte er noch gewohnheitsmäßig, um den Mord vor sich selbst zu rechtfertigen. „Kein Raubtier tötet sinnlos, außer es ist krank“, ging ihm ganz entfernt durch den Kopf. „Wobei das Töten von Zeugen niemals sinnlos ist“, hatte Gozbad ihn im Alter von neun Jahren einmal getröstet.

Laura vergrub das Gesicht in den Händen und wankte. Sie war verflucht! Immer neue Tränen wischte sie zornig aus den Augen. „Athónon?“ Sie schniefte und sah sich verwirrt um. Endlich erinnerte sie sich, dass der Gnom auf der Suche nach Mèra war. Wenn jemand einen Fluch brechen konnte, dann sie. In ihrem Kopf hörte Laura plötzlich eine unbekannte Stimme: „Dein ärgster Todfeind hat Dich verflucht. Töte ihn, und der Fluch wird gebrochen. Er sucht nach Dir, er hat bereits einen Deiner Begleiter getötet.“ Laura wirbelte zweimal um die eigene Achse, doch niemand war in ihrer Nähe.

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„Ich hänge um Deinen Hals“, wies die Stimme sie freundlich auf sich hin. Laura riss das Amulett hervor. Sie umklammerte es und starrte es an. „Der Feind kommt näher! Hüte Dich! Nimm Dein kleines Schwert in die Hand!“, drängte die Stimme. Laura stopfte das Amulett unter das Kettenhemd zurück und zog das Schwert. Es fühlte sich leicht und beweglich an. „Wer ist getötet worden?“, dachte Laura und erwartete eine Antwort von dem Amulett. „Athónon?“, flüsterte sie ängstlich. Nervös wirbelte Laura Schritt für Schritt um ihre Achse, bis sie sich komplett gedreht hatte. „Ich sehe niemanden! Wer ist mein Todfeind?“, dachte sie hektisch. Die Nachtelfen in ihrer Nähe wichen aufgescheucht von der schwertschwingenden Barbarin fort. Dann fiel ihr ein Nachtelf auf, der eine Hand hinter dem Rücken hielt und Laura verhohlen von der Seite musterte, während er halb hinter einem Stalagmiten verschwand. Er sah weg, als Laura ihn bemerkt hatte, blieb allerdings stehen, wo er war. „Der ist es nicht“, hörte Laura das Amulett sagen. „Ein Mensch hat Dich verflucht. Vertraue meiner Erfahrung. Du hast schon einmal gegen ihn gekämpft. Ich kann die Verbindung zwischen Dir und ihm fühlen. Seine Aura ist schwarz und blutig. Finde ihn und töte ihn ohne Reue.“ „Melek!“, zischte Laura zornbebend. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, doch ihr Körper reagierte von ganz allein: Sie stürmte brüllend los und hob das Schwert weit über den

Kopf. „Melek! Komm raus!“, brüllte sie irrsinnig. Sie war nicht sicher, ob das Amulett oder das Schwert nachgeholfen hatten, oder ob sich ihr finsteres Menschenerbe seine Bahn brach. Aber sie wollte sich auch gar nicht gegen den plötzlichen Kampfrausch wehren. „Wen hast Du jetzt wieder getötet?“ Athónon war es jedenfalls nicht, so viel konnte das Amulett sie spüren lassen. Athónon hatte bereits die halbe Höhle mit seinen Falkenaugen abgesucht, als er hinter sich einen Tumult hörte – dort, wo er Laura für einen Moment allein gelassen hatte. Leise seufzend drehte er um und lief zurück, so schnell sein stechendes Knie es zuließ. Ein Dutzend Nachtelfen stand vor der Halbelfin und zielte mit Kurzbögen auf sie. Laura schäumte vor Hass und hielt ihr Schwert in der Faust. Sie brüllte die Schützen an: „Er hat mich verflucht! Ich muss ihn finden!“ Athónon rannte zu Laura und packte furchtlos ihre Waffenhand. „Beruhige Dich“, raunte er halblaut. Die Halbelfin stierte ihn an, als hätte er ihr gerade einen Dolch in den Nacken gestoßen. War das die Bedeutung ihrer Vision, fiel er ihr als Verräter in den Rücken? Unmöglich! Sie riss ihre Hand frei und trat einen Schritt zurück. „Es war Melek!“, schluchzte sie. „Woher weißt Du das?“, fragte Athónon ruhig. „Das Amulett hat es mir gesagt! Srrigs Amulett!“, rief sie und wischte sich über die Augen, verärgert über ihre Tränen. „Melek hat mich verflucht!“, wiederholte sie hilflos, gestattete ihrer Stimme aber keinen weinerlichen Ton. „Womöglich ist er immer noch unsichtbar!“, rief sie.

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„Wie soll ich ihn bloß finden? Ich muss ihn töten, um den Fluch zu brechen!“ Athónon blickte zu den Nachtelfen hinüber. „Ich konnte Mèra nicht finden“, berichtete er. Athónon wusste auch selbst ungefähr, wie er magische Muster von bestehenden Zaubern erkennen konnte, um beispielsweise einen Unsichtbaren aufzuspüren. Er brauchte allerdings viel länger als ein richtiger Zauberer dafür und sah sich nach Myándirel um. Der Zauberer stand abseits des Trubels und redete mit den anderen Ratsmitgliedern, nur Gamáal fehlte. Athónon blickte Myándirel fragend an, da erklärte dieser bereits allen Umstehenden: „Ich kann keine Spuren eines Unsichtbaren feststellen, obschon ich zugeben muss, dass mächtige Zauberer ihr Wirken tarnen können. Ich kann in Lauras Gesicht jedoch Spuren von Wahnsinn und völliger Erschöpfung erkennen, und das ganz ohne magische Untersuchung. Sie sollte das Schwert besser abgeben und eine Weile schlafen.“ Athónon musste Myándirel recht geben. Was immer der Gnom sagen könnte, hätte wenig überzeugend geklungen und keinesfalls die Worte des Ratsmitglieds entkräftet. Außerdem würde ihm natürlich niemand glauben, wenn er als Lauras Verbündeter – und als vermeintlicher Spion Schattenwachts – sich ihrer schwer zu glaubenden Meinung anschloss, dass ein Unsichtbarer in ihrer Mitte herumschlich. Mèra und Srrig hätten die Quirmóer das geglaubt, aber die beiden ließen sich nicht blicken. „Steck bitte das Schwert weg“, bat Athónon Laura, noch müder und zerknirschter als sonst.

Aber Laura war zu keiner vernünftigen Ruhe mehr fähig. „Ich muss Melek finden und ihn töten, um den Fluch zu brechen!“, schrie sie den Gnom an und fletschte wütend die Zähne. Heiße Tränen liefen über ihre Wangen. „Wir sollten sie entwaffnen und fesseln!“, rief darauf einer der Schützen. „Ja, gute Idee“, raunte sein Nachbar, doch mit einem lauernden Unterton und einem Grinsen im Gesicht, das Athónon stutzig machte. „Durchsuchen sollten wir sie auch“, lachte ein dritter Schütze schrill. Seine Augen stachen böse aus tiefen Höhlen. Immer mehr Schützen veränderten ihre Mienen zu dämonischen Fratzen. Auch Athónon spürte plötzlich eine Hitzewallung und unvertraut aggressive Gedanken. Er wurde wütend auf das sture Mädchen. Außerdem fand er zum ersten Mal ihre halbelfische Figur attraktiv. Laura wurde bleich. Schritt um Schritt wich sie zurück. Sie blickte insbesondere auf Athónon und erinnerte sich an den Albtraum, den sie unter der Decke erlebt hatte. Plötzlich fühlte sie sich unsäglich verlassen. „Das ist der Fluch“, knurrte Athónon und schüttelte sich. Seine Mundwinkel zogen sich tief hinab. Er stellte sich neben Laura, fixierte die Schützen und legte drohend die Hand auf den Schwertknauf. „Verschwindet! Ich kümmere mich um sie!“, rief er mit fester Stimme. „Ja, klar!“, spotteten die Schützen und rührten sich nicht. „Der verfluchte Mischling und der Spion des Drachen bereiten ihre Pläne vor!“

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„Wir wollen uns auch um sie kümmern!“, verlangte einer und lachte dreckig. „Was ist hier los?“, bellte plötzlich Gamáal mit schneidender Stimme. Der Krieger stürmte auf den Platz, doch als sein Blick auf Laura fiel, verpuffte seine Energie schlagartig und er musterte sie nur mit düsterer Miene. Eine unnatürliche Stille breitete sich in der Höhle aus. Etliche männliche Augenpaare fixierten gierig Laura. Die meisten Frauen blickten sich verwirrt, verschüchtert oder wütend um, doch auch sie schwiegen und versuchten, die seltsame Situation zu erfassen. Wie aus dem Nichts sprang Taffi auf Athónons Schulter und flüsterte ihm ins Ohr: „Hier riecht es plötzlich eklig ... nach einer Horde paarungswilliger, gewaltbereiter Elfen. Außerdem sind Srrig und Mèra weg. Lass uns auch verschwinden, solang wir noch können!“ Athónon sah sich um. Noch immer lag ein bedrohliches Schweigen über der Szenerie. Ohne weiteres Zögern ging der Gnom zu seinem Gepäck, Laura zog er am Waffenarm hinter sich her. Sie wehrte sich nicht und starrte furchtsam auf die zahllosen Elfenaugen, die plötzlich bösartig geworden waren. Während die beiden sich ihre Rucksäcke aufsetzten, kamen die Männer schweigend näher, alles Elfische wich mehr und mehr aus ihren Gesichtern, verdrängt von Meleks Fluch über Laura. Athónon hörte eine entfernte Frauenstimme murmeln, Myándirels Stimme antwortete etwas, doch beide waren so leise, dass der Gnom sie trotz seiner äußerst scharfen Sinne nicht verstand.

„Wir gehen“, sagte Athónon laut und schob Laura vor sich her, die sich das apathisch gefallen ließ. Einige der Männer hoben ihre Bögen und zielten. „Stehen bleiben!“, knurrte einer. Eine Frau stellte sich nah vor den Elfen. „Was machst Du da, Loféiyon?“, rief sie ebenso vorwurfsvoll wie nervös. „Geh aus dem Weg!“, knurrte Loféiyon. „Wieso?“, rief die Elfin. Loféyion trat vor und ohrfeigte sie. Die Elfin taumelte entsetzt zur Seite und hielt sich die Wange. Bestürztes und entrüstetes Raunen etlicher Elfinnen drang an Athónons Ohr. Loféyion beachtete die Elfin nicht weiter, sondern spannte den Bogen und zielte auf Lauras Bein. „Lauf!“, zischte Athónon und stieß Laura auf den nächstbesten Gang zu. „Taffi, die Decke!“, zischte er, während er dicht hinter der Halbelfin blieb. Taffi wusste aus vielen Jahren gemeinsamer Erlebnisse, was Athónon meinte. Das Chamäleon zerrte einen Zipfel der Decke so weit aus dem Rucksack, dass Athónon im Gehen mit links danach greifen konnte, ohne das Gepäck erst von der Schulter nehmen zu müssen. Mit links deshalb, weil er in solchen Situationen meistens das Schwert in der Rechten hielt. Athónon lief unmittelbar hinter Laura, um sie mit seinem Körper zu schützen. Er würde sie nicht auch noch überleben. Jemand musste sterben, das hatte Athónon in seinen visionären Träumen eindeutig gespürt, aber dieser jemand durfte einfach nicht Laura sein. Der Nachtelf schoss über Athónon hinweg, Laura in den Rücken. Die Halbelfin bäumte sich stöhnend auf, ihre

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Knie gaben nach, doch bevor sie stürzte, war Athónon bei ihr, warf ihr die Decke um die Schultern und zerrte sie tiefer in den Gang. Nun war er jedoch nicht mehr direkt hinter ihr. Ein zweiter Pfeil traf Laura in die Seite, doch sie schrie nicht mal. Sie war kaum noch bei Bewusstsein und wurde mehr von Athónon geschleift, als dass sie selbst lief. Ein dritter Pfeil bohrte sich in Athónons Schulter. Der Gnom knurrte bloß. Weder wurde er langsamer, noch ließ sein Griff um Lauras Hüfte nach. Die Decke schlang sich eigenmächtig nun auch um Athónons Körper. Als sie sich um eine Biegung im Gang warfen, hatten sie jeder drei Pfeile in Rücken und Beinen. Kein Sterblicher konnte solche Wunden überleben. Athónon fiel stöhnend auf die Knie. Laura stürzte leblos neben ihn. Hinter sich hörte Athónon helles Geschrei von zahlreichen Frauenstimmen. Als ein Schmerzensschrei und dann ein Todesschrei gellten, stellte sich abrupt wieder unnatürliche Stille ein. Und in jener Stille hörte Athónon einen leichten Körper zu Boden fallen. Jemand schluchzte, dann setzten die hellen Schreie wieder ein, diesmal teils verzweifelt, teils wütend. Athónon konnte sich jedoch nicht mehr auf die Worte konzentrieren, die geschrien wurden. Er lag neben Laura unter der Decke, gespickt von Pfeilen, genau wie sie. Allmählich sanken seine Lider herab. Er schaffte es gerade noch, die Decke mehr zu Laura zu schieben, von sich fort. Das Artefakt sollte seine Kräfte auf die Halbelfin konzentrieren. „Nicht noch eine Tote in meinen Armen“, hauchte der Gnom und hörte auf zu atmen.

24 Laura lag abermals auf der blühenden Sommerwiese und schlief friedlich. In diesem Traum war sie unverletzt und fühlte keinen Schmerz. Doch plötzlich erwachte sie mit einem Ruck und drehte erschreckt den Kopf hin und her. „Ist dies also das Leben nach dem Tod?“, fragte sie andächtig und wartete auf eine Empfindung. „Nein“, antwortete ein Elfenjunge traurig. Er saß auf einmal neben ihr. „Ein Freund hat gesagt, Du und der Gnom sollen beide leben. Das kann ich aber nicht. Ich kann nur einen von Euch retten, der andere wird sterben. Willst Du leben oder Dein Leben für den Gnom hergeben?“ Laura schüttelte sich. „Wer hat das gesagt?“ „Ich war das“, antwortete eine alte Stimme auf ihrer anderen Seite. Ein graufelliger Tigermensch mit sehnigen Muskeln schlich lautlos zu ihr und setzte sich neben sie. Nicht einmal seine dunkelgraue Robe raschelte. Laura musterte den Tigermenschen mit offenem Mund. Als sie bemerkte, dass sie ihn anstarrte, lächelte er nur und sagte: „Du trägst mich um den Hals.“ „Ich verstehe gar nichts mehr“, seufzte Laura. „Du musst Dich schnell entscheiden. Wer soll leben, Du oder der Gnom?“, fragte der Elfenjunge und blickte Laura eindringlich ins Gesicht. „Aber das kann ich nicht entscheiden!“, rief Laura aufgebracht. „Ich will nicht sterben! Aber ich kann auch nicht entscheiden, dass Athónon für mich sterben muss!“

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„Da ist eine dritte Möglichkeit“, sagte der Tigermensch und blickte den Elfenjungen an. Dieser senkte darauf den Blick. „Vergiss nie, dass wir trotz unseres Alters nur Diener sind, geschaffen für genau einen Zweck.“ Der Elfenjunge nickte und schlich mit hängendem Kopf davon. „Ja, Meister Terebran“, murmelte er betrübt. Laura wollte nicht einschlafen, doch es passierte einfach. Im Tumult der Nachtelfen hatte der unsichtbare Melek keine Mühe gehabt, sich davonzustehlen. Eine Nachtelfin war von ihrem Gefährten erdolcht worden. Vermutlich hatte der Elf wegen des Fluches nicht mehr gewusst, was er tat und war erst wieder zu sich gekommen, als die Leiche vor seinen Füßen gelegen hatte. Melek schlich in den Gang, in dem Athónon und Laura verschwunden waren. Nach wenigen Schritten fand er sie. Melek konnte vor Aufregung kaum noch ruhig atmen und knotete bereits seine Beinlinge auf. „Hoffentlich lebt sie noch!“, entfuhr es ihm. „Darauf kannst Du wetten!“, zischte Taffi. Das Chamäleon löste sich, glutrot gefärbt, von einem Felsen mitten auf dem Weg. Seine schwarzen, untypischen Knopfaugen glommen ebenfalls wie Kohlenglut. „Du kannst mich sehen?“ Amüsiert blickte Melek auf das kleine Wesen herab. „Nette Farbe, steht Dir. Und jetzt verschwinde, bevor ich Dich zertrete.“ Taffi verschwendete keine weiteren Worte. Er holte tief Luft, und als er mit aller Kraft ausatmete, brannte der gesamte Gang in einem Flammeninferno. Eine Feuerwoge traf Melek ins Gesicht.

„Was zum ...!“, schrie Melek mit den Händen vorm Gesicht und prallte zurück. Die riesige Flammenzunge loderte noch für einen Lidschlag aus dem Gang, dann war wieder nur das rote Chamäleon auf seinem Felsen zu sehen. Meleks Gesicht brannte wie Feuer und es stank nach verbranntem Haar. Mit einem Wutschrei stürzte Melek vorwärts und wollte das magische Tier mit dem Dolch zerhacken. Er schaffte bloß den halben Weg, da spie Taffi ein weiteres Höllenfeuer aus. Melek warf sich entsetzt zur Seite, rollte sich ab und rannte wutschäumend hinter einen Felsbrocken, um sich zwangsläufig einen neuen Plan auszudenken. Einen Augenblick später bestand sein Plan vorrangig darin, möglichst kaltes Wasser für seinen Kopf und seine Hände zu finden. Das Höllenfeuer hatte ohnehin zu viele Zeugen auf den Plan gerufen. Taffi zitterte am ganzen Körper. Seine Lunge füllte sich bei jedem Atemzug mit Luft, aber er hatte trotzdem das Gefühl zu ersticken. Seine Atemwege schienen lichterloh zu brennen, außerdem hatte ein derartig starker Ausbruch magischer Energie immer körperliche Konsequenzen. Als Melek nicht wiederkehrte, kletterte Taffi wankend auf Athónons ruhig atmenden Körper und kroch unter die Decke der Elfenkönigin, deren legendären Heilkräfte Taffis verbrannte Lunge sicherlich heilen würden. Das Chamäleon schmiegte seinen Kopf liebevoll an Athónons Hals und schloss die schwarzen Knopfaugen.

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Als Laura die Lider langsam hob, hörte sie Athónons undeutbare Stimme neben sich: „Du hattest recht. Wir sind beide nicht gestorben, mein böser Traum ist nicht wahr geworden.“ Laura schob sich mühsam auf die Knie. Vermoderte Reste einer Decke lagen auf ihr, durchzogen von dünnen Goldfäden. Neben ihr saß Athónon im Schneidersitz. Seine Mundwinkel waren sehr tief nach unten gezogen und in seinen Augenschlitzen glitzerten Tränen. Er hielt beide Hände wie eine Schale vor sich. Darin lag Taffis aschgrauer Körper und regte sich nicht. Laura setzte sich auf, wobei die modrigen Reste der Elfendecke von ihr abblätterten und als Staub zu Boden rieselten. Sie hatte keine Schmerzen, doch sie konnte sich nicht freuen. Der Preis war ihr bewusst. Sie hatte einen riesigen Kloß im Hals. Sie wusste nicht, was sie tun oder sagen sollte, und sah einfach zu, wie Athónons weißhaariger Kopf tief hinabsank und sich seiner Kehle ein Schluchzen entrang. Erst jetzt fiel Laura auf, dass sie mit Athónon ganz allein in einem einsamen Gang war. Ein winziges Feuer schien von der nahen Wand wider und spendete etwas Licht. „Wo sind wir, wohin gehen wir?“, fragte Laura nach einer langen Zeit, in der sie gemeinsam mit Athónon geschwiegen hatte. „Weiß nicht“, zischte Athónon giftig. Laura druckste herum. „Wir ... ich meine, ich ... muss Melek töten, damit der Fluch gebrochen wird, der auf mir liegt.“

„Ich weiß“, raunte Athónon. Er vermied es, ihren Körper anzusehen, denn er wusste nicht, ob er in seiner jetzigen Verfassung der Wirkung des Fluches wie zuvor widerstehen konnte.

Aus dem Wandspalt heraus, in den Zeeris sich gezwängt hatte, verfolgte er angewidert das Treiben der Sporks. „Wenigstens hat die alte Frau die Verwundete weggetragen. Die war ganz schön stark, so schnell und leicht, wie sie das gemacht hat“, dachte das Teufelchen. „Vielleicht hat sie sich verzaubert.“ Zeeris’ unzähmbare Neugier war geweckt. Sie hatte ihn schon früher in zahllose Schwierigkeiten gebracht. Doch noch traute er sich nicht aus dem Versteck. Tanesa schlug die Augen auf. Sie lag im Dunkeln, mehr konnte sie nicht wahrnehmen. „Ruhig. Wir sind in Sicherheit. Mutter kommt auch gleich wieder“, flüsterte Givríja ihrer Schwester zu. Sie kniete neben Tanesa und rieb unbewusst an ihrer frisch verheilten Bauchwunde; verheilt, weil das seltsame Teufelchen einen gutartigen Zauber auf Givríja gewirkt hatte. Ihr türkisfarbenes Haar hing ihr ins Gesicht, aber sie strich es nicht hinter die Ohren. „Was ist passiert?“, flüsterte Tanesa. „Mutter hat die Ahnen um Kraft für ihre Arme gebeten und Dich in Sicherheit getragen, bevor die Sporks Dich in die Klauen bekamen. Dann hat sie Deine Wunde mit ihrer Zauberkraft geschlossen“, berichtete Givríja.

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Niedergeschlagen fügte sie hinzu: „Alle anderen sind tot. Das heilige Schwert hat jetzt dieser unheimliche Riese.“ Tanesa schwieg betroffen und brauchte einen Augenblick, bis sie Zuversicht vorspielen konnte. „Mutter wird wissen, wie es weitergeht. Wie immer.“ „Auf Dir liegt ein Suchzauber, weißt Du das?“, flüsterte die alte Frau aus dem Schatten heraus in den Wandspalt, in dem Zeeris sich versteckt hielt. „Waaah! Von wem? Wer spricht da?“, krähte Zeeris aufgescheucht und drückte sich noch enger an den Boden. „Ich heiße Norihl. Du hast meinen Töchtern das Leben gerettet, jetzt will ich mich revanchieren. Ein mächtiger Zauberer beobachtet Dich, das solltest Du wissen. Ich weiß nicht, wer es ist oder was er im Schilde führt, doch die Ahnen zeigen mir eine geheime, sehr starke Verbindung von einem unbekannten Ort zu Dir. Nur ein außergewöhnlich mächtiger Zauberer könnte so etwas bewirken und sich dabei auch noch verbergen.“ „Ich weiß nicht, wer mich heimlich beobachten könnte!“, rief Zeeris, lauter als er gewollt hatte. Ihm kam die Idee, seine Fähigkeit zu benutzen, sich vor magischen Zugriffen zu verstecken, so wie er sich auch körperlich unsichtbar machen konnte. Doch diese Gabe war noch anstrengender, und Zeeris war schon jetzt über die Maßen ausgelaugt. Norihl flüsterte: „Ich könnte meine Ahnen bitten, den Zauber von Dir zu nehmen, um meine Schuld bei Dir zu begleichen. Doch das wird den Beobachter nicht davon abhalten, den Suchzauber neu zu wirken. Du hättest

lediglich einen Augenblick Zeit, so schnell wie möglich zu verschwinden – vielleicht findet der Zauberer dann kein Ziel mehr für seine Magie. Du musst wissen, Zauber dieser Art müssen ein Ziel haben und können nicht blind gewirkt werden, und sei das Ziel auch nur ein gewisses Gebiet und keine Person. Wenn der Zauberer aber das gesamte Höhlensystem gleichzeitig einsehen könnte, hätte er keinen solchen Suchzauber auf Dich gewirkt. Er ist also nicht allmächtig.“ „Ich will zurück zu meinen Freunden und sie vor dem Zauberer warnen! Und vor dem Geistertroll. Meine Freunde haben sich schon mit Göttern und Dämonen angelegt und könnten durchaus interessant für so einen Zauberer sein. Was die alles allein an magischen Gegenständen dabeihaben!“, überlegte Zeeris laut. „Ja, sicher will der böse Zauberer sie ausrauben, aber er weiß nicht, wo sie sind. Vielleicht sind sie auch von Mèra getarnt worden. Die kann so was! Jetzt will er bestimmt, dass ich ihn hinführe!“ Endlich dämmerte die Erkenntnis. „Ob das Cerýllion ist? Waaah! Dem kratze ich die Augen aus!“ Wütend richtete Zeeris sich auf und stemmte die Fäuste in die Hüfte. „Also soll ich meine Ahnen bitten, den Zauber von Dir zu nehmen?“, fragte Norihl leise. „Ja, damit ich schnell zurückkehren kann. Dann sehen meine Freunde und ich weiter“, entschied Zeeris. Für einen Moment fragte Norihl sich, was das Teufelchen wohl für Freunde haben könnte und ob diese Freunde etwas mit den feindlichen Nachtelfen von Quirmó zu tun haben mochten. Doch sie verwarf und

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verdrängte diesen Gedanken. Das Teufelchen hatte ihre Töchter gerettet. Nun stand sie in seiner Schuld und musste sich revanchieren, um ihren Ahnen, die Norihl ihre Zauberkräfte liehen, weiterhin in die Augen blicken zu können.

„Denkt daran: Wasser, Nahrung und Sicherheit sind die drei Dinge, die wir finden müssen“, flüsterte ein Nachtelf. Sein schwarzes Haar war genauso kurz wie das steingraue Fell, das er als Kleidung trug. Auch seine Füße waren damit umwickelt wie mit Fellsocken, gehalten von Lederbändern. „Wasser, Nahrung, Sicherheit, und am besten alles am selben Fleck“, brummte sein stämmiger Nebenmann. „Richtig. Diese Höhle hier hat zu viele, zu breite Zugänge, um sicher zu sein. Außerdem gibt es weit und breit kein Wasser – genauso wie die Höhle, in der unser Volk momentan lagert. Also weiter in den nächsten Gang.“ Hinter den beiden schlichen noch zwei Nachtelfen, ein Mann und eine Frau, die beide ebenfalls graue Kleidung trugen, wenn auch kein Fell. Die Augen der vier Späher waren vor ihrem Aufbruch verzaubert worden, um in fast völliger Dunkelheit zu sehen. Ihre einzigen, minimalen Lichtquellen waren phosphoreszierende Steine, von denen jeder Elf einen in der Hand hielt. Sie trugen Dolche aus scharfen Schieferscherben an den Gürteln, umwickelt mit Leder als Griff, waren ansonsten aber unbewaffnet und ungerüstet.

Sie schlichen so schnell vorwärts, wie sie es vermochten, ohne zu viele Geräusche zu machen. Als Elfen waren sie zwar sehr geschickt im lautlosen Bewegen, hatten aber auch einen hohen Anspruch an den Begriff „lautlos“. Der unförmige Höhlengang, dem die vier folgten, machte oft kleinere Biegungen und führte stetig abwärts. Die Späher sagten kein Wort und atmeten tief, aber unhörbar. Allmählich wandelte sich der Gang zu einer immer unförmigeren, ständig enger werdenden Röhre, die zunehmend mehr von Tropfsteinen durchzogen wurde. Schließlich hielt der Anführer inne. „Ab hier müssten wir kriechen und sollten den Weg deshalb eigentlich vergessen. Aber es könnte sein, dass er sich dennoch lohnt. Die Zapfen werden immer mehr, also gibt es hier mehr Wasser. Wenn dieser Gang zu einer brauchbaren Höhle führt, müssten wir nur noch einen besseren Zugang finden oder diesen verbreitern. Ehliun, Du bist die zierlichste von uns, Du kriechst weiter und schaust, ob dieser Gang ein Ziel hat. Wenn aber nach zweihundert Schritten nichts kommt, vergessen wir meine Intuition und suchen woanders weiter.“ Die kleine, höchstens neunzig Pfund wiegende Nachtelfin nickte, sagte jedoch nichts. Sie ließ sich auf alle viere hinab und kroch leise weiter. Der Gang wurde schließlich so eng, dass sie die Ellbogen nah am Körper behalten musste und mit Bauch und Brust über den Boden scharrte. Doch sie roch Wasser. Nach geschätzten zweihundert Schritten war sie kurz davor, im Gang steckenzubleiben, aber der Wassergeruch war stärker geworden und kam eindeutig von vorn. Sie

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streckte die Arme vor und zog sich nur mit Zehenspitzen und Fingern weiter, Stückchen für Stückchen. Ihren phosphoreszierenden Felsbrocken schubste sie mit den Fingerspitzen vor sich her. Als sie so eng im Felsen steckte, dass ihr ein tieferes Einatmen schwerfiel, ragten ihre Fingerspitzen aus dem Gang ins Schwarze. Vermutlich war dort eine größere Höhle. Der Gang war so schmal geworden, dass ihre Kameraden nicht einmal ihre Füße würden erreichen können, sollte sie gleich feststecken. Sie schätzte, dass sie mit der Hüfte gerade so nicht durch die Öffnung passen würde, sie aber ihre Arme zum Ziehen zu Hilfe nehmen könnte, sobald sie am engsten Punkt angelangt wäre. Sie schloss die Augen und schob sich Fingerbreit für Fingerbreit weiter der Schwärze entgegen. Tatsächlich blieben ihre Hüftknochen schmerzhaft stecken. Aber als sie sich etwas zur Seite verbog, konnte sie einen Ellbogen an den Rand des Lochs vorstrecken. Dadurch konnte sie den Unterarm außen an die Felswand legen, um sich mit Gewalt weiter in die Höhle zu ziehen, in die der Gang mündete. Sie riss sich ihre grauen Beinlinge auf und schrammte sich die Haut über den Hüftknochen blutig, doch dafür ragte jetzt ihr Oberkörper in die dunkle Höhle hinein. Ehliun hielt ihren Phosphorstein vor und über sich und blinzelte angestrengt, um in der Schwärze etwas zu erkennen. Tief unter ihr wurde der schwache Schein von Wasser reflektiert. Sie lächelte dünn, ein wenig stolz auf ihren Mut, der zum Wasserfund geführt hatte. Dann wurde sie von starken Händen am Arm gepackt und aus

dem Gang gerissen. Schreiend stürzte sie in die Tiefe und klatschte ins Wasser. Ehliun strampelte panisch und schoss wie ein Pfeil mit dem Kopf aus dem kalten See. Mit einer Faust umklammerte sie noch immer den Phosphorstein, den sie nun ebenfalls aus dem Wasser in die Höhe streckte, um zu sehen, wer oder was sie gepackt und in die Tiefe geschleudert hatte. Sie erahnte den engen Gang drei Elfenlängen über sich. Die Felswand war rau und leicht zu erklettern, doch irgendetwas hatte sie angegriffen und sie sah es nicht – sie wagte es nicht, die Wand zu erklettern, wenn ein unsichtbarer Feind vielleicht nur darauf wartete, dass sie hilflos am Fels hing. Sie drehte sich zweimal um die eigene Achse, doch außer der Felswand mit dem Gang, aus dem sie gefallen war, konnte sie nur Schwärze sehen. Sie fand keine anderen Gänge oder Wände und keine böswilligen Kreaturen. Vorsichtig und elfisch leise schwamm sie zur Wand. Einem Krokodil ähnlich, ragten nur ihre Augen über das Wasser, und gelegentlich ihre Nase zum Luftholen. Den Lichtstein behielt sie unter sich; falls sich ihr etwas von dort näherte, wollte sie es sehen. Ganz langsam zog sie sich in die Höhe, ständig in alle Richtungen blickend. Sie bewegte immer nur eine Gliedmaße auf einmal und tastete jedes Mal nach sicherem Halt, bevor sie eine Hand oder einen Fuß fest absetzte. Sie ließ sich nicht anmerken, dass sie das leise Platschen und Tropfen hinter sich hörte, doch ihre scharfen Ohren konnten das Geräusch genau anpeilen.

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Als plötzlich ein lauteres Platschen ertönte, warf Ehliun sich mit dem Rücken an den Fels, wie eine sich öffnende Tür, eine Hand und ein Fuß waren die Scharniere. Ein faustgroßer Stein, an dem ein vielblättriges Algenseil hing, schlug genau an der Stelle gegen die Wand, wo eben noch ihr Hinterkopf gewesen wäre. Aus dem Wasser ragte ein graues, hässliches Geschöpf, das leise Kreischgeräusche von sich gab und dann eilig untertauchte. Der Stein am Algenseil fiel ins Wasser zurück und verschwand mit dem Wesen. Ehliuns Herz raste schmerzhaft, sie starrte noch immer auf die Stelle, an der das feindselige Wesen abgetaucht war. Ihr Nacken begann auf einmal zu kribbeln, doch zu spät – ein mörderischer Schlag traf von oben ihren Kopf und raubte ihr das Bewusstsein. „Sie ist überfällig“, meinte der stämmige Nachtelf zum Anführer. Der nickte mit besorgtem Gesicht und zupfte seine Felle hin und her. Er schwitzte, jedoch nicht so sehr wegen des Fells, sondern wegen der Verantwortung, die er für die Nachtelfin trug. Er und niemand sonst hatte sie in den unerforschten Gang geschickt, nun war sie verschollen. Vielleicht war sie verunglückt, aber vielleicht gab es am Ende des Gangs auch etwas, von dem die Späher wissen sollten. „Wir suchen einen anderen Weg, der an derselben Stelle herauskommt wie dieser enge Gang. Wir bleiben zusammen, auch wenn wir dann länger brauchen. Falls Ehliun auf Feinde gestoßen ist, sollten wir besser nicht genauso allein auf welche stoßen.“

Der Anführer schlich voran, ein Stück den Gang zurück und dann in die nächste Biegung. Der stämmige Nachtelf sah ihm finster nach. Einen weiteren Augenblick lang musterte er den dritten Mann ebenso finster, dann erst folgte er dem Anführer. Der dritte Nachtelf verzog keine Miene dabei, aber sein Gesicht war schon vorher zum Bersten gespannt gewesen. Der Anführer brauchte all seinen Willen, um sich auf die Umgebung zu konzentrieren, anstatt immer wieder an Ehliun zu denken. Noch am Tag vor der Schlacht hatte sie sich ihm hingegeben, nachdem er ihr ein paar besondere Rauschpilze vorgestellt hatte. Das alles wäre unter Elfen nicht besonders schlimm gewesen, wäre Ehliun nicht die feste Frau des besten Tauschers, eines heißblütigen, stolzen Mannes, der nichts von seinem Besitz freiwillig teilte – und er hielt auch Ehliun für seinen Besitz. „Dummerweise hat er die Schlacht überlebt“, fluchte der Anführer innerlich. Zwar war es unelfisch, jemandem den Tod für den eigenen Vorteil zu wünschen. Doch nicht alle Elfen waren unter der streng genormten Oberfläche gleich elfisch – der Späher so wenig wie der Tauscher. Sollte Ehliuns Mann etwas von jener verbotenen Liebesnacht erfahren, er würde all seine Mittel einsetzen, um Raiánu, den Anführer des Spähtrupps, zu zerstören. Raiánu würde ganz sicher nie wieder Späher anführen, und das war das Mindeste, was Ehliuns Mann bewirken konnte. Raiánus Status beim restlichen Volk von Quirmó wäre auf Jahre dahin, und das war unter den harmoniebedürftigen Elfen eine durchaus harte Strafe. Zwar gab es derzeit andere Sorgen, aber die

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würden sich legen. Der Rachedurst von Ehliuns Gemahl würde das nicht. Lanváoel, der vierte Nachtelf, starrte immer wieder grimmig auf seinen Vorgesetzten, den berühmten Tunnelläufer Raiánu. Trotz aller Heldentaten, die ihm nachgesagt wurden – vermutlich waren die meisten wahr – hatte er nun sehenden Auges eine Unschuldige in den Tod geschickt. Jedenfalls kam es Lanváoel so vor. Er gestand sich ein, voreingenommen, sogar besessen zu sein. Er war schon lange in Ehliun verliebt. Die zurückliegende Schlacht war ihm vergleichsweise egal, seine Gedanken kreisten fast ausschließlich um diese Frau. Doch Ehliun war aus ihm unverständlichen Gründen die feste Frau eines reichen Ekels von Tauscher und unerreichbar für einen einfachen Elfen. Lanváoel hatte viele Pläne gehabt, wie er Ehliun vielleicht doch hätte gewinnen können. Aber nun war sie möglicherweise tot, und Raiánu trug die Schuld. Der stämmige Nîmio wendete höchstens die Hälfte seiner Aufmerksamkeit für die Umgebung auf, den Rest verteilte er gleichmäßig auf Raiánu und Lanváoel. Nîmio galt als stark, was unter Elfen jedoch nicht viel wert war. Ansonsten hielt man ihn für langsam und schwerfällig mit Geist und Körper. Er genoss es, unterschätzt zu werden. Seine Wahrnehmungskraft lag weit über dem Durchschnitt der meisten Tunnelläufer, vielleicht sogar über der von Raiánu. Nîmio wusste von Raiánus erschlichener Liebesnacht mit Ehliun, er hatte heimlich

zugesehen. Er wusste auch, mit welch bohrenden Blicken Lanváoel die Nachtelfin stets angestiert hatte und wie aufgeregt er plötzlich gewesen war, als sie demselben Spähtrupp zugeteilt worden war wie er. Und nun war das hübsche, doch charakterlich blasse Mädchen verschollen, und weder Raiánu noch Lanváoel waren in der Lage, ihre Aufgabe mit angemessener Konzentration zu erfüllen. Nîmio hätte sich einreden können, dass dies an der zurückliegenden Schlacht lag, doch er wusste es besser. Möglicherweise war es überhaupt nur zu Raiánus fataler Entscheidung gekommen, weil er sich nicht hatte konzentrieren können. Oder hatte Raiánu die Elfin gar loswerden wollen, um seinen durchaus hohen Status nicht zu gefährden? „Was starrst Du denn plötzlich so?“, flüsterte Lanváoel und legte Nîmio eine Hand auf die Schulter. Nîmio seufzte verlegen und schüttelte den Kopf. „Nichts, ich war abgelenkt.“ Raiánu blickte vorwurfsvoll zurück und zischte: „Abgelenkte Späher sind tote Späher! Reiß Dich zusammen!“ Nîmio nickte nur und dachte sich seinen Teil. Irgendwie mussten es wohl solche Situationen sein, die zu seinem Ruf als schwerfälliger Denker geführt hatten. Ehliun erwachte – in einer einsamen, hohen Höhle hängend. Ihre Hände und Füße waren mit geflochtenen Algenseilen gefesselt und an Decke und Boden festgeknotet worden. Ihre Finger und Zehen waren bereits taub, weil die Fesseln zu eng waren. Ehliun zerrte halbherzig an den Seilen, doch die geflochtenen Algen waren zweifellos

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stärker als sie, außerdem schmerzte jede Bewegung an den wund gescheuerten Gelenken. Sie blinzelte. Erst jetzt erkannte sie, dass sie doch nicht allein war. An den Wänden hing mindestens ein Dutzend der hässlichen grauen Kreaturen, von denen sie bereits im Wasser attackiert worden war. Sie regten sich nicht, doch ihre schwarzen Augen belauerten Ehliun. Aus den Kopfmitten wuchs jeweils ein kleiner Dorn, der sich wie eine Insektenantenne bewegte. Die Tunnelläufer näherten sich wie lautlose Schatten einem Durchgang. Eine gigantische Höhle lag dahinter. Sie führte in die Richtung, in der die Späher Ehliun vermuteten. Obwohl der Weg frei zu sein schien, hielt Raiánu an und kauerte sich mit tief zerfurchter Stirn hinter einen Felsvorsprung. Nîmio hockte sich neben ihn und blickte fragend, worauf Raiánu mit dem Kopf auf den Eingangsbereich deutete. Nîmio entdeckte dort Knochen und Schädel sowie Waffenreste aus Kupfer, überzogen von einer dicken Schicht Grünspan. Als er nun wusste, worauf er zu achten hatte, fanden seine Augen noch mehr Zeichen einer vor langer Zeit geschlagenen Schlacht. Was Raiánu jedoch am meisten zögern ließ, waren die Runen und Bilder, die in die Wände gekratzt worden waren. Soweit er sie in die Dunkelheit der Höhle hinein verfolgen konnte, erzählten diese Kritzeleien die tragische Geschichte eines vernichteten Volkes. Wesen mit einem Dorn auf dem Kopf beteten die Sonne an, doch die Sonne verschwand und die Wesen

verloren ihre Werkzeuge, bis sie sich mit bloßen Zähnen und Klauen zerfleischten und kein Zeichen von Kultur mehr aufwiesen. „Wie lange haben wir noch, bis der Zauber auf unseren Augen nachlässt?“, flüsterte Lanváoel hinter ihm. „Wir lassen Ehliun nicht zurück. Notfalls müssen wir magische Lichtkugeln herbeirufen“, flüsterte Raiánu.

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25 Meleks Fluch wirkte mit entsetzlicher Macht in Athónons Geist. Wäre Laura von seinem eigenen Volk und wäre er nur zehn Jahre jünger, seine Willenskraft hätte nicht gereicht, dem Fluch zu widerstehen. Jedes Mal, wenn der Gnom Laura ansah, überfiel ihn eine primitive Gefühlswallung, die ihm unangenehm und fremd war. Das Lagerfeuer war winzig und der Tunnel kühl, dennoch schwitzte er. Seine stoische Ruhe war dahin, er knirschte mit den Zähnen und rieb sich die feuchten Hände an den Knien. Wenn die Halbelfin etwas sagte, musste Athónon sich zwingen, ihr ins Gesicht und nicht auf die Wölbungen unter dem Kettenhemd zu starren. Wenn er dies schaffte, musste er den Gedanken niederringen, dass er etwas verpasste. Wenn sie sich ihm abwandte, versuchte er, das sanfte Wallen ihres Hinterteils zu ignorieren, das nicht völlig von Kettenhemd und Lederbeinlingen verborgen wurde. Wenn er die Augen schloss, sah er seine Finger in ihre zarte Haut sinken. Wie leicht es für ihn wäre, sie niederzuschlagen! Wie sehr ihre Hüfte ihm genau das befahl und seine Hände zu sich rief! Sein magisches Schwert betäubte den Willen manchen Gegners schon beim Ziehen ... Athónon zog die Beine an und legte die Stirn auf die Knie. Laura konnte Athónons stechende Blicke körperlich spüren. Ihr Nacken kribbelte bei jeder plötzlichen Bewegung des Gnoms. Sie wusste nicht, wie sie stehen

oder sitzen sollte. Zum ersten Mal fand sie ihre Beinlinge zu eng und hasste das Zwicken des Leders zwischen den Schenkeln. Sie spürte Schweiß als klammen Film am ganzen Körper, trotz der Kälte im Tunnel. Mit jedem Lidschlag bekam sie mehr Angst und wurde verzweifelter. „Ich gehe zurück und töte Melek“, verkündete sie schließlich mit angstbebender Stimme. Hastig stand sie von dem kleinen Feuer auf. Sie schulterte den Rucksack und marschierte los. Athónon blieb sitzen und sah ihr nicht nach. Für einen Moment. Dann sprang er auf und rief: „Du kannst nicht allein gehen. Dein ungebrochener Wille, ihn zu richten, besiegt ihn nicht von selbst. Außerdem könnten etliche andere Männer sich auf seine Seite stellen.“ Lauras stummer Blick zurück in Athónons Gesicht klagte: „So wie Du auch in einem schwachen Moment!“ „Der Fluch kann mich nicht bezwingen“, behauptete Athónon auf diesen Blick. Natürlich wusste er, was Laura denken musste. „Ich gehe vor, ich bin sowieso der bessere Späher. Wenn ich Melek gefunden habe, töten wir ihn gemeinsam, das ist das Sicherste.“ Mit diesen Worten trat Athónon an Laura vorbei und stapfte ins Dunkel des Gangs. „Mach das Feuer hinter Dir aus“, brummte er über die Schulter, während er mit einem winzigen Zauber eine seiner Fackeln entzündete. Es kostete ihn alle Kraft, sich von Laura zu entfernen und den verfluchten Gedanken niederzuringen, dass er einen kostbaren Schatz, den er schon beinahe in den Händen gehalten hatte, einfach liegen ließ. Doch wenn er durch sein eigenes und Lauras Überleben eines gelernt

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hatte, dann, dass das Schicksal mitnichten festgeschrieben war. Sein prophetischer Traum war ein Irrtum gewesen. Keiner von ihnen war gestorben. Das Opfer, das nötig geworden war, hatten Taffi und die heilige Decke erbracht. „Gedanken sind biegsame Gräser, einzig unsere Taten zählen etwas und sind endgültig“, rezitierte Athónon im Geiste, um seine eigenen Schritte ständig neu anzutreiben, damit sie nicht stehen blieben oder gar umkehrten. Sein Knie schmerzte nach wie vor und verlockte ihn, dies als Vorwand zu nehmen, doch umzudrehen. Aber Athónon ließ nicht zu, dass der Fluch ihn mit seinen Gebrechen erpresste. Außerdem war er viel zu erfahren, um auf vorgeschobene Entschuldigungen oder Selbsttäuschungen hereinzufallen. Laura trat das Feuer aus, während das Fackellicht sich rasch entfernte. Taffis kleiner Grabhügel, ein Steinhaufen mit einer vermoderten, von Goldfäden durchzogenen Elfendecke darauf, verschwand in der Dunkelheit eines unbedeutenden Gangs in irgendeinem Höhlensystem. Die verfluchte Halbelfin gab sich einen Ruck und folgte dem letzten Fackelschein.

Eins der bleichgrauen Wesen kletterte vom Boden an Ehliuns Algenfessel empor, bis es die dicken Fellsocken an ihren Füßen erreichte. Es schnupperte hektisch und kroch dann allmählich an Ehliuns Bein zurück. Von ihrem Wimmern und Zittern ließ das Wesen sich nicht ablenken. An Ehliuns Knie zupfte es neugierig den

Bauschstoff hoch und entblößte eine Wade. Der Dorn auf seinem Kopf beschleunigte zu einem Vibrieren. Mit fahlen Augen sah das Wesen in Ehliuns Gesicht und schnupperte angespannt. Plötzlich sprang es zwischen die anderen Wesen und alle kreischten. Ein anderes Wesen raste an Ehliuns Fesseln empor und rücksichtslos über sie hinweg, jedoch ohne sie zu verletzen. Es biss die Fesseln über den Handgelenken durch und Ehliun stürzte schreiend dem Boden entgegen, gemeinsam mit dem freudig kreischenden Wesen. Kurz vor dem Aufprall landeten beide weich auf zahllosen grauen Händen. Während das Wesen, das Ehliuns Fesseln durchgebissen hatte, sich geschmeidig über die Köpfe der Träger hinfortrollte, wurde die verdutzte Ehliun zu einem breiten Ausgang getragen, der von Steinzeichnungen verziert wurde.

Melek schäumte vor Wut in einer abgelegenen Felsröhre. Nicht nur, dass ihm Laura abermals entwischt war, nicht nur, dass sein Haar weggebrannt und sein Gesicht von wässrigen Brandblasen übersät war – gerade hatten auch zwei Nachtelfinnen über ihn gelacht. Er verstand zwar die Sprache nicht und sie konnten ihn gar nicht sehen. Aber als sie an ihm vorbeigegangen waren, hatten sie eindeutige Gesten gemacht, bildete er sich ein. „Natürlich erst, als ihr zwei, drei Schritte an mir vorbeigewesen wart! Denkt ihr wirklich, ein halbwegs aufmerksamer Geist würde es dann nicht bemerken?“, zischte er. In seiner Phantasie packte er ihre leichten Körper, schlug sie gegen die Wände, brach

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ihnen die dünnen Arme, biss ihre Brustknospen ab, trat wild auf sie ein und verstümmelte sie mit dem Dolch. Immer wilder steigerte Melek sich in seinen Hass. Die Brandwunden machten ihn rasend. „Ihr traut Euch ja nicht, das Maul direkt vor mir aufzureißen!“, zischte er und merkte erst im zweiten Moment, dass er laut gesprochen und nicht bloß gedacht hatte. „Ich sollte den beiden Manieren beibringen, aber hier sind einfach zu viele Augen“, haderte er mit sich. „Ihr habt keinen Respekt vor der Ordnung der Natur, ihr glaubt Euch in falscher Sicherheit!“ Er schüttelte wütend den Kopf. „Wozu bin ich eigentlich unsichtbar, ich Idiot?“, schrie er halblaut. Mit der Faust schlug er gegen die Wand und sprang auf, sprengte den beiden Nachtelfinnen nach. Sie waren noch nicht weit gekommen. Erschreckt wirbelten sie herum, als sie sein Poltern hörten. Genau in dem Moment spazierten zwei weitere Nachtelfen um die Ecke, um ihre Gefährtinnen zu begrüßen. Melek sprengte fluchend davon in einen Seitengang. „Halt!“, befahl er sich selbst nach ein paar Biegungen. „Denk nach, Dummkopf!“, scholt er sich. „Wenn Laura den Fluch brechen will, muss sie mich töten. Sie wird also zurückkommen und mich suchen. Ich muss nur in der Nähe warten und keine weiteren Fehler machen, wenn ich sie erwischen will.“ Zitternd ritzte er sich wieder die Arme, setzte weitere Kerben neben die frisch verheilten. „Verdammter Idiot!“, beschimpfte er sich.

Ehliun wagte es nicht, sich zu rühren, während sie in den Gang getragen wurde. Die Kreaturen transportierten sie zu einem krakeligen Bild am toten Ende des Gangs. Das Bild zeigte eine bekleidete Kreatur, die den grauen Wesen unter Ehliun sehr ähnelte, jedoch weniger tierhafte Züge und eine aufrechte Körperhaltung besaß. Vorsichtig setzten die Wesen Ehliun auf die Füße und wichen vor ihr und der Kritzelei zurück. Ihre Dornen wiegten gleichmäßig hin und her und ihre Kehlen erzeugten ein gurrendes Geräusch. Sie wälzten sich auf den Rücken und streckten dabei alle viere von sich. Ehliun stand mit rasendem Herzschlag vor ihnen und schielte von der Seite auf das Wandbild. Sie wagte es nicht, den Wesen den Rücken zuzukehren. Am ganzen Körper zitterte sie, hatte butterweiche Knie und fragte sich verzweifelt, ob sie ihren Mann, ihren Liebhaber oder ihren heimlichen Verehrer je wiedersehen würde. Alle drei hatte sie sich nur zu gern gefallen lassen und die schmeichelnde Aufmerksamkeit genossen. Ihre Freundinnen meinten, sie sollte lieber nicht zu sehr mit den Männern spielen, aber was sollte schon Schlimmes passieren? Sie fühlte unter dem beträchtlichen Kloß in ihrem Hals, wie Übelkeit aufstieg. Am liebsten hätte sie sich einfach in eine Ecke gekauert und losgeheult, doch hierher wäre wohl kaum jemand gekommen, um sie zu retten. Bis vor einem Tag war Ehliuns größte Sorge gewesen, ob ihre drei Männer etwas voneinander erfuhren, oder von Ehliuns wahren Gefühlen. Raiánus Pilze hatten Ehliuns Willen mitnichten ausgeschaltet, aber das durfte er gern weiterhin glauben. Und jetzt war ihre Stadt

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vernichtet und verlassen. Sie stand in einer steinernen Sackgasse, gefangen zwischen seltsamen Kreaturen und einer hässlichen Kritzelei. Sie wurde sich der Wassergeräusche unter sich bewusst, so als erhebe sich etwas Großes aus der Tiefe. Allerdings sah sie nirgends Wasser. Möglicherweise befand sie sich über dem See, in den sie zuvor gestürzt war. Die blinden Kreaturen wirbelten mit ihren Kopfdornen und keckerten hysterisch. Der Boden bebte. Aber sie flohen nicht, sondern blieben tapfer an Ort und Stelle hocken. Plötzlich krachte das Bodeninnere markerschütternd. Dumpfes Brüllen drang von unten herauf. Der Fels krachte noch einmal ohrenbetäubend und diesmal riss er auf. Eine riesige Kreatur hielt ein Auge, das so groß wie Ehliuns ganzer Kopf war an den Spalt. Leichenblass wich die Späherin an die Wand zurück. Das Auge verschwand, dafür donnerte es ein drittes Mal im Felsboden und er brach in Trümmer. Die Fläche stürzte mitsamt den Kreaturen, die darauf gehockt hatten in die Tiefe. Ehliun und wenige andere Kreaturen hatten Glück gehabt, da sie auf den Resten des Felsbodens standen, der am Rand des ehemaligen Gangs stehen geblieben war. Die Kreatur unter ihnen trug auf dem dunklen Schädel eine mächtige Knochenplatte, mit der sie den Fels zerschlagen hatte. Darunter fixierten zwei Augen Ehliun. Das Wesen besaß flache Nüstern und ein Maul voller Reißzähne. Viel mehr sah Ehliun von der Kreatur nicht, denn der Rest verschwand im Dunkeln. Jedenfalls, bis eine fleischige Hand mit drei dicken Fingern auf sie zuraste. Breite Krallen wuchsen wie Schwerter an den Fingern.

Ehliun versuchte auszuweichen, doch der Daumen der Riesenhand erwischte sie und stupste sie leicht an – sie wurde mit dem Rücken gegen den Felsen geschlagen und konnte nicht mehr atmen, so verzweifelt sie es auch versuchte. Die verbliebenen Kreaturen warfen sich wieder auf die Rücken, wälzten sich auf den Felsresten und stießen schrille Heullaute aus. Die Hand packte die hilflose Nachtelfin und zerdrückte sie ein wenig, bevor die Reißzähne sie weiter zerkleinerten. Doch der Gott dieser Kreaturen war noch nicht satt, sondern fraß die Hälfte jener grauen Wesen, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit brachten. In der Sprache der Grauen grollte ihr Gott: „Das rosige Spitzohr war sehr lecker! Bringt mir mehr davon!“ „Aber es trug Kleidung! Es war ein Höheres!“, protestierten die überlebenden Grauen. Als Antwort fraß ihr Gott noch ein paar mehr von ihnen, spie das Meiste aber missmutig wieder aus. „Bringt mir mehr rosige Spitzohren!“, brüllte er.

„Diese Wandbilder erinnern mich an elfische Philosophie“, murmelte Nîmio. Schritt für Schritt erkundete der Spähtrupp das ehemalige Höhlenschlachtfeld. „Wie bitte? Elfen leben sonst wohl kaum in Höhlen“, spottete Lanváoel. „Nur wenn sie die Krankheit haben und keine Sonne mehr vertragen.“ Nîmio erklärte: „Aber diese Bilder scheinen Tiere über

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die zweibeinigen Kreaturen zu stellen, so als würden sie Tiere für mehr wert halten als sich selbst. So wie es vor langer Zeit auch mal bei den Waldelfen gedacht wurde, weil Tiere frei von lästigem Denken und Zweifeln sind.“ „Vielleicht sind das aber auch bloß Götterdarstellungen wie bei den Menschen“, entgegnete Lanváoel. „Manche Menschengötter haben die Gestalt von Tieren.“ Raiánu mischte sich ein: „Schluss damit! Wir wissen alle nicht, was diese Bilder darstellen, und es ist auch nicht wichtig. Das einzig Wichtige ist, Ehliun zu finden, bevor ihr etwas zustößt.“

„Jemand wie Melek könnte mein Vater sein“, dachte Laura wieder einmal und kochte vor sich hin. Sie folgte Athónons Fackelschein mit einigem Abstand. Auch in ihr, nicht nur in Athónon, regten sich fremde und unerwünschte Gefühle. Sie verunsicherten Laura und füllten sie mit einer unbändigen Wut, die nicht ihrer eigenen Seele zu entstammen schien. Doch die unbequeme Wahrheit über ihre Herkunft blieb, ebenso wie die Ähnlichkeiten zwischen Melek und ihr: Beide beschritten ihre Lebenswege nach eigenen Regeln und sehnten sich nach einer größeren Bedeutung, als sie derzeit besaßen. Hatten ihre Wege sich unweigerlich kreuzen müssen oder war das bloß Zufall? „Dieser Gedanke ist sinnlos, steigere Dich nicht hinein“, hatte Athónon ihr achselzuckend geraten, als sie ihm davon erzählt hatte. Doch das half ihr nicht weiter.

„Melek hat es irgendwie geschafft, mich zu verfluchen!“ Sie tobte innerlich vor Wut und ballte die Fäuste so fest, dass ihre Fingernägel tiefe Kerben in die Handflächen stanzten. Aber sie ließ nicht locker, denn dieser Schmerz lenkte sie von dem viel schlimmeren seelischen Schmerz ab. Sie überlegte, ob ihr leiblicher Vater möglicherweise kein reinblütiger Mensch gewesen war. Er war möglicherweise noch schlimmer als Melek gewesen. Menschliche Unbeugsamkeit, zusammen mit ihrer Vergangenheit und Gegenwart, durfte es eigentlich nicht allein bewirken, dass ihr Inneres so wütete. Die düstere Vorahnung wuchs. Außerdem hatte sie plötzlich wieder jenes Brandmal aus dem Menschendorf im Hinterkopf, das sie abgezeichnet hatte. Es hatte auf der Brust des toten Krämers geprangt, der einem Dämonenjünger als Opfer zum Kraftsammeln gedient hatte. Konnte solch ein unheiliges Symbol auch dann eine Wirkung erzeugen, wenn es bloß von einer Unwissenden gezeichnet wurde? Rüttelte das Brandmal einen Teil ihres Menschenerbes wach, von dem sie bisher nur einen winzigen Bruchteil beim ersten Kampf mit Melek gekostet hatte? Athónon hatte Laura gegenüber schon zweimal überdeutlich betont, dass er nichts Böses und Dämonisches in ihr spürte. Vielleicht behauptete er dies aber nur so vehement, weil er sie beruhigen wollte. Weil das Gegenteil der Fall war. Der Krieg, in dem Lauras Mutter gekämpft hatte, war nicht nur gegen gewöhnliche Menschensoldaten geführt worden. Auch Tiefenweltler und die Schlangenmenschen eines untoten Magierkönigs hatten Jades Heimat überfallen.

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Laura hatte schon immer verdrängte Aggressionen und Wutanfälle in sich brodeln gefühlt. Bisher hatte sie gedacht, dies läge allein an ihrer halbelfischen Natur und ihren Schwierigkeiten im Elfendorf. Nun aber erkannte sie allmählich, dass dieser lauernde Hass eine dritte Quelle hatte. Sie war Melek in noch einer Sache ähnlicher, als sie je offen zugeben konnte. Der Hass gab ihr Kraft. Seine Flammen verzehrten sie, wenn sie aufloderten, und setzten dadurch Energie frei. Der Hass fachte die Kräfte ihres dunklen Erbes an. Bisher hatte Laura nicht zugelassen, dass dieses Erbe zu hell brannte, doch sie wusste, dass sie noch viel mehr Reserven würde freisetzen können, wenn sie zuließ, dass sie dabei mehr und mehr wie ihr unbekannter Vater wurde. Jetzt verstand Laura das ganze Ausmaß der Sorgen ihrer Mutter und warum sie nicht gewollt hatte, dass ihre Tochter überhaupt in ein sogenanntes Abenteuer geriet, in dem ständige Gefahren das schlafende Erbe in Laura wachkitzeln konnten. Das Erbe eines Tiefenweltlers, der einem untoten Magierkönig der Schlangenmenschen gedient hatte. Nur am Rande ihrer Gedanken tauchte die Frage auf, warum Srrig und Mèra so plötzlich und ohne jeden Abschied verschwunden waren. Hatten deren übermenschliche, prophetische Sinne etwas wahrgenommen, das sie so dringend weggerufen hatte, dass sie nicht einmal mehr Lebewohl sagen konnten? Ob sie die beiden wiedersehen würde? War Lauras Anteil am Kreuzzug gegen den Imperator damit schon vorbei? Von dem weisen Amulett nahm sie im Moment so wenig wahr, wie von den äußerst schwachen Versuchen

ihres Kurzschwertes, mit ihr zu kommunizieren. Ihr Kopf war nicht frei genug für derartig subtile Veränderungen des Bewusstseins, sondern wurde beherrscht von Rachegelüsten und dem Durst auf Meleks Blut. Wenn sie ihn tötete, würde sie auch ein bisschen die Qualen ihrer Mutter rächen, obgleich sie in gewisser Weise damit gegen sich selbst kämpfte. Dies war jedoch ein so seltsames Gefühl, dass sie es kurzerhand verdrängte, anstatt sich damit auseinanderzusetzen. Was aus den Nachtelfen wurde, die es angeblich zu beschützen galt, interessierte sie im Moment nicht mehr. Welcher der tote Gefährte war, von dem das Amulett gesprochen hatte, wollte sie auch lieber nicht wissen. Ihr Vorrat an Tränen war aufgebraucht. Nun loderte an deren Stelle nur noch Hass, der sie zu verbrennen drohte. Sie hatte zuvor nicht verstanden, was es bedeutete, keine Tränen mehr zu haben, auch wenn sie den Ausdruck aus dunklen Lagerfeuergeschichten kannte.

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26 Nachlassender Schmerz war etwas Herrliches. Je länger Athónon der Wirkung des Fluches ausgesetzt gewesen war, desto weniger hatte der Fluch seinen Geist verwirrt. Inzwischen konnte der Gnom gefahrlos zurück zu Laura blicken, ohne eine dämonische Gefühlswallung zu erleiden. Der Gesichtsausdruck der Halbelfin schien Athónons negative Gefühle jedoch zu absorbieren, denn je besser er sich wieder fühlte, desto finsterer blickte das junge Mädchen drein. Athónon hatte es sich abgewöhnt, über die Winkelzüge des Schicksals lange nachzusinnen, denn er hatte oft genug die Erfahrung gemacht, dass die Dinge sowieso immer anders lagen, als er es sich zusammenreimte. Deshalb fragte er sich nicht allzu bohrend, wohin Srrig und Mèra verschwunden waren. Ebenso wenig machte er sich um die Nachtelfen Sorgen, die nun vergleichsweise schutzlos waren. Wohl aber galt seine Sorge Laura, denn er hatte auch die Erfahrung gemacht, dass die Götter und das Schicksal meist zu sehr mit sich selbst und der ganzen Welt beschäftigt waren, um auf ein einzelnes, unbedeutendes Wesen Rücksicht zu nehmen, so liebenswert und unschuldig es auch sein mochte. Vielleicht waren sogar gerade Eigenschaften wie „liebenswürdig“ und „unschuldig“ Magnete für Schicksalsschläge und Qualen. Und was diese Magnete ebenfalls anzogen, war Abschaum wie Melek. Laura hatte Athónon bewiesen, dass das Schicksal nicht festgeschrieben war. Jedenfalls nicht mit jeder Einzelheit.

Weder Athónon noch Jades Tochter waren gestorben, aber dafür hatte Athónon ein weiteres Mal einen langjährigen, treuen Freund verloren: Taffi. Und auch die heilige, unvorstellbar wertvolle Elfendecke war zerstört worden, hatte sich geopfert, um zwei Sterbende gleichzeitig retten zu können. Er verschob seine Trauer und seine Bitterkeit auf später, denn er näherte sich den Gängen, die an die vorübergehende Wohnhöhle der Quirmóer grenzten. Wie würden die Nachtelfen auf Athónons Rückkehr reagieren, auf den vermeintlichen Spion des Drachen? Der Fluch könnte nachgelassen haben, aber was, wenn nicht? Auf jeden Fall durfte Laura nicht in die Nähe der Nachtelfen kommen. Athónons scharfe Sinne orteten hinter sich, kurz hinter Laura, leise schleichende Schritte. Der Gnom sah zurück und erschrak vor Lauras hassglühender Grimasse, doch sie schien sich keines Verfolgers bewusst zu sein. „Hinter Dir“, zischte Athónon und rannte auf Laura zu. Die Halbelfin zog ihr Schwert und hielt es dem Gnom halb ängstlich, halb wütend entgegen. Sie war sich völlig sicher, dass der Fluch ihn nun übermannt hatte. Athónon blieb abrupt stehen und starrte Laura verstehend an. „Hinter Dir!“, rief er eindringlich und trat gleichzeitig einen Schritt zurück. Unsicher blickte Laura mit einem Auge zur Seite, während sie Athónon im Visier behielt. Sie sah nichts als Schwärze. Ihr Herz beschleunigte, ihre verschwitzte Hand hielt wieder Athónon die Waffe entgegen, dem vermeintlich verhexten Freund, dem unsäglich erfahreneren Helden

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zahlloser Kämpfe. Lauras Schwert erzitterte. „Tu es nicht!“, wisperte sie ganz leise. Athónon machte einen weiteren Schritt zurück, dann warf er die Fackel an Laura vorbei. Sie zuckte heftig zusammen, auch wenn sie nicht getroffen wurde. Mit einem gespenstischen Flackern erhellte sich der Gang. Mehrere Bewegungen huschten hinter die Felsen. „Ich habe es gesehen“, flüsterte Laura beschämt und senkte das Schwert. „Kommt raus!“, rief Athónon in Richtung der sich Anschleichenden. Sie kamen tatsächlich heraus, lautlos und lauernd, auf allen vieren. Doch sie griffen nicht an. Eher schien ihre drohende Körpersprache und ihr vorgeneigter Kopfdorn Laura und Athónon weiter in den Gang treiben zu wollen. Sie unterbrachen ihr Drohen immer wieder kurz zum Schnüffeln. Athónon flüsterte: „Ich fürchte, diese Kreaturen haben die Nachtelfen gewittert. Wir würden sie hinführen, wenn wir zurückkehren. Wir müssen diese Wesen weglocken. Sicher sind sie auf irgendeine Weise auch Diener Schattenwachts beziehungsweise Cerýllions.“ „Aber ich muss Melek töten, um den Fluch zu brechen!“, zischte Laura verzagt. „Wo finden wir ihn, wenn nicht bei den Quirmóern? Er wird dort sicher auf mich warten!“ Athónon schüttelte grimmig den Kopf. „Hier lang“, knurrte er und zog Laura in eine neue Richtung. „Die Gefahr durch den Fluch ist mitten unter den Nachtelfen ohnehin zu groß für Dich. Wir halten uns in der Nähe.“

Er wollte natürlich nicht, dass Laura verflucht blieb, aber er wollte die Nachtelfen auch nicht in zusätzliche Gefahr bringen. Er war sich zudem immer noch darüber bewusst, dass der Imperator jederzeit durch Athónons Augen blicken konnte. Wenn er nur Laura sah, würde den Drachen das nicht weiter interessieren. Informationen über die Nachtelfen durfte er jedoch nicht mehr bekommen, befand Athónon vorerst. „Alter Narr!“, scholt Athónon sich plötzlich. „Schattenwacht dürfte durch Cerýllion längst über alles informiert sein.“ Sollte er das die Nachtelfen als Warnung wissen lassen? Sie würden womöglich glauben, Athónon wollte bloß seine prekäre Rolle herunterspielen. Der Gnom entschied sich wie so oft für stures Schweigen. Als Laura dagegen protestieren wollte, mitgezerrt zu werden, sagte Athónon im Gehen: „Willst Du für Dein alleiniges Wohlergehen eine ganze Stadtbevölkerung opfern?“ Laura seufzte leise und lief nun bereitwillig mit. „Willkommen in Deinem zweiten echten Abenteuer“, knurrte Athónon sarkastisch. Er blickte hinter sich – die Kreaturen folgten ihm nicht, sondern blieben an der Kreuzung hocken und schnupperten. „Verdammt“, murmelte Athónon und blieb stehen, um sich das Knie zu reiben. „Wenn sie uns nicht folgen, können wir auch zurück und Melek töten!“, platzte es aus Laura heraus. „Nein. Die Wesen wissen augenscheinlich nicht, wohin sie müssen. Es besteht weiterhin die Gefahr, dass wir sie führen. Wir müssen warten. Setz Dich.“

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Ohne weitere Worte rutschte Athónon an der Gangwand herab, streckte seine müden Beine aus und kramte Stöckchen, Zunder und Feuersteine aus seinem Rucksack. Darunter hatten ein paar Holzscheite gebaumelt, eingewickelt in eine dünne Decke, um sie abzupolstern, wenn sie im Gehen gegen seinen Hintern pendelten. Als die ersten Flammen hochzüngelten, nahm Athónon einen der Holzscheite und legte ihn ins Feuer. „Wie kannst Du nur immer so ruhig bleiben?“, rief Laura zornig. „Aber Du bist ja auch nicht verflucht, nicht wahr?“, schrie sie, stampfte mit dem Fuß auf und drehte sich weg. Mit energischen Handbewegungen fuhr sie sich durch die Locken.Athónon sah sie bloß mit seiner Steinmiene an und schwieg. Er fühlte sich durchaus mitverflucht, denn es kam für ihn überhaupt nicht in Frage, Laura in ihrer Not allein zu lassen. „Ich möchte Dich bitten, mich nicht anzuschreien“, sagte er mit knirschender Stimme, „denn sonst wird es viel schwerer für mich, der Fluchwirkung zu widerstehen.“ Während Laura den Gnom entgeistert anstarrte, verpuffte die unnatürliche Zorneswallung in seinem Bewusstsein allmählich. Laura seufzte enttäuscht und kniete sich mit fest geschlossenen Beinen ans Feuer. Plötzlich hörten beide aus der Dunkelheit ein freudiges Quietschen. Bevor sie reagieren konnten, klatschte Zeeris vor Lauras Brust und schlang die kleinen Arme um ihren Hals. „Du riechst heute aber gut!“, quietschte das Teufelchen. Dann fiel Zeeris auch Athónon um den Hals und krähte: „Gut, dass ich Euch endlich wiedergefunden habe! Ihr werdet

ja gar nicht glauben, was ich inzwischen alles erlebt habe! Zeerisrisrisrisris!“

„Wir können nicht zurück, solange diese Biester uns folgen!“, stellte Nîmio überflüssigerweise fest. Er umklammerte seinen Phosphorstein so sehr, dass seine Hand nass vor Schweiß war. „Ob Ehliun auch auf sie gestoßen ist?“, murmelte Lanváoel vorwurfsvoll in Raiánus Richtung. Hinter sich blickend, stellte er fest, dass die grauen Kreaturen ihren Abstand stark vergrößert hatten. „Sie haben wohl durchschaut, dass wir sie im Kreis geführt haben“, murmelte er. „Still! Da ist ein Feuerschein!“, flüsterte Raiánu, als er um eine Ecke bog. Er legte sich lautlos nieder. Auch die beiden anderen Tunnelläufer verschmolzen augenblicklich mit der felsigen Umgebung und wurden förmlich unsichtbar. Ihre Phosphorsteine legten sie unter sich, damit der Lichtschein verschwand. „Das sind dieser Gnom und die Halbelfin“, flüsterte Raiánu erleichtert. „Ein kleines Flügelding ist auch bei ihnen.“ Die Kreaturen hinter den Tunnelläufern waren nicht mehr zu sehen, überzeugte der Anführer sich. „Ein winziger Drache tuschelt mit dem Drachenspion?“, wunderte sich Raiánu. Er erhob sich und marschierte auf das kleine Feuer zu. Den Phosphorstein hielt er deutlich sichtbar über sich, außerdem trat er recht laut auf und räusperte sich. Die anderen beiden folgten seinem Beispiel.

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Laura erschrak, als sie plötzlich den Nachtelfen bemerkte, der nur noch wenige Schritte entfernt war. Athónon hingegen sah gelassen auf und begrüßte ihn in elfischer Sprache. Abwesend und Laura anstarrend, erwiderte Raiánu den Gruß. Nîmio neben ihm schaffte es immerhin, seinen Blick kurz von der Halbelfin zu reißen und dem Gnom zuzuwenden. Lanváoel hatte von den dreien den schwächsten Willen, denn in seinem Gesicht stellte sich jetzt schon jenes bösartige Grinsen ein, welches die Schützen gehabt hatten, bevor sie auf Laura und Athónon geschossen hatten. „Die gucken so komisch!“, flüsterte Zeeris in Athónons Ohr. Der Gnom ließ den Kopf hängen, seine Mundwinkel zuckten nach unten. Laura schluckte schwer und erhob sich. Langsam wich sie rückwärts in den Schatten der Höhle zurück, bis sie verschwunden war. Raiánu schüttelte sich unmerklich und blickte nun verwundert drein, während Nîmio Athónon fragend musterte. Lanváoel jedoch machte Anstalten, Laura zu folgen. Als er Nîmio passierte, packte dieser ihn am Ärmel und schüttelte den Kopf. Wütend riss Lanváoel sich frei, aber im nächsten Moment bekam auch er einen verwirrten Gesichtsausdruck und stutzte. „Was ...?“, keuchte er und musterte Athónon und Zeeris. „Sie ist verflucht“, erklärte Athónon schnörkellos, ohne vom Feuer aufzusehen.

„Waaaas?“, rief Zeeris als Erster und sprang von Athónon fort. „Es betrifft nur sie allein, Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen“, fügte Athónon hinzu, weiter ins Feuer starrend und keine Miene verziehend. Nach einem Moment des Schweigens antwortete Raiánu mit belegter Stimme: „Trotzdem solltet Ihr fortan unser Volk meiden.“ „Sicher“, erwiderte Athónon, wohl wissend, dass das eventuell nicht möglich war, wenn sie Melek töten und den Fluch brechen wollten. Raiánu nickte vor sich hin, während er sich rückwärts gehend wieder in den Schatten begab, gefolgt von den zwei anderen Tunnelläufern. Athónon seufzte. Nach der Aufforderung des Tunnelläufers, nicht zurückzukehren, war es nun noch schwieriger, genau dies zu tun und Melek zu finden – falls er noch dort war. Denn nun würden Athónon und Laura zweifellos sofort am Eingang zur Höhle gestoppt werden. Auf einmal sprang Athónon auf und rief den Tunnelläufern nach: „Tut ihr und mir einen Gefallen und lasst viele Nachtelfen beiläufig wissen, wo Ihr uns getroffen habt! Unser Verfolger wird uns hoffentlich suchen kommen. Wir müssen ihn töten, um den Fluch zu brechen. Es handelt sich um einen unsichtbaren Menschen.“ Raiánu antwortete nicht sofort. Schließlich erwiderte er halbherzig: „Wir werden sehen.“ Athónon ließ sich resigniert wieder am Feuer nieder und rieb sich das Knie.

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Melek hatte aus seinem Gang heraus eine Gruppe Nachtelfen auf sich zukommen gesehen, angeführt von jenem Zauberer namens Myándirel. Zweifellos hatte der diesmal einen besseren Aufspürzauber gewirkt und würde Melek entdecken. Fluchend sprang er auf und rannte wahllos um einige Biegungen. Er wusste immer noch, wo Norden war, sein Orientierungssinn war exzellent trainiert. Aber das half ihm nicht bei der Entscheidung, wohin er sich wenden sollte. Er konnte nicht zurück in die Nachtelfenhöhle, aber wenn sein Instinkt ihn nicht trog, konnten Laura und Athónon es auch nicht. Sie mussten sich ebenfalls irgendwo in den Gängen herumtreiben. Oder waren sie Srrig und Mèra gefolgt? Wohin? Wussten Laura und der Gnom überhaupt, dass sie den Fluch nur durch Meleks Tod brechen konnten? „Jemand wie Athónon kennt sich vermutlich mit Flüchen aus“, murmelte Melek. „Auf jeden Fall wissen sie irgendwoher, dass ich es war.“ Melek fluchte wütend und ratlos vor sich hin. Die entgangene Beute marterte seine Seele, wie die Brandwunden seine Kopfhaut quälten. Ihm war, als briete Laura ihn über einem Freudenfeuer. Er trat Steine, und wenn er sich den Kampf mit Laura wieder und wieder vorstellte, hatte er Mühe, seine unkontrolliert zuckenden Fäuste nicht zu hart gegen den Fels zu schlagen. Endlich gab er auf. Die Anspannung, die ihn beinahe hatte bersten lassen, ließ nach und wich bleierner Müdigkeit. Er beschloss, sich östlich zu halten. Sollte er auf keinerlei Spuren von Athónon oder Laura stoßen, so würde er dort notgedrungen seinem alten Weg bis zurück

an die Oberfläche folgen, endlich schlafen und auf Laura verzichten, so schwer ihm das auch fiel. Immerhin würde sie dann niemals den Fluch brechen und Laura wäre zeitlebens dazu verdammt, vor Meleks Lebensweise zu fliehen. Vorher aber wollte er sich ein letztes Mal in die Nähe der Quirmóer wagen, um zu versuchen, Neuigkeiten über Laura und Athónon zu erfahren. Myándirel würde nicht ewig umherlaufen, um den Verwandelten aufzuspüren. Meleks Lider flatterten vor Müdigkeit, er taumelte an den Wänden entlang, kaum mehr zum Schleichen fähig.

„Wohin sind Srrig und Mèra wohl gegangen?“, fragte Laura leise, nachdem sie sich wieder zu Athónon gekniet hatte. Der Gnom zuckte mit den Schultern und sah nicht hoch. „Jemand aus unserer Gruppe ist getötet worden, hat mir das Amulett gesagt“, berichtete Laura niedergeschlagen. „Waaaas, wer denn?“, rief Zeeris aufgescheucht. „Ich weiß es nicht“, antwortete Laura, während sie zu Athónon sah. Doch der Gnom reagierte nicht. „Taffi und die Decke sind tot“, sagte er plötzlich leise. Sein Gesicht bewegte sich unmerklich in Zeeris’ Richtung. „Keine Ahnung, wen es sonst noch erwischt hat.“ Zeeris’ Gesicht nahm verschiedene Ausdrücke an, bevor das Teufelchen betroffen ein „Oh!“ von sich gab und sich verlegen am Kopf kratzte. Leise erzählte es nach einer Weile: „Irgendein mächtiger Zauberer hatte einen Suchzauber auf mich gelegt, aber die

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Mutter der Schlangenblüter, denen ich geholfen hatte, konnte ihn vorübergehend wegmachen. Jetzt frag’ ich mich aber, wer mich da beobachten wollte und warum!“ Athónon und Laura reagierten nicht mehr auf das zusätzliche Problem, jedenfalls nicht mehr äußerlich. „Du riechst wirklich viel besser als sonst!“, staunte Zeeris und hüpfte schnuppernd auf Lauras Schoß. „Verschwinde!“, schrie die Halbelfin, sprang wutentbrannt hoch und ohrfeigte Zeeris mit voller Kraft. Das Teufelchen klatschte einige Schritte weiter zu Boden und blieb benommen liegen. Laura rannte sofort zu ihm und rief reumütig: „Es tut mir so leid!“

„Je mächtiger ein Wesen ist, desto größer werden seine Interessen. Was wagen es die jungen Goldfische zu glauben, dass ihre Interessen sogleich einem Gott in den Augenwinkel fallen könnten?“ T’ral, auch Feuerbringer genannt, ältester Dämonid Hevanors, einer der mythischen Vier Könige, über den Willen der Götter

27 General Veydrag war inzwischen von seiner Privatbarke nach Harkýior gebracht worden und hatte sich in der Arena berichten lassen, was geschehen war. Schon von Weitem waren die Betreiber der Arena zusammengezuckt, als sie Veydrags braunschwarze Schuppen und das blutrote imperiale Wappen auf seinem Eisenpanzer erkannt hatten. Doch zu ihrer Erleichterung interessierte der berüchtigte General sich nicht im Geringsten für das Versagen der Kerkermeister des Tigermannes. Deren Bestrafung würden andere erledigen. Veydrag war der vielleicht einzige Chimärier, der stets allein operierte, nicht in einem obligatorischen Fünfertrupp. Er folgte den Spuren des Tigermannes und seines menschlichen Begleiters durch den Höhlenspalt, in das lichtlose Felsenlabyrinth. Er brauchte keine Fackel, er nahm genug andere Dinge außer Licht wahr. Ohnehin flüsterten ihm die Stimmen der Inferior den rechten Weg zu. Ebenso würde er lange vor jedem betroffenen Feind wissen, wann es zu einem Kampf kam. Daher sah Veydrag auch keine Notwendigkeit, sein Schwert vom Rücken zu schnallen. Veydrag folgte der Wärme, dem Geruch und der magischen Strömung. Er würde nicht lange brauchen, um die Enklave der Nachtelfen zu finden. Durch ständiges Zaubern über so lange Zeit war die magische Strömung dort nachhaltig verändert worden, und dies war leicht aufzuspüren. Auch die Aura des Tigermannes kam

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Veydrag offensichtlich, geradezu penetrant vor. Jenes Wesen musste mächtiger sein, als das Imperium bisher angenommen hatte, folgerte Veydrag. Auch die Stimmen der Inferior warnten den General leise vor dem Tigermann. Doch Veydrag hatte in seinem ganzen Leben noch nie die Erfahrung gemacht, jemandem unterlegen zu sein. Die Drachenrunen zwischen seinen Flügeln brannten innerlich vor Aufregung. Er fühlte deutlich, dass eine große Chance auf ihn wartete, sich vor dem Imperator zu beweisen und einen Platz in dessen direkter Nähe einzunehmen. Die Stimmen der Inferior in Veydrags Kopf raunten es ihm zu. Der Sohn des Drachen näherte sich der Erfüllung seiner Bestimmung. Manche Gänge waren zu eng für ihn, doch anstatt sich würdelos hindurchzuzwängen, schloss er für einen Moment die Augen, sprach die unheiligen Worte nach, welche die Inferior in seinem Kopf zischelten, und der Fels wich vor Veydrag zurück. Er machte dem General ehrfürchtig Platz und wurde erst wieder leblos, wenn Veydrag ihn hinter sich gelassen hatte.

Cerýllion wanderte durch die ockern verputzten Kellergewölbe seiner neu akquirierten Festung. Der Eingangsbereich spaltete sich unmittelbar hinter der Treppe in fünf strahlenförmig verlaufende Gänge, die untereinander regelmäßig durch Quertunnel verbunden waren. Das ganze Gewölbe war für die Größe von Chimäriern ausgelegt, die hier früher magische

Geheimforschungen betrieben hatten. Ihr Ziel war, die Gabe schneller Wundregeneration von seltenen Lebewesen für die eigenen Soldaten zu gewinnen. Der Albino legte die Hände auf dem Rücken zusammen und ließ beiläufig eine Lichtkugel hinter seiner Schulter entstehen, die ihm folgte. Cerýllion schlenderte durch den Gang ganz links. Er betrachtete die leeren, von innen aufgebrochenen Käfige, die groß genug für je zwei Chimärier gewesen wären. Vor langer Zeit getrocknete, gelbe Blutreste verliehen dem Boden ein unregelmäßiges Sprenkelmuster. Die Experimente der Chimärier waren augenscheinlich außer Kontrolle geraten. Den herben Geruch, der nach all der Zeit immer noch im Gewölbe hing, konnte Cerýllion nicht identifizieren. Einer der Gefangenen von jenen Menschen, die lange nach den Chimäriern hergekommen waren, hatte Cerýllion verraten, dass es noch lebende Bestien im Keller gab. Diese waren regelmäßig gefüttert und als Wachen umerzogen worden. Die Wesen waren fortpflanzungsfähig gewesen, inzwischen lebten hier längst die Enkel und Urenkel der ursprünglichen Experimente. Nur eine einzige der überlebenden Kreaturen soll die Chimärier noch selbst miterlebt und einige von ihnen getötet haben. Welche, das hatte der Gefangene nicht mehr sagen können. Die Folter hatte seiner Gesundheit zu viel abgefordert. Cerýllion wanderte die leeren Käfige des ersten Gangs ab und folgte dann dem letzten Quertunnel in den zweiten Gang. Er war nicht wirklich neugierig auf die verqueren Geschöpfe und Missgeburten der Chimärier, aber was in seinem neuen Keller vorging, wollte er schon

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wissen. Und da seine magische Sicht anderweitig in den Höhlen unterwegs war, musste er dazu wohl oder übel seine Füße bemühen. Selbst seiner Zauberkraft waren Grenzen gesetzt. Der letzte Augenzeuge der geheimen Experimente war also ein Geschöpf, das mehrere Chimärier getötet hatte und nun seit vielen Jahren wieder eingesperrt gewesen sein sollte – ohne sich erneut zu befreien. Das war ein interessantes Rätsel, das Cerýllion zu ergründen gedachte. Er wusste von einem anderen Gefangenen, dass jenes Wesen in der Anfangszeit stets von Rache an allen Zauberern geredet hatte – immerhin waren magische Experimente an seiner Misere schuld gewesen. Aber dieses Gerede sollte mit der Zeit aufgehört haben. Cerýllion war ein wenig gespannt darauf, wie jenes Wesen wohl auf ihn, einen durchaus mächtigen Zauberer reagieren würde, der selbst schon die eine oder andere künstliche Kreatur erschaffen hatte. Im zweiten Gang gab es zerbrochene und intakte Kristallscheiben anstelle von Gittern. Hinter den leidlich durchsichtigen Scheiben bewegten sich schleimige Klumpen auf der linken und schlangenartige Geschöpfe auf der rechten Seite. Mit Balken verriegelte Bronzeluken dienten vermutlich zur Futterversorgung. Wie solche Geschöpfe als Wachen trainiert sein sollten, entzog sich Cerýllions Phantasie, aber zum Ausprobieren hatte er jetzt keine Muße. Beiläufig sah er sich mit einem einfachen Zauber die magischen Ströme an, die jene Wesen durchzogen, und fand nichts, was ihm hätte Sorgen bereiten müssen. Ihre Lebensauren waren grässlich

entstellt und von verdorrter Magie zerfressen, sie waren kaum wirklich lebendig. Zudem beherrschten sie selbst keine Zauberei und waren nicht sonderlich intelligent, also interessierten sie Cerýllion nicht. Plötzlich riss die Verbindung ab, die der Elf zu dem kleinen Teufelchen aufrechterhalten hatte, das ihn zu Srrig und Mèra hätte führen sollen. Der Zauberer blieb mit wütender Miene stehen und wunderte sich, wie das unscheinbare Teufelchen Cerýllions Zauber hatte brechen können. Er rieb sich verärgert die Hände und schloss die Augen, tief durch die Nase atmend. Als er den Suchzauber kurz darauf erneuert hatte, fand er das Teufelchen in der näheren Umgebung nicht wieder. Laut fluchend stürmte er durch den Gang zurück zur Treppe und hinauf in die Festung.

Mèra nahm alles von ihrer Umgebung wahr, gleichzeitig war sie in Gedanken jedoch ganz woanders. Sie fühlte nichts, doch sie wusste, es müsste ihr leidtun, die Sterblichen so kommentarlos zurückgelassen zu haben. Insbesondere Athónon hatte das nicht verdient. Was ihr jedoch noch mehr Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass sie etwas anderes fühlte, etwas lange Vergessenes. Srrig riss sie aus ihren Gedanken: „Wie gehen wir vor?“ Natürlich wusste Mèra, dass er Cerýllions Tod damit meinte. Danach erst würden sie T’ral befreien, denn der war noch weit entfernt und Cerýllion befand sich in ihrer unmittelbaren Nähe, wie sie inzwischen beide spürten. Zu zweit hätten sie eine gute Chance, ihn zu besiegen, wenn

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er nicht vorgewarnt wurde. Mèras Tarnzauber, den sie noch einmal erneuert hatte, sollte dafür sorgen. Natürlich wusste Mèra außerdem, dass sie Srrig nicht verheimlichen konnte, wie sehr ihre Gedanken bei Cerýllion weilten, auf eine Weise, die ihn mangels Gefühlen zwar nicht kränken konnte, die jedoch den Plan, den Elfenzauberer zu töten, erschweren konnte. „Er ist eitel und arrogant“, antwortete Mèra schließlich auf Srrigs Frage. „Und insgeheim will er mich zurückhaben. Ich spiele ihm etwas vor, besänftige seine alte Wut auf mich, und Du tötest ihn, sobald ich Dir ein Zeichen gebe, dass er abgelenkt genug ist oder schläft.“ „Du willst mit ihm schlafen?“, fragte Srrig ohne Emotion, nachdem er die subtilen Untertöne in Mèras Stimme interpretiert hatte. „Wieso nicht?“, fragte Mèra achselzuckend zurück. „Er fühlt genug für mich, das habe ich eindeutig gespürt, als er geistigen Kontakt mit mir hatte. Seine Wut auf mich ist nichts als ein Zeichen seiner Enttäuschung, seiner wahren Gefühle für mich und der Stärke dieser Gefühle.“ „Und fühlst Du etwas dabei?“ Srrig blieb skeptisch. Mèra nickte. Sie wusste, dass sie Srrig nicht belügen konnte. Der Gedanke erregte sie tatsächlich ein wenig. Doch sie wussten auch beide, dass das keine Rolle spielte, denn der Plan würde funktionieren. Außerdem gönnte ihr Srrig durchaus, einen jener seltenen Momente auszukosten, in denen jahrtausendealte Wesen wie sie doch noch einmal fühlen konnten. Das Einzige, was Srrig ein wenig beunruhigte, war die Tatsache, dass ausgerechnet der wahnsinnige

Elfenzauberer, der Hevanor, die Götter und auch Mèra verraten hatte, der Grund für Mèras neuen Anflug von Sehnsucht zu einem ehemaligen Gefährten war. Mèra dachte an den katastrophalen Fehler, den ihr das Nachgeben von Gefühlen eingebrockt hatte, als Athónon sie überredet hatte, eine Wiederbelebung mit Jade zu versuchen. Welche Katastrophe beschwor sie diesmal herauf, da sie auch wieder auf ein Gefühl hörte, ein Gefühl für Cerýllion, auf dem ihr Plan gegen ihn aufbaute? Sie wusste, dass Srrig dasselbe über Gefühle im Allgemeinen und Mèras Gefühle im Speziellen dachte, es aber nicht aussprach. Einen anderen Plan hatten sie nicht. Keiner ihrer Kämpfe war je leicht gewesen.

Zeeris hatte sich von Lauras Ohrfeige erholt, und nachdem Athónon ihm die genaue Wirkung des Fluches erklärt hatte, schmollte das Teufelchen auch gar nicht mehr so sehr. Zu dritt saßen sie am Feuer, ratlos wie zuvor. Nicht nur Laura, auch Athónon schien mit Gängen und Flüchen unliebsame Erinnerungen zu verbinden. Sein so typisch verzogener Mund und seine reglosen Augenschlitze verrieten, dass er in Gedanken woanders war. Cesius, Xelos und Athónon standen in einem engen Gang, Fackeln an den Wänden sorgten für Licht. „Ich kann keine Feuerbälle auf den Untoten werfen! Ich habe gerade ein antimagisches Feld vor uns ausgebreitet,

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damit seine Zauber uns nicht treffen können! Es würde die Feuerbälle genauso auflösen!“, schrie Xelos. Xelos, der lange verstorbene Zauberer, war Jahre später ebenfalls von einem Fluch getroffen und wahnsinnig geworden. Athónon hatte ihn hinterrücks töten müssen, bevor es umgekehrt geschehen wäre. „Ich werde die wandelnden Rüstungen mit Galbrint aufhalten!“, rief Cesius inbrünstig. Galbrint, das uralte Schwert, dessen Seele an einen tollwütigen Kampfhund erinnerte, flammte in Cesius’ Faust. Der Tempelkrieger stürmte auf eine Schlachtreihe beseelter Rüstungen zu, die ohne sichtbaren Träger auf die Gruppe zumarschierten, schwere Schwerter und Schilde haltend. Cesius’ zerdellter Wappenschild verblasste dagegen. Während Xelos sich schweißüberströmt an eine Wand lehnte, um sich von seinem Schutzzauber zu erholen, zielte Athónon seelenruhig mit einem geweihten Pfeil auf den Kopf des Untoten, der die Rüstungen zu ihrem unheiligen Leben erweckt hatte. Der Gegner trug eine Plattenrüstung und einen Helm mit heruntergeklapptem Visier. „Ich wusste, das Antimagie-Feld würde den Rüstungen nichts anhaben können. Der Kerl ist zu stark!“, fluchte Xelos atemlos von der Seite.Athónon ignorierte ihn und schoss. Der Pfeil raste genau auf das Gesicht des Gegners unter dem Visier zu – und zerfiel kurz davor zu Staub. Der mächtige Untote lachte mit hohler Stimme. Aus seiner Hand wuchs eine mächtige Axt – jene verfluchte Waffe, welche die Gruppe in diese vergessene Gruft geführt hatte. Zahllose Skelette und Zombies waren des Nachts an die Oberfläche gekrochen, um die Stadt Norhus zu terrorisieren,

weil zwei ahnungslose, ebenso einfältige wie gierige Zwerge die Axt aus einem Heiligtum gestohlen und damit den Fluch ausgelöst hatten. Xelos schlug vor: „Ich könnte den heiligen Dolch von Bruder Mond auf ihn schießen, indem ich die Klinge magisch beschleunige. Dann treffe ich auf jeden Fall, und eine Waffe desjenigen Gottes, der die Untoten am meisten hasst, sollte für den Kerl nicht so leicht aufzulösen sein.“ Athónon nickte und reichte Xelos einen unscheinbaren Dolch mit sichelförmiger Klinge. Xelos kniete sich hin. Verschmitzt kommentierte er: „So falle ich gleich nicht ganz so schmerzhaft um! Der Zauber wird mir die letzten Reserven aussaugen.“ Athónon nickte und starrte ernst auf Cesius, der wie drei Männer gegen die beseelten Rüstungen kämpfte. Der Gnom wusste, er selbst mit seiner geringen Armreichweite und seinem Kurzschwert war in diesem Gemetzel keine Hilfe. Dass sein Bogen ebenfalls nichts ausrichtete, ließ ihn sich zutiefst schuldig fühlen, so dumm diese Empfindung auch sein mochte. Xelos brauchte kaum Zeit, um den Dolch zum Schweben zu bringen. „Ich muss jetzt das antimagische Feld wieder auflösen, um den Dolch zu verschießen. Wenn er nicht trifft oder nicht wirkt, kann der Kerl Euch wieder verzaubern. Ich werde so oder so das Bewusstsein verlieren, wenn ich die Magie jetzt fließen lasse“, erklärte Xelos. Er druckste noch einen Moment herum, sagte schließlich: „Also, viel Glück!“, und schloss die Augen. Als der Dolch losschoss, kippte Xelos mit zuckenden Gesichtsmuskeln in Athónons Arme.

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Der Dolch traf den Untoten in den Helm und entlockte ihm ein wütendes Brüllen. Rauchschwaden stiegen aus seiner Rüstung auf. Doch dann packte der Untote den Dolch mit der freien Hand und riss ihn aus dem Kopf. Er ließ ihn sofort fallen, seine Hand dampfte, doch der Untote fiel nicht etwa auseinander oder blieb gelähmt stehen, wie Athónon gehofft hatte. Im Gegenteil. Cesius stand schwer atmend zwischen den zerhackten Rüstungen. Belebt oder nicht, sie lagen ihm in Einzelteilen zu Füßen. Doch nun stand der Untote vor ihm und hob siegessicher die verfluchte Axt. Selbst wenn er einen genauso harten Kampf wie Cesius hinter sich gehabt hätte, wäre er als Untoter dennoch nicht erschöpft gewesen. Cesius hingegen hatte bereits Mühe, das Schwert zum Schlag zu heben, und seine Rüstung hatte durch den Kampf etliche Löcher und Kerben erlitten. Für einen kurzen Moment loderten seine Augen in Galbrints Feuer. Der erste Axthieb des Untoten traf Cesius vor die Brustplatte und hinterließ eine weitere blutige Kerbe im Eisen. Hustend taumelte der Tempelkrieger rückwärts und verschanzte sich hinter seinem Wappenschild. Der zweite Schlag des Gegners spaltete den Schild und hackte sich in Cesius’ Unterarm. Er schrie nicht, zuckte bloß heftig zusammen. Für einen Moment war die Axt verkantet, und Cesius nutzte die Chance, um mit Galbrint weit auszuholen und dem Untoten den Schädel einzuschlagen. In der Tat traf Cesius den Helm, doch wider Erwarten durchdrang er ihn nicht, sondern hinterließ nur eine große Delle. Mit seinem hohlen Lachen trat der Untote Cesius vor die Brust, um seine Waffe zu befreien. Der Tempelkrieger stöhnte und krümmte sich. Sein Gegner reckte die unheilige Axt in

die Luft. Erst jetzt bemerkte Cesius die Kälte, die sich in seiner Brustwunde auszubreiten begann. „Er entzieht mir Lebenskraft!“, schrie er, halb panisch, halb wütend. Ein weiteres Mal stürmte er vor, und als der Untote auf das erhobene Schwert mit einer Parade reagieren wollte, wischte Cesius das Axtblatt mit Galbrint weg. Schulter voran rammte er den Untoten. Der prallte kaum zurück, doch das überraschte Cesius nicht. Der Tempelkrieger ging sofort in die Hocke und riss das Schwert herum – ins Bein des Gegners. Galbrint blieb stecken, Cesius sah entsetzt hoch, sah die Axt auf sein Gesicht zurasen. Doch da war Athónon mit einem Wutschrei über ihm. Der Gnom hatte den heiligen Dolch von Bruder Mond aufgehoben und stürzte sich damit auf den Untoten. Athónon balancierte auf Cesius’ Schultern und stach wild auf den Gegner ein. Der brüllte und holte gegen Athónon aus. Doch erlitt der Untote vor seinem eigenen Schlag so viele dampfende Stichwunden durch die heilige Waffe Bruder Monds, dass er zurückwankte und seine Stimme zu einem heiseren Keuchen verklang. Mit hasserfülltem Röcheln stürzte er über Cesius und Athónon zusammen. Der Gnom rollte sich gerade noch zur Seite – die verfluchte Axt schlug neben seinem Kopf in den Fels und blieb dort stecken. Eine Haarlocke Athónons rieselte auf der anderen Seite des Axtblattes zu Boden, während die großen Augen des Gnoms die bösen Runen der Axt aus allernächster Nähe betrachten konnten. Der Fluch, der auf der Stadt Norhus gelegen hatte, der größten der drei Metropolen der Menschen, war gebrochen worden.

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Cerýllion vergaß Zeeris schlagartig, noch bevor er das Ende der Kellertreppe erreichte. Vor ihm stand Nachtmahr mit dem Schwert von Theb Nor und fletschte faule Zähne. „Ich spüre schon seit Tagen, dass etwas Großes bevorsteht, aber dass es sich dabei um einen Geistertroll handelt ...“, scherzte Cerýllion angespannt. „Keine Worte mehr, Zauberer! Ich habe, was ich wollte!“, grollte Nachtmahr und holte mit dem Schwert aus, um Cerýllion zu köpfen. Mitten in der Bewegung wirbelte er um die eigene Achse und parierte den Schlag von Gaal, dem eisengepanzerten Hauptmann der Sporks, der Nachtmahr anderenfalls mit seinem gezackten Eisenschwert die Beine abgetrennt hätte. Die zahllosen Augen des riesigen Sporks glühten dem Untoten entgegen. Gaal hielt den Schild vor sich und die gezackte Klinge drohend darüber, die Spitze zeigte genau auf Nachtmahrs Kehle. Nachtmahr hasste alle Zauberer, denn es waren Zauberer, die ihn erschaffen und zu seiner untoten Existenz verurteilt hatten, einer Existenz, in der er sich jeden einzelnen Lidschlag darüber bewusst war, dass er eigentlich lange tot sein sollte. Er spürte seinen Körper faulen und seinen Geist vergeblich in ständiger Flucht kreisen, ohne je das Totenreich zu erreichen. Seine Schöpfer waren Chimärier gewesen, Cerýllion war ein Elf, doch das spielte keine Rolle. Zauberer waren bei allen Völkern gleich. Sie scherten sich nicht um ihre Verantwortung oder um die Gesetze der Natur, die sie ständig brachen. Sie taten alles, was sie irgendwie in der Lage waren zu tun. Genau wie jeder andere Verbrecher auch. Genau wie die Verblendeten und

Maßlosen im Glorreichen Zeitalter, die beinahe Hevanor an das Äußere Volk verloren hätten, an Piraten und anderen Abschaum. Nachtmahr würde alle Zauberer auf Hevanor vernichten, und das heilige Schwert in seiner Faust war für ihn der göttliche Beweis für die Richtigkeit seiner Mission. Der Geistertroll stand seitlich auf der Treppe, mit dem Rücken an der Wand, um beide Gegner im Auge zu behalten. Er wusste, dass er jetzt unter Zeitdruck stand, denn auch wenn Cerýllion sich äußerlich nicht zu rühren schien, bereitete er zweifellos einen Zauber vor. Nachtmahr brüllte und sprang Cerýllion an, das Schwert weit über den Kopf geschwungen. Gaal reagierte fast gleichzeitig. Er machte einen ebenso weiten Satz die Treppe hinab und schickte das eigene Schwert am ausgestreckten Arm voraus. Es bohrte sich tief in Nachtmahrs Rücken. Doch der Geistertroll ließ sich nicht stoppen und riss das Schwert von Theb Nor mit aller Gewalt auf Cerýllion nieder. Es sprengte eine Kante aus der Steinstufe. Wo eben noch Cerýllion gestanden hatte, war nur noch der Luftzug seiner Bewegung gespalten worden. Der Elf stand direkt neben Nachtmahr und blickte kalt zu ihm auf. „Weißt Du eigentlich, wen Du vor Dir hast?“, zischte Cerýllion und blieb ganz ruhig vor Nachtmahr stehen. Gaal riss sein Schwert aus der Rückenwunde frei, doch Nachtmahr ignorierte ihn immer noch. Achselzuckend holte der Spork-Hauptmann erneut aus und schlug die Klinge tief in den Schädel. Nachtmahr wirbelte jetzt knurrend herum und entriss dem Spork dadurch die Klinge, die immer noch in seinem

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Kopf steckte. Zwischen Nachtmahrs unheimlichen Augen blickte Gaal nun zudem die Spitze seines eigenen Schwerts an. Instinktiv hob der Spork den Schild etwas höher. Cerýllion legte Nachtmahr die Hände aufs modrige Fell und grinste böse. Der Geistertroll heulte vor Schmerz, seine Stimme spukte durch das ganze Gemäuer. Das Schwert von Theb Nor hob Nachtmahrs Arm und ließ den zuckenden Geistertroll sich zu Cerýllion umdrehen. Etwas konsterniert wich der Elf eine Stufe zurück und blickte fordernd zu Gaal. Der Spork zögerte nicht und packte sein Schwert, dessen Griff nun wieder ihm zugedreht war. Er riss die Waffe aus dem knackenden Trollschädel und schlug Nachtmahr quer durch den Rücken. Stinkendes untotes Blut spritzte an die Wände, die klaffende Wunde entblößte Nachtmahrs Wirbelsäule, doch die Klinge von Theb Nor in seiner Faust stieg höher und höher, bis sie fast mit der Spitze an die Decke reichte. Cerýllion wich eine weitere Stufe zurück und verschoss einen gleißenden Blitz aus den Augen in Nachtmahrs Brust. Es stank nach brennendem Fleisch und versengtem Fell, doch gleichzeitig ruckte das heilige Schwert nieder wie ein Henkersbeil. Cerýllion hielt der Klinge beide Hände entgegen und ließ Unmengen magischer Energie hindurchströmen, um sie aufzuhalten. Seine Nase blutete, seine Unterarme und Schultern verkrampften sich, doch die unbändige Kraft, die er dem heiligen Schwert entgegensetzte, bremste es tatsächlich kurz vor seiner Stirn. Diese Zeit reichte Gaal,

dem Geistertroll den Waffenarm abzuschlagen. Das Schwert von Theb Nor fiel mit einem unnatürlich leisen Klang auf die Treppe. Nachtmahr war noch immer nicht vernichtet, sondern taumelte von einem Fuß auf den anderen. Seine Wunden schlossen sich teilweise, aber schief und verwachsen. Cerýllion tupfte sich das Blut von der Oberlippe und sah auf seine zitternden Hände. Sein Gesicht verzog sich wütend. Trotz aller Erschöpfung jagte er einen weiteren Blitz in den untoten Körper, worauf dieser völlig zu verwachsen und zu zerfallen begann. Bald war nur noch ein bestialisch stinkender Fellklumpen von Nachtmahr übrig, aus dem einige schiefe Knochen und ein geborstener Schädel ragten. „Gehen wir“, seufzte Cerýllion, wischte sich den Schweißstrom von der Stirn und wankte langsam die Stufen empor. Es kostete ihn seine ganze Selbstbeherrschung, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr die Gegenwehr Nachtmahrs ihn in seinem Ego gekränkt hatte, ihn, den nahezu allmächtigen Zauberer, für den er sich hielt. Gaal stützte ihn nicht, denn der Spork wusste, dass Cerýllion sich auf keinen Fall würde helfen lassen. In diesem Punkt hatte der Elf das Wesen der Chimärier angenommen: Wer nicht auf eigenen Beinen stehen konnte, war nicht mehr würdig, frei zu leben. „Nimm das Schwert des Trolls mit“, befahl Cerýllion. „Und die Sporks sollen hier putzen.“

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28 „Ich kann uns beide für eine Weile unsichtbar machen, doch das würde mich erschöpfen“, raunte Mèra, während sie und Srrig sich einer großen Höhle mit einer von Sporks bewachten Festung näherten. „Es wäre aber der einfachste Weg, hineinzugelangen. Alle anderen Methoden wären auch erschöpfend“, erwiderte Srrig. „Und mit einem offenen Kampf gegen die Sporks würden wir Cerýllion warnen, selbst wenn es ein leichter Kampf sein sollte.“ Mèra musste nicht einmal nicken, um zuzustimmen. Sie legte dem Tigermann die Hand auf die Schulter. Beide blieben reglos stehen und verschwanden im nächsten Augenblick. Cerýllion warf sich mit einem Seufzer auf sein weiches Bett und wischte sich mit den Ärmeln über das Gesicht. Er breitete die Arme und Beine weit aus und schloss die Augen. Im nächsten Moment öffnete er sie wieder. Neben der Tür lehnte Mèra, gehüllt in ein hauchdünnes Seidenkleid, weiß wie Schnee. Der Ausschnitt schlängelte sich über ihre zarten Brüste bis zum Bauchnabel herab. „Gefällt es Dir?“, raunte sie lasziv und schwebte leichtfüßig auf sein Bett zu. „Extra für Dich hergezaubert.“ Sprachlos setzte Cerýllion sich auf und starrte seine ehemalige Gefährtin an, die er über Jahrhunderte hinweg zu hassen beschlossen hatte.

Mèra spreizte ein Knie weit ab und setzte es auf das Bett, bevor sie langsam auf allen vieren zu Cerýllion kroch. Er hatte sie verraten, betrogen und mehrmals zu töten versucht. Aber sie konnte an den Gefühlen, die sie noch hatte, einfach nichts ändern, und ersticken wollte Mèra sie auch nicht, egal wie sehr ihr die Vernunft dazu riet. Denn diese Reste ihrer Seele aktivierten wohltuende Kraftreserven und erinnerten sie somit an eine verdrängte Gewissheit: Ohne Gefühl kein Leben. Und sie musste alles tun, um zu überleben, das war ihre Pflicht als Dienerin der Götter. „Wieso ...“, begann Cerýllion mit brechender Stimme, aber Mèra legte ihm einen Finger auf den Mund. Ihre knisternde Nähe, ihr frischer Duft und die Wärme ihrer Haut zerbrachen Cerýllions Willen. Beinahe. Er wollte sich nicht so leicht überwältigen lassen, obschon er die ehemalige Liebe seines Lebens vor sich hatte. „Ich töte Dich“, keuchte er und legte die Hand auf ihr Herz – es raste. Kein tödlicher Zauber begann, Cerýllion ließ die Hand einfach liegen, erneut überrascht. Sie grinste wissend und schmiegte ihre Brust in seine schlanke Hand. Er sah in ihre Augen, in die Fenster zu ihrer Seele. Leidenschaft und Verlangen brannten dort. Nun ließ er sich bereitwillig von ihr ins Kissen drücken. „Ich wusste, dass Du eines Tages wieder klarsiehst“, raunte er, von Jahrhunderten des krampfhaften Hasses schlagartig befreit. Auch er klammerte sich an seine wenigen Gefühle, wie ein Ertrinkender an eine treibende Holzplanke. Der Hass war mit Mèras Erscheinen abrupt ins Gegenteil

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verkehrt worden, denn nun, da er sie leibhaftig vor sich sah, sie riechen und berühren konnte, versank er im Chaos seiner verkümmerten Gefühle und ließ sich ohne Gegenwehr mitreißen. Der Damm seiner Verdrängung war gesprengt worden. Cerýllions scharfer Verstand dahinter schrie: „Das ist eine Falle!“ Doch die Illusion, dass alles wieder wie früher zwischen ihm und Mèra sein konnte, war zu stark für seine zerrüttete Seele. Die übermächtigen Wogen, vom Damm befreit, rissen ihn einfach mit. „Du hast mich verraten!“, hauchte Cerýllion gequält im Liegen und schloss die Augen. Mèra ließ sich nicht mal ein kleines Stutzen ob dieser völligen Verdrehung anmerken, sondern stützte sich mit den Händen neben seinen Ohren ab und rieb ihre Hüfte an seiner. „Aber Du hast unseren Jahrestag vergessen, oder wo ist mein Geschenk?“, säuselte sie dabei und stupste seine Nase mit ihrer an. Fassungslos schaute Cerýllion ihr in die uralten Augen. Bevor er etwas sagen konnte, berührte sie seine Lippen mit ihren, so vorsichtig, als fürchtete sie sich davor. Für einen Lidschlag hielt die Zeit an. Dann explodierte die Lust in ihnen. Flirrende Lichterscheinungen und schwebende Gesänge geisterten durch den Raum und verschwanden wieder. Noch immer unsichtbar, stand Srrig in einer Ecke des Schlafzimmers und ließ die beiden nicht aus den Augen. Sein Herz schlug ruhig, seine Miene war entspannt. Er fühlte nichts und wartete auf Mèras Zeichen. Sie

würde mit eindeutiger Miene in seine Richtung blicken, spätestens wenn Cerýllion eingeschlafen war. Er ließ sie den Zeitpunkt bestimmen, damit sie in Ruhe Abschied nehmen konnte. Srrig dachte bei sich: „Zweitausend Jahre, und Cerýllion ist tatsächlich noch genauso eitel und arrogant wie früher. Von wegen, man kann sich ändern.“ So wie mit Cerýllion hatte er Mèra nie erlebt, als sie und Srrig noch ein Paar gewesen waren. Vielleicht lag es an der ungeheuren Zeitspanne, die Mèra keinen Gefährten mehr gehabt hatte, vielleicht lag es aber auch an Cerýllion. Auf jeden Fall spürte Srrig plötzlich eine gewisse Regung, während er Mèras Stöhnen zuhörte und ihre katzenhaften Bewegungen beobachtete: Neid. Lautlos schlich er ans knarzende Bett und hob seine unsichtbare Klinge, auch ohne Mèras Zeichen. Da sah er das heilige Schwert von Theb Nor auf einem Schränkchen ruhen. Es war zwar nicht unsichtbar, aber Srrig fühlte, dass es nach Cerýllions Blut gierte und ihm so gut es konnte helfen würde. Es wollte ebenfalls Rache, eine Emotion, die Srrig gut verstand. Zweifellos konnte eine Klinge dieser Macht ihre Aura tarnen, sodass Cerýllion es nicht einmal dann magisch würde wahrnehmen können, wenn er aktiv nach magischen Strömungen suchte. Und jetzt war der Elf abgelenkt und suchte ganz sicher nicht nach magischen Strömen und Mustern, außer nach denen, die Mèra für ihn wob, mit denen sie ihn umgarnte, einlullte, wohlig betäubte. Ohne ein Geräusch legte Srrig die alte Klinge weg und schmiegte die Finger um den Griff des heiligen Schwertes,

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des neuen Verbündeten. Es wurde in Srrigs Unsichtbarkeit einbezogen, verschwand scheinbar vom Schränkchen, aber Cerýllion bemerkte es nicht. Die Rache an Cerýllion vereinte die mächtige Klinge mit Srrig. Mèras Stöhnen wurde lauter und wilder, und auch von Cerýllion drangen nun Geräusche an Srrigs Ohren. Sie erfüllten ihn mit einer weiteren Emotion: Wut. N’rracorr regte sich. „Wir werden gemeinsam Hevanor beherrschen!“, stöhnte Cerýllion und rieb seine Finger um Mèras Taille. Das heilige Schwert wurde von neuem Glanz umspielt. Endlich kann ich den Sinn meiner Existenz erfüllen! Ich verurteile Dich im Namen der Götter zum Tode, Cerýllion! Für den Verrat an den Sterblichen, für den Verrat an der Königin der Elfen und für die Kollaboration mit dem Äußeren Volk, für die Unterstützung des Drachen Schattenwacht bei der Verbannung der Vier Könige und für zahllose Morde an Nachtelfen und anderen Wesen sollst Du nun den Tod finden! Cerýllion riss die Augen auf und hielt Mèras Hände fest. Mèra wurde ruhig und blickte hart zu ihm herab. Plötzlich lag eine drückende Stille im Raum. Cerýllion hörte ein Geräusch über sich – sein Kopf wurde sauber abgetrennt. Binnen weniger Lidschläge war das halbe Bett voller Elfenblut. Der Meisterschüler des Drachen war auf einen der ältesten Tricks überhaupt hereingefallen – aber nicht aus Dummheit, sondern aus innerer Zerrissenheit. Aus unsäglicher Einsamkeit. Mèra saß einfach da und hielt die Augen geschlossen. Eine einzelne Träne auf ihrer Wange verriet sie.

„Tag und Nacht, Wärme und Stärke, Du und ich ...“, hatte er ihr vor langer Zeit ins Ohr geflüstert. „Gut und böse“, hatte sie gedacht und geschwiegen. Sie sah N’rracorr in Srrigs Augen blitzen, während er auf die blutige Klinge stierte und bebte. Das heilige Schwert hatte dem Tigermann seine Wut erlaubt. Damit hatte es unwissentlich N’rracorr ein Schlupfloch in Srrigs Geist angeboten.

General Veydrag stand in der ehemaligen Höhle von Quirmó und ließ den Blick über die Leichen schweifen. Eine plötzliche Erschütterung in den magischen Strömen ließ ihn zusammenzucken. Ein mächtiges Wesen war gestorben, verstand er, ein Wesen, das dem Imperator wichtig gewesen war. Die Inferior flüsterten es Veydrag zu, und aus allen Stimmen in seinem Kopf ragte eine besonders bedrohlich heraus: Schattenwacht, der letzte Inferior in dieser Welt, war wütend. Nachdem das Brüllen in seinem Kopf sich besänftigt hatte, erhielt Veydrag neue Befehle vom Imperator persönlich. Veydrag würde sich an diesem Ort mit einem weiteren Verbündeten des Drachen treffen, so gern der General auch allein operierte. Doch jener Verbündete, ein Angehöriger des Äußeren Volkes, würde notwenig sein, um die Halbgötter zu stoppen, so hatte es der Imperator vorhergesehen. Der General wagte es nicht, dem Imperator zu widersprechen, Veydrag sei allein nicht mächtig genug. Immerhin, jener Verbündete hatte bereits eine sterbliche

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Dienerin der Halbgötter verflucht und gleichzeitig einen Tempelkrieger als Blutopfer erhalten. Für solch gekonnte Winkelzüge hatte Veydrag stets etwas Respekt übrig.

Athónon erinnerte sich nur undeutlich an einen Strand, auf dem ein toter schwarzer Drache lag. „Wunschträume“, scholt er sich und rieb sich die Augen. „Du hast doch kaum geschlafen!“, wunderte sich Laura und blickte Athónon vorwurfsvoll an, als er sich erhob. Die Halbelfin saß am kleinen Feuer und stocherte mit einem der letzten Äste aus Athónons Rucksack darin herum. „Ich brauche nicht viel Schlaf“, brummte der Gnom und streckte seinen knackenden Rücken durch. „Leg Dich hin. Du bist jung und brauchst durchaus noch Schlaf“, befahl er. In dem Moment kam Zeeris aus der Dunkelheit zurückgeflogen und rief freudig: „Die grauen Viecher haben sich verzogen! Wir können los zu den Nachtelfen!“ Athónons prüfender Blick ruhte auf Laura, dann meinte er: „Erst rasten wir noch ein paar Stunden.“ „Nein! Wir müssen Melek töten und den Fluch brechen!“, rief sie entschieden, sprang auf und schulterte ihren Rucksack. „Wer weiß, wie lange er noch in der Nähe ist! Ich könnte jetzt unmöglich einschlafen!“

Ein grau geschuppter Pýucaan, wie die Chimärier sich selbst nannten, stampfte schwerfällig die weißen

Marmorstufen des Drachenturms empor. Kleine Rußwolken stoben aus seinen Nasenlöchern, begleitet von einem rasselnden Schnaufen. Der alte Pýucaan hatte ein so breites Kreuz, dass seine Schultern die Marmorwände streiften und kratzten. Seine verkümmerten Drachenflügel wirkten lächerlich klein auf seinem Rücken und waren völlig erstarrt. An seinem schwarzen Eisenpanzer glänzte ein goldener Rand und auf der mächtigen Brust die goldene Wappenfaust des Imperators. In seiner linken Faust, welche die Größe eines Menschenkopfes hatte, ruhte ein dunkler Streitkolben. Dessen breite Dornen hatten die Größe von Menschenfingern. Die Krallen und Gesichtsdornen des Pýucaan waren ähnlich dick, viel dicker als bei anderen seiner Art. Dass sie abgesägt worden waren auf die normale Länge, war leicht an der breiten Schräge zu erkennen, mit der sie endeten. Das rechte Auge des Pýucaan verdeckte ein abgewetzter Lederstreifen. Auf der zernarbten Bronzehaut dieser Gesichtsseite waren die zersplitterten Schuppen nicht nachgewachsen. Das gesunde Auge strahlte hingegen stark und jung wie eine goldgelbe Morgensonne in der eingefallenen Höhle – ein überraschender Kontrast, von dem angenommen wurde, dass er auf die überragenden Zauberkräfte dieses Pýucaan zurückging, des obersten Magiergenerals des Imperiums. Hinter ihm trug ein jüngerer und weitaus kleinerer Pýucaan eine unterernährte, nackte Elfin über der Schulter. Ihre Haut war totenbleich. Schwarzer Flaum bedeckte leidlich ihren Schädel. Sie war nicht gefesselt, doch ihr apathischer Blick auf die Füße ihres Trägers verriet, dass

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sie nicht fliehen würde. Vermutlich hätte ihr dazu ohnehin die Kraft gefehlt. Ihre fahle Haut lag schlaff über den Knochen. Blasse Runen liefen über ihre Arme und Beine. Die beiden Pýucaani traten ins Freie. Kalter Wind toste in dieser Höhe mit unermüdlicher Kraft und ließ die roten Flaggen wild über den Zinnen flattern. Vom höchsten Punkt der Hauptstadt Pýur aus, von den Zinnen des verwaisten Drachenturms, waren die beiden Soldaten fast auf Augenhöhe mit den zahlreichen Gipfeln ihres Landes, welche die riesige Stadt im Westen und Süden einschlossen. Der marmorne Drachenturm war so groß, dass eine ganze Kompanie darauf hätte antreten können. In der Mitte befand sich nichts, nicht ein einziger Kratzer. Der Imperator ließ jegliche Spuren seines Landens und Abhebens regelmäßig durch Zauberei verschwinden. „Leg sie ab und nimm Haltung an“, murmelte der Magiergeneral mit einem Ton, der zwischen müder Unlust und Wachsamkeit hin- und hergerissen war. Auch der General straffte sich ein wenig, während der andere Soldat eilig den Befehl ausführte. Zunächst einer Statue gleich, blieb die Elfin am Boden liegen, wie sie abgelegt worden war. Nur der kalte Höhenwind sorgte in den Flaggen für Lärm und Bewegung. Langsam erschlaffte die Elfin, mit dem Gesicht in der Armbeuge endete ihre Bewegung. Sie schien bloß noch ein weicher Klecks auf dem Marmor zu sein. Der schwarze Drache schoss durch die Welt der Geister. Hier war er hundertmal schneller als in der stofflichen

Wirklichkeit. Die feindseligen Geister, die magischen Strudel und anderen Gefahren dieser Ebene konnten ihm nichts anhaben. Auch die Orientierung fiel ihm leicht: Sein Drachenturm glich in der Geisterwelt einem Leuchtfeuer, das bis in größte Ferne sichtbar blieb, wenn man es verstand, hier zu sehen. In einem fernen Land eines anderen Kontinents, den weder Pýucaani noch Niedere kannten, hatte der Drache seinen Fleischhunger gestillt. Nicht, weil er keine näheren Fleischvorräte gehabt hätte, nicht, weil seine Untertanen ihn nicht dabei hätten beobachten dürfen, nein, aus Spaß. Weil er es konnte. Und weil die Geschöpfe jenes fernen Landes von keiner höheren Macht beschützt wurden. Schattenwacht, in der Sprache der Pýucaani Rashkýnwor genannt, liebte seine Auftritte, egal wo und in welcher Funktion. In der Fremde trat er als feuerspeiende Bestie auf, setzte Hütten in Brand, zerfetzte die Fliehenden im Flug und fraß dann ein paar. Vor seinem Volk gefiel er sich in der Rolle als ebenso weiser wie brutaler Drache, als ebenso gerechter wie erbarmungsloser Imperator. Er verkörperte auf perfekte Weise kaltes effizientes Handeln, was die Pýucaani als edelsten aller Wesenszüge ehrten. Gegenüber den Göttern musste er die Rolle eines Sphärenhüters spielen, der in der Geisterwelt darüber wachte, dass weder Inferior noch Angehörige des Äußeren Volkes in die Welt der Sterblichen eindrangen. Diese Rolle hasste er am meisten. Doch beherrschte er sie meisterlich. Die Götter ahnten nichts von seinem doppelten Spiel. Sie tolerierten sogar die Eroberungen der Pýucaani, nicht zuletzt, um zu sehen, wie ihre eigenen Geschöpfe dabei

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abschnitten. Sie hatten Schattenwacht zwar verboten, sich wie früher persönlich in Kämpfe einzumischen, doch dieses Scheinzugeständnis war dem Drachen leicht gefallen: Sterbliche abzuschlachten war ohnehin ein Hobby, das schnell langweilig wurde. Die winzigen Wesen konnten sich ja nicht wehren. Zudem hatten sie gegen seine Soldaten keine Chance im offenen Kampf und sein Eingreifen war überflüssig, seit die Dämoniden besiegt waren. Die heutigen Götter wussten noch, dass Schattenwacht einst einer von ihnen gewesen war. Als die echten Inferior in einer vergessenen Epoche auf Hevanor gewütet und die Dahnrud beinahe aus der Wirklichkeit vertrieben hatten, war einer der neugierigsten und ehrgeizigsten Götter durch eine magische Seelenwanderung in den Körper eines Jungdrachen geschlüpft. Viele alte Götter hatten dem verwüsteten Hevanor da bereits den Rücken gekehrt. Schattenwacht hatte seine Dracheneltern heimtückisch ermordet und unerkannt unter den anderen Inferior gelebt, bis zu deren Verbannung vor über siebentausend Jahren. Seine Rechte als ursprüngliches Mitglied der Götter geltend machend, war Schattenwacht als einziger Drache auf Hevanor zurückgeblieben, doch glich dies einem Exil. Nun schien die Zeit zu kommen, da die Inferior zurückkehren sollten. Längst fühlte Schattenwacht sich ihnen mehr als den Göttern zugehörig. Sie strebten nach Stärke und waren keine verweichlichten Forscher. Doch würden die Inferior seine wahre Geschichte kennen, sie würden Schattenwacht bei ihrer Rückkehr töten. Ein wenig musste er also auf den Willen der Götter achten. Denn auch wenn die Inferior ihnen

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nicht leichtfertig glauben würden, könnten die heutigen Götter zweifellos auf die eine oder andere Art beweisen, wer Schattenwacht wirklich war. Die wenigen alten und mächtigen Götter, die noch immer hier waren, konnten Schattenwacht zudem persönlich gefährlich werden. Auch die Vier Könige kannten sein Geheimnis. Darum mussten sie sterben, bevor er die Inferior zurückholte. Ihr Tod durfte jedoch nicht direkt mit Schattenwacht in Verbindung zu bringen sein. Gemeinsam mit dem Äußeren Volk würden die Inferior und Schattenwacht die letzten Götter fortjagen und Hevanor unter sich aufteilen. Auch die Dahnrud würden sich heraushalten, wussten sie doch, dass die Inferior die älteren Rechte auf diese Welt besaßen und ihr Brudervolk ohne die Hilfe der Götter vernichtet hätten. Solange an den Urströmen der Magie nichts verändert wurde, gab es für die trägen und willensschwachen Dahnrud auch keinen Grund, sich einzumischen. Mit der Magie lebten sie in Symbiose, auf deren Existenz waren sie angewiesen. Zauberei störte sie jedoch nicht, denn selbst die größten Zauber von Sterblichen waren bloß winzige Schwankungen in den Magieströmen, welche die Welt umspannten. Jene Ströme waren einzigartig in allen Welten und hatten die Götter überhaupt erst vor neun Jahrtausenden hergeführt, ebenso wie die Amdovenn später. Doch die Götter besaßen viele Welten, um die sie sich kümmern konnten, und die Magie war ein Phänomen, das sie inzwischen zur Genüge erforscht hatten. Entsprechend war ihr Interesse an den primitiven Lebensformen verebbt, die nun von den heimatsuchenden Amdovenn bedroht wurden.

Der Drache näherte sich seinem Turm und damit der Tagespolitik, die ihn erst kürzlich zu ärgern begonnen hatte. Die große, aber primitive Menschenstadt Silberberg könnte unter einem einzigen Ansturm der Pýucaani fallen, doch Schattenwacht hatte bisher nicht angreifen dürfen. In der Stadt, die sich unter der inoffiziellen Kontrolle des lästigen Königskultes, Anbetern der Vier Könige, befand, lagerte ein gefährliches Artefakt. Einmal ausgelöst, hätte es die Fähigkeit, die Vier Könige in alter Stärke zu befreien und zur Stadt zu beschwören. Zwei Könige waren längst befreit. Ginge es nur um sie, wäre die Erpressung hinfällig. Doch der König, den Schattenwacht wirklich fürchtete, war T’ral. Der gottgleiche Feuerbringer. Srrig und Mèra durften ihn auf keinen Fall erreichen. „Kleine Narren! Bis zum Ende des Jahres habe ich das Artefakt an mich gebracht und Euer Silberberg zertreten!“, dachte Schattenwacht wütend. Jegliche Operation gegen den Königskult war riskant. Ein einziger Augenblick würde einem Zauberer reichen, das Artefakt auszulösen, und dann würde es seinen Zweck erfüllen. Möglicherweise würde das Aktivieren eines solch bedeutsamen Gegenstands zudem das gequälte Stillhalten der Götter beenden, würde sie zum genaueren Hinsehen bewegen und an ihr Gewissen appellieren. Einige weichherzige Narren unter ihnen suchten nur nach einem Vorwand, ihresgleichen endlich umzustimmen und in Schattenwachts Eroberungsfeldzug einzugreifen, ihn gar seiner Position als Sphärenwächter zu entheben. Aus ihrer Sicht wäre es eine Präventivmaßnahme, noch lagen keine Beweise gegen Schattenwachts Intrigen vor.

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Und dann war da noch das Runenexperiment. Es dauerte viel zu lang. Schattenwacht wollte es längst abgeschlossen sehen. Die Pýucaani experimentierten seit vielen Jahren mit den Runen der Inferior. Sie zwangen die Runen auf die Haut von Niederen, insbesondere Nachtelfen, um keine eigenen Leute zu verlieren. Doch nur auf der Haut von Lebewesen zeigten die Runen überhaupt Reaktionen. Normalerweise wurden die Träger von künstlich geschaffenen Inferior-Runen früher oder später wahnsinnig. Jetzt war ein Wurf von Nachtelfen mit den Runen auf die Welt gekommen, der länger als jeder andere durchgehalten hatte. Überhaupt eigneten sich Nachtelfen von allen Völkern am besten für magische Experimente, vielleicht aufgrund ihrer magischen Herkunft. Mèra sei Dank. Nur noch wenige lebend geborene Mädchen waren im ersten Monat mit irrem Kreischen gestorben. Die Magier sorgten dafür, dass nur Mädchen geboren wurden, denn ihnen schrieben sie weniger aufsässiges Verhalten zu. Von den Überlebenden war bloß ein Drittel tot nach einem ganzen Monat, das war imperialer Rekord. Einige waren im ersten Jahr verendet, ein paar an den für die Experimente üblichen Missbildungen, ein Mädchen durch unkontrollierbare Zauberkraft und eins durch schwindenden Geist. Doch einige waren nun, anderthalb Jahrzehnte später, schon beinahe ausgewachsen, und die Runen ließen sich immer noch nicht aktivieren. Durch das Runenexperiment sollte den verbannten Inferior ein Tor geöffnet werden. Schattenwacht erwartete seinen Magiergeneral Tholark, der ihm ein Probeexemplar

eines der aktuellen Würfe präsentieren sollte, damit der Imperator die Qualität der Runenkraft überprüfen konnte. Nur wenn die Runen stark genug waren, konnte er Phase zwei des Experiments einläuten, die Errichtung des Tores. Erneut dachte er an Silberberg. Dass ein Haufen Niederer es wagte, ihn, Schattenwacht, so zu ärgern, das mächtigste Wesen der Welt! Er brüllte im Flug, noch immer auf der surrealen Geisterebene. Viel zu schnell schoss er auf seinen Turm zu. In einem dunklen Traum hatte er zudem vorhergesehen, dass die Niederen ihn mit einer jener Nachtelfinnen erpressen würden, die seine Runen trugen. Sich dieses Maß an Dreistigkeit auch nur vorzustellen, eine zweite Erpressung, trieb ihn umso mehr dazu, Hevanor so schnell wie möglich unterjochen zu wollen. Der harsche Wind hatte auf einmal etwas Wehmütiges. Das Marmorweiß schien bloß noch bleich und die schwarzen Adern im Stein wurden zum Symbol für eine unnatürliche Krankheit. Was es auch sein mochte, was plötzlich im Wind lag – ferne Geisterstimmen, ein böser Atem, eine dunkle Seele – das Etwas schnürte die Kehlen der Pýucaani zu und ließ ihre Herzen angstvoll beschleunigen. Nicht, dass sie je Angst gezeigt hätten, doch ihre Körper reagierten. Eine unsichtbare Kraft schoss plötzlich gegen sie. Für einen Moment fühlten sie ihre Körper nicht, sahen sich nur stumm zu, wie sie einen Schritt zurücktaumelten. Es gab keine Farben mehr, bloß graue Schemen auf einem unwirklichen Drachenturm mit schwarzen Pulsadern. Der

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Wind wurde zu einem infernalischen Heulen. Plötzlich stand alles still. Dann riss der Himmel mit einem qualvollen Schrei auf, Blut zuckte aus der Sphärenwunde und verschwand wie Atemwölkchen im Winter. Aus der Wunde brach der schwarze Drache wie ein Speer heraus, der Fleisch durchstieß. Er riss Sphärenblut und Hautfetzen des Himmels mit sich, die binnen eines Lidschlags auf seinen Schuppen verdampften. Der Himmel schien eine Narbe zu behalten, eine unnatürliche Wolkenformation, in der lautlos braune Lichter blitzten. Mit einem Schlag seiner mächtigen Flügel kehrte der Wind zurück. Schattenwacht ließ sich den letzten Meter zum Turmboden fallen. Der Marmor donnerte dumpf und vibrierte unter den Füßen der beiden Pýucaani. Wie der Drache die Flügel einfaltete und sich aufrecht hinsetzte, sahen sie nicht bewusst, denn sie waren augenblicklich gefangen von den glutroten Augen ihres Imperators, die auf sie herabstachen. Auch den Hauch edlen Goldglanzes, den die schwarzen Schuppen im Sonnenlicht besaßen, nahmen sie nicht wahr. Aus dem Nasenloch des jüngeren Soldaten quoll ein dicker Tropfen gelben Blutes, ohne dass er es bemerkte. Schattenwacht sprach ohne Gruß in den Köpfen seiner Geschöpfe. „Was ist mit der Laborelfin? Wieso liegt sie am Boden?“ General Tholark meldete: „Mein Imperator! Sie stirbt, wie alle Mädchen, die sich dem Erwachsenenalter nähern. Aber die Runen sind stark in ihr.“ Seiner

alten Stimme war keine Gefühlsregung in irgendeine Richtung zu entnehmen. „Die Runen sind blass und schwach!“, knurrte der Imperator. Er betrachtete die Nachtelfin eingehend. Tholark ließ seinem Herrn einen Moment Zeit dafür, bevor er antwortete: „Herr, die Experimente belegen, dass wir kurz vor einer stabilen Verzauberung stehen. Auch die zerstörerische Wirkung auf die Gesundheit der Probanden ist dann irrelevant. Sie müssen ja nicht lange überleben. In einem anderen Labor wird außerdem mit einem noch erfolgreicheren Wurf experimentiert, der über bessere Gesundheit und deutlichere Runen verfügt. Dort gehen ihnen jedoch die Exemplare aus, sodass ich von dort keins mitbringen wollte.“ Für einen Moment erstarrte der Imperator. Nur seine Augen loderten auf den General herab. Brüllend und einen Flammenstoß in die Luft jagend, holte Schattenwacht mit der gigantischen Pranke aus und donnerte sie mit aller Macht auf die Elfin. Der Marmor platzte, der Turm bebte. Unmittelbar vor den Pýucaani stanzten die goldenen Krallen des Drachen Löcher in den Stein. Unter seiner Pranke quoll das Blut der Nachtelfin hervor, von ihrem Körper waren nur noch die Beine zu sehen. „Meine Geduld ist verbraucht!“, zischte die Drachenstimme in Tholarks Kopf, während die wütenden Augen Schattenwachts auf ihn herabbrannten. Der Drache schob den riesigen Kopf nah zu Tholark herab, sodass der General die flirrende Hitze aus den Nasenlöchern spürte. Schattenwachts Kralle näherte sich ihm wie ein

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Schwert. „Diese Qualität reicht noch nicht. Ziehe eine weitere Kompanie zur Forschung ab. Die Zeit drängt! Wegtreten!“ Schattenwacht schnaubte voller Verachtung durch die Nase. Heiße Asche und Glutkörnchen stoben dem General ins Gesicht. „Und nimm die Reste mit“, fügte der Drache hinzu. Er hob demonstrativ die bluttriefende Pranke und leckte sie sauber, während er die Pýucaani keines weiteren Blickes würdigte.

29 Athónon hatte Laura mehr von seinen Visionen erzählt, und immerhin befand sie sich in der Begleitung von Halbgöttern. Doch Laura selbst war zu unbedeutend, um als Hauptfigur in einem göttlichen Plan aufzutauchen – hatte sie bis eben geglaubt. Jetzt aber hatte sie Mèra im Traum gesehen und den Tod des Widersachers Cerýllion. Vielleicht hatte Mèra ihr diesen Traum geschickt, das wusste sie nicht. Doch sie hatte erfahren, dass Melek wieder sichtbar war, da Cerýllion den Zauber nicht mehr aufrechterhalten konnte. Und sie wusste, wo sie ihn finden würde. Ruckartig öffnete sie die Augen und setzte sich auf. Schweiß benetzte ihre Stirn. Sie schnaufte durch die Nase und strich ihre Locken hinter die kurzen Spitzohren. Neben ihr glomm der winzige Rest des Lagerfeuers und spendete kaum noch Licht oder Wärme. Laura inhalierte die kühle Höhlenluft und lächelte grimmig. Athónon, der auf einer Rast für Laura bestanden und selbst angeblich keinen Schlaf mehr gebraucht hatte, saß an die Wand gelehnt und schnarchte. „Du wirst alt, mein Freund“, flüsterte Laura. Auch Zeeris schlief. „Zu viele Flugstunden?“ Ihre Augen blitzten spöttisch. Ihre Miene wurde traurig, denn sie mochte die beiden. „Doch Du hast selbst gesagt, dass Schattenwacht durch Deine Augen sehen kann, Athónon. Er kann mich sehen! Wir gehen nun getrennte Wege. Ich töte Melek und folge Mèra.“

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Das magische Amulett um ihren Hals versuchte, sich in ihre Gedanken zu drängen. Doch sie vertraute der Seele dieses Dings so wenig, wie sie Srrig noch länger traute. Das Amulett hatte sie und Athónon zu entzweien versucht. Dass dies auf Drängen des Gnoms geschehen war, als er noch dachte, er müsse sich opfern, ahnte sie nicht. Und Srrig war ohne Abschied verschwunden, direkt nachdem er sie als seine Schülerin bezeichnet hatte. Laura riss das Artefakt ab und warf es in den Gang. Nur auf Mèra wollte sie fortan hören, die gütige falsche Göttin. Sie schnallte sich das Schwert um und angelte leise eine Fackel aus Athónons Rucksack. Dann erhob sie sich, vorsichtig, um Gnom und Teufelchen nicht zu wecken, und wich einige Schritte von ihnen fort. Sie wandte sich ab und ging allein in die Dunkelheit. Athónon schlief schon lange nicht mehr und sah ihr nach, regte sich aber nicht. Er hatte alles gesagt, was er zu sagen gehabt hatte, und würde Laura nicht nachlaufen. Sie musste ihren Weg finden und aus eigener Kraft daran wachsen. Wenn ihr Weg heute endete, so musste Athónon den Ratschluss der Götter hinnehmen. Doch die dickköpfige Jugendliche würde nicht auf ihn hören, wenn er ihr zu bleiben befahl, da sie sich längst anders entschieden hatte. Als sie etliche Schritte zwischen sich und Athónon gebracht hatte, zog Laura das Schwert und kreuzte es mit der Fackel. „Mein Stolz wird immer schwelen. Und obwohl er mich nicht verbrennen darf, soll er doch diese Klinge wie Feuer führen und mir nützen!“ Laura spürte einen Widerhall ihrer Seele in der Klinge, Wärme ging vom Eisen aus. Plötzlich schoss eine

Stichflamme aus der Spitze zu Boden und auch die Fackel loderte hell. Die Flammen umtanzten das Eisen, bis Laura weiterging. Der Griff brannte heiß, aber sie hielt ihn ganz fest. Mit erhobener Fackel ging sie auf ihre Bestimmung zu und freute sich, dass ihr erstes magisches Experiment tatsächlich gelungen war. „Nur allein wird Melek sich mir stellen“, flüsterte sie. Und sie wollte ihn auch unbedingt allein besiegen, wollte ohne Zweifel beweisen, dass seine Lebensweise der ihren mitnichten überlegen blieb. „Rache für Taffi!“, zischte sie und fühlte doch nur Rachedurst für ihre eigenen Schmerzen. Srrigs Forderung nach mehr Ehrlichkeit ihr selbst gegenüber schien über Mèras Traumsendung vergessen. In einer Höhle voller tropfender Stalaktiten blieb sie stehen. Melek stand einfach da und war nicht überrascht, dass sie ihn sehen konnte. Vor Müdigkeit hielt er sich kaum noch auf den Beinen. Tiefbraune Augenringe, Brandblasen und versengtes Haar entstellten sein Gesicht. Die Kraft seines Hasses war erloschen. Laura warf ihm die Fackel vor die Füße und knurrte: „Bringen wir es zu Ende!“ Melek nickte, rührte sich aber nicht. „Du hast noch eine Chance“, sagte er leise. „Lass uns gemeinsam ein Kind aufziehen, was sagst Du dazu? Wir sind doch beide verstoßene Waisen. Wir sind uns so ähnlich!“ So scharf sein Verstand auch arbeitete, im Reden war Melek unsicher. „Wir uns ähnlich?“ Laura unterdrückte ein verächtliches Lachen. Sie schnaubte durch die Nase und schüttelte langsam den Kopf. „Ich töte Dich.“

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„Wir haben doch nur falsch angefangen. Lass uns den Streit vergessen. Reden wir.“ Der schattenreiche Fackelschein gab seinen Brandwunden etwas Albtraumhaftes und seine Züge blieben die eines verkniffenen Jungen, der kaltblütig mordete. Lauras Mund öffnete sich unwillkürlich vor Staunen. „Wie kannst Du es wagen, nach allem, was Du ...“ Er trat einen Schritt auf sie zu und warf seinen Dolch weit von sich ins Dunkel der Höhle. „Ich meine es ernst.“ Unbeholfen zuckte er mit den Schultern und drehte die Hände hin und her beim Sprechen. „Ich habe lange nachgedacht, wie es sein würde, Dich zu treffen. Ich mag Dich sehr.“ Seine Miene blieb selbstgefällig, seine Augen kalt. „Du hast mich verflucht!“, schrie Laura ihn an und hob das Schwert zum Schlag, stand aber noch außer Reichweite. Meleks Schultern sackten zusammen und er ließ den Kopf hängen. Wenn er sie mit Worten bloß narren wollte, spielte er jetzt sehr überzeugend. „Alles tut mir so leid“, raunte er und biss sich auf die Lippe. Sein Gesicht wurde trauriger. „Ich hab nichts Gutes gelernt, so wie Du. Wir sind uns trotzdem sehr ähnlich.“ „Wie kannst Du es wagen, mich derart zu beleidigen?“, schrie Laura ihn an. „Wir haben gar nichts gemeinsam!“ Sie bebte. Melek grinste dünn, denn er sah in ihren Augen, wie klar ihr war, dass er recht hatte und sie es nur nicht wahrhaben wollte. „Ich will Dich nicht beleidigen“, erklärte er. „Wir sind wie Tag und Nacht, aber manche Dinge haben wir doch gemeinsam. Unseren festen Willen,

eigene Wege im Leben zu finden, beispielsweise. Niemand hat uns Vorschriften zu machen. Wir genießen das Gefühl von Macht. Wir sind Außenseiter und Waisen.“ Lauras Schwert sank herab. „Du hast mich verflucht!“, wiederholte sie hasserfüllt. Melek trat so nah an sie heran, dass er einen Arm ausstrecken und ihre Schulter berühren konnte. Sie zuckte jedoch zurück, als seine Fingerspitzen ihr Kettenhemd streiften. Sofort hob sie das Schwert wieder und funkelte ihn böse an. „Ich muss Dich töten, um den Fluch zu brechen! Verdient hast Du es sowieso!“ Für einen Augenblick blitzten Meleks Augen böse und er grinste angriffslustig. Doch schnell zwang er sich wieder zur Ruhe und blieb gelassen stehen. „Ja, ich habe viel Böses getan“, raunte er. „Und doch sind so starke Seelen wie unsere äußerst selten. Kannst Du nicht jeden Verbündeten gebrauchen?“ Schritt um Schritt wich Laura zurück. „Das meinst Du nicht ernst!“, zischte sie und schüttelte ungläubig den Kopf, das Schwert schützend vor sich. Melek blieb reglos stehen. „Doch“, antwortete er trocken. Seine Miene wurde immer verkniffener, presste selbst das letzte feine Grinsen aus seinen Mundwinkeln. „Es tut mir wirklich leid! Ich möchte nicht mehr so leben wie bisher. Ein böser Geist brachte mich als kleines Kind dazu. Seine Besessenheit wirkt bis heute nach, aber sie wird schwächer. Wir brechen Deinen Fluch irgendwie und Du verhängst eine Strafe über mich. Aber lass uns nicht mehr gegeneinander kämpfen.“ „Irgendwie den Fluch brechen, was?“, zischte Laura. „Die einzige Lösung ist Dein Tod.“ Sie biss die Zähne

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zusammen, doch konnte sie sich nicht dagegen wehren, dass Srrigs Lektion über das Töten ihr durch den Kopf schoss. Melek stand unbewaffnet und verbrannt vor ihr und behauptete, als Kind von einem Geist zu dem gemacht worden zu sein, was er war. Angeblich wollte er sich ändern. Wenn sie ihn jetzt erschlug, wäre sie eine kaltblütige Mörderin und nicht besser als er. Ihr dunkles Erbe wogte auf. Rachedurst ließ ihre Schwertfaust zucken. Aber ihr Willen war stärker und klammerte sich an Srrigs Mahnung. Sie wollte nicht kalt wie Stein werden, nur um eine Kriegerin zu sein. Lieber wollte sie Großmut beweisen und einem Gefallenen die Hand reichen, um ihm eine zweite Chance zu geben. Melek schien ihr aufrichtige Reue zu zeigen. Sie nahm die Rolle der Überlegenen an, die Meleks Leben in der Hand hielt. „Wie brechen wir den Fluch?“, fragte sie streng und hob das Kinn, um auf den Unterlegenen herabzublicken. „Ich weiß es nicht“, erwiderte Melek ehrlich und näherte sich um einen weiteren Schritt. Sofort versteifte Laura sich, ihre Augen blitzten warnend auf. Er unterschritt dennoch ihre gewünschte Distanz und berührte sie erneut an der Schulter. Diesmal hielt sie still und starrte auf seine Hand. Ihre Klinge schwebte zwischen seinen Beinen. Trotzdem kam er noch näher und schaute ihr ernst ins Gesicht. Seine Arroganz war einem stummen Flehen gewichen. Seine zweite Hand berührte ihre andere Schulter. „Gib mir diese Chance, bitte!“, flüsterte er. Sein Atem stank und seine Mundwinkel zuckten unmerklich nach oben.

Laura glaubte, ihn nun durchschaut zu haben. „Du willst mich bloß reinlegen!“, schrie sie und schlug ihm die linke Faust ins Gesicht. Ihr war selbst noch unklar, weshalb sie seinem Treiben kein Ende mit der Klinge setzte. Melek musste sich mit einem Schritt zur Seite abfangen und hielt sich den Kiefer. Die Wut in seinen Augen verrauchte jedoch schnell. „Ich lüge Dich nicht an!“, beteuerte er. „Aber wie brechen wir den Fluch, wenn nicht durch Deinen Tod?“, beharrte Laura und drohte ihm mit dem Schwert. „Ich weiß es nicht“, gab Melek zu und senkte den Blick. „Aber ich bin sicher, dass einer Deiner Begleiter so etwas weiß, oder einer der Nachtelfen.“ „Mèra ist fort. Aber Myándirel ist ein großer Zauberer und kennt sich damit aus“, fiel Laura ein. Sie starrten einander lange an. Tatsächlich entdeckte sie ihr eigenes inneres Feuer in seinen Augen. Sie beide gewannen Kraft aus ihrem Hass und Stolz. Melek trat nah vor Laura und schob seine Hände um ihre Hüfte. Das Schwert hing nur noch locker in ihrer Faust. Sie erschrak vor sich selbst, weil sie ihn gewähren ließ, rührte sich aber nicht. Seine rissigen Lippen kamen näher, sein Atem stank nach faulem Zahn. Plötzlich griff er ihre Locken, riss ihren Kopf zur Seite und biss in ihren Hals. Seine andere Hand stieß unter das Kettenhemd und packte ihre Brust. Das Schwert fiel zu Boden. Lauras Hände streiften über Meleks Rückenmuskeln. Einen Schenkel rieb sie an seinem. Melek hob sie an, rammte sie gegen die Höhlenwand und presste die Hüfte gegen ihre. Laura verleugnete ihre Gier nach Gewalt nicht länger, mit der sie früher so oft angeeckt

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war. Ihre Herzen rasten, atemlos verschlangen sie sich ineinander. Sie warfen sich gegen den Fels und zu Boden, kratzten sich blutig und wurden zu einem zuckenden und stöhnenden Fleischknäuel.

Lauras Bauch und Brüste wurden eisig auf dem Fels. Ihre Haut brannte von den tiefen Kratzern, die spitze Steine und Meleks Fingernägel gerissen hatten. Melek lag nackt auf ihrem Rücken und schlief endlich, hielt aber noch immer ihre Handgelenke fest. „Was habe ich getan?“, stöhnte sie und riss die Augen auf. Das Kettenhemd lag neben ihr, die Fetzen ihrer Tunika und ihres Brusttuches hingen an ihren Armen. Hose und Lendentuch hingen an ihren Knöcheln, die Stiefel trug sie noch. Nur langsam sammelte ihr Bewusstsein sich wieder und bestätigte, dass sie nicht bloß einen unappetitlichen Traum gehabt hatte. Sie war abermals von ihrem verhassten Menschenerbe überwältigt worden, ihre Fassade hatte nicht standgehalten. Melek hatte gewonnen und sie hatte sich nicht mal gewehrt. Mit tränenden Augen schüttelte sie seinen schlaffen Körper ab, sprang auf und zog sich so weit an, wie ihre Kleidung nicht zerrissen war. Melek öffnete die Augen und lächelte sie verschlafen an. Laura rannte zu ihrem Schwert. Zähnefletschend stürmte sie auf Melek los, aber der blieb liegen und hob abwehrend die Arme. „Ich dachte, wir hätten uns vertragen?“, fragte er vorwurfsvoll und schien ehrlich überrascht. „Lass uns lieber ein Feuerchen und Tee machen!“, schlug er vor.

Seine Augen blitzten dämonisch, verrieten seinen Spott und sein Triumphgefühl. Laura wankte rückwärts, ihre Knie wurden weich. Ungläubig blinzelte sie ihre Tränen fort, sie schniefte und schluckte. Sie hatte sich geirrt: Sie wäre keine kaltblütige Mörderin, wenn sie ihn tötete. „Wenn irgendjemand den Tod verdient, dann Melek!“, schoss ihr in den Kopf. Srrigs Lektion galt nicht für diesen Fall. Sie wäre die legitime Richterin und Henkerin eines Monsters, tat ihre Pflicht und würde sich obendrein von seinem Fluch befreien. Nur das Ergebnis zählte für sie. Zwar galt ein Teil ihrer Wut sich selbst, weil sie dem widerwärtigen Erzfeind verfallen war. Doch sie lenkte diese Wut auf Melek um. Fieberhaft suchte sie einen Weg, ihre Skrupel zu verlieren, ihn zu töten, aber ihr Gesicht dabei zu wahren – ihre Heldenfassade, die sie krampfhaft zu erhalten suchte. Er würde weitermorden, wenn sie ihn nicht aufhielt. Denn gerade weil er ihr so ähnlich war, würde er sich keinesfalls von einem Tag auf den anderen ändern. So wenig, wie sie es konnte. Plötzlich schien ihr alles sonnenklar. Wegen ihres väterlichen Erbes, das sie Melek so ähnlich machte, war sie ihm zuvor unterlegen. Doch nun drehte sie den Spieß um. Sie nutzte das Wissen über ihn, das sie ebenfalls jenem Erbe verdankte, um sein Schauspiel zu enttarnen und seinen Tod zu rechtfertigen, ohne selbst dem Bösen zu verfallen. Sie verwandelte ihre dunkle Seite in etwas Nützliches, so wie sie zuvor ihren Stolz als zusätzliche Kraft zu nutzen versucht hatte, anstatt sich vom Stolz in Schwierigkeiten bringen zu lassen.

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Laura kam bebend näher und fletschte die Zähne. Melek sah die Mordlust in ihren Augen und schob sich auf die Knie. Sein Gesicht verfinsterte sich. „Wie Du meinst!“, zischte er und sprang zu seinem Dolch. „Lass mich gehen, dann siehst Du mich nie wieder.“ Ich hoffe auf ein Kind von Dir und dass Du es großziehst, um meinen überlegenen Weg zu würdigen und meinen Fortbestand zu sichern. „Aber greif mich an und ich töte Dich.“ Laura drängte ihren Hass zurück und wurde ruhig. Kalt, entgegen Srrigs Warnung, Gefühle im Krieg zu ersticken. War ein gefühlloser Halbgott ein schlechter oder gerade ein guter Lehrer für solch eine Frage? So sehr sie verabscheute, was sich unter Srrigs Oberfläche befand, seine Lektion bei den Verwundeten hatte sie viel gelehrt. Zudem war sie besser bewaffnet und Melek müde. Er spürte sofort an Lauras festem Blick und ihrer geraden Haltung, dass sie keine Angst mehr vor ihm hatte. Melek zögerte, wurde unruhig, fuchtelte mit dem Dolch herum und versuchte, Laura mit einem gehässigen Grinsen zu provozieren. „An den Gestank Deiner Füße werde ich mich immer erinnern!“, feixte er. Laura schwieg und rührte sich nicht. Meleks Unruhe und seine verkrampfte Haltung bestärkten sie darin, dass er den Kampf schon verloren hatte, bevor sie die Klingen kreuzten. Er sprang vor, doch dass sein Dolchstich nur eine Finte war, erkannte sie an der unentschlossenen Armbewegung. Sein Tritt, der unter dem Dolch hervorschoss, überraschte sie nicht. Sie riss das Schwert zur Seite in seinen

unbedeckten Innenschenkel, zog es mit einem Schnitt zurück und sah gleichzeitig gelassen auf die Dolchspitze vor ihrem Gesicht. Als Melek vor Schmerzen schrie und mit dem Dolch ihre Lippen zerschneiden wollte, lehnte sie sich zurück und er verfehlte sie. Laura jedoch schnitt über seinen Faustrücken und drückte die Hand weg. Fast wäre ihm der Dolch entglitten. Sie schnellte vor, außen an der blutenden Hand vorbei, hielt mit der Linken seinen Ellbogen fest und spuckte ihm ins Gesicht. Unter ihrer Linken schoss ihr Schwert vor, um Melek aufzuspießen, doch er taumelte haarscharf zurück und fluchte. Mit einsetzender Betäubung starrte er auf die Blutfontäne, die aus seinem Innenschenkel schoss. Laura machte stumm einen Schritt rückwärts. Er hinkte ihr voller ungläubigem Hass nach, da schlug sie unvermittelt eine Kreisbewegung mit dem Schwert und trennte ihm den Daumen der Waffenhand ab, sein Dolch klirrte zu Boden. Melek starrte auf die zweite Blutfontäne, die seinen Körper verließ. Bevor er entsetzt schreien konnte, brüllte Laura wie eine Löwin, sprang hoch und donnerte ihm die Stirn auf die Nase. Melek sackte in die Knie. Er leckte das Blut von den Lippen, das aus seiner Nase floss. Er grinste, sah benommen zu Laura auf und flüsterte: „Ich kann ruhig sterben. Ich habe Dich trotzdem besiegt und vom Leben alles bekommen, was ich je wollte. Wenn Du es nicht tust, wird die Wanderin mich töten. Bloß wird sie weniger gnädig sein. Also tu es!“ Laura schrie unmenschlich. Sie nahm den Schwertgriff in beide Fäuste und hackte Meleks Körper in Stücke, bis sie die Klinge vor Erschöpfung kaum noch heben konnte.

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Ihr Fluch war längst mit seinem Blick zerbrochen. „Unser Vater soll verdammt sein! Aber er gab mir auch die Kraft, Dich zu durchschauen und dadurch zu besiegen, Bruder!“, keuchte sie. Dass sie nicht wirklich verwandt waren, spielte für Laura keine Rolle mehr. Die Halbelfin erhob sich und schnaufte schwer. Sein Blut trocknete in ihrem Haar, im Gesicht und überall auf ihrem zerkratzten Oberkörper. Erst als sie wieder ruhig dastand und durch die Nase atmen konnte, strich sie ihre Klinge an ihrer Hose sauber und würdigte Melek keines weiteren Blickes. Die Henkerin hatte das Urteil vollstreckt, die Hinrichtung war beendet. Laura hatte es sich nicht leicht gemacht. Um so höher hatte sie sich dafür über Meleks Wahn und ihre eigene dunkle Seite erhoben. Weiteren Hass ließ sie nicht zu. Sie nahm die Fackel, legte sich das Kettenhemd über die nackte Schulter und verließ Meleks Grabhöhle.

Athónon und Zeeris eilten Laura entgegen, als sie ihren Fackelschein sahen. Schweigend und streng sah Athónon das Blut auf ihrer Haut an. „Melek ist tot und der Fluch gebrochen“, verkündete Laura kalt und ließ das Kettenhemd fallen. „Hast Du noch Kleidung übrig? Das Eisen scheuert auf der Haut.“ Athónon nickte und zog eine gelbe Tunika aus den Tiefen seines Rucksacks. Er faltete es auseinander und präsentierte ohne Lächeln den aufgestickten Fisch, der gelegentlich

magisch blubberte. „Ein Erbstück meines verstorbenen Mentors Tugibenn“, erklärte der Gnom sachlich. Zeeris vergaß den grausigen Anblick der Halbelfin und betrachtete eingehend den Fisch. „Das hast Du in all der Zeit bei der Einsiedlerhöhle aber nicht getragen!“, wunderte sich das Teufelchen. „Hatte das Ding fast vergessen!“ Laura lachte leise, doch kamen ihr gleichzeitig die Tränen. „Melek hatte den Tod mehr als verdient“, knurrte Athónon. Er ignorierte Zeeris und reichte Laura die Fischtunika. „Ein Geist hatte ihn zu dem gemacht, was er war, wusstest Du das? Ich frage mich, wie schuldig er letztlich war.“ Laura zog die Tunika an und setzte sich zu Athónon, der ein neues Feuer schürte. „Er war frei genug, um Schuld auf sich zu laden“, meinte der Gnom. „Aber das spielt keine Rolle. Du hast seinem Tun ein Ende gesetzt und damit vielen Opfern den Tod erspart. Denen wäre es egal gewesen, ob sie durch das Böse selbst oder sein Werkzeug gestorben wären.“ Laura nickte schwermütig und stützte das Kinn auf die Fäuste. Athónon fügte spöttisch hinzu: „Du wolltest doch eine Heldin sein. Niemand hat gesagt, das sei leicht.“ „Nur das Ergebnis zählt, nicht wahr?“, fragte sie sarkastisch. „Der beste Vorsatz, der schönste Charakterzug ist wertlos, wenn er zu nichts führt.“ „Lass Dir von Srrig keine Angst machen. Zu kalt bist Du erst, wenn Dir sogar das Ergebnis egal ist. Alles andere ist genau die Stärke, die Du brauchen wirst auf unserem Weg als Götterdiener. Verwechsle Güte nicht mit Schwäche. Wer sich hinter Moral und

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Persönlichkeit versteckt, ist zu schwach für die Bürde, den Vier Königen zu folgen.“ Laura suchte lange nach Worten und schaute mit großen Augen ins Feuer. „Du hast mich mal gefragt, ob es etwas Böses in mir ...“ Entschieden fiel ihr der Gnom ins Wort und machte eine schneidende Handbewegung. „Niemand ist nur gut und kein Sieg ist makellos. Es gibt nichts Böses in Dir, weil Du nicht so sein willst.“ Zeeris fragte: „Willst Du Dich gar nicht sauberputzen?“ Mit spitzen Krallen zupfte er einen verkrusteten Blutklumpen aus ihren Locken. Die Halbelfin ließ den Kopf sinken. Mèras und Athónons Bitterkeit sprach aus ihr, so sehr sie auch diesem Gefühl auszuweichen versucht hatte. „Sein Blut wird immer an mir kleben, egal wie oft ich mich wasche.“ Dass sie damit auch meinte, Melek zunächst verfallen zu sein, verriet sie nicht. Sie redete sich ein, Opfer eines bösen Zaubers geworden zu sein, so wie Melek zuvor hatte unsichtbar werden und sie verfluchen können. Abermals verdrängte sie eine Wahrheit über ihr Inneres. „Nur das Ergebnis!“, ermahnte sie sich stumm. Melek war tot und Laura hatte dem Bösen widerstanden, auch wenn sie kurz gewankt hatte. „Ich werde beladen mit Schätzen in meine idyllische Heimat zurückkehren und bejubelt werden, jawohl!“, scherzte sie und lachte. Zeeris applaudierte eifrig. Alles Dunkle in ihr wollte sie im Feindesland lassen. Athónon hob warnend den Zeigefinger vor ihrer Nase. „Werde nicht maßlos in Deinen Wünschen. Die

Prophezeiung von Theb Nor verdammt so etwas zu Recht als den Anfang vom Ende der Welt.“ Zeeris verdrehte die Augen und gähnte demonstrativ, aber Athónon ließ sich von seiner Predigt nicht abbringen. „Natürlich kann man wegsehen, der Untergang kommt schleichend. Wenn man den Grund der Schlucht erkennt, ist man aber schon den halben Weg hinabgestürzt. Je mehr Du Deinem naiven und krampfhaften Heldenwunsch opferst, desto leichter wird es für unsere Feinde sein, Dich zu besiegen. Leg ihn endlich ab. Vergiss die Zukunft.“ „Athónon, was redest Du da? Ich verstehe kein Wort“, maulte Laura und Zeeris kicherte hinter vorgehaltener Hand. „Genau das ist das Problem“, fuhr Athónon stirnrunzelnd fort. „Sobald Du es verstehst, ist es zu spät. Geschichte wiederholt sich unaufhörlich, sagt die Prophezeiung. Bleib wie Du bist und versuche nicht, mit Gewalt größer zu werden.“ Laura schwieg pikiert, sie verstand ihn noch immer nicht. Athónon seufzte und wurde deutlicher. „Wieso musstest Du wieder allein loslaufen, Mädchen? Hätten wir Melek zu dritt gestellt ... Aber nun wiederholst Du die Geschichte Deiner Mutter, genau so, wie sie es Dir hatte ersparen wollen. Hättest Du nicht immer mehr sein wollen, als Du bist, hättest Du nicht mal Dein Dorf verlassen. Die Fehler der Sterblichen wiederholen sich unaufhörlich, sagte Theb Nor, weil sie nie zufrieden sind und immer mehr wollen. Mehr Gold. Mehr Wissen, wie Cerýllion über die Zauberei. Mehr Land, wie die Amdovenn, die ihre Heimat verspielten. Mehr Macht, wie Schattenwacht. Mehr Heldentum, wie Du. Doch es gibt kein strahlendes

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Heldentum. Das sind alles bloß verklärte Geschichten. Je länger Du dieser Illusion nachrennst, desto leichter machst Du es dem Feind.“ Sie nickte. Wäre sie kaltblütig gewesen, hätte sie zwar noch mehr gegen Srrigs Lektion über den Krieg verstoßen, aber sie hätte Melek sofort erschlagen und er hätte sie nicht verführen können. Doch nur in ihrer noblen Wunschrolle war sie über ihr dunkles Erbe hinausgewachsen. Laura schüttelte den Kopf so heftig, als wollte sie Athónons Worte abschütteln. „Der Drache kann mich durch Deine Augen sehen. Wir müssen uns trennen!“, verlangte sie. „Ich gehe zu Mèra, der ich auch den Traum von Melek verdankte. Sie hat mich dadurch zu sich gerufen, denke ich. Vielleicht teilt sie Deine Meinung vom Heldentum nicht, Athónon.“ Ihre Ignoranz und ihre Worte trafen ihn wie einen Hieb ins Genick. „Ich weiß keine Lösung gegen Schattenwachts Spionage“, räumte er ein. „Aber Deine Lösung war auch nicht gut, wie Du zugeben musst, Mädchen!“, knurrte er und fuhr demonstrativ mit dem Zeigefinger über das getrocknete Blut an ihrer Wange. „Jetzt gehen wir zu den Nachtelfen zurück.“ „Nein.“ Sie streckte sich und stand auf. Ihr Blick traf Athónons. „Ich gehe nicht rückwärts. Ich habe Melek besiegt. Ich habe meine Rolle in der Welt selbst bestimmt, ich bin frei. Ich bin jetzt die Jägerin und nicht länger die Beute. Du bist nicht mehr der Einzige, der Botschaften von Mèra empfängt, Gnom. Ich folge ihr und werde an ihrer Seite kämpfen, und soll ich meiner Mutter nachfolgen, dann sei es so. Du aber solltest zu Deiner Einsiedlerhöhle

zurückkehren, dann kann Schattenwacht sich den blanken Fels ansehen!“ Laura reckte das Kinn und biss die Zähne zusammen, doch sie hielt seinen Augen lang genug stand. Dann riss sie den Blick von Athónons glühender Miene und stampfte an ihm vorbei. Athónons Gesicht begann zu zittern, er fletschte die Zähne. Als Laura vier Schritte hinter ihm war, brüllte er: „Nein! Bleib stehen! Das lasse ich nicht zu! Kein weiterer Gefährte wird sterben, weil ich nicht zur Stelle war! Ich habe genug Gräber geschaufelt! Soll der Drache doch sehen, wie ich Dich beschütze!“ Sie wurde nicht einmal langsamer. „Ich muss nicht mehr beschützt werden!“, zischte sie hochmütig. „Egoist!“ Das ihm! Das war zu viel. Athónon sprengte ihr nach, sprang hoch und zog sie an den Locken mit solcher Kraft zurück, dass sie von den Füßen gerissen wurde und auf den Rücken krachte. Sie holte mühsam Luft. Ihr Hinterkopf lag vor dem Fels geschützt in seiner Hand. Zornig packte sie den Griff ihrer Waffe. „Bitte“, knurrte Athónon und funkelte sie immer noch streng an, doch mischte sich in seinen Blick ein Flehen. „Vertrau mir“, bat er. „Wir müssen zu den Nachtelfen, ob Schattenwacht ein Auge darauf hat oder nicht. Meine Zeit des Abschieds kommt noch früh genug.“ Laura schluckte und ließ die Waffe los. Die beiden umarmten sich innig. Athónon raunte: „Wir werden Mèra wiedertreffen, daran habe ich keinen Zweifel. Aber erst müssen wir an ihrer Stelle die Nachtelfen vor den Grauen beschützen. Diese Aufgabe hat sie uns in blindem Vertrauen hinterlassen, das ist mir jetzt klar, und wir

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wollen sie doch nicht enttäuschen. Manchmal vergessen die Vier Könige, dass für uns Sterbliche die Dinge nicht so offenkundig sind wie für sie. Du musst lernen, ihre Absichten zu lesen, auch wenn sie nichts sagen. Du bist hier, also bist Du bereits ihre Dienerin. Du bist mitnichten frei, bloß weil Du glaubst, Dich durch Meleks Niederlage über die Natur erhoben zu haben.“ Er löste sich und blickte ihr hart in die Augen. „Du hast bewiesen, dass Meleks Weg dem Deinen unterlegen war. Aber es werden andere wie Melek kommen. Und was Dich Deine Freiheit kostet, ist nicht ein Feind, sondern Dein eigener Lebensweg, den Du unumkehrlich eingeschlagen hast.“ In Lauras Blick zerbrach etwas. Sie senkte den Kopf und nickte traurig. „Ich will es nicht wahrhaben“, flüsterte sie, aber gleichzeitig wusste sie, dass ihr freier Wille nicht länger eine Rolle spielte und ihr Stolz ein zerschlissener Umhang aus der Vergangenheit war. Sie schmiegte die linke Hand um den Schwertgriff und taufte endlich die Klinge. „Widerstolz!“, sagte sie feierlich. Zeeris hüpfte neben sie und hielt das abgerissene Amulett hoch. „Das hast Du verloren!“, rief er. „Es ist beleidigt, glaube ich.“ Mit gemischten Gefühlen sah Laura auf das Artefakt herab. Widerwillig nahm sie es entgegen und band es am Gürtel fest. „Es wird seinen Stolz ebenso wie ich zähmen lernen.“ Zu dritt kehrten sie zu den Nachtelfen zurück.

Danksagung Mein besonderer Dank gilt Georg Braun, Simon Czaplok und Elke Wendt für ihre umfassende Unterstützung! Weiterhin danke ich Karoline Flume, Kai Klisch, Paul Kraft, Florian Maier, Markus „Imiri“ Raab, Sebastian Schmack und Laura Schröder, die mich zu diesem Zyklus inspirierten, sowie allen weiteren Personen, die an der Entstehung mitgewirkt haben.

Einen ganz speziellen Dank schulde ich André Dawson Sensei (Budo-Dojo Paderborn) für seine Zeit. Er hat mir vorgelebt, wie man selbst die unwahrscheinlichsten Ziele erreichen und seinen ganz eigenen Weg gehen kann, wenn man nur nie aufgibt – egal was der Rest der Welt meint.

Ausklang Gut ein Jahr ist vergangen, seit Band 1 erschien. Eigentlich wollte ich Band 2 schneller fertig bekommen, aber stattdessen schrieb ich ein anderes Buch und ein Kampfkunst-Booklet für denselben Verlag. Daraus entstand aber auch ein Vorteil für Band 2: Ich hatte mehr Übung im schreiberischen Handwerk gesammelt und viel Feedback zu meinen schreiberischen „Experimenten“ eingearbeitet. Band 1 merkt man deutlich an, dass er in klassischer Fantasy wurzelt, gepaart mit einer Hommage an meine alte Spielrunde. Mancher fand es schade, aber Band 2 lässt diese Wurzeln ein Stück weit hinter sich. Ich habe mich vermehrt auf die Eigenheiten Hevanors konzentriert, das eingesetzte KampfkunstWissen feiner dosiert und den Figuren mehr Tiefe verliehen, anstatt mich auf dem Bekannten auszuruhen. Im Schattenwacht-Zyklus geht es oft ums Hinterfragen. Laura hinterfragt ihre naive Heldenträumerei, und der Autor versucht, trotz – oder gerade wegen – seiner klassischen Fantasy-Wurzeln eingefahrene Erzählstrukturen der bösen, bösen Unterhaltungsindustrie zu hinterfragen. Ich hoffe, die dunkle Atmosphäre und das verzwickte Hin und Her der Handlung haben Sie fesseln können. Freuen Sie sich auf eine geballte Ladung dramatischer Zuspitzungen in Band 3!

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Kulturtrümmer Wie in jedem Band des Zyklus wird auch hier ein zusätzlicher kultureller Einblick in die Welt der Erben von Theb Nor gewährt. Diesmal wird jedoch nicht die Menschenstadt Silberberg unter die Lupe genommen, sondern eine dunkle Facette der Chimärier. Wie und warum experimentieren sie mit Niederen? Mit der Protagonistin dieses Textes wird es im nächsten Band ein intensives Wiedersehen geben.

Nicht effizient. Ich kann das nicht mehr hören. Meine Hautbilder sind richtig. Ich gewinne alle Arenakämpfe, kann lange laufen. Wieso sagen die so was über mich? Ich habe meine Nummer genau gehört. Ich kratzte mit braunen Fingernägeln über den körnigen Tonziegel und den einzelnen Strohhalm, der aus dem Loch im Putz meiner Zelle ragte. Mit Schulter und Schläfe lehnte ich an der Wand unter dem Fensterloch, die Beine im Sitzen angewinkelt. Goldgelbes Sonnenlicht brannte durchs Fenster ein Gittermuster in die Mitte des Steinbodens. Wenn es Tag war, konnte ich mich nur an den Wänden der Zelle entlang bewegen. Sonnenlicht vertrugen nur Pýucaani, keine Niederen wie ich. Meine Blutfarbe musste es sein, die passte nicht zum Licht. Ich konnte mir nichts anderes vorstellen.

Unter dem fingerbreiten Spalt der hohen Eisentür drangen immer noch pýucaanische Stimmen hervor, ich konnte nicht weghören. „Ihre Runen sind von Geburt an voll ausgebildet, wieso tut sich nichts? Die Mädchen anderer Würfe haben zum Teil schon nach Monaten magische Reaktionen gezeigt. Einzig die Muskeln wuchsen beim Kamdrasho-Wurf vergleichbar.“ „Alle anderen Kinder, selbst innerhalb dieses Wurfes, sind auch tot oder irre. Niedere Sklavensoldaten werden aus den Würfen, denen wir die Runen aufzüchten, sicher nicht. Auch wenn sie die gleiche Ausbildung absolvieren und dabei viel leichter Muskeln bekommen. 37 ist die Letzte des Kamdrasho-Wurfs. General P’sheyri sagte aber, er stehe kurz davor, die erste Rune stabil zu aktivieren. Ein gesunder Schutz umgibt das Mädchen. Ich bin der Meinung, dass dies ihren Wert erhöht und nicht senkt.“ „Der Imperator wird ungeduldig! Fünfzehn Jahre dauert das bald! Wie lange könnt ihr die Veränderungen der Jugend bei ihr noch aufhalten? Schattenwacht will solch eine Zeitspanne nicht hinnehmen. Nur noch diesen Vollmond. Wenn dann nicht wenigstens eine Rune aktiv wird, ohne dass 37 durchdreht oder stirbt, wird die Versuchsreihe eingestellt und 37 verfüttert oder in die Zucht gesteckt. Forciert die Aktivierung!“ Schweigen. Fäuste schlugen zum Salut auf schuppige Brustkörbe, mächtige Schritte entfernten sich. Ich hielt den Atem an, als der Riegel metallisch kreischte. Die Eisentür glitt nach außen. Mein Ziehvater stand im Gang, um mich wie jeden fünften Tag zur Untersuchung zu holen. Fünf Finger, fünf Tage, fünf Mann eine Patrouille.

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Ich reichte ihm schon fast bis zur Brust und meine Beine waren fast so stark wie seine Arme. Aber heute war er ganz anders: Er trug schwarzen Stoff vom Hals bis zu den Knien. Rote Zeichen waren darauf, aber andere als die auf meiner Haut. Ich durfte nicht so starren, auch nicht fragen. Der Ranghöhere musste nichts erklären. Kleidung trug ich nur für den Kampf, aber viel dickere. Ich musste den Sinn von dünner Kleidung nicht verstehen. Ich folgte ihm zum Untersuchungsraum, einer Zelle in groß. Ein Tisch aus Holz stand darin und es stank nicht. Ich musste zuerst meine Finger strecken. Er schnitt meine Nägel mit einem kurzen Messer wieder spitz und maß ihre Dicke mit einem flachen Stöckchen, auf dem sich winzige Ritzer befanden. Seit einer Weile wurden meine Krallen nicht mehr stärker oder dunkler, so hart ich sie auch gegen die Zellenwand schlug. Sie würden sicher nie pýucaanische Maße bekommen. Dafür bekam ich weiche Beulen auf der Brust. Ich schämte mich, weil er sie jedesmal ganz genau betrachtete, missbilligend durch die Nase schnaubte und die Verformung maß. Heute war etwas anders. Er reagierte auf meinen traurigen Blick wegen der Verformung und hielt inne vor der nächsten Messung. Ich straffte mich sofort und schaute hart an die Wand. „Es ist nichts“, sagte ich und verlieh meiner Stimme einen möglichst tiefen und festen Klang. Er beleidigte mich, denn in seinen Augen blitzte Mitleid. Ich sah es genau. Ein Schauer überlief meinen Nacken. Er hatte es ja mit seinem Vorgesetzten besprochen: Ich sollte

sterben. Ich war nicht effizient. Meine Augen brannten seltsam, plötzlich lief Wasser hinein, ich wusste nicht von wo. Mein Ziehvater betrachtete das Wasser, wie es meine Wangen herablief. Ich schämte mich so. Aber ich ließ keine Schwäche zu, mit angespannten Muskeln blieb ich stehen und reckte das Kinn. Meine Lippen zitterten, doch meiner Kehle entkam kein Laut. Ich wollte nach meinem nächsten Kampf fragen, meinen Willen zeigen, aber ich fühlte im Hals, dass meine Stimme nicht einsatzbereit war, also schwieg ich lieber, bevor ich mir noch mehr Blöße gab. Mein Ziehvater tat etwas Unerhörtes. Er zog seinen Ärmel vor und tupfte das Wasser von meinem Gesicht. So erhöhte er die Bedeutung meiner neuesten Unzulänglichkeit noch. Und dann sah er das Blut zwischen meinen Schenkeln. Ich schloss die Augen. Ich war alt und kaputt. Er musste mich verfüttern. Ich hatte bei den letzten Kämpfen sowieso das Gefühl, schwerfälliger geworden zu sein. Ich hörte über mir seinen Atem ein- und ausfahren. Seine Nasenlöcher waren so groß wie mein Mund. Sein Atem brannte wie die Sonne auf meinem Kahlschädel und meinen langen Spitzohren. „Passiert das zum ersten Mal?“, fragte er nüchtern. Ich wollte nicken, aber er würde die alten Blutflecken in meiner Zelle finden. Pýucaani konnte man nicht belügen. Ich setzte mich immer an dieselbe Stelle zum Bluten. Mit Stroh, Putz und Steinstaub überdeckte ich die Flecken, doch eine Handbewegung würde genügen, um sie freizulegen. „Wir müssen wohl Deinen Trainingsplan wieder mal verschärfen“, erklärte er.

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„Ich will im Kampf sterben, nicht am Alter!“, äußerte ich meinen letzten Wunsch und starrte mit geballten Fäusten die Wand an. Mein Ziehvater redete monoton. „Wir haben die Veränderungen der Jugend bei Dir so weit herausgezögert, wie es ging. Aber die Natur hat Dich eingeholt. Für ausgewachsene Exemplare gibt es andere Aufgaben. Du musst nicht sterben, wenn Du nicht willst. Aber vielleicht ist auch gleich alles anders. Der General hat ein neues Experiment mit Dir und Deinen Hautbildern vor.“ Er reichte mir wie nach jeder Untersuchung einen Becher mit seltsam schmeckendem Wasser. Ich leerte ihn in einem Zug. Mit den Jahren war der Geschmack immer intensiver geworden. Auch im Hauptraum, der größten aller Zellen, gab es heute eine Überraschung. Alle trugen schwarzen Stoff mit roten Zeichen. Neben General P’sheyri, der die magischen Untersuchungen an mir vornahm, stand ein grau geschuppter Pýucaan. Die Anzahl der anderen Kompaniemagier hinter dem General betrug heute zehn und nicht fünf, sie mussten sich in zwei Reihen aufstellen. Keiner schien das Blut an meinen Beinen zu bemerken. Andere Dinge blieben wie immer. Niemand sprach. Mein Ziehvater stand an der Tür und ich ging zur Zellenmitte. Dort legte ich mich auf den Rücken und General P’sheyri trat neben mich. Sonst blieb immer alles still und ich verlor irgendwann das Bewusstsein, wenn der General seine stummen Zauber wirkte. Diesmal aber erklärte er dem Grauen über die Schulter: „Die Allezor-

Rune ist die schwächste von allen. Wir haben schon mehrfach eine Resonanz in ihr auslösen können, wo alle anderen vollkommen regungslos blieben. Die Mädchen 14 bis 22 sind bei der plötzlichen Selbstaktivierung der Rune regelrecht zerfetzt worden. Bei 23 bis 33 haben wir die Feinjustierung herausgefunden und über kurze Zeiträume Aktivierungen erzielen können, jedoch stets instabil und auf Kosten der Gesundheit. Zudem wurden 29 bis 32 durch Einflüsterungen der Rune wahnsinnig. Seit Nummer 34 kennen wir zwar alle nötigen Sicherheitszauber, doch durch die Überlagerung zu vieler Einzelwirkungen war die Allezor-Rune zu stark unterdrückt worden. Bei 35 haben wir daher Sicherheitszauber zusammengefasst und eine weitere Feinjustierung vorgenommen. 36 starb nur, weil ihre schwache Gesundheit die Aktivierung nicht ausgehalten hat. Wir hätten sie eigentlich schon viel früher aussortieren müssen, aber wir haben ja keine Vorräte für diese Versuchsreihe mehr. 37 nun ist unser Prachtexemplar, das wir lange geschont und nur passiv untersucht haben. Ich bin sicher, Ihr seid jetzt bei Eurem überraschenden Besuch hier Zeuge, wie wir bei Nummer 37 die erste stabile Aktivierung der Allezor-Rune durchführen.“ Der graue Pýucaan antwortete bloß knapp. „Die Runen sind der Schlüssel zu den Heiligen. Sie Niederen zu schenken, ist Entweihung genug, damit zu experimentieren, ein Sakrileg. Der Imperator ließ Euch gewähren, weil Ihr Erfolge versprochen habt. Ich nehme heute den Schlüssel zur Wiedererweckung der Inferior in jenem Mädchen mit, oder ich beende diese Forschung im Namen des Imperators.“

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„Ja, Euer Eminenz“, erwiderte General P’sheyri gepresst und hob die Arme über mir. Ich hatte nicht viel von dem verstanden, was P’sheyri oder der Graue wollten. Meine Aufgabe war es bloß, still dazuliegen. Vielleicht war ich trotz meines hohen Alters noch zu etwas nütze, wenn ich das möglichst gut machte. Daher rührte ich keinen Zeh und hielt die Luft an. Schon oft hatte ich P’sheyris Magie durch meine Haut dringen gefühlt. Sie drückte mich nieder, lag wie ein toter Pýucaan auf mir und brachte meinen Herzschlag durcheinander. Schwindel entlockte meiner Kehle kleine Laute und mein Nacken zuckte. Eine der Runen, die über meinen ganzen Körper liefen, wurde heiß wie Sonnenlicht. Der brennende Strahl fraß sich durch mein Inneres, zum Herzen, zum Bauch. Plötzlich schoss er in den Kopf wie ein Keulenschlag und Lichter explodierten vor meinen Augen. Ich wollte mich nicht aufbäumen, aber mein Körper gehorchte nicht. Ich wollte auch nicht schreien, aber seltsame Rufe rollten über meine Lippen. Ich verstand sie selbst nicht und die Stimme gehörte nicht mir. Etwas erhob sich. Schwärze wuchs über meinen Zehen in mein Sichtfeld, bewegte sich. Mir wurde kalt, so als gefröre P’sheyris Zauber in mir zu Eis. Die Schwärze bekam Dornen am Horizont. Sie war ein Drachenflügel, der den ganzen Raum durchmaß und sich langsam zu einem Flügelschlag sammelte. Ich stieß einen infernalischen Schrei aus und wälzte mich gegen meinen Willen am Boden. Plötzlich stand ich vor P’sheyri, aber ich fühlte mich größer als er, sah auf ihn herab. Er stierte mich panisch an und prallte

zurück. Meine Arme durchmaßen wie Flügel den Raum, ich schwebte und sang eine bedrohlich treibende Weise. Der Graue stieß P’sheyri zur Seite, fluchte und hob mir die Arme entgegen. Er knurrte Worte und seine alten Augen brannten wie Feuer, seine ganze Miene glühte vor Ehrfurcht und Begeisterung. P’sheyris Zauber in mir zerplatzte wie stürzendes Eis und ich polterte wie ein Sack Steine vor die Füße des Grauen. Der senkte langsam die Arme und betrachtete mich. Freude lag in seinen Augen. Er kniete sich zu mir und hob mich mühelos auf die Arme. Ohne ein weiteres Wort, mit stolz gerecktem Haupt, trug er mich fort. Die fünf Magier, die dem Grauen folgten, ringten sich um uns und berührten sich Faust an Faust. Wieder verschwamm um mich alles für einen Augenblick. Als Nächstes sah ich grüne Wolken auf Stielen, selbst der Boden war grünes Stroh. Ich fiel von seinen Armen. Sonnenlicht brannte vom Himmel, schutzlos wälzte ich mich im grünen weichen Stroh und wimmerte. Ein lautes Rauschen schwoll an, die Pýucaani schrien und stürzten, von Pfeilen gespickt. Bis auf den Grauen neben mir. Der hatte den Pfeilen gebieterisch eine Hand entgegengehalten und sie kurz vor uns zerbrochen. Mit der anderen Hand strich er durch die Luft über mir und ein dunkles Dach wuchs in der Luft, das mich vor der Sonne schützte. Zwanzig Meter weiter stand eine lange Reihe Niederer mit Bögen vor den grünen aufgestielten Wolken. Einer rief mit holpriger Sprache und einigen falschen Wörtern, dass mein Begleiter sich ergeben und mich aushändigen

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solle oder er würde sterben. Immerhin seien sie in der Lage gewesen, seine Teleportation abzufangen und zu sich umzulenken und er solle sie nicht unterschätzen. Der Graue kniete sich zu mir. „Nimm Dir eine Robe von den toten Magiern und zieh sie an.“ Ich schaute unsicher auf den dünnen Stoff. Im Kampf würde er mich nicht schützen, aber vielleicht vor der Sonne. Ich gehorchte dem hochrangigen Pýucaan natürlich, obgleich selbst die Robe des Kleinsten mir viel zu groß war. Der Graue rief derweil eine Antwort zurück, redete von Inferior und dem Zorn des Imperators. Doch enthielten seine Worte keine klare Anweisung. Als ich die Robe gerade übergestreift und mir die Kapuze aufgesetzt hatte, packte er mich am Arm und zischte: „Lauf in die Richtung, wo nie die Sonne steht!“ Er zeigte darauf. „Am dritten Tag laufe dort weiter, wo die Sonne abends versinkt. Dann wirst Du den Imperator finden. Zu ihm musst Du um jeden Preis gelangen! Er wartet auf Dich!“ Damit stieß er mich von sich. Er wandte sich den Bogenschützen zu und breitete die Arme aus. Da er mir befohlen hatte, sofort loszulaufen, sah ich nicht zu, was er mit den Niederen tat. Ich raffte den Stoff bis über die Knöchel und lief davon. Die riesige Kapuze fiel mir bis auf die Brust, doch war sie so dünn, dass ich hindurchsehen konnte. Hinter mir hörte ich zahlreiche Todesschreie, Pfeilzischen und ein triumphierendes Pýucaan-Lachen, das jedoch immer öfter von Schmerzlauten unterbrochen und leiser wurde. Meine Füße röteten sich und warfen Blasen, weil die Sonne sie verbrannte. Auch meine Wangen röteten sich durch die Kapuze.

Zwischen einigen der Stielwolken lief ich in Deckung. Dort kitzelte auch das grüne Stroh nicht mehr meine Fußsohlen. Laufen musste ich jeden Morgen eine Stunde und jeden Abend, wenn ich nicht kämpfen musste. Ich war kaum außer Atem. Allerdings knurrte mein Magen, niemand hatte mir etwas zu essen gegeben. Wie sollte ich bloß dem Befehl Folge leisten, über drei Tage nur zu laufen und nichts zu essen oder zu trinken? Ob ich an einem Bach trinken durfte, wenn ich einen sah? Hätte ich das fragen dürfen? Hinter einem breiten Stiel schoss ein Stock hervor. Ich beugte mich weit zurück und entging dem Schlag, packte die Holzwaffe und trat zu den Händen, die sie hielten. Hinter mir bewegte sich noch etwas. Ich hatte den Stock nicht freibekommen, ließ ihn aber auch nicht los, sondern rannte vorwärts und zog ihn mit mir. Über die viel zu lange Robe stolperte ich nicht, weil ich sehr kleine Schritte machte. Das Stockende knallte hinter mir dem zweiten Angreifer vor die Brust und stoppte ihn, sein Schwert zuckte meinem Rücken nur nach. Die Faust des Stockträgers flog mir ins Gesicht. Er konnte nicht so hart schlagen wie ein Pýucaan. Ich schlug zurück und riss gleichzeitig den Stock frei. Im Gegensatz zu ihm wartete ich nicht auf das Ergebnis, sondern trat ihm so fest ich konnte in den Bauch. Der Stock donnerte in sein knirschendes Genick. Das Schwert flog wieder auf mich zu. Ich wischte es mit dem Stock zur Seite und stieß das Holz ins Gesicht des Gegners, wieder und wieder, bis es nur noch ein blutiger Krater war und der Mensch zuckend am Boden lag. Ich nahm sein Schwert und stach beiden Gegnern zur Sicherheit in die Kehle.

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Bewaffnet mit Schwert und Stock wollte ich weiterlaufen, doch Bogenschützen versperrten mir den Weg und zielten auf mich. Sie flüsterten miteinander, einer senkte den Bogen. Ein anderer schüttelte den Kopf und wollte schießen, wurde jedoch scharf angeschrien und gehorchte dann doch. Weil sie Niedere waren, wurde er für solchen Ungehorsam nicht getötet. Ich schüttelte den Kopf. Schwächlinge. Kein Wunder, dass Ihr den Krieg verliert. Mit holprigen Worten verlangte der Anführer von mir, die Waffen wegzulegen, dann würde er mich trotz allem nicht töten lassen. Seinen Untergebenen gefiel sichtlich nicht, was er sagte. Ich warf die Waffen weg, weil ich mein Ziel tot nicht erreichen konnte. So schlecht organisierten und unentschlossenen Gegnern würde ich aber sicher später entkommen. Der Anführer nickte mir zu und redete davon, dass ich nichts für das könne, was ich sei. Anweisungen gab er jedoch keine mehr, darum hörte ich kaum zu. Ich horchte erst wieder auf, als er sagte, ich dürfe keinesfalls zum Imperator gelangen, weil dann die ganze Welt verloren sei, und dass er mich töten würde, falls ich zu fliehen versuchte. Ich nickte und verlangte Essen. Gestärkt würde ich viel besser fliehen können.

Personenregister Athónon Der alte Gnomenspäher hat ein breites Kreuz und eine Schwäche für seltene Teesorten. Viele bezeichnen ihn wegen seiner enormen Kampferfahrung und seiner Vergangenheit als Helden. Doch das ist dem wortkargen Götterdiener nur lästig. Nie würde er den Vier Königen eine Bitte abschlagen, aber seine wahre Aufgabe beim Kreuzzug gegen Schattenwacht sieht er darin, Laura, die junge Tochter seiner toten Freundin Jade, zu beschützen. Denn eine eigene Familie war ihm nie vergönnt. Brommil Der Zwergensöldner geriet als Gefangener der Chimärier zunächst an Taren und Srrig. Er spürt, dass große Dinge bevorstehen. Er möchte daran teilhaben und sein bisheriges Leben hinter sich lassen. Brommil rettete Laura bei ihrem ersten Kampf gegen Melek. Cerýllion Der unsterbliche Elf benutzte Mèra im Glorreichen Zeitalter, um ihr den Thron zu stehlen. Er schickte sie ins Exil und kollaborierte mit dem Äußeren Volk, doch am Ende des Krieges flog sein Verrat auf und seine Rolle wurde mit Mèras vertauscht. Für Jahrhunderte war Machtgier sein einziger Antrieb. Heute ist er ein willenloser Diener Schattenwachts, doch seine magische Kraft ist immens.

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Cesius Der Tempelkrieger aus Silberberg, von Elfen als haariger, fetter Klumpen tituliert, war ein Meister des Krieges und ein guter Freund Athónons. Durch einen Fluch, der den Zauberer Xelos in den Wahnsinn trieb, kam Cesius zu Tode: Xelos tötete Cesius mit einer Salve Feuerkugeln. Die größte Leistung des Tempelkriegers war die Ausbildung der Nachtelfin Jade zur Kriegerin. Er lehrte sie die Wahrheiten des Kampfes, sodass auch Laura, Jades Tochter, ihm indirekt ihr Können verdankt. Endáruel Lauras Ziehvater ist ein guter elfischer Waldläufer. Er akzeptiert seine halbmenschliche Tochter, doch blieb sein Verhältnis zu ihr stets oberflächlich. Woher er das Eisenschwert und das Kettenhemd hat, das Laura bei ihrer Flucht mitnahm, bleibt ein Geheimnis. Fêowyn Der alternde Nachtelf ist ein Ratsmitglied von Quirmó. Er ist stets freundlich, wenn auch etwas traurig. Seine Fähigkeiten als Meisterheiler sind in Quirmó außer Konkurrenz. Gamáal Er ist der beste Krieger Quirmós, ein unheimlicher und sehr gefährlicher Elf. Dass die Mitgliedschaft im Rat ihm und nicht Kanmárael zugestanden hätte, ist ein offenes Geheimnis. Kanmárael war als der Umgänglichere vorgezogen worden. Niemand versteht es wie Gamáal, ein Schwert zu führen. Gerüchte besagen, bevor er ein Nachtelf

wurde, habe er in einem Kloster der Tigermenschen deren spirituelle Kampfkunst studiert. Gozbad Dieser uralte Geist korrumpierte Melek als Kind und machte ihn zu seinem Werkzeug. Je mehr Leid Gozbads Jünger auf Hevanor anrichten, desto stärker wird er. Jade In einem zurückliegenden Krieg gegen Tiefenweltler unter der Führung eines untoten Magierkönigs half die Nachtelfin Athónons Gruppe, eine neue Heimat für eine kleine Elfensippe zu finden. Als sie der Gruppe heimlich nachlief, wurde sie jedoch gefangen und geschändet. Gegen alle Widerstände im Dorf gebar sie Laura. Sie konnte die Wut kaum ertragen, als ihre Tochter genau denselben Fehler machte und Jades Schicksal beinahe geteilt hätte. Von einem Schergen Cerýllions wurde die stolze Kriegerin getötet, als sie Mèra verteidigte. Kanmárael Das Ratsmitglied von Quirmó ist für die Verteidigung der Stadt verantwortlich. Kanmárael ist ein hervorragender Kämpfer und der Erste, der die Wahrheit über die vermeintliche Krankheit der Nachtelfen akzeptiert. Laura Die ungestüme Halbelfin erbte die Willenskraft ihrer elfischen Mutter Jade und die Zähigkeit ihres unbekannten Vaters. Sie sehnte sich nach Abenteuern und folgte

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heimlich der Gruppe um die Halbgöttin Mèra. Doch bei der Konfrontation mit der Wirklichkeit bekam Laura viel mehr, als ihr lieb war. Schnell wurde sie von allen Illusionen befreit und versucht nun zu überleben – denn zurück in ihr Heimatdorf will die Außenseiterin nicht. Welche Rolle sie beim Kreuzzug gegen Imperator Schattenwacht spielen wird, ahnt sie noch nicht. Ihr oberstes Ziel ist zunächst, ihren Erzfeind Melek zu töten und damit auch ihr eigenes dunkles Erbe zu überwinden. Lishárial Lauras jüngere Schwester ist eine reinblütige, verwöhnte Elfin und genauso gemein zu der Halbelfin wie alle im Dorf. Melek Er ist ein böses Genie. Melek strebt aber nicht nach Höherem, sondern einzig und allein nach unmittelbarer Triebbefriedigung. Der Geist Gozbad verfluchte Melek, brachte ihn dazu, seine Eltern zu töten und gewann für Jahre die völlige Kontrolle über den Jungen. So wurde Melek ein Werkzeug Gozbads, auch wenn er sich für einen freien und erfolgreichen Menschenjäger hält. Melek ist davon besessen, Laura zu besiegen. Sie soll an der Seite von Halbgöttern eine große Bedeutung erhalten und Melek fühlt sich dagegen in einem Maß herabgewürdigt, das er nicht hinnehmen will. Sein Sieg über Laura soll seine Gleichwertigkeit beweisen.

Mèra Die elfische Halbgöttin ist eine der mythenhaften Heldengestalten aus dem zwei Jahrtausende zurückliegenden Glorreichen Zeitalter, den Vier Königen. Sie rebellierten gegen die damaligen Götter und retteten so Hevanor vor der Invasion durch das Äußere Volk. Mèra und die anderen drei Könige wurden zu unsterblichen Götterdienern gemacht und wachten für Jahrhunderte über den Wiederaufbau der Welt nach neuen Werten, um die Götter nicht abermals zu verärgern. Doch durch eine Intrige Schattenwachts verschwanden sie aus der Welt und tauchten erst dank Athónon und seiner Gefährten wieder auf – stark geschwächt und ohne Gedächtnis, da das Wiedererweckungsritual nicht ohne Fehler gelang. Mèra ist vom hohen Alter zerrüttet und sehnt sich nach dem ewigen Frieden. Aber erst muss Schattenwacht besiegt werden, der nun wie Cerýllion zuvor mit dem Äußeren Volk kollaboriert. Niemand sonst scheint dieser Aufgabe gewachsen zu sein. Mèra schuf einst die Nachtelfen als Waffe gegen das Äußere Volk, doch gelang der Zauber nicht makellos. So kam es, dass Nachtelfen kein Sonnenlicht vertragen, denn ihre Gabe, das Äußere Volk verletzen zu können, reagiert damit und verbrennt sie von innen heraus. Mèras größte magische Kraft liegt in der Heilkunst. Myándirel Der fast blinde und schrullige Zauberer raucht gern Pfeife und tritt im Rat von Quirmó die schwierige Nachfolge des Meisterzauberers Velýthoel an, der durch die Hand des

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Kanzlers der Amdovenn stirbt, Rogáril. Myándirel war es auch, der Srrig sein verlorenes Gedächtnis zurückbrachte. Nenúriel Diese Nachtelfin lebte als verzweifelte Bettlerin in Silberberg, verliebte sich in Taren und begleitete ihn auf eine fragwürdige Mission ins Feindesland. Dort wurden beide gefangen genommen und Nénuriel erschossen, als sie in der Gladiatoren-Arena einen Heilzauber auf Taren zu wirken versuchte. Olériel Tarens zweite nachtelfische Gefährtin experimentiert mit Metallverarbeitung und ist ebenso eine Außenseiterin. Anders als Nenúriel ist Olériel jedoch lebensfroh und weniger zerbrechlich. Nur ihre Zähne sind keine Augenweide.

Paaldrag Der desertierte chimärische Offizier, eine erfahrene Kampfmaschine, ist hin- und hergerissen zwischen seiner Gewohnheit, Niedere nicht ernst zu nehmen, und dem Wunsch nach neuen Freunden. Er fürchtet sich insgeheim vor dem Kreuzzug gegen Schattenwacht, denn auch die Angst vor dem Imperator ist in der chimärischen Erziehung tief verwurzelt. Pêraphèniel Der Älteste von Quirmó ist ebenso weise wie gebrechlich. Er spürt schnell, wen er in Srrig, Mèra und Athónon vor

sich hat und unterstützt die Gruppe, so gut er kann. Sein oberstes Ziel ist jedoch, sein Volk vor den Übergriffen der Schlangenblüter zu schützen. Randolph Der Menschenkrieger ist einer der Vier Könige. Er verkörpert wie kaum jemand das reine Gute, selbst Mèra bewundert ihn. Er wird irgendwo im Feindesland gefangen gehalten. Rogáril Der Kanzler der Amdovenn, des Äußeren Volkes arbeitet mit Cerýllion und Schattenwacht zusammen, um eine erneute Invasion Hevanors vorzubereiten, ohne dass die Götter es frühzeitig mitbekommen. Nur die Vier Könige könnten seine Pläne durchkreuzen. Er und Schattenwacht sind sich einig, dass die Sterblichen und ihre Götter mit Ausnahme der Chimärier das Überleben nicht wert seien, auch wenn es bisher nicht gelungen ist, alle anderen Völker mit bloßer Waffengewalt von Hevanor zu tilgen. Die Amdovenn sind heimatlos und warten nur darauf, eine neue Welt zu besetzen. Darüber, wie die Götter reagieren werden, wenn sie vor vollendete Tatsachen gestellt werden, können die Intrigenschmiede nur spekulieren. Safériel Die Gefährtin Kanmáraels ist Fêowyns rechte Hand als Heilerin. Durch ihren Mut rettet sie Kanmárael und Mèra.

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Schattenwacht Der letzte freie Inferior ist ein Betrüger und Verräter durch und durch. Der Drache lässt sich von seinen Chimäriern als Gott feiern, verbietet aber jede andere Religion. Gegenüber den Göttern übernahm er die Aufgabe des Sphärenwächters und schickte die Vier Könige in ihre verdiente Ruhe. Denn im Gegensatz zu den Göttern sind sie vor Ort und durchschauen seine Pläne. Sein größter Betrug ist jedoch, dass er gar kein echter Inferior ist, keiner jener Ureinwohner Hevanors, die noch vor den Göttern dort lebten und sich mit ihnen einen Krieg lieferten. Schattenwacht war ein Spion der Götter, der nur die Gestalt der Inferior annahm. Nun will er die Inferior aus ihrer Verbannung befreien und als Verbündete gewinnen. Doch die Vier Könige kennen auch dieses Geheimnis und könnten Schattenwacht gegenüber den rachsüchtigen Inferior auffliegen lassen. Abgesehen davon könnten sie den Göttern Schattenwachts Verrat bezüglich des Äußeren Volkes aufzeigen. Sophéion Der beste Barde Quirmós hat einen Platz im Rat, weil die Künste, insbesondere Musik, unter Elfen traditionell einen sehr hohen Stellenwert haben. Sophéion ist eitel und den ruhmreichen Fremden gegenüber feindselig, weil sie ihm das Rampenlicht stehlen. Srrig Der Tigermann ist ein weiterer der Vier Könige. Auch er hat kaum noch eine echte Empfindung, weil das Alter

ihn ausbrannte. Doch wo Mèra hellen Empfindungen wie Mitgefühl und Liebe wieder auf die Spur zu kommen versucht, gibt Srrig sich mehr und mehr N’rracorr hin, dem Dämon des Blutdurstes, der sich nach der Niederlage des Äußeren Volkes in den Seelen der Tigermenschen verschanzte und sie seitdem zu korrumpieren versucht. Taffi Das magische Chamäleon ist klug und weise, viel älter, als es aussieht, und ein treuer Freund Athónons. Es ist in den Zauberkünsten überraschend bewandert. Taren Er ist ein bärbeißiger und kriegserfahrener Tempelkrieger von Bruder Mond, dem Gott der Nachtruhe. Er lernte Srrig während der Flucht aus der chimärischen Arena kennen und spürte sofort, dass sich große Dinge anbahnten. Taren ist fasziniert davon, den Vier Königen ohne jegliches Hintergrundwissen auf einer heiligen Mission zu folgen. Der Prophet Theb Nor, der den Grundstein von Tarens Glauben legte, verdammte jegliches Wissen als etwas Böses, welches das Äußere Volk anlockte und die Sterblichen in den Abgrund stürzte. Unwissend eine Aufgabe zu erfüllen, deutet Taren daher als göttliches Zeichen. Tarens Heimat, die Metropole Silberberg, wurde vom Feind belauert, aber nicht entschieden angegriffen. Von Athónon erfährt Taren, dass dies an einem Artefakt in Menschenhand liege, das die Vier Könige in die Welt zurückrufen könne, und dass Schattenwacht von einem Geheimkult der freien Völker erpresst wurde, die Erpressung aber mit Erscheinen der

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Vier Könige lange hinfällig sei und Silberberg zur Stunde vermutlich gar nicht mehr existiere. T’ral Das archaische Wesen erschien primitiven Kulturen schon lange vor dem Glorreichen Zeitalter als mythische Gestalt, genannt Der Feuerbringer. Wie alle Dämoniden wurde auch T’ral vom Äußeren Volk als Kriegsdiener geschaffen, doch ist T’ral der Letzte, der noch in einem vorzeitlichen Krieg jenseits Hevanors gedient hatte. Er gehört ebenfalls zu den halbgöttlichen Vier Königen, denn er führte die Dämoniden Hevanors bei der Rebellion gegen die Götter an, nachdem er sich von seinen Schöpfern abgewandt hatte. Cerýllion war T’rals Meisterschüler, bevor ihre Wege sich trennten. T’ral ist so alt und mächtig, dass Schattenwacht eine Konfrontation mit ihm insgeheim fürchtet. Die Gedanken des Dämoniden sind der Welt so entfremdet, dass selbst Mèra und Srrig ihn nicht verstehen. Tugibenn Der fröhliche alte Gnom und Meisterzauberer starb vor langer Zeit im Dienste der Vier Könige. Doch Athónon konnte diesen besten Freund und Vaterersatz nie vergessen. Zu Tugibenns Erbschaft, die Athónon unter Tränen antreten musste, gehörten neben einem wertvollen Teesortiment noch schrullige Artefakte wie die gelbe Tunika, auf der ein gestickter Fisch blubbert, aber auch eine verwandelte Truhe, in der die Zeit stehen bleibt. Unter allen sterblichen Zauberern kennt Athónon bis heute niemanden, der solch ein Artefakt herstellen könnte.

Die Art, wie kaltblütig und berechnet Tugibenn für ein höheres Ziel geopfert worden war, hat eine tiefe Narbe in Athónons Seele hinterlassen. Veydrag Der illegitime Sohn Schattenwachts trägt die Runen der Inferior auf dem Rücken. Er ist der jüngste und gefährlichste General des Imperiums und wird von einem hochrangigen Richter auf Srrigs Fährte angesetzt: Veydrag soll Srrig das Geheimnis der Unsterblichkeit entreißen. Wenndur Dieser halbelfische Barde umschwärmte Laura vergeblich während des ersten Teils ihrer Reise. Er starb für sie im Kampf, und nun hat Laura nur noch seine Laute als Erinnerungsstück. Xelos In jungen Jahren von einem Späher des Äußeren Volkes besessen, hat Xelos sich nie ganz von der dämonischen Berührung erholt. Er wurde zu einem der besten Dämonologen und machte sich dadurch unentbehrlich bei der Erforschung des Feindes durch den geheimen Königskult. Doch jeder wusste, wie gefährlich und unberechenbar der Zauberer gleichzeitig war. Bei einem seiner Aufträge trieb ihn ein Fluch endgültig in den Wahnsinn. Er tötete den Gefährten Cesius und wurde daraufhin von Athónon erschlagen.

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Zeeris Das Teufelchen, ein gebürtiger Wüstenbewohner, liebt Flammen an den Füßen und frische Augäpfel. Seit Athónon es vor vielen Jahren freikaufte, begleitet es den Gnom, muntert ihn mit seiner unbeholfenen und doch sympathischen Art auf und betätigt sich als unsichtbarer, fliegender Späher mit scharfen Krallen. Besonders stolz ist Zeeris auf seine einfache Heilmagie, die er sich von dem verstorbenen Tempelkrieger Cesius abschaute.

BÖSES ERWACHEN Michael Thiel

Im Westen tobte ein unerbittlicher Krieg, den die Häscher Schattenwachts, des letzten Drachen auf Hevanor, für sich entscheiden konnten. Seine Drachenkrieger unterwarfen die Orks und Trolle und stehen nun vor den Toren Silberbergs, der letzten menschlichen Metropole im Westen. Nichts wird sie mehr aufhalten können, wenn diese Stadt fällt... Spannende Fantasy-Action, die mit realistischen Kampfszenen und Humor überzeugt.

504 Seiten Fantasy • ISBN 978-3-940928-00-9 • € 9,95 [D] • € 10,95 [A] • SFr 18,90 [CH] (UVP)

LICHTLOS Michael Thiel

Die hochmütige Kreuzung von Magie und Technik brachte die Torwesen in die Welt und die Seelen der Menschen. Vergebens schlägt die Natur im Todeskampf um sich. Vier Fraktionen kämpfen auf dem letzten Kontinent Dememnon um die Vorherrschaft, doch gegen den wahren Feind sind sie scheinbar machtlos ... Einstieg in die zwischen Vernichtung und Rettung taumelnde Welt von Dememnon.

192 Seiten Fantasy • ISBN 978-3-940928-02-3 • € 7,95 [D] • € 8,95 [A] • SFr 12,50 [CH] (UVP)

Schattenwacht-Zyklus

- Aus der Welt der Erben von Theb Nor -

Böses Erwachen Preis der Unsterblichkeit Spiel mit dem Feuer Sühne der Könige Sturz eines Gottes Ende der Nacht

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