Leseprobe: Thema RAUM im Pflegebereich Foucault: „Andere Räume“ am Beispiel Patient "Wir leben nicht in einem leeren, neutralen Raum. Wir leben, wir sterben und wir lieben nicht auf einem rechteckigen Blatt Papier. Wir leben, wir sterben und wir lieben in einem gegliederten, vielfach unterteilten Raum mit hellen und dunklen Bereichen, mit unterschiedlichen Ebenen, Stufen, Vertiefungen und Vorsprüngen, mit harten und mit weichen, leicht zu durchdringenden, porösen Gebieten [...]“ (Foucault http://foucaultundco.blogspot.com/2008/08/heterotopien-andere-rume.html). Die Vielheit der »Menschen-Räume« befindet sich an einem identischen Ort, welcher in diesem konkreten Fall das Krankenzimmer oder genauer noch das Pflegebett sein kann. Michel Foucault (1976) hat in seinem Text »andere Räume« diese Orte beschrieben und er hat diese »andere Räume« Heterotopien genannt. Im Gegensatz zur gegenläufigen Utopie, die eine Platzierung ohne wirklichen Ort meint und damit unwirklichen Raum bezeichnet, definiert Foucault (1976) die Heterotopie als wirklichen und vor allem wirksamen Ort, welcher einer verwirklichten Utopie vergleichbar ist. Sie entsteht, wenn einem Ort beispielsweise dem Sterbezimmer in einem Krankenhaus von einer Gesellschaft eine spezifische Funktion zugeschreiben wird, die nicht mit der Topographie (z.B. Endach 27, 6330 Kufstein [Adresse: a. ö. Bezirkskrankenhaus Kufstein]) des Ortes allein verstehbar ist. Das Verständnis dieses Ortes erschließt sich erst aus der Sicht der Zusammenhänge, in welchen dieser Ort gebraucht oder verwendet wird (vgl. Foucault 1976, 147-157). Mit der Heterotopie schuf Foucault (1976) eine Terminologie, mit der er die Gleichzeitigkeit
von
unterschiedlichen
Gebrauchsformen
desselben
Ortes
beschreiben konnte. Die Heterotopie bezeichnet demzufolge konkurrierende Räume, die ohne Ort nicht existent sind, aber durch ihn nichteindeutig definiert werden. Heterotopien machen aus Orten veränderliche Räume. Es herrschen bestimmte Regeln z.B. Schweigen, Anteilnahme im Um-Raum (Um-Feld) beispielsweise des sterbenden Patienten, doch nur so lange, wie sie von den Mitgliedern einer Gesellschaft, also der Trauerfamilie befolgt werden. Solange dies geschieht, sind Heterotopien wirksam und können das Geschehen an einem Ort verändern. Das Befolgen von Regeln und ihr Bruch, der zum Verschwinden einer Heterotopie an einem anderen Ort führen kann, weißt auf ein grundlegendes Charakteristikum hin. Jede Heterotopie kann in einer Gesellschaft beliebig umgedeutet werden. Sie kann
daher nur in einem Zeitschnitt betrachtet werden, denn in einem anderen späteren Moment, im schlimmsten Fall nach dem unmittelbaren Ableben des Patienten, hat sie ihre Funktion möglicherweise bereits verloren. Diese Veränderlichkeit- und Endlichkeit der Heterotopie rührt von ihrer Funktion her, die sie gegenüber den verbliebenden Räumen erfüllt. Fällt die Funktion einer Heterotopie innerhalb der (Trauer-) Gesellschaftweg, löst sich die Heterotopie auf oder/und passt sich der neuen Gegebenheit (der Sterbe-Raum wird zum Raum der Verabschiedung und Trauer) an (vgl. ebd., 145-157). Zusammenfassend beschreibt Foucault (1976) sechs Prämissen einer Heterotopie, die jedoch nicht zugleich erfüllt sein müssen: 1
Grundsatz nach Foucault (1976) gibt es die 'Abweichungsheterotopie' und die 'Krisenheterotopie', wobei die letztere in der heutigen Zeit immer mehr in den Hintergrund tritt. Am Beispiel Krankenhaus – Krankenzimmer – Pflegebett als „privilegierte oder geheiligte oder verbotene Orte“ (ebd. 150), wo sich Individuen in einem (krankheitsbedingten) Krisenzustand befinden, haben aber doch auch heute noch berechtigter Weise 'Krisenheterotopien' ihre Funktion. Ein Krankenzimmer kann jedoch auch als Abweichungsheterotopie interpretiert werden, denn die Krankheit ist meisten eine vorübergehende Krise, wodurch die Grenzen der beiden Heterotopien verschwimmen (vgl. ebd., 150).
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In Anbetracht, der zuvor beschrieben Funktion des Krankenzimmers bei einem Sterbenden, scheint als Vorstufe von Foucaults (1976) beschriebenen „sonderbaren Heterotopie“ (151), dem Friedhof nicht ganz unlogisch. So gesehen, kann sich die Funktion der Heterotopie im Laufe der Zeit verändern, bedingt durch den gesellschaftlichen Kontext, beispielsweise (vgl. ebd., 151).
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Grundsatz: Heterotopien sind zudem in der Lage an einem Ort mehrere Räume einzubeziehen
bzw.
zusammenzulegen.
Das
Krankenzimmer
fasst
die
(privaten) Räume wie WC, Wohnzimmer und Schlafzimmer aber auch gesellschaftliche/öffentlichen Räume wie Behörden, Ämter, Arbeitsplatz zu einer Heterotopie zusammen, wobei nicht jeder einzelne Raum wieder eine eigene Heterotopie im Krankenzimmer darstellen muss (vgl. ebd., 152).
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Grundsatz, die Zeitschnitte. Patientenzimmer in einem Krankenhaus »brechen« die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit. Foucault (1976) versteht in diesem Zusammenhang „Heterochronien“ (153). In keiner anderen Heterotopie, wie beispielsweise in einem Sterbezimmer eines Krankenhauses, lässt sich die „Quasi-Ewigkeit“ (ebd.) am Verlust des Lebens und das »Brechen« mit der Zeit, als Mensch beeindruckender wahrnehmen und empfinden (vgl. ebd.).
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Heterotopien zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein System von „Öffnungen“ und „Schließungen“ darstellen. Sie sind nicht selbstverständlich für jeden zugänglich, besonders deutlich wird das beispielsweise bei Intensivstationen oder Isolierzimmern, die durch spezielle Sicherheitsmaßnahmen und Kontrollen sozusagen abgeschottet werden. Für den Zutritt müssen gewisse Kriterien, wie Mundschutz für die Angehörige oder spezielle Infektionsschutzbekleidung erfüllt werden. Diese abgeschlossenen Heterotopien können zudem nicht so einfach betreten und nach Belieben wieder verlassen werden, da dieser Vorgang mit bestimmten Prozessen verknüpft ist, die eingehalten werden müssen (vgl. ebd., 154).
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Und
letzter
Grundsatz,
der
Heterotopien,
welche
im
Vergleich
zum
verbleibenden Raum eine Funktion besitzen. Foucault (1976) unterscheidet hier zwischen
der
beiden
Extrempolen:
'llusionsheterotopie'
und
'Kompensationsheterotopien' (155). Da Krankenzimmer in Krankenhäuser ein sehr
strenges
Regelwerk
bezüglich
Kontrollen,
zeitlicher
Ablauf
und
Koordination mit anderen Patienten aufweisen, kann es in den Bereich der Kompensationsheterotopie zugeordnet werden (vgl. ebd., 155). Das Kuschelzelt im Einsatzgebiet einer Intensivstation könnte als Mischform aus beiden Extrempolen verstanden werden. Ja, die Heterotopie, signalisiert die Epoche des Raums. „Wir sind der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposition, in der Epoche des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander, das Auseinander“ (Foucault 1976, 145). Sich dem 'Raum' bewusst zu werden und sich mit der Epoche intensiv, auch im Zusammenhang mit Krankenanstalten und deren Bewohnern (gemeint sind damit vorrangig die Patienten) zu beschäftigen ist eine entscheidende Erkenntnis dieser Diplomarbeit und es regt nebenbei bemerkt in Hinblick auf die Entstehung von Innovation im Bereich der Pflegetätigkeit das kreative Denken an.
'Raum' ist jedoch so komplex, dass es einer weiteren Zusammenfassung in Mikro-, Meso- und Makrobetrachtung bedarf.
Mikro-, Meso- und Makro-Räume In der Analyse gesellschaftlicher Räume beschreibt Läpple (1992) den körpernahen „Mikro-Raum“, in dessen Mittelpunkt der Mensch mit seiner räumlichen Leiblichkeit steht. In diesem Fall macht der Mensch seine elementaren, man könnte es sogar als »überlebenswichtigen Raumerfahrungen« bezeichnen, sowohl im Umgang mit Sachverhältnissen bzw. deren gesellschaftlichen „Gebrauchsanweisung“ (14). Das Lesen bzw. das Zeichnen und die Sachverhältnisse zu interpretieren, lernt er durch die vermittelten Interaktionsformen (vgl. dazu Interaktionsarbeit unter Punkt 3.3.3) mit anderen Menschen in Bezug auf räumliche Präsenz und sozialen Charakter des Raumes, welche diese wesentlich prägen (vgl. Läpple 1992, 14). „Innen Raum“ – Privatraum – das Haus als Beispiel, wird hingegen von Bollnow (2004) bezeichnet, wo in Frieden der Mensch mit seinem Raum durch räumliche Beziehung verschmilzt. Wobei Juchli (1992) „Raum ganz zuerst mein eigener Körper ist, denn er nimmt sich und grenzt dabei ein und aus und vergleicht das auch am Beispiel Haus“ (420), in ihren Ausführungen zum Thema Raum und Pflege beschreibt. Foucault (1976) umschreibt hingegen den Raum des „Innen“, vom „Raum unserer ersten Wahrnehmung, der Raum unserer Träume, der Raum unserer Leidenschaft“ (148), denn sie enthalten in sich gleichsam innere Qualitäten. Der
„Meso-Raum“,
welcher
zum
Beispiel
mit
den
Arbeits-
und
Lebenszusammenhängen oder mit sonstigen gesellschaftlichen Zusammenhängen eines Menschen in Verbindung gebracht werden kann. Laut Läpple (1992) finden auf diesem Raumniveau, ansatzweise schon sehr komplexe Verflechtungsstrukturen statt, welche sich außerdem noch überlappen können (vgl. ebd., 14). Je nach dem, in welchem Kontext dieser „Meso-Raum“ gesehen wird, spiegelt er die individuellen Übergänge, von einem Raum zum anderen Raum wider. In Anlehnung an das „Uno-actu-Prinzip“ (siehe Punkt 3.2.1, bzw. Abb. 3) fallen mehrere Raumdimensionen in der Verflechtung zusammen. Nach Bollnow (2004) könnte man auch den „realen“ erlebten Raum verstehen, demgegenüber der konkrete UmweltRaum (mit) dem Menschen erscheint.
Der „Makro-Raum“, welcher hingegen abhängig von der Problemstellung und der Theorieauffassung in verschiedenen (z.B. hierarchischen) Raumrastern, mehr oder weniger abstrakten Vermittlungsformen zwischen räumlich-materiellen Strukturen und gesellschaftlichen Verhältnissen darstellen lässt, bedarf es in der Analyse im übertragenen Sinn die Gleichzeitigkeit der Raumhorizonte (vgl. Läpple 1992, 15). Bollnow (2004) beschreibt einen „außen Raum“, der als gesellschaftlicher/öffentlicher Raum verstanden werden kann. Der „Außenraum“ ist der Raum der Arbeit, seiner Gesellschaft und überhaupt bestimmt durch seine Aufgaben in der Welt. Hier bedarf er jederzeit der wachen Aufmerksamkeit, um die Situation zu meistern und auf Überraschungen schnell reagieren zu können. „Es bedarf eines jeden Augenblick des kontrollierenden Bewusstseins dessen, was er tut. Es ist ein dem Menschen fremder, ja unheimlicher und bedrohlicher Raum“ (Bollnow 2004, 6). Juchli (1992) als geistliche Krankenschwester beschreibt den „Makroraum“ als „Umwelt,
wo
Pflege
angeboten
wird,
der
Ort
der
Interaktion
zwischen
Patienten/Angehörige und Pflegepersonen“ (420), stattfindet. Aber so gesehen „leben wir nicht innerhalb einer Leere, die nachträglich mit bunten Farben eingefärbt wird, sondern wir leben in einer Gemengelage von Beziehungen, die Platzierungen definieren, die nicht aufeinander zurückzuführen und nicht [immer] miteinander zu vereinen sind“ (Foucault 1976, 148), aber in der Pflegetätigkeit vereint werden müssen.