PREDIGT 12 Impletum est tempus Elizabeth (Luc. 1, 57) »Für Elisabeth erfüllte sich die Zeit, und sie gebar einen Sohn. Johannes ist sein Name. Da sprachen die Leute: ,Was wunders soll werden aus diesem Kinde? Denn Gottes Hand ist mit ihm'« (Luk.1,57/63/66). In einer Schrift heißt es: Das ist die größte Gabe, daß wir Gottes Kinder seien und daß er seinen Sohn in uns gebäre (1Joh.3,1). Die Seele, die Gottes Kind sein will, soll nichts in sich gebären, und die, in der Gottes Sohn geboren werden soll, in die soll sich nichts anderes gebären. Gottes höchstes Streben ist: gebären. Ihm genügt es nimmer, er gebäre denn seinen Sohn in uns. Auch die Seele begnügt sich in keiner Weise, wenn der Sohn Gottes in ihr nicht geboren wird. Und da entspringt die Gnade. Die Gnade wird da eingegossen. Die Gnade wirkt nicht; ihr Werden ist ihr Werk. Sie fließt aus dem Sein Gottes und fließt in das Sein der Seele, nicht aber in die Kräfte.
Als die Zeit erfüllt war, da ward geboren »Gnade«. Warm ist »Fülle der Zeit«? Wenn es keine Zeit mehr gibt. Wenn man in der Zeit sein Herz in die Ewigkeit gesetzt hat und alle zeitlichen Dinge in einem tot sind, so ist das »Fülle der Zeit«. Ich sagte einst: Der freut sich nicht alle Zeit, der sich freut in der Zeit. Sankt Paulus spricht: »Freut euch in Gott alle Zeit!« (Phil.4,4). Der freut sich alle Zeit, der sich über der Zeit und außerhalb der Zeit freut. Eine Schrift sagt: Drei Dinge hindern den Menschen, so daß er Gott auf keinerlei Weise erkennen kann. Das erste ist Zeit, das zweite Körperlichkeit, das dritte Vielheit. Solange diese drei in mir sind, ist Gott nicht in mir noch wirkt er in rnir in eigentlicher Weise. Sankt Augustinus sagt: Es kommt von der Begehrlichkeit der Seele her, daß sie vieles ergreifen und besitzen will, und so greift sie nach der Zeit und nach der Körperlichkeit und nach der Vielheit und verliert dabei eben das, was sie besitzt. Denn solange als mehr und mehr in dir ist, kann Gott nimmer in dir wohnen noch wirken. Diese Dinge müssen stets heraus, soll Gott hinein, es sei denn, du hättest sie in einer höheren und besseren Weise so, daß die Vielheit zur Eins in dir geworden wäre. Je mehr dann der Vielheit in dir ist, um so mehr Einheit ist vorhanden, denn das eine ist gewandelt in das andere.
Ich sagte einst: Einheit eint alle Vielheit, aber Vielheit eint nicht Einheit. Wenn wir emporgehoben werden über alle Dinge und alles, was in uns ist, hinaufgehoben ist, so drückt uns nichts. Was unter mir ist, das drückt mich nicht. Wenn ich rein nur nach Gott strebte, so daß nichts über mir wäre als Gott, so wäre mir nichts schwer und würde ich nicht so schnell betrübt. Sankt Augustinus spricht: Herr, wenn ich mich dir zuneige, so wird mir benommen alle Beschwer, Leid und Mühsal. Wenn wir über die Zeit und zeitliche Dinge hinausgeschritten sind, so sind wir frei und allezeit froh, und dann ist Fülle der Zeit; dann wird der Sohn Gottes in dir geboren.
Ich sprach einst: Als die Zeit erfüllt war, da sandte Gott seinen Sohn (Gal.4,4). Wird irgend etwas anderes in dir geboren als der Sohn, so hast du den Heiligen Geist nicht, und Gnade wirkt nicht in dir. Ursprung des Heiligen Geistes ist der
Sohn. Wäre der Sohn nicht, so wäre auch der Heilige Geist nicht. Der Heilige Geist kann nirgends sein Ausfließen noch sein Ausblühen nehmen als einzig vom Sohne. Wo der Vater seinen Sohn gebiert, da gibt er ihm alles, was er in seinem Sein und in seiner Natur hat. In diesem Geben quillt der Heilige Geist aus. So auch ist es Gottes Streben, dass er sich uns völlig gebe. In gleicher Weise, wie wenn das Feuer das Holz in sich ziehen will und sich hinwieder in das Holz, so befindet es vorerst das Holz als ihm (= dem Feuer) ungleich. Darum bedarf es der Zeit. Zuerst macht es (das Holz) warm und heiß, und dann raucht es und kracht, weil es ihm (=das Holz dem Feuer) ungleich ist; und je heißer das Holz dann wird, um so stiller und ruhiger wird es, und je gleicher es dem Feuer ist, um so friedlicher ist es, bis es ganz und gar Feuer wird. Soll das Feuer das Holz in sich aufso nehmen, so muß alle Ungleichheit ausgetrieben sein.
Bei der Wahrheit, die Gott ist: Hast du es auf irgend etwas denn allein auf Gott abgesehen oder suchst du irgend etwas anderes als Gott, so ist das Werk, das du wirkst, nicht dein noch ist es fürwahr Gottes. Worauf deine Endabsicht in deinem Werke abzielt, das ist das Werk. Was in mir wirkt, das ist mein Vater, und ich bin ihm untertänig. Es ist unmöglich, daß es in der Natur zwei Väter gebe; es muß stets ein Vater sein in der Natur. Wenn die anderen Dinge heraus und "erfüllt« sind, dann geschieht diese Geburt. Was füllt, das rührt an alle Enden, und nirgends gebricht es an ihm; es hat Breite und Länge, Höhe und Tiefe. Hätte es Höhe, aber nicht Breite noch Länge noch Tiefe, so würde es nicht füllen. Sankt 5 Paulus spricht: "Bittet, daß ihr zu begreifen vermöget mit allen Heiligen, welches sei die Breite, die Höhe, die Länge und die Tiefe« (Eph.3,18).
Diese drei Stücke bedeuten dreierlei Erkenntnis. Die eine ist sinnlich: Das Auge sieht gar weithin die Dinge, die außerhalb seiner sind. Die zweite ist vernünftig und ist viel höher. Mit der dritten ist eine edle Kraft der Seele gemeint, die so hoch und so edel ist, dass sie Gott in seinem bloßen, eigenen Sein erfaßt. Diese Kraft hat mit nichts etwas gemein; sie macht aus nichts etwas und alles. Sie weiß nichts vom Gestern noch vom Vorgestern, vom Morgen noch vom Übermorgen, denn in der Ewigkeit gibt es kein Gestern noch Morgen, da gibt es (vielmehr nur) ein gegenwärtiges Nun; was vor tausend Jahren war und was nach tausend Jahren kommen wird, das ist da gegenwärtig und (ebenso) das, was jenseits des Meeres ist.
Diese Kraft erfaßt Gott in seinem Kleidhause. Eine Schrift sagt: »In ihm, mittels seiner und durch ihn« (Röm.II,36). »In ihm«, das ist in dem Vater, "mittels seiner«, das ist in dem Sohne, "durch ihn«, das ist in dem Heiligen Geiste. Sankt Augustinus spricht ein Wort, das diesem gar ungleich klingt, und es ist ihm doch ganz gleich: Nichts ist Wahrheit, was nicht alle Wahrheit in sich beschlossen hält. Jene Kraft erfaßt alle Dinge in der Wahrheit. Dieser Kraft ist kein Ding verdeckt. Eine Schrift sagt: Den Männern soll das Haupt entblößt sein und den Frauen bedeckt (I Kor.II,7+6). Die"Frauen“«, das sind die niedersten Kräfte, die sollen bedeckt sein. Der »Mann« aber, das ist jene Kraft, die soll entblößt und unbedeckt sein.:»Was wunders soll werden aus diesem Kinde?«Ich sprach neulich zu einigen Leuten, die vielleicht auch hier anwesend sind, ein Wörtlein und sagte so: Es ist nichts so verdeckt, das nicht aufgedeckt werden solle (Matth.10, 26; Luk.12,2; Mark.4,22). Alles, was nichts ist, soll abgelegt werden und so verdeckt, daß es selbst nicht einmal mehr gedacht werden soll. Vom Nichts sollen wir nichts
wissen, und mit dem Nichts sollen wir nichts gemein haben.
Alle Kreaturen sind ein reines Nichts. Was weder hier noch dort ist und wo ein Vergessensein aller Kreaturen ist, da ist Fülle alles Seins. Ich sagte damals: Nichts soll in uns bedeckt sein, das wir nicht Gott völlig aufdecken und ihm vollständig geben. Worin immer wir uns finden mögen, sei's in Vermögen oder in Unvermögen, in Lieb oder in Leid, wozu wir uns immer geneigt finden, dessen sollen wir uns entäußern. In der Wahrheit: Wenn wir ihm (Gott) alles aufdecken, so deckt er uns wiederum alles auf, was er hat, und er verdeckt uns in der Wahrheit ganz und gar nichts von alledem, was er zu bieten vermag, weder Weisheit noch Wahrheit noch Heimlichkeit noch Gottheit noch irgend etwas. Dies ist wahrlich so wahr, wie daß Gott lebt, dafern wir's ihm aufdecken. Decken wir's ihm nicht auf; so ist es kein Wunder, wenn er's uns dann auch nicht auf- deckt; denn es muß ganz gleich sein: wir ihm, wie er uns. Man muß klagen über gewisse Leute, die sich gar hoch und gar eins mit Gott dünken und sind dabei doch noch ganz und gar ungelassen und halten sich noch an geringfügige Dinge in Lieb und in Leid. Diese sind weit entfernt von dem, was sie sich dünken. Sie streben nach viel und wollen ebenso viel.
Ich sprach irgendwann: Wer das Nichts sucht, daß der das Nichts findet, wem kann er das klagen? Er fand, was er suchte. Wer irgend etwas sucht oder erstrebt, der sucht und erstrebt das Nichts, und wer um irgend etwas bittet, dem wird das Nichts zuteil. Aber wer nichts sucht und nichts erstrebt als rein nur Gott, dem entdeckt und gibt Gott alles, was er verborgen hat in seinem göttlichen Herzen, aufdaß es ihm ebenso zu eigen wird, wie es Gottes Eigen ist, nicht weniger und nicht mehr, dafern er nur unmittelbar nach Gott allein strebt. Daß der Kranke die Speise und den Wein nicht schmeckt, was wunders ist das? Nimmt er ja doch den Wein und die Speise nicht in ihrem eigenen Geschmack wahr. Die Zunge hat eine Decke und ein Kleid, womit sie wahrnimmt, und dieses ist bitter gemäß der Krankheitsnatur der Krankheit. Es gelangte noch nicht bis dahin, wo es schmecken sollte; es dünkt den Kranken bitter, und er hat recht, denn es muß bitter sein bei dem Belag und dem Überzug. Wenn diese Zwischenschicht nicht weg ist, schmeckt nichts nach seinem Eigenen. Solange der »Belag« nicht von uns beseitigt ist, solange schmeckt uns Gott nimmermehr in seinem Eigenen, und unser Leben ist uns (dann) oft bekümmert und bitter.
Ich sagte einst: Die Mägde folgen dem Lamme nach, wohin es auch geht, unmittelbar (Geh. Offenb. 14, 4). Hier sind einige (wirklich) Mägde, andere aber sind hier nicht Mägde, die aber doch Mägde zu sein wähnen. Die die wahren Mägde sind, die folgen dem Lamm nach, wohin immer es geht, in Leid wie in Lieb. Manche folgen dem Lamm, wenn es in Süßigkeit und in Gemach geht; wenn es aber ins Leiden und in Ungemach und in Mühsal geht, so kehren sie um und folgen ihm nicht. Traun, die sind nicht Mägde, was immer sie auch scheinen mögen. Etliche sagen: Je nun, Herr, ich kann wohl dahin gelangen in Ehre und in Reichtum und in Gemach. Traun! hat das Lamm so gelebt und ist es so vorangegangen, so vergönne ich's euch wohl, daß ihr ebenso nachfolgt; die rechten Mägde jedoch streifen dem Lamm nach durch Enge und Weite und wohin immer es streift.
Als die Zeit erfüllt war, da ward geboren »Gnade«. Daß alle Dinge an uns vollendet werden, auf daß die göttliche Gnade in uns geboren werde, dazu helfe uns Gott.
Amen. Meister Eckhart