Die Chemischen Kampfstoffe-ralf Stöhr

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Ralf Stöhr

Die chemischen Kampfstoffe Eigenschaften, Wirkung, Schutzmöglichkeiten und Entgiftung

Deutscher Militärverlag • Berlin 1961

Vorwort

1.-5. Tausend Deutscher Militärverlag • Lizenz Nr. 5 Schutzumschlag: Hartwig Hoeftmann Zeichnungen: Heinz Schweig • Lektor: Dieter Peißker Korrektor: Horst Hartmann • Hersteller: Werner Briege 1151 Satz und Druck: VEB Landesdruckerei Sachsen

Durch die Entwicklung der Kernwaffen mit ihrer wesentlich größeren Vernichtungswirkung gegenüber den konventionellen Waffen sind viele Menschen zu der Auffassung gekommen, daß die im 1. Weltkrieg so gefürchtete chemische Waffe ihre Bedeutung verloren habe. Sie fühlen sich in ihrer Meinung noch bestärkt durch die Tatsache, daß im 2. Weltkrieg keine chemischen Kampfstoffe angewendet wurden. All diese Leute unterliegen einem verhängnisvollen Irrtum, denn die Tatsachen beweisen das Gegenteil. Es wird später noch zu sagen sein, warum im vergangenen Weltkrieg die chemischen Granaten und Bomben in den Depots liegenblieben und der Menschheit, die in diesen Jahren ohnehin aufs schwerste geprüft wurde, die Geißel des chemischen Krieges erspart blieb. Soviel kann aber schon hier gesagt werden: Es geschah dies keinesfalls etwa deswegen, weil die chemischen Kampfstoffe vielleicht ihre militärische Bedeutung eingebüßt hätten. Im Gegenteil. Es hat in der militärchemischen Forschung seit dem 1. Weltkrieg keinen Stillstand gegeben. In den Jahren der totalen Aufrüstung zum 2. Weltkrieg wurde mit geradezu hektischer Eile an der Entwicklung immer neuer und wirksamerer Kampfstoffe gearbeitet. Auch nach 1945 riß diese Entwicklung nicht ab. Es ist das zweifelhafte Verdienst der Westmächte, insbesondere der USA, gerade in den letzten Jahren die Weltöffentlichkeit mit Mitteilungen über neue chemische Kampfstoffe stark beunruhigt zu haben. Es gibt keinen Grund für die Annahme, die imperialistischen Mächte würden im Kriegsfall auf den Einsatz dieser Gifte verzichten, wenn auch der breiten Öffentlichkeit die Gefahr eines chemischen Krieges nicht so akut zu sein scheint wie die einer Auseinandersetzung mit atomaren Waffen. 5

Die Westmächte selbst aber machen gar kein Geheimnis aus ihrer Absicht, in einem zukünftigen Krieg chemische Kampfstoffe einzusetzen. Ja, sie versuchen sogar, den Völkern einen Krieg mit chemischen Kampfstoffen als human gegenüber einem Atomkrieg hinzustellen. Die Wahrheit ist, daß die Imperialisten sowohl die atomaren als auch die chemischen — und darüber hinaus auch die biologischen — Waffen einzusetzen beabsichtigen, weil diese Waffen ja qualitativ verschieden sind und jede für den imperialistischen Aggressor ihre „Vorzüge" und „Nachteile" hat, weil alle sich gegenseitig wirksam ergänzen. Es gibt in militärischen Kreisen keinen Zweifel darüber, daß ein Krieg unter diesen Bedingungen beiderseits sowohl von den Angehörigen der bewaffneten Kräfte als auch von der Zivilbevölkerung ungeheure Leistungen und Anstrengungen erfordert. Die häufigen Aggressionsdrohungen und die aktiven Kriegsvorbereitungen der Imperialisten zwingen deshalb die sozialistischen Staaten, die Arbeiten der imperialistischen Mächte auf diesen Gebieten aufmerksam zu verfolgen und selbst geeignete Maßnahmen einzuleiten, um sowohl für die bewaffneten Kräfte als auch für die Zivilbevölkerung den Schutz vor den Wirkungen der Massenvernichtungswaffen zu organisieren. Es wäre ein ernster Fehler, wenn man angesichts der hochmodernen chemischen Kampfstoffe den Schutz vor dieser Art Massenvernichtungswaffen vernachlässigen würde. Die Nationale Volksarmee sowie die zivilen Schutzorganisationen der Deutschen Demokratischen Republik müssen aus diesem Grunde entsprechend ausgerüstet und ausgebildet werden. Die Erfahrungen des letzten Krieges haben recht eindeutig bewiesen, wie wichtig die Aufklärung über die Wirkungsweise einer neuartigen Waffe und über die Schutzmöglichkeiten ist. 6

Die vorliegende Schrift soll einen allgemeinen Überblick über das Gebiet der chemischen Kampfstoffe geben und den Lesern einige Kenntnisse der Militärchemie vermitteln. Für ein tieferes Studium werden einige Hinweise auf die Fachliteratur gegeben. Die Beschreibungen der einzelnen Kampfstoffe erheben nicht den Anspruch, vollständig zu sein, sie sind unter Zuhilfenahme der bisher veröffentlichten Literatur zusammengestellt worden. Da es notwendig war, dabei einige naturwissenschaftliche Gesetze und Grundbegriffe vorauszusetzen, sind dem Hauptteil einige entsprechende Erläuterungen vorausgeschickt worden. Auch für diese Erläuterungen gilt, daß für ein eingehenderes Studium die Fachbücher, besonders die zahlreich verbreiteten Einführungen und Lehrbücher der Chemie, herangezogen werden müssen. Die Schrift hat nicht nur den Zweck, die wichtigsten Eigenarten der chemischen Waffe zu erläutern. Sie soll auch die Gefahren aufzeigen, die durch die Anwendung dieser Mittel für die Menschen entstehen. Wie groß die Empörung der friedliebenden Menschen über das von den Imperialisten ausgelöste Wettrüsten besonders auf dem Gebiete der Massenvernichtungswaffen ist, zeigen die vielen Proteste aus allen Bevölkerungskreisen. Diese Proteste, die in den letzten Jahren in zunehmendem Maße auch von vielen berühmten Wissenschaftlern, Ärzten und real denkenden Politikern der kapitalistischen Staaten unterstützt oder verfaßt wurden, haben nicht zuletzt dazu beigetragen, daß die imperialistischen Kreise davor zurückschreckten, diese Waffen in den von ihnen entfesselten Kriegen gegen die sich befreienden Kolonialvölker anzuwenden. Die beste Unterstützung des Kampfes für das Verbot der Massenvernichtungswaffen gibt die Sowjetunion, die auf allen internationalen Konferenzen immer wieder beharrlich und konsequent das Verbot der 7

Massenvernichtungswaffen und die allgemeine und vollständige Abrüstung fordert. So betonte der Ministerpräsident der Sowjetunion, N. S. Chruschtschow, in seinem Begrüßungsschreiben an die im August 1959 in dem kanadischen Städtchen Pugwash tagende Wissenschaftlerkonferenz, die sich mit den Gefahren der chemischen und biologischen Kriegführung beschäftigte, die Sowjetunion sei der Auffassung, daß die Verwendung chemischer und bakteriologischer Waffen nicht weniger furchtbare Konsequenzen habe als die Verwendung von Kernwaffen. Die Sowjetunion unterstütze deshalb nachdrücklich ein Verbot aller Massenvernichtungsmittel, deren Anwendung gegen die menschlichen Grundsätze und das Gewissen der Völker verstoße.

1. Die Entwicklung der chemischen Kriegführung Chemische Kampfstoffe sind keine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Bereits in alten chinesischen Schriften finden sich Hinweise, daß zur Erstürmung befestigter Ortschaften Pech- und Schwefelkörper angewendet wurden. Die Spartaner gebrauchten im Peloponnesischen Krieg vor Platäa 431 bis 404 v. d. Z. Schwefelbrandkörper, die große Mengen Schwefeldioxyd entwickelten. Bereits 600 v. d. Z. war das griechische Feuer bekannt, eine Mischung aus Petroleum, Harzen, Pech und Schwefel, die zum Tränken von Werg diente. Auch aus dem Mittelalter gibt es viele Empfehlungen für den Einsatz giftiger Stoffe. Der bekannte Chemiker Glauber konstruierte Geschosse, die in getrennten Kammern Salpetersäure und Terpentinöl enthielten. Sie entwickelten bei der Detonation starken Rauch und konnten dazu dienen, den Gegner auszuräuchern. Eine Zeichnung von einer Brand-Handgranate, genannt Fewer-Ballen, befindet sich in der Praxis Artilloriae pyrotechnicae, erschienen 1660 in Osnabrück. Diese Wurfkörper waren mit Arsen, Antimon und Schwefel gefüllt. Der Arzt Fioravanti von Bononia erzeugte durch Destillation einer Mischung aus Terpentin, Menschenkot. Schwefel und Blut ein 01, das einen derartigen Gestank verbreitete, daß ihn kein Mensch ertragen konnte. Um 1750 schlug der österreichische Ritter Veit Wulf von Senftenberg vor, zum Kampf gegen die Türken Arsenikrauchkugeln zu verwenden. Diese Kugeln sollten ins feindliche Lager geschleudert werden, und die bei der Verbrennung erzeugten Arsenikdämpfe sollten Vergiftungen unter der Lagerbesatzung hervorrufen. Im Jahre 1813 schlug ein Berliner Apotheker dem preu9

ßischen General von Bülow die Verwendung von Blausäure vor. Mit der Blausäure sollten kleine Pinsel getränkt werden, die an den Bajonetten der Soldaten zu befestigen waren. Im Marokkofeldzug von 1844 wurde von den Truppen des französischen Generals Cavaignac eine Gruppe von Marokkanern, die sich in einem Höhlenlabyrinth, verborgen hatte, dadurch getötet, indem vor den Höhleneingängen Faschinen entzündet wurden, die starke Rauchgase entwickelten. Der englische Admiral Lord Dundonald hatte im Krimkrieg 1855 vor, das stark befestigte Fort Malakow bei Sewastopol durch den Einsatz einer Mischung von Schwefel, Teer und Kohle einzunehmen. Dieses Vorhaben wurde durch den Einspruch des französischen Befehlshabers nicht verwirklicht. Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 empfahl ein deutscher Apotheker, Veratrin in Granaten abzufüllen. Veratrin ist ein stark zum Niesen reizender Stoff. Er war natürlich nicht in genügender Menge vorhanden, um ihn in großem Maße im Gefecht einsetzen zu können. Der russische General Ssemenow schildert in seinem Buch „Die Schlacht bei Tschuschima", wie sich giftige Gase entwickelt hätten, die zu einer Reihe von Vergiftungen führten. Diese Vergiftungen waren wahrscheinlich auf die bei der Deflagration von Granaten entstehenden nitrosen Gase und Kohlenmonoxyd zurückzuführen. Wie alle diese Beispiele zeigen, beschäftigte man sich also bereits vor dem 20. Jahrhundert mit den Problemen der Gift- und Brandstoffe. Diese Kampfmittel spielten aber damals nie eine überragende Rolle, weil ihre Herstellungsmöglichkeiten seinerzeit begrenzt waren und auch die naturwissenschaftliche Forschung auf diesem Spezialgebiet noch in den ersten Anfängen steckte. 10

Erst die beschleunigte Entwicklung der Technik und der Wissenschaften im Zeitalter des modernen Industriekapitalismus schuf die notwendigen Voraussetzungen, um neuartige chemische Kampfmittel zu entwickeln und sie großtechnisch herzustellen. Daß mit dem Einsatz chemischer Kampfstoffe bereits um die Jahrhundertwende gerechnet wurde, zeigen die Verhandlungen der internationalen Konferenzen in Den Haag 1899 und 1907. Diese Konferenzen beschäftigten sich mit der „Einschränkung und Humanisierung des hemmungslosen Landkrieges", wie es in den Verhandlungsprotokollen heißt. Dabei stand auch das Verbot der Anwendung von Giftstoffen im Falle bewaffneter internationaler Auseinandersetzungen zur Debatte. In der von der Haager Konferenz am 29. Juli 1899 angenommenen Deklaration heißt es: „Die vertragschließenden Mächte unterwerfen sich gegenseitig dem Verbote, solche Geschosse zu verwenden, deren einziger Zweck ist, erstickende oder giftige Gase zu verbreiten." Diese Formulierung ließ aber einige falsche Auslegungen zu, da die bei der Detonation und besonders bei der Deflagration (nicht explosionsartige Verpuffung) von Sprengstoffen entstehenden Gase (nitrose Gase, Blausäure und Kohlenmonoxyd) starke Vergiftungserscheinungen hervorrufen können. Die Verhandlungspartner versuchten deshalb, durch den ergänzenden Satz „Die Splitterwirkung muß immer die Giftwirkung übertreffen", sich über diesen unklaren Punkt zu einigen. England und die USA weigerten sich damals, diese Deklaration anzuerkennen. Die von der internationalen Konferenz in Den Haag 1907 nach eingehenden Verhandlungen erarbeitete Anlage zum IV. Haager Abkommen wurde von England unterzeichnet. Diese Anlage zum Haager Abkommen, das 11

allgemein als Haager Landkriegsordnung bekannt ist, enthält folgende Bestimmungen: Artikel 22 Die Kriegführenden haben kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung des Feindes. Artikel 23 „Abgesehen von den durch Sonderverträge aufgestellten Verboten, ist namentlich untersagt: a) Die Verwendung von Gift oder vergifteten Waffen; e) der Gebrauch von Waffen, Geschossen oder Stoffen, die geeignet sind, unnötig Leiden zu verursachen. Alle europäischen Staaten haben dieses Abkommen unterzeichnet. Vor Beginn des 1. Weltkrieges gab es also durch diese von fast allen großen Militärmächten unterzeichneten und anerkannten völkerrechtlichen Abmachungen Bestimmungen, die — für den damaligen Entwicklungsstand der Militärtechnik eindeutig —. die Anwendung chemischer Kampfmittel mit Giftwirkung verboten. Dessen ungeachtet arbeitete man in vielen Staaten daran, geeignete Möglichkeiten für den militärischen Einsatz von Giftstoffen zu finden. Die ökonomische Grundlage dazu ergab sich aus der schnellen Entwicklung der chemischen Industrie in den Jahren nach der Jahrhundertwende. Besonders die großtechnischen Produktionsverfahren der Farbenindustrie erwiesen sich als sehr geeignet für die Massenproduktion militärisch bedeutsamer Giftstoffe. Wie wenig sich die imperialistischen Staaten an die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung gehalten haben, hat der Verlauf des 1. Weltkrieges deutlich gezeigt. Bereits kurz nach Kriegsbeginn wurden von der deutschen 12

Armee die ersten Versuche mit Reizstoff-Granaten unternommen. Am 2. Oktober 1914 wurden bei Neuve-Chapelle 3000 Ni-10,5-cm-Schrapnelle auf die französischen Stellungen abgefeuert, die neben der Brisanzladung und den Schrapnellfüllkörpern Dianisidinsalz enthielten. Dieses Salz reizt stark zum Niesen. Von deutscher Seite wurde mitgeteilt, daß die französische Armee in den ersten Monaten Gewehrgranaten mit einer Bromessigesterfüllung verschoß. Die Granaten enthielten etwa 19 cm3 Bromessigester, einen Augenreizstoff. Diese geringe Menge reichte aber selbst bei günstigen Bedingungen nicht aus, um eine ausreichende Gefechtskonzentration zu erhalten. Anfang 1915 war in Deutschland die Konstruktion einer chemischen Granate abgeschlossen, die als 12-T- Granate bezeichnet wurde. Diese Granaten enthielten außer der Sprengstoffüllung eine Mischung von Xylyl- und Xylylenbromiden. Sie wurden erstmalig am 31. Januar 1915 bei Bolimow an der Ostfront eingesetzt. Infolge der niedrigen Temperatur verdampfte jedoch nur ein geringer Teil der Füllung, weshalb die Wirkung dieser Geschosse äußerst gering blieb. Bei einem zweiten Einsatz dieser Granaten bei Nieuport in Flandern (März 1915) war die Wirkung größer, da die höhere Lufttemperatur die Verdunstung der Kampfstoffmischung beschleunigte. Diese Beispiele zeigten den Militärs, daß weit größere Mengen Gift und Reizstoff notwendig waren, um hohe Gefechtskonzentrationen und damit ausreichende Vergiftungswirkungen zu erzielen. Dem deutschen Generalstab war deshalb ein Vorschlag des bekannten deutschen Chemikers Haber willkommen, der empfahl, Chlorgas für Blasangriffe zu verwenden. Am militärischen Einsatz dieses Gases hatte besonders die Farbenindustrie Deutschlands großes Interesse, da einmal der größte Teil der 13

Farbenproduktion aus kriegsbedingten Gründen stillgelegt werden mußte - was sich negativ auf die Profite der Aktionäre ausgewirkt hatte — und zum anderen große Mengen Chlorgas noch in den Fabriken lagerten. Der erste Blasangriff mit Chlorgas fand nach eingehender Vorbereitung am 22. April 1915 bei Ypern statt. Auf die völlig überraschten französischen und englischen Truppen wurden an diesem Tage in einem 6 km breiten Frontabschnitt etwa 30 Mp Chlor aus Gasflaschen abgeblasen. Nach französischen Angaben sind bei diesem Angriff 15 000 Vergiftungen, davon 5000 tödliche, registriert worden. Dieser erste Masseneinsatz chemischer Kampfstoffe war Gegenstand zahlreicher völkerrechtlicher und militärischer Studien. Besonders die den deutschen Militaristen nahestehenden Kreise haben wiederholt versucht, diesen Angriff als harmlos und nicht gegen die Haager Landkriegsordnung verstoßend darzustellen. Statt dessen versuchten sie, den Gegnern Deutschlands die alleinige Schuld am Beginn des chemischen Krieges in die Schuhe zu schieben. Nach dem ersten Masseneinsatz chemischer Kampfstoffe bei Ypern unternahmen alle kriegführenden Staaten fieberhafte Anstrengungen, um die technischen und militärischen Probleme des Einsatzes der chemischen Kampfmittel zu lösen. Neben der Herstellung neuer Kampfstoffe und der Entwicklung ihrer Anwendungsmethoden wurde die Ausrüstung der Truppen mit Schutzmitteln, besonders Atemschutzmitteln, ein vorrangiges Problem. In der ersten Zeit behalf man sich mit Mulläppchen, die mit einer Lösung von Fixiersalz getränkt waren. Durch chemische Umsetzung konnte das Chlorgas damit entgiftet werden. Bereits wenige Wochen später waren die wichtigsten Truppenteile beider Seiten an der französischen Front 14

mit diesen Behelfsmitteln ausgestattet. Sie boten einen sehr brauchbaren Schutz gegen die Reiz- und Giftwirkungen des Chlorgases. Da die Blasverfahren zu stark von den Gelände- und Witterungsbedingungen abhängig sind, suchte man verbesserte Anwendungsverfahren und neue chemische Kampfstoffe. Obwohl noch 19l5 sowohl von den Alliierten als auch von der deutschen Armee einige Blasangriffe durchgeführt wurden, gab es in diesem Kriegsjahr keine weiteren entscheidenden Neuerungen. Es wurden lediglich Versuche mit den verschiedensten chemischen Füllungen durchgeführt, zum Beispiel von der französischen Armee mit Perchlormethylmerkaptan und Brandgranaten mit einer Lösung von Phosphor in Schwefelkohlenstoff. Auch Granaten mit Chlorazetonfüllung wurden auf ihre Gefechtswirksamkeit untersucht. Erst das Jahr 1916 brachte wesentliche Neuerungen auf dem Gebiet der chemischen Kriegführung. Nach streng geheimgehaltenen Vorbereitungen setzte die französische Armee am 21. Februar 1916 bei Verdun 75-mm-Granaten ein, die neben einer geringen Sprengladung eine Phosgenfüllung hatten. Der Einsatz dieses Kampfstoffes machte es notwendig, die Truppen mit wirksameren Atemschutzgeräten auszurüsten. Darüber hinaus war eine gute Organisation der Abwehr und der Alarmierung erforderlich, da in Gefechtskonzentrationen das Phosgen praktisch geruchlos ist und akute Vergiftungen leicht übersehen und erst entdeckt werden, wenn es bereits zu spät ist. Die deutsche Armee verschoß am 7. Mai 1916 erstmalig aus Kanonenbatterien Diphosgen, und zwar an der Maas bei Forts Souville und bei Tavennes. Dieser Kampfstoff ist im Gegensatz zu Phosgen flüssig und läßt sich deshalb leichter in Granaten abfüllen. In seiner Wirkung ent15

spricht er praktisch dem Phosgen. Aus diesen Gründen wurde Diphosgen im Verlaufe des Krieges in immer größeren Mengen produziert und eingesetzt. In der Nacht vom 22. zum 23. Juni 1916 wurden von der deutschen Armee bei Verdun während eines siebenstündigen, pausenlosen Trommelfeuers 76 000 Haubitz- und 40 000 Kanonengranaten mit Diphosgenfüllung abgeschossen. Im Kriegsjahr 1916 wurden von der französischen Armee auch Granaten mit Blausäurefüllung eingesetzt. Nach deutschen Angaben fand der erste Angriff mit diesen Granaten am 1. Juli 1916 statt. Von deutscher Seite wird behauptet, dieser Angriff habe keinen großen Erfolg gehabt, da die von den Franzosen verwendete Lösung von Blausäure in Arsentrichlorid infolge des sehr hohen Dampfdruckes keine genügende Kampfkonzentration ergeben habe. Trotz der immer stärker in den Vordergrund tretenden Artillerieangriffe fanden auch in den weiteren Kriegsjahren noch Blasangriffe mit gasförmigen Kampfstoffen statt. Durch höhere Kampfstoffkonzentration und durch mehrere hintereinander folgende Kampfstoffwellen (Wellenangriffe) versuchte man, den gegnerischen Atemschutz zu durchschlagen. Diese Angriffe waren aber meist nur bei Einheiten von Erfolg, in denen durch undiszipliniertes Verhalten oder durch fehlende Schutzausrüstung kein ständiger Schutz vor chemischen Kampfstoffen gewährleistet war. Am 24. September 1916 verschossen englische Einheiten erstmalig aus vierzölligen Granatwerfern chemis3he Granaten, deren Füllung aus Augenreizstoff (Jodessigester) bestanden haben soll. Die Granatwerfer fanden im Kriegsjahr 1917 überhaupt immer weitere Verbreitung. Die von Foulkes geführte englische Gasbrigade verschoß bei einem Massenein satz 16

am 4. April 1917 bei Arras fast 100 000 Wurfminen auf die deutschen Stellungen. Die Minen waren größtenteils mit Phosgen gefüllt. Auch Thermit und Nebelstoffe wurden aus diesen Werfern verschossen. Nachdem die Engländer das Werferverfahren für chemische Kampfstoffe als brauchbar befunden hatten, stellte auch die deutsche Armee entsprechende Einheiten auf. Am 24. Oktober 1917 war der erste Einsatz einer deutschen Werfereinheit bei Flitsch an der italienischösterreichischen Front. Aber nicht nur neue Anwendungsmethoden wurden erprobt. In fast allen Staaten arbeiteten große Forschungsinstitute an der Erforschung neuer chemischer Kampfstoffe. In Deutschland beschäftigten sich starke Forschergruppen in den Labors der chemischen Werke und besonders im ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin-Dahlem mit diesen Problemen. Leiter dieser Arbeiten war Prof. W. Haber. Begünstigt durch die bereits vor dem Kriege in Deutschland hochentwickelte chemische Industrie wurden neue chemische Kampfstoffe gefunden und großtechnisch produziert. Ungeheuere finanzielle und materielle Mittel steckten bereits damals die Betriebe in die militärchemischen Forschungen, die sich später zum IG-Farben-Konzern vereinigten. Sie erzielten durch die Produktion chemischer Kampfstoffe riesige Profite. Durch die neuentwickelten Kampfstoffe errangen die Mittelmächte zeitweise eine gewisse Überlegenheit auf diesem Gebiet. In der Nacht vom 10. zum 11. Juli 1917 setzte die deutsche Armee bei Nieuport in Flandern den starkwirkenden Nasen- und Rachenreizstoff Diphenylarsinchlorid ein, der in der Lage war, die bis dahin hauptsächlich verwendeten Schutzmaskenfilter zu durchdringen. Da dieser Kampfstoff seine größte Wirkung als feinster Schwebstoff in der 2

Kampfstoffe

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Luft entwickelt und die damaligen Masken keinen Schwebstoffilter enthielten, verursachte dieser Stoff unter der Maske einen unerträglichen Hustenreiz, der sich bis zum Erbrechen steigerte. Der als Maskenbrecher geeignete Kampfstoff wurde entsprechend der Munitionskennzeichnung Blaukreuz genannt. Es wurden Angriffe bevorzugt, bei denen gleichzeitig Phosgen (Grünkreuz entsprechend der deutschen Munitionskennzeichnung) zum Einsatz kam. Nachdem das Diphenylarsinchlorid die Soldaten zum Abnehmen der Masken gezwungen hatte und diese dadurch schutzlos geworden waren, sollte ihnen das Phosgen tödliche Vergiftungen zufügen. Die nach dieser Methode beschossenen Geländeabschnitte nannte man bunte Räume. Wegen der kurzen Wirkungsdauer der verwendeten Kampfstoffe ist diese Methode besonders für die Artillerievorbereitung eines Angriffes geeignet. Kurz nach dem ersten Einsatz von Diphenylarsinchlorid wurde von der deutschen Armee das Dichlordiäthylsulfid (Yperit, Lost, Gelbkreuz) in das Arsenal der chemischen Kampfstoffe übernommen. Die Gelbkreuzgranaten wurden zum ersten Mal in der Nacht vom 12. zum 13. Juli 1917 bei Ypern — in der Flandernschlacht — angewandt. Von den Engländern wurde dieser Kampfstoff wegen seines senfartigen Geruchs mustard-gas (Senfgas) genannt. Sein Einsatz führte zu einer radikalen Änderung in der chemischen Kriegführung. Alle bis dahin verwendeten Kampfstoffe wirkten in der Hauptsache nur auf die Augen und die Atmungsorgane. Dichlordiäthylsulfid zeichnet sich im Gegensatz dazu durch seine starke Wirkung auf die Haut aus. Außerdem ist es in der Lage, unter günstigen Bedingungen das beschossene Gelände tagelang zu vergiften. Die vergifteten Geländeabschnitte können nur mit Schutzbekleidung (Schutzstiefel usw.) betreten werden. Auf Grund dieser Vorzüge ist das Di18

chlordiäthylsulfid sehr gut für Verteidigungsaufgaben geeignet. Der Einsatz des neuen Kampfstoffes stellte die kriegführenden Länder vor neue wirtschaftliche Probleme. Zum Schutz der Truppen mußten entsprechende Schutzbekleidungsstücke (Schutzanzüge, Schutzplanen) entwickelt und produziert werden. Diese Aufgaben bereiteten besonders den Mittelmächten (Deutschland, ÖsterreichUngarn) große Schwierigkeiten, weil diesen nur eine begrenzte Rohstoffbasis zur Verfügung stand. Bis zum Ende des Krieges konnten sie dieser Schwierigkeiten nicht Herr werden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Alliierten, denen das Wirtschaftspotential der USA eine unerschöpfliche Quelle war, eine starke Kampfstoff- und Schutzmittel-Industrie aufgebaut hatten. Welchen Umfang die Angriffe mit Dichlordiäthylsulfid erreichten, zeigt die Tatsache, daß im Verlaufe der Flandernschlacht von 1917 innerhalb von 10 Tagen 1 Million Granaten mit etwa 2500 Mp Dichlordiäthylsulfid verschossen wurde. Das Kriegsjahr 1918 brachte eine weitere Verstärkung des Einsatzes chemischer Kampfstoffe. Die deutsche Armee verschoß an der Westfront etwa 30 Prozent chemische Munition. Nachdem allerdings die alliierte Kampfstoffproduktion den Stand der deutschen erreicht hatte, wendeten sich die Erfolge der chemischen Kriegführung mehr und mehr auf die Seite der Alliierten. Der Gesamtverbrauch an chemischer Munition erreichte in der französischen Armee in der Zeit vom 1. Juli 1915 bis 11. November 1918 die beachtliche Zahl von über 17 Millionen Granaten. Die deutsche Industrie war in den letzten Kriegsjahren nicht mehr in der Lage, den alliierten Kampfstoffangriffen auch nur annähernd die gleiche Munitionsmenge entgegen19

zustellen, da sich die Rohstoffschwierigkeiten noch verschärft hatten. Auch auf chemischem Gebiet endete der vom deutschen Imperialismus mitentfesselte Krieg also mit einem völligen Fiasko. Die ungeheuren Verluste, die der chemische Krieg forderte und die am schwersten die werktätigen Klassen aller kriegführenden Länder trafen, veranlaßten Wissenschaftler sowie Mitglieder von Arbeiter- und Friedensorganisationen, gegen die Verwendung chemischer Kampfstoffe zu protestieren. Bereits im Februar 1918 veröffentlichte das Internationale Komitee des Roten Kreuzes einen Aufruf gegen die Verwendung von giftigen Gasen, der von den kriegführenden Staaten allerdings nicht beachtet wurde. Nach dem Kriege wurden durch den Vertrag von Versailles Deutschland Herstellung. Einfuhr und Verwendung chemischer Kampfstoffe untersagt. Trotz zahlreicher internationaler Verbote setzten aber bereits wenige Jahre nach Kriegsende die deutschen Militaristen und besonders der neugebildete IG-Farben-Konzern die militärchemischen Forschungen fort. In den Jahren 1921 und 1922 beschäftigte sich die Washingtoner Seeabrüstungskonferenz auch mit dem Verbot chemischer Kampfmittel. Entsprechend den Vorschlägen, die von den Teilnehmern dieser Konferenz ausgearbeitet wurden, wurde in das Genfer Protokoll vom 17. Juni 1925 die Bestimmung aufgenommen, daß ,der Gebrauch von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen, Flüssigkeiten, festen Stoffen und Verfahrensarten sowie der Gebrauch von bakteriologischen Mitteln in zukünftigen Kriegen verboten ist'. In den folgenden Jahren beschäftigten sich viele Tagungen des Völkerbundes mit diesen Fragen. Andere internatio20

nal gültige Abkommen wurden aber trotz eingehender und größtenteils sachlicher Diskussion nicht gefaßt. Erwähnenswert ist eine Entschließung der internationalen Konferenz des Roten Kreuzes in Den Haag von 1929, in der erklärt wird: „Getreu seiner Sendung zu helfen und zu heilen, dem Fundament seines Daseins, ist es Pflicht des Roten Kreuzes, unverzüglich solche technische Mittel ausfindig zu machen und anzuwenden, die es gestatten, in denkbar weitestem Maße die Erhaltung und den Schutz der Zivilbevölkerung gegen die entsetzlichen Gefahren sicherzustellen, die ihr bislang erspart geblieben sind. Durch einen nachdrücklichen propagandistischen Appell an die öffentliche Meinung der Welt sowie durch die Ausübung praktischer Schutzaufgaben wird das Rote Kreuz sein Hilfswerk auszubauen haben, der Zivilbevölkerung Schutz vor den furchtbaren Auswirkungen eines aerochemischen Angriffes zu gewähren."*) Ungeachtet der internationalen Verbote setzten die kapitalistischen Staaten und besonders Deutschland die Entwicklung der chemischen Waffe fort. In einem Vortrag vor der American Chemical Society erklärte der bekannte amerikanische Militärchemiker Fries: „Erstrebenswert ist die Herstellung geheimgehaltener Kampfstoffe, die kein anderer besitzt." Natürlich wurde die Wirkung und der Einfluß der chemischen Waffe auf den Verlauf eines Krieges auch stark übertrieben. So schrieb zum Beispiel Vedder: „In Zukunft wird die Nation den Krieg gewinnen, die den Vorteil eines Giftgases besitzt, das durch die feindlichen Masken dringt." *) Blätter des Deutschen Roten Kreuzes, Heft 8; 1929.

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Douhet vertrat die Meinung, daß in einem Krieg besonders dem aerochemischen Angriff, also der Anwendung chemischer Kampfstoffe aus der Luft, eine bevorzugte Stellung zukomme. Fast in allen Veröffentlichungen vor dem 2. Weltkrieg wurde dem Einsatz chemischer Kampfstoffe . durch Fliegerkräfte eine hohe Wirkung zugesprochen. Flugzeuge, besonders langsamfliegende Typen, können nicht nur chemische Bomben abwerfen, sondern auch chemische Kampfstoffe abrieseln und dadurch große vergiftete Flächen schaffen. Das erfordert auf der anderen Seite die Organisation einer Zivilverteidigung, die über die entsprechenden Schutzmittel und Einrichtungen verfügen muß. Auch die Aufklärung der Zivilbevölkerung über den Schutz vor chemischen Kampfstoffen ist überaus wichtig. Obwohl in vielen Staaten vor dem 2. Weltkrieg intensive militärchemische Forschungen durchgeführt wurden, sind darüber nur wenige Einzelheiten bekannt geworden. Bereits kurz nach dem 1. Weltkrieg erfuhr die Öffentlichkeit, daß nur das Kriegsende den Einsatz der neuen Kampfstoffe Adamsit, Chlorazetophenon und Lewisit verhindert hatte. Diese Kampfstoffe unterschieden sich jedoch nicht wesentlich von den im Krieg eingesetzten Stoffen. Sie hätten deshalb keinen umwälzenden Einfluß gehabt, da die damals verwendeten Schutzmittel zum einwandfreien Schutz gegen sie ausgereicht hätten. Eine neue Gruppe chemischer Kampfstoffe wurde durch die Arbeiten von Prandtl und Sennewald bekannt. Diese Stoffe werden durch die Oximgruppe charakterisiert. Auf der Haut rufen sie starke Nesselerscheinungen hervor; man nennt sie deshalb auch Nesselstoffe. Zu dieser Gruppe gehört das später noch eingehend zu beschreibende Dichlorformoxim. Da die Nesselstoffe auch 22

blasenbildende Eigenschaften haben, ordnet man sie den hautschädigenden Kampfstoffen zu. In Frankreich untersuchte man Kohlenmonoxyd und kohlenmonoxydhaltige Verbindungen auf ihre Einsatzfähigkeit. Reines Kohlenmonoxyd läßt sich aber nur schwer als Kampfstoff gebrauchen, da es wegen seiner hohen Flüchtigkeit nicht möglich ist, im freien Gelände hohe Kampfkonzentrationen herzustellen. In einer Veröffentlichung von Hanne wird aber trotzdem die Meinung vertreten, daß das Kohlenmonoxyd in einem Krieg als Kampfstoff eine Rolle spielen kann. Nicht zu unterschätzen sind allerdings die Karbonyle, in denen Kohlenmonoxyd chemisch an Metalle gebunden ist. Beim Erwärmen geben diese Stoffe das locker gebundene Kohlenmonoxyd ab. Als eine einsatzfähige Mischung sahen die Franzosen eine Mischung von Eisenkarbonyl und Blausäure an. Viele wissenschaftliche Arbeiten wurden dem Dichlordiäthylsulfid gewidmet. Man versuchte, die Chloratome durch die ähnlichen chemischen Elemente Brom und Jod zu ersetzen, um dadurch Stoffe herzustellen, die ähnliche Wirkungen wie die Chlorverbindungen besitzen. Die so gewonnenen Stoffe hatten eine geringere Flüchtigkeit, erreichen aber in ihren physiologischen Wirkungen nicht das Dichlordiäthylsulfid. Im 2. Weltkrieg wurden taktische Mischungen*) des Dichlordiäthylsulfids bekannt, die sich durch große Klebkraft und Zähigkeit auszeichneten. Diese Mischungen haften sehr fest an der Bekleidung, an Holz und anderen Materialien und sind sehr schwer zu entgiften. Ihr Einsatz würde bei der Entgiftung des Ge*) Taktische Mischungen: Mischungen von Kampfstoffen untereinander oder mit anderen Stoßen, die für bestimmte Anwendungszwecke hergestellt werden, zum Beispiel für den Einsatz bei tieferen Temperaturen.

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ländes, der Bewaffnung und der Technik große Schwierigkeiten bereiten. Bei Untersuchungen über die dem Dichlordiäthylsulfid ähnlichen Stoffe wurden die Stickstoff-Loste (Stickstoff Yperite) gefunden. Diese Stoffgruppe unterscheidet sich chemisch durch den Ersatz des Schwefelatoms durch Stickstoff. Als besonders wirksame Verbindungen dieser Reihe erwiesen sich das Trichlortriäthylamin und das Methyldichlordiäthylamin dadurch, daß sie praktisch geruchlos und nur äußerst schwer zu entgiften sind. Eine von Le Wita als wichtig bezeichnete Stoffgruppe sind die Metalläthyl Verbindungen. Sie sollen sich als chemische Kampfstoffe eignen. Neben Tellurdiäthyl ist besonders das Bleitetraäthyl zu erwähnen. Bleitetraäthyl wird in der chemischen Industrie in großen Mengen hergestellt; es dient als Treibstoffzusatz, um die Klopffestigkeit zu erhöhen. In der Industrie sind beim Umgang mit diesem Stoff viele tödliche Unfälle vorgekommen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß dieser Stoff oder Mischungen mit anderen Kampfstoffen militärisch verwendet werden können. Tellurdiäthyl hat ähnliche Eigenschaften wie das Bleitetraäthyl. Es ist jedoch weniger giftig als dieses. Besonderes Interesse zeigten viele Forschungsinstitute an den Fluorverbindungen. 1934 erregte eine Meldung aus USA die Gemüter, daß in Massachusetts ein Chemiker des technologischen Instituts einen neuen tödlichen Fluorkampfstoff entdeckt habe. Der angegebene Stoff (Stick stofftrioxyfluorid) ist äußerst unbeständig, und es ist unwahrscheinlich, daß er als Kampfstoff verwendet werden kann. Die Meldung zeigte aber, daß man sich in der Kampfstofforschung einem neuen erfolgversprechenden Gebiet, der Fluorchemie, zugewandt hatte. Wie spätere Veröffentlichungen zeigten, galt das besondere Interesse 24

der Chemiker den äußerst aggressiven Fluorverbindungen vom Typ der Schwefelfluoride und der Halogenfluoride. Bekannt wurden Arbeiten über Schwefelpentafluorid und Chlortrifluorid. Diese und ähnliche Stoffe erlangten später besondere Bedeutung als Oxydationsmittel für Raketentreibstoffe. Inwieweit diese Stoffe als chemische Kampfmittel eingesetzt werden können, ist bisher noch nicht eindeutig bekannt geworden. Große Bedeutung hatten die vor dem 2. Weltkrieg systematisch durchgeführten Arbeiten über die Fluorazetate. Anfang der dreißiger Jahre war man hinter die hohe Giftigkeit der Monofluoressigsäure und des Fluoräthylalkohols sowie ihrer Ester gekommen. Besonders vom Methylfluorazetat hoffte man, daß es die für einen Kampfstoff notwendigen Eigenschaften habe. Eingehend untersuchten die Militärchemiker die Verwendungsmöglichkeiten dieser Stoffe zur Trinkwasservergiftung. Die Stoffe boten sich dafür an, da sie sich leicht in Wasser lösen und sehr stabil sind. Nachdem in Deutschland die faschistische Diktatur errichtet worden war, ließen die neuen Machthaber die militärischen Forschungen der Reichswehr stark beschleunigen. Besonders von der Herstellung neuer chemischer Kampfstoffe versprach man sich in Deutschland ein militärisches Übergewicht. Der IG-Farben-Konzern, der in der Massenproduktion chemischer Kampfstoffe eine lohnende Profitquelle sah, unterstützte diese Arbeiten, indem er die Forschungseinrichtungen und enorme finanzielle Mittel bereitstellte. Besondere Aufmerksamkeit wurde der Entwicklung solcher Kampfstoffe gewidmet, die eine ähnlich schnelle Giftwirkung wie die Blausäure, jedoch eine geringere Flüchtigkeit besitzen. Einige Stoffe, die chemisch zur Gruppe der Phosphorsäureester gehören, entsprechen diesen Forderungen. Bereits lange vor dem 25

Krieg hatte man in Deutschland versucht, synthetische Stoffe herzustellen, die an Stelle von Nikotin und anderen natürlichen Insektenbekämpfungsmitteln eingesetzt werden könnten. Zum Beispiel wurde 1932 von Lange und Krüger mitgeteilt, daß Dimethyl- und Diäthylfluorphosphat eine enorme Toxizität haben. Fußend auf diesen und anderen Arbeiten ließ der IG-Farben-Konzern weitere Arbeiten durchführen, die zu dem als Schädlingsbekämpfungsmittel äußerst wirksamen Bladan führten. Im Rahmen dieser Arbeiten entdeckte G. Schröder das Tabun. Dieser Stoff, der chemisch als Äthylester der Dimethylaminozyanphosphorsäure bezeichnet werden kann, eignet sich als Kampfstoff. Er vereinigt hohe Giftigkeit mit geringer Flüchtigkeit. Die von den IG-Farben begonnenen Arbeiten wurden mit Unterstützung des ehemaligen Heereswaffenamtes in den Labors der IG-Farben unter Leitung von G. Schröder und in Heidelberg unter der Leitung von R. Kuhn weitergeführt. Schon in den Jahren 1937/38 wurden Versuchsanlagen bei Münster/Lüneburg und in Schwansee bei Frankfurt/Oder aufgebaut. In den Jahren vor dem 2. Weltkrieg waren in Deutschland riesige Produktionsstätten für chemische Kampfstoffe und Anlagen für ihre Abfüllung in Granaten, Bomben usw. errichtet worden. Der faschistischen Armee standen Tausende Tonnen der bis dahin bekannten chemischen Kampfstoffe zur Verfügung. Sie war vollständig mit Schutzmasken und anderen Schutzmitteln ausgerüstet. Ferner standen zehn Sonderregimenter, sogenannte Nebelwerferregimenter, bereit, die mit allen erforderlichen Geräten ausgestattet waren. Kurz nach Beginn des 2. Weltkrieges begann bei Dyhernfurth an der Oder der Bau eines riesigen Werkes zur Tabunherstellung. Dieses Werk hatte nach seiner Fertigstellung trotz weitgehender automatischer Steuerung 26

eine Belegschaft von 3000 Arbeitern. Die Werkanlage breitete sich über 1 km2 aus. Oft wird die Frage gestellt, wieso im 2. Weltkrieg trotzdem keine chemischen Kampfstoffe eingesetzt wurden. Kurz vorher hatten die italienischen Faschisten bei ihrem Überfall auf Abbessinien große Mengen Dichlordiäthylsulfid eingesetzt. In diesem Krieg bestätigten sich die Prophezeiungen über die ungeheure Wirkung von Luftangriffen mit chemischen Kampfstoffen. Neben Bomben und Kanistern mit Kampfstoffüllungen verwendeten die italienischen Faschisten erstmalig Flugzeugabsprühgeräte. Unrühmlich bekannt geworden ist der Angriff im Tal von Takuse, bei dem Tausende abbessinischer Freiheitskämpfer und Zivilisten getötet wurden. Beurteilt man die Wirksamkeit der chemischen Kampfstoffe im abbessinischen Krieg, so muß man berücksichtigen, daß die abbessinischen Einheiten nicht einmal mit Schutzmasken ausgerüstet waren. Auch Japan versuchte im Krieg gegen China mehrmals, durch den Einsatz chemischer Kampfstoffe Vorteile zu erringen. Auch hier stand eine auf chemischem Gebiet nicht gerüstete Armee den wohlvorbereiteten japanischen Truppen gegenüber. Es ist nicht leicht, ein allgemeingültiges Urteil über die Gründe der Nichtanwendung chemischer Kampfstoffe im 2. Weltkrieg abzugeben. Bei Kriegsbeginn waren alle großen Militärmächte mit den für einen chemischen Krieg notwendigen Geräten und Schutzmitteln ausgerüstet. Die Faschisten waren nicht abgeneigt, einen derartigen Krieg zu führen. So versuchte beispielsweise Goebbels, durch Meldungen über die angebliche Anwendung von Yperit bei der Versenkung des deutschen Panzerkreuzers Graf Spee in der La PlataMündung, den Beginn des chemischen Krieges herauf27

zubeschwören. Einen fadenscheinigen Grund zu diesen Meldungen gab die Fehldiagnose eines Arztes. Dieser hatte die bei vielen Besatzungsmitgliedern aufgetretenen Hautschädigungen irrtümlich als Yperitverletzungen erklärt, obwohl sie lediglich auf das bromhaltige Feuerlöschmittel zurückzuführen waren, das aus den zerstörten Löschanlagen geflossen war. England protestierte daraufhin energisch gegen derartige Meldungen, die sich durch eingehende Untersuchungen auch als unzutreffend erwiesen. England seinerseits hatte kurz nach Kriegsbeginn in Dünkirchen und Calais Lager mit chemischer Munition angelegt, die aber noch vor der Besetzung durch deutsche Truppen rechtzeitig geräumt werden konnten. Auch in den anderen von den Faschisten besetzten Gebieten ist es diesen nie gelungen, nennenswerte Mengen chemischer Kampfstoffe zu erbeuten. Ein derartiges Lager hätte unter Umständen den Vorwand für den Beginn des chemischen Krieges gegeben. Im Verlaufe des Krieges verstärkten die deutschen Faschisten an vielen Hochschulinstituten und Industrielaboratorien die militärchemischen Forschungen. Neben Tabun wurden auch die Ester der Methylfluorphosphorsäure untersucht. Dabei wurden die Kampfstoffe Sarin und Soman entdeckt, die weit giftiger als das Tabun sind und die sich auf Grund ihrer chemischen Eigenschaften besser zum militärischen Einsatz eignen. Da die Herstellung dieser Stoffe große technische Schwierigkeiten bereitet, gelang es den Faschisten jedoch bis zum Ende des Krieges nicht, größere Mengen dieser Stoffe zu produzieren. Nach Literaturangaben soll sich das Soman bei Kriegsende noch im Stadium der labormäßigen Untersuchungen befunden haben. Für das Sarin war eine großtechnische Anlage noch im Bau. Tabun wurde gegen Ende des Krieges in einer 28

Menge von monatlich 1000 Mp produziert. Von Sarin sollen insgesamt etwa 25 bis 30 Mp existiert haben. In England arbeitete in Cambridge eine Forschergruppe für das englische Ministerium für Versorgung an ähnlichen Fragen wie die Gruppen in Deutschland. Diese Arbeitsgruppe untersuchte besonders die Ester der Fluorphosphorsäure auf ihre Eignung zum militärischen Einsatz. Auf einer Konferenz des Ministeriums für Versorgung in London berichtete am 11. Dezember 1941 der Leiter der Forschungsabteilung über die Ergebnisse der bis dahin durchgeführten Arbeiten, und er erläuterte besonders die Eignung von Diisopropylfluorphosphat (DFP) als Kampfstoff. Die Arbeiten wurden daraufhin verstärkt fortgesetzt und großtechnische Verfahren zur Herstellung dieser Stoffe erarbeitet. Es haben also alle Staaten bis zum Kriegsende an der Vervollkommnung der chemischen Waffe gearbeitet. Die Gefahr eines chemischen Krieges schwebte daher immer wie ein Damoklesschwert über den Völkern. Ein nicht zu unterschätzendes Hindernis für die Anwendung chemischer Kampfstoffe war das Genfer Protokoll vom 1. Juni 1925. Im Zusammenhang mit der Abrüstungsfrage und der Diskussion über die Wirksamkeit internationaler Verbote schrieb dazu die Prawda vom 26. Juni 1952: „Die politischen, völkerrechtlichen und moralischen Verpflichtungen, die die Staaten auf Grund der Unterzeichnung dieser Genfer Konvention übernommen hatten, waren im 2. Weltkrieg ein ernst zu nehmender Faktor, der die faschistischen Machthaber von der Anwendung dieser mörderischen Waffen zurückhielt. Damit wurde erwiesen, daß dieser Faktor ein wesentliches Hindernis für Aggressoren darstellt." Es gab aber auch technische und militärische Überlegungen, auf einen chemischen Krieg zu verzichten. Bei 29

Beginn des 2. Weltkrieges war die deutsche Wehrmacht beispielsweise durch Untersuchungen dahintergekommen, daß der Filtereinsatz FE 39, mit dem die deutschen Truppen ausgerüstet waren, nur wenig Schutz vor hohen Konzentrationen von Blausäure und Chlorzyan bot. Die Einsatzmöglichkeiten gerade dieser Stoffe wurden aber bei Kriegsbeginn bekannt. Die Anwendung dieser Kampfstoffe hätte zu schweren Verlusten bei den deutschen Truppen und noch mehr unter der Zivilbevölkerung geführt. Die Produktion des neuen deutschen Filters FE 42, der auch gegen diese Kampfstoffe schützte, kam nur langsam in Gang. Die Ausrüstung der Truppen konnte erst im Jahre 1944 abgeschlossen werden. Zu dieser Zeit hatten aber die Alliierten bereits eine derartige technische und militärische Überlegenheit gewonnen, daß ein chemischer Krieg sich in der Hauptsache gegen die deutschen Faschisten selbst und gegen ihre Verbündeten gerichtet hätte. Die deutsche Industrie und besonders die Zivilverteidigung hätten in den letzten Kriegsjahren in keiner Weise die Anforderungen der chemischen Abwehr befriedigen können. Nach Aussage des Nazi-Rüstungsministers Speer im Nürnberger Prozeß hatte Goebbels Anfang 1945 den Versuch unternommen, den Austritt Deutschlands aus der Genfer Konvention zu erreichen, um den Krieg mit allen Mitteln zu verschärfen. Die Militärs, erklärte Speer, lehnten jedoch insbesondere den Gaskrieg ab, „da er ja heller Wahnsinn war, denn bei der Luftüberlegenheit, die sie (die Alliierten, R. S.) hatten, mußte ja in kurzer Zeit über die deutschen Städte, die völlig schutzlos waren, eine furchtbare Katastrophe kommen".*) *) Der Prozeß gegen die Naziverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bd. XVI, Nürnberg 1948, Seite 576 ff.

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Welchen Umfang der Einsatz chemischer Kampfmittel im 2. Weltkrieg angenommen hätte, zeigt ein Vergleich zwischen der nach 1945 in Deutschland vorgefundenen Kampfstoffmenge (abgefüllt und nicht abgefüllt etwa 250 000 Mp) und dem Gesamtverbrauch aller Staaten, die im 1. Weltkrieg Kampfstoffe angewendet haben (etwa 125 000 Mp). Man erhält so ein Bild von der ungeheuren Gefahr, die der Einsatz dieser Stoffe heraufbeschworen hätte. Ein von Frankreich veröffentlichter Vergleich über die vorhandenen französischen Produktionskapazitäten unterstreicht diese Tatsache. Frankreich stellte im Oktober 1918 monatlich 500 Mp Yperit her; im Jahre 1939 hätten die Betriebe monatlich 1200 Mp Phosgen und 800 Mp Yperit produzieren können. Interessant ist eine statistische Aufstellung von Kommandeur Bonnand über die Mengen der in der damaligen anglo-amerikanischen Zone aufgefundenen Kampfstoffvorräte : 37 700 Mp Yperit 13 350 Mp Tabun 10 500 Mp Phosgen 1 700 Mp Arsine 1 700 Mp Augenreizstoffe 1 500 Mp Trichlortriäthylamin Man muß dabei berücksichtigen, daß viele Fabriken nur mit einem Bruchteil ihrer Kapazität gearbeitet haben und die aufgefundenen Mengen nur die Einsatzreserve bis zum Anlaufen der vollen Produktion waren. Nach dem 2. Weltkrieg setzten vor allem die USA die Entwicklungen auf militärchemischem Gebiet fort. Die USA hatten auf Grund ihrer Erfahrungen im 1. Weltkrieg in der Armee einen gut organisierten chemischen Dienst aufgebaut. Die bereits im 1. Weltkrieg eingerichteten chemischen Forschungs- und Erprobungsinstitute wurden 31

ständig ausgebaut und vergrößert und in Zusammenarbeit mit großen amerikanischen Chemiekonzernen die Forschungsarbeiten mit unverminderter Energie vorangetrieben. Die Finanzmittel für chemische Forschungen wurden ungeachtet der riesigen Ausgaben für die Produktion von Kernwaffen und biologischen Kampfmitteln von Jahr zu Jahr erhöht. In Arizona wurden die YumaLabors errichtet, die Stationen und Erprobungseinrichtungen für chemische und biologische Kampfmittel besitzen. In diesem Zusammenhang ist eine Mitteilung des Leiters der Abteilung für chemische Kriegführung der US-Armee erwähnenswert, die am 3. Juni 1948 in der New York Herald Tribune erschien: „Ende des 2. Weltkrieges gab es völlig neue Entdeckungen auf dem Gebiete der chemischen Kriegführung, die auf dem Schlachtfeld noch nicht ausprobiert worden sind. Wir müssen auf alle Fälle auf diesem Gebiet an der Spitze aller Staaten bleiben." Mit welchen Mitteln in den USA neue Produktionskapazitäten für chemische Kampfstoffe geschaffen werden, zeigt eine Meldung, die Der Mittag (Düsseldorf) am 23./24. April 1955 veröffentlichte. Danach wurde in Colorado mit einem Kostenaufwand von 50 Millionen Dollar ein neues automatisches Werk zur Herstellung von Phosphorsäureester-Kampfstoffen errichtet. Dieses Werk, das in der Hauptsache Sarin produziert, ist nicht das einzige seiner Art in den USA. Nach 1948 wurden mehrere Produktionsanlagen für Sarin und Soman sowie Anlagen zu ihrer Abfüllung in Bomben, Granaten und chemische Minen erbaut, die jede mindestens einen ähnlich hohen finanziellen Aufwand erforderten. Neben Produktionsanlagen, die direkt dem amerikanischen Kriegsministerium unterstehen, errichteten viele Chemiekonzerne 32

eigene Anlagen, die im Frieden Insektenbekämpfungsmittel herstellen und jederzeit auf die Produktion von Kampfstoffen umgestellt werden können. Um die neuentwickelten chemischen Kampfstoffe zu erproben, wurden große Übungsplätze eingerichtet. Von Oktober 1954 bis Januar 1955 fanden im USA-Staat Louisiana Manöver statt, an denen über 110 000 Mann und etwa 1200 Flugzeuge teilnahmen. Die angenommene Lage sah den Masseneinsatz von Kernwaffen und chemischen Kampfstoffen vor. Im Verlauf der Übung sollte die Ausrüstung der Truppen, die Truppenführung im Gefecht und die allgemeine Taktik unter den Bedingungen des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen erprobt werden. In den letzten Jahren sind in der amerikanischen und in anderer westlicher Fachliteratur Meldungen erschienen, nach denen die militärischen Forschungsstellen der USA und ihrer NATO-Partner sich mit neuartigen Kampfstoffen beschäftigen. So sollen einige Psychopharmaka mit ähnlicher Wirkung wie das bekannte Meskalin für militärische Zwecke verwendbar sein. Wahrscheinlich handelt es sich in den meisten Fällen um ausgesprochen auf das Zentralnervensystem wirkende Stoffe. Es ist selbstverständlich, daß bei der schnellen Entwicklung, die in den letzten Jahren auf den Gebieten der organischen Synthese, der Toxikologie und der Pharmakologie zu beobachten ist, viele neue Erkenntnisse erhalten wurden, für die sich die militärchemische Forschung außerordentlich interessiert. In den letzten beiden Jahren sollen in den USA auch einige größere Versuchsanlagen ihre Produktion aufgenommen haben. Es kann jedoch nicht Aufgabe dieser Arbeit sein, diese Fragen näher darzulegen. Es weisen auch keinerlei Veröffentlichungen in der Fachliteratur darauf hin, daß 3

Kampfstoffe

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sich diese Stoffe bereits in großen Mengen in der Ausrüstung der imperialistischen Armeen befinden. Einige Stoffe mit angstauslösender Wirkung, die in den letzten Jahren beschrieben worden sind, scheinen sich für den militärischen Einsatz zu eignen. Es bleibt aber abzuwarten, ob diese meist nur schwer herstellbaren Stoffe auch für die Massenproduktion tauglich sind. Die westlichen Tageszeitungen übertreiben häufig ihre Einsatzmöglichkeiten. Meist ergeben Felderprobungen völlig andere Einschätzungen als die Überprüfung im Laborversuch. Zum Teil sind die Meldungen von der Tagespresse auch mit der Absicht verfaßt worden, von den Fehlschlägen der amerikanischen Forschung in der Raketentechnik abzulenken, die Überlegenheit der USA auf anderen Gebieten der Militärtechnik zu beweisen und die Öffentlichkeit irrezuführen. In anderen Meldungen ist deutlich die Absicht zu merken, der Öffentlichkeit einzureden, daß es auch humane Seiten der chemischen Kriegführung gibt und ein Verbot der Produktion chemischer Kampfstoffe und ihrer Anwendung nicht notwendig ist. Wichtig und beachtenswert sind einige Entwicklungen auf dem Gebiete der Militärchemie, die eigentlich in das Gebiet der biologischen Kriegführung gehören. So sind zahlreiche Meldungen erschienen, nach denen in den USA und anderen NATO-Staaten besonders intensiv das Gebiet der militärisch anwendbaren Toxine*) und der wachstumsregulierenden Stoffe bearbeitet wird. Auf dem Gebiet der wachstumsregulierenden Stoffe, die den chemischen Kampfstoffen infolge ihrer synthetischen Herstellbarkeit sehr nahestehen, wurden in den letzten *) Toxine sind Giftstoffe, die als Folgeprodukte des Stoffwechsels verschiedener Mikrobenarten entstehen und eine beträchtliche toxische Wirkung gegenüber Warmblütern haben. Ein bekanntes Toxin, das sich militärisch besonders gut als Sabotagegift einsetzen läßt, ist das BotulinusToxin.

Jahren einige Einzelheiten bekannt. So wird in verschiedenen Veröffentlichungen darauf hingewiesen, daß es möglich ist, 2,4-Dichlorpbenoxyazetat zu verwenden, um das Wachstum von Kulturpflanzen zu verlangsamen. Auch andere, chemisch ähnliche Verbindungen wurden in den USA und anderen westlichen Staaten auf ihre Brauchbarkeit in einem biologischen Krieg untersucht. Wie weit sich die militärchemischen Forschungen in den NATO-Ländern auf das Gebiet biochemischer Vorgänge verlagert haben, zeigen die Veröffentlichungen über Stoffe, die in der Lage sind, Laubbäume schnell verwelken zu lassen. Diese Stoffe sollen sich als militärisch einsatzfähig erwiesen haben. Ein weites, bisher in der einschlägigen Literatur nur wenig behandeltes Gebiet der chemischen Kriegführung bilden die Sabotagegifte. Auf diesem Sektor der chemischen Kriegführung gibt es wahrscheinlich ebensoviele Möglichkeiten und spezielle Anwendungsmittel wie auf dem Gebiete der biologischen Kriegführung. Besonders die in den letzten Jahren erzielten Ergebnisse über die synthetischen Giftstoffe lassen die Möglichkeiten ahnen, die sich hier bieten. Wie intensiv man sich auch in den NATOStaaten, besonders seitens der Geheimdienste, für dieses Gebiet interessiert, zeigen die wiederholten Versuche, diese Mittel zu Sabotageakten zu verwenden, und die verstärkte Ausbildung der sogenannten Ranger-Gruppen in den Spezialschulen der NATO-Armeen. Überblickt man alle zur Zeit bekannten und möglichen chemischen Massenvernichtungsmittel, so muß man zu der Schlußfolgerung kommen, daß diese Mittel in der Hand eines kriegslüsternen imperialistischen Staates eine furchtbare Waffe sind, deren Einsatz ungeheure Verluste und Zerstörungen zur Folge hätte. Das zeigt, wie notwendig es ist, den Schutz der Menschen und der tech35

irischen Einrichtungen vor den chemischen Kampfstoffen zu organisieren, die notwendigen Ausrüstungen dafür zu schaffen und die bewaffneten Organe entsprechend auszubilden. Auf der anderen Seite zeigt die Entwicklung der chemischen Waffe, daß der Kampf um den Frieden nicht nur eine Angelegenheit einiger weniger Menschen sein kann, sondern daß sich in diesem Kampf die ganze Menschheit zusammenfinden muß, weil es ein Kampf um ihre Existenz ist. Die Anstrengungen der friedliebenden Menschen müssen noch, stärker werden, um es den Kriegstreibern zu verwehren, ihren seit Jahren vorbereiteten Krieg zu entfesseln. Die Vertreter der Sowjetunion haben auf den Tagungen der UN und der Abrüstungskonimission immer wieder auf die Gefahr hingewiesen, die alle modernen Massenvernichtungswaffen für die Menschheit darstellen, und konkrete und für alle Staaten annehmbare Vorschläge für das absolute Verbot der Massenvernichtungswaffen eingebracht. So beantragte die Sowjetunion 1952 in der Debatte des Sicherheitsrates, der Rat solle alle Staaten, gleichgültig, ob Mitglied oder nicht Mitglied der UN, die bis dahin das Genfer Protokoll nicht ratifiziert hätten, auffordern, dies nachzuholen. Dieser Antrag wurde von der USA-hörigen Mehrheit mit fadenscheinigen Gründen abgelehnt. Die USA, die bis heute noch nicht das Genfer Protokoll ratifiziert haben, wollten sich damit alle Möglichkeiten für die weitere Entwicklung der chemischen und biologischen Waffe offenhalten. Es ist daher notwendig, daß sich alle Angehörigen unserer bewaffneten Kräfte einen Überblick über die chemischen Waffen und ihre Einsatzmöglichkeiten verschaffen, um im Falle eines imperialistischen Angriffs mit chemischen Waffen wirkungsvolle Gegenmaßnahmen einleiten zu können. 36

Um die Kampfeigenschaften, Anwendungsmöglichkeiten und Vernichtungswirkungen sowie die Verhaltensweise der Kampfstoffe unter den verschiedensten meteorologischen und topografischen Verhältnissen zu verstehen, um die Schutz- und Erste-Hilfe-Maßnahmen bei Vergiftungen mit chemischen Kampfstoffen zu begreifen, ist die Kenntnis der vielfältigen Eigenschaften der chemischen Kampfstoffe erforderlich. Wie kaum bei einer anderen modernen Waffenart sind zur näheren Beurteilung der chemischen Kampfstoffe viele grundlegende Erkenntnisse und Gesetzmäßigkeiten aus den verschiedensten naturwissenschaftlichen und medizinischen Wissenszweigen zu berücksichtigen. Gerade diese Tatsache ist häufig die Ursache für falsche Einschätzungen der chemischen Kampfmittel, für die Unter- oder Überschätzung ihrer möglichen Rolle in einem modernen Krieg. Es kann nicht oft und eindringlich genug auf das intensive Studium der Naturwissenschaften hingewiesen werden. Der komplizierte Charakter eines modernen Krieges ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß von allen Angehörigen der militärischen und zivilen Organe zur Erfüllung ihrer Aufgaben im Falle eines Krieges umfassende Grundkenntnisse auf ihrem Fachgebiet als Voraussetzung für die erfolgreiche Lösung ihrer Aufgaben verlangt werden.

2. Allgemeine Eigenschaften und Wirkungen chemischer Kampfstoffe Um das Verständnis für die Beschreibung der chemischen Kampfstoffe zu erleichtern, werden deshalb im allgemeinen Teil dieses Buches einige physikalische, chemische und pharmakologische Grundbegriffe und Gesetze behandelt. In erster Linie sollen dabei Begriffe erläutert werden, die für das Verständnis der Grundlagen der chemischen Kriegführung von Bedeutung sind.

2.1 Physikalische Eigenschaften der Kampfstoffe

Die wichtigsten physikalischen Eigenschaften, die für die militärtechnische Beurteilung der chemischen Kampfstoffe Bedeutung haben, sind: Schmelzpunkt, Siedepunkt, Dampfdruck, Sättigungskonzentration (ungenau auch Flüchtigkeit), Seßhaftigkeit, spezifisches Gewicht, Dampfdichte, Adsorbierbarkeit und Löslichkeit. 2.1.1 Schmelzpunkt Als Schmelzpunkt eines Stoffes bezeichnet man die Temperatur, bei welcher ein Stoff aus dem festen Zustand in den flüssigen übergeht. Diese Temperatur ist eine charakteristische Konstante für jeden reinen Stoff und dient oft zur Bestimmung der Art und der Reinheit einer chemischen Substanz. Stoffgemische oder großtechnische Produkte haben meist keinen scharf ausgeprägten Schmelzpunkt und werden bei Erwärmung allmählich flüssig. Ähnliches gilt für amorphe Stoffe.*) *) Amorph nennt man den gestaltlosen Zustand fester Stoffe, bei denen, im Gegensatz zu den Kristallen, die physikalischen Eigenschaften nach allen Richtungen gleich sind.

38

Die Kenntnis des Schmelzpunktes der chemischen Kampfstoffe ist für die Beurteilung ihrer Anwendungsmöglichkeiten notwendig. So müssen zum Beispiel chemische Kampfstoffe, die zur Geländevergiftung eingesetzt werden sollen, einen niedrigen Schmelzpunkt haben, der ihren flüssigen Zustand auch noch bei winterlichen Temperaturen gewährleistet. Flüssige Kampfstoffe lassen sich besser verteilen, besitzen eine größere Wirkung auf Oberflächen und dringen besser und wesentlich schneller in Gewebe, Holz und andere Materialien ein. Um flüssige Kampfstoffe, deren Schmelzpunkt in der Nähe des Gefrierpunktes des Wassers liegt, auch im Winter einsatzfähig zu erhalten, wird der Schmelzpunkt durch den Zusatz von anderen Stoffen entsprechend herabgesetzt. Als Zusatzstoffe dienen Kampfstoffe, die bei wesentlich niedrigerer Temperatur schmelzen, oder auch andere Stoffe und Lösungsmittel, die Gemische mit niedrigem Schmelzpunkt bilden. Im 1. Weltkrieg wurden taktische Mischungen des Kampfstoffes Yperit verwendet, dessen Schmelzpunkt durch Zusatz von Tetrachlorkohlenstoff oder Chlorbenzol verbessert worden war. Durch Zusatz von 10 Prozent Tetrachlorkohlenstoff erniedrigt sich der Schmelzpunkt von Yperit, der normalerweise bei 14 °C liegt, um rund 10 °C. Im 2. Weltkrieg wurde von deutscher Seite eine taktische Yperit-Mischung hergestellt, die 54 Prozent Yperit, 25 Prozent Phenylarsindichlorid und 21 Prozent Diphenylarsinchlorid enthielt. Diese "Mischung wurde als Winterlost bezeichnet und war bis zu - 25 °C einsatzfähig. Die Schmelzpunkterniedrigung eines Stoffgemisches kann 39

nach dem Raoultschen Gesetz berechnet werden, das durch folgende Gleichung ausgedrückt wird:

TDiff n R T s

= = = = =

Schmelzpunkterniedrigung in °Celsius Anteil des gelösten Stoffes in Molen pro Liter allgemeine Gaskonstante Schmelztemperatur des Lösungsmittels [°K] Schmelzwärme des Lösungsmittels

In modernen taktischen Mischungen chemischer Kampfstoffe sind Stoffe zugesetzt, die meistens selbst hochgiftig sind und bereits bei kleinen Zusatzmengen hohe Temperatureffekte ergeben. So ist zum Beispiel aus der Literatur bekannt, daß sich hochtoxische Phosphorsäureester zur Herstellung von Yperit-Wintermischungen eignen, die weitaus giftiger sind als das Yperit selbst. Die chemischen Kampfstoffe schmelzen in einem weiten Temperaturbereich. Nur wenige Kampfstoffe, die unter modernen Kampfbedingungen einsatzfähig sind, sind bei normalen Temperaturen im festen Zustand. Bei diesen Kampfstoffen handelt es sich meistens um sogenannte Aerosol-Kampfstoffe*), die erst im feinverteilten Zustand als Rauch oder Nebel ihre größte Wirksamkeit besitzen. Ein Beispiel dafür ist der Kampfstoff Adamsit, ein hochwirksamer Rachenreizstoff. 2.1.2 Siedepunkt Der Siedepunkt eines Stoffes gibt die Temperatur an, bei der dieser vom flüssigen Zustand in den gasförmigen übergeht. Der Siedepunkt eines Stoffes ist abhängig von dem Luft- (bzw. Gas-)druck, der auf dem Stoff lastet. Zu einer *) Als Aerosol bezeichnet man dem Zustand, in dem sich feinverteilte Schwebstoffe (Rauch, Nebel) in der Luft scheinbar stabil erhalten.

genauen Angabe des Siedepunktes eines Stoffes gehört deshalb auch die Angabe des Druckes, bei dem dieser Wert gewonnen wurde. Wie groß die Unterschiede bei verschiedenen Temperaturen sein können, soll folgendes Beispiel zeigen: Sarin siedet unter Normaldruck (760 mm Hg-Säule) bei 151 °C, bei einem Druck von 12 mm Hg-Säule jedoch bereits bei 50 °C. Der Siedepunkt chemischer Kampfstoffe ist für ihre Handhabung während des Herstellungsprozesses und bei der Abfüllung von großer Wichtigkeit. So müssen zum Beispiel Kampfstoffe mit einem niedrigen Siedepunkt durch Unterkühlungs- oder Druckverfahren in Granaten oder andere Einsatzbehälter abgefüllt werden, während bei Zimmertemperatur flüssige Kampfstoffe mit einem hohen Siedepunkt einfacher und sicherer gehandhabt werden können. Aus diesem Grunde wurde im 1. Weltkrieg beispielsweise das flüssige Diphosgen eingesetzt, das zwar etwas ungiftiger als Phosgen ist, jedoch infolge seines wesentlich höheren Siedepunktes gefahrloser gehandhabt werden kann. Die Angabe der Siedetemperatur eines Kampfstoffes kann zur ungefähren Ermittlung seiner Seßhaftigkeit im Gelände dienen. Flüchtige Kampfstoffe haben meist einen Siedepunkt unter 130 °C. Bei seßhaften Kampfstoffen liegt der Siedepunkt über 150 °C. Bei dieser Faustregel muß jedoch beachtet werden, daß die Aerosol-Kampfstoffe nicht unter diese Einteilung fallen. Der Siedepunkt läßt in diesen Fällen erkennen, ob der Kampfstoff als Aerosol gefechtsmäßig anwendbar ist. Flüchtige Kampfstoffe Phosgen Chlorzyan Blausäure Diphosgen

Siedepunkt (°C) 8,2 13 26,5 107 41

Seßhafte Kampfstoffe Soman Yperit . Brombenzylzyanid Phenylarsindichlorid

Siedepunkt (°C) ca. 200 217 242 252

2.1.3 Dampfdruck Jeder feste oder flüssige Stoff besitzt das Bestreben, in den gasförmigen Zustand überzugehen. Es bildet sich deshalb über jedem festen oder flüssigen Körper eine Dampfschicht, die einen Druck ausübt. Diesen Druck bezeichnet man als Dampfdruck. Der Dampfdruck wird in Millimeter Quecksilbersäule oder in Atmosphären gemessen. Der Dampfdruck besitzt für jeden Stoff bei jeder Temperatur einen bestimmten Wert. Steigt die Temperatur, wird der Dampfdruck größer, fällt die Temperatur, wird er kleiner. Der Dampfdruck eines Stoffes bei einer gegebenen Temperatur kann nach der Formel von Regnault berechnet werden: p = Dampfdruck in mm Hg = für jeden Stoff charakteristische Konstanten t

= Temperatur in OCelsius

Die Konstanten A und B wurden von Baxter und Mumford für einige wichtige Kampfstoffe bestimmt und haben folgende Werte: Kampfstoff Phosgen Chlorpikrin Bromzyan 42

A 7,5595 8,2424 10,3282

B 1326 2045,6 2457,5

Kampfstoff Yperit Methylarsindichlorid Diphenylarsinchlorid

A 8,3937 8,6944 7,8930

B 2734,5 2281,7 3288

Der Dampfdruck chemischer Kampfstoffe ist für ihre Seßhaftigkeit und bei einigen auch für ihre Wirksamkeit auf die Atmungsorgane wichtig. Je kleiner der Dampfdruck eines Stoffes ist, um so langsamer verdunstet dieser. Die Seßhaftigkeit der Kampfstoffe im Gelände wird wesentlich von der Temperatur bestimmt. Im Winter ist die Seßhaftigkeit eines flüssigen Kampfstoffes größer als im Sommer. So beträgt die Seßhaftigkeit des Kampfstoffes Diphosgen im Sommer (20 °C) etwa 10 min bei normaler Vergiftungsdichte und geringer Windgeschwindigkeit. Im Winter wurden Zeiten bis zu einigen Stunden beobachtet. Der Dampfdruck ist auch von Bedeutung für die physiologische Wirksamkeit eines Stoffes. Seßhafte Kampfstoffe, die auf die Atmungsorgane wirken sollen, müssen einen Dampfdruck haben, der bei normalen Witterungs- und Geländebedingungen zur Erzielung kräftiger physiologischer Wirkungen ausreicht. Diese Verhältnisse zeigen sich am besten bei der Betrachtung der Yperitdämpfe. Im Winter ist der Dampfdruck von Yperit so gering, daß nur selten durch Dämpfe Hautverletzungen auftreten können. Im Sommer besitzt Yperit einen so hohen Dampfdruck, daß die Dämpfe binnen einiger Stunden bei geringer Windgeschwindigkeit erhebliche Hautverletzungen hervorrufen. Bei nervenschädigenden Kampfstoffen vom Typ des Sarins können bereits bei erheblich niedrigeren Temperaturen als bei Yperit Vergiftungen auftreten, da die physiologische Wirksamkeit dieser Stoffe wesentlich größer ist.

Die Dampfdrücke einiger wichtiger Kampfstoffe: Kampfstoff

Dampfdruck (mm Hg-Säule) bei 20 °C 2 * 10-13 5 * 10-4 0,1 0,12 0,9 1,43 2

Adamsit Diphenylarsinchlorid . Yperit Tabun DFP Sarin Äthylarsindichlorid. . . Methylarsindichlorid . 8 Chlorpikrin 16,9 Blausäure 603

2.1.4 Sättigungskonzentration Als Sättigungskonzentration bezeichnet man die Menge eines Stoffes, die bei einer bestimmten Temperatur in einem Kubikmeter gesättigten Dampfes enthalten ist. Die Sättigungskonzentration hängt vom Dampfdruck des Stoffes bei der jeweiligen Temperatur ab. Die Angabe dieses Wertes erfolgt in mp/m3. Die Sättigungskonzentration eines Stoffes, dessen Dampfdruck bekannt ist, kann für eine bestimmte Temperatur nach folgender Formel berechnet werden:

CSätt M p t

= Sättigungskonzentration in mp/m 3 = Molekulargewicht des Stoffes = Dampfdruck des Stoffes in mm Hg = Temperatur in °Celsius.

Die Sättigungskonzentrationen der Kampfstoffe liegen i 44

ziemlich weiten Grenzen. Die Sättigungskonzentrationen einiger Kampfstoffe: Kampfstoff Diphenylarsinchlorid Yperit Tabun Diphosgen Sarin Chlorpikrin

Sättigungskonzentration (mp/m3) 0,17 570 650 26 000 11300 184 000

Die starke Abhängigkeit der Sättigungskonzentration von der Temperatur zeigen die folgenden Angaben über Yperit: Temperatur (°C) -18 0 10 20 40

Sättigungskonzentration (mp/m3) 45 96 210 570 2640

Die Sättigungskonzentration ist ein Maß für die Flüchtigkeit eines Kampfstoffes. Ein Beispiel für den wesentlichen Einfluß der Sättigungskonzentration eines Kampfstoffes auf seine Wirksamkeit unter Gefechtsbedingungen ist die Verwendung von Xylylbromid in den Jahren des 1. Weltkrieges. Xylylbromid, das bei 215 °C siedet, ist infolge seiner geringen Sättigungskonzentration nur bei Temperaturen über 20 °C als wirksamer Geländekampfstoff zu verwenden. Von deutscher Seite wurde mit dem Xylylbromid im Winter 1914/15 ein chemischer Überfall unternommen, der auf die beschossenen Einheiten keinerlei

Wirkung hatte, da die geringen Temperaturen die Reizwirkung dieses Stoffes nicht zur Geltung kommen ließen. 2.1.5 Spezifisches Gewicht

Als spezifisches Gewicht bezeichnet man das Gewicht, das ein Kubikzentimeter eines bestimmten Stoffes hat. Man mißt dieses Gewicht in p/cm3. Meist gibt man das spezifische Gewicht bei einer Temperatur von 20 °C an. Das spezifische Gewicht der Kampfstoffe ist von untergeordneter Bedeutung. Es ist lediglich für das Verhalten . wasserunlöslicher Kampfstoffe bedeutungsvoll und dient zur Berechnung des Kampfstoffinhaltes von Bomben, Granaten und chemischen Minen. Die spezifischen Gewichte einiger Kampfstoffe: Kampfstoff Yperit Diphosgen Phenyldichlorarsin Sarin.... Soman DFP Tabun

Spezifisches Gewicht (p/cm3) 1,27 1,64 1,65 1,09 1,01 1,07 1,08

2.1.6 Dampfdichte

Als Dampfdichte bezeichnet man das Gewicht eines Kubikmeters Gas bei 0 °C und 760 mm Hg-Säule in Kilopond. Durch die Dampfdichte der gasförmigen Kampfstoffe läßt sich das Verhalten der von ihnen gebildeten Kampfstoffwolken beurteilen. Sehr oft wird das Verhältnis der Dampfdichte des Gases zur Dampfdichte der Luft angegeben. Luft hat eine Dampfdichte von 1,29. 46

Die Dampfdichte wichtiger Kampfstoffe bei 20 °C (gasförmiger Zustand): Kampfstoff Blausäure Chlorzyan Phosgen Sarin Yperit Tabun. DFP

Dampfdichte 1,2 2,7 4,4 6,3 7,1 7,2 8,1

2.1.7 Löslichkeit

Die Löslichkeit der Kampfstoffe ist für ihr Verhalten gegenüber den Entgiftungsmitteln und für ihre Brauchbarkeit in taktischen Mischungen von großer Bedeutung. Die Löslichkeit kann in Gewichtsprozenten angegeben werden, in Volumenprozenten, in Pond je Liter Lösungsmittel und in Pond je Kilopond Lösungsmittel. Meist wird die Löslichkeit nur in Gewichtsprozenten angegeben. Die Löslichkeit eines festen oder flüssigen Stoffes ist abhängig von der Temperatur. Im allgemeinen nimmt die Löslichkeit mit steigender Temperatur zu. Bei Gasen hängt die Löslichkeit aber nicht nur von der Temperatur, sondern auch noch vom Druck des Gases über dem Lösungsmittel ab. Die Löslichkeit der Kampfstoffe in "Wasser ist für die Beurteilung der Wirksamkeit wäßriger Entgiftungsmittel wichtig. Wasser zersetzt fast alle Kampfstoffe (Hydrolyse), wobei zu beachten ist, daß die Geschwindigkeit dieser Zersetzung wesentlich von der Löslichkeit des Kampfstoffes abhängt. 47

Die Löslichkeitswerte einiger Kampfstoffe im Wasser: Kampfstoff

Adamsit Blausäure. . . . Sarin Soman Yperit DFP

Löslichkeit

unlöslich in jedem Verhältnis mischbar in jedem Verhältnis mischbar unter 1 % etwa 1 % 1,5 %

2.2 Chemische Eigenschaften der Kampfstoffe

Zur Charakterisierung der chemischen Kampfstoffe ist eine Reihe von chemischen Eigenschaften wichtig. Dabei interessieren militärisch besonders die Eigenschaften, welche die Lagerungs-, Entgiftungs- und Erkennungsmöglichkeiten sowie das Verhalten der Kampfstoffe unter den Einflüssen der Atmosphäre bestimmen. Zu diesen chemischen Eigenschaften, gehören das Verhalten gegen die Entgiftungsmittel, speziell die Hydrolysier- und Oxydierbarkeit, sowie die analytischen Reaktionen. Im folgenden Abschnitt werden einige der allgemeinen chemischen Eigenschaften besprochen.

Die meisten Kampfstoffe sind in organischen Lösungsmitteln löslich. Die günstigsten organischen Lösungsmittel für Kampfstoffe sind chlorierte Stoffe, zum Beispiel Tetrachlorkohlenstoff, Dichloräthan, Trichloräthylen, Chlorbenzol. In Alkoholen lösen sich besonders gut esterartige Kampfstoffe, zum Beispiel DFP, Sarin und Soman. Auch die anderen Kampfstoffe lösen sich in Alkoholen (Methylalkohol, Äthylalkohol) mehr oder weniger gut. Diese Wirksamkeit organischer Lösungsmittel wird bei der Entgiftung empfindlicher Geräte ausgenutzt, die eine Behandlung mit aggressiven Entgiftungsmitteln nicht vertragen (optische Geräte usw.). Wie die Löslichkeit eines Kampfstoffes von der Temperatur abhängt, zeigt die Löslichkeit von Yperit in Benzin: Temperatur (°C) Löslichkeit (Vol.-%) -10 unter 4% - 5 5% 0 7% 5 14% 10 77% 30 unbegrenzt Die Tabelle zeigt, daß sich Benzin im Winter wenig zur Reinigung von Geräten eignet. Ähnlich verhält es sich bei anderen Lösungsmitteln.

Als Hydrolyse bezeichnet man die Umsetzung der Stoffe mit Wasser. Die Geschwindigkeit dieser Umsetzung hängt von den Eigenarten des Stoffes und von der Temperatur ab. Bis auf wenige Ausnahmen sind die chemischen Kampfstoffe gegenüber dem Wasser unbeständig. Für ihren gefechtsmäßigen Einsatz und besonders für die Beurteilung ihrer Wirksamkeit unter dem Einfluß der Luftfeuchtigkeit, von Regen usw. ist daher die Kenntnis der Hydrolysierbarkeit von großem Interesse. Außerdem interessiert diese Eigenschaft hinsichtlich der Entgiftungsmöglichkeiten durch Kochen oder Dampfentgiftungsmethoden (für die Behandlung vergifteter Bekleidung und Ausrüstung). Eine ganze Anzahl von Kampfstoffen (Phosgen, Diphosgen, Phosgenoxim, Blausäure) ist nur sehr wenig beständig gegenüber Wasser; sie werden schnell hydrolysiert. Daher . eignen sich diese Kampfstoffe nicht für den Einsatz bei feuchter Witterung. Andere Kampfstoffe (Yperit, Stickstoff-Yperit, Brombenzylzyanid) werden nur langsam

48

4

2.2.1 Hydrolysierbarkeit

Kampfstoffe

49

hydrolysiert und können im Gelände lange Zeit ihre physiologische Wirksamkeit behalten. Je höher daher die Beständigkeit eines Kampfstoffes gegenüber dem Einfluß des Wassers ist, um so wertvoller ist der Stoff für den militärischen Einsatz. Die wasserempfindlichen Kampfstoffe erfordern bei der Lagerung und bei ihrer Abfüllung in Behälter, Bomben und Granaten besondere Vorsichtsmaßnahmen (Verwendung trockener Gefäße, Abschirmung der Luftfeuchtigkeit usw.). Um die Entgiftungsmöglichkeiten für Bekleidung und Ausrüstung beurteilen zu können, muß die Abhängigkeit der Hydrolysegeschwindigkeit von der Temperatur beachtet werden. Allgemein gilt, daß die Hydrolysegeschwindigkeit mit Erhöhung der Temperatur zunimmt. Bei höheren Temperaturen, zum Beispiel durch Kochen. Behandlung mit Heißdampf und alkalischen Flüssigkeiten kann also in kürzester Zeit entgiftet werden. Zur Erläuterung dieser Beziehungen kann die Hydrolyse von Yperit dienen. Bei Zimmertemperatur dauert die vollständige Hydrolyse des Kampfstoffes mehrere Stunden, während bei Temperaturen um den Siedepunkt des Wassers die Hydrolyse bereits nach wenigen Minuten vollständig ist. Für die praktische Ausnutzung dieser Gesetzmäßigkeiten sind folgende Faktoren zu berücksichtigen : das Verhältnis Wasser-Kampfstoff, die Löslichkeit des Kampfstoffes in Wasser, der Dispersionsgrad des Kampfstoffes in Wasser, der Säure- bzw. Alkaligehalt des Wassers, die anwesenden Hydrolyseprodukte usw. Um eine sichere Entgiftung des Kampfstoffes zu erreichen, wird deshalb eine wesentlich längere Entgiftungszeit angesetzt, als theoretisch angesichts der Hydrolysegeschwindigkeit für die betreffende Temperatur notwendig wäre. So beträgt die theoretische Entgiftungszeit für Yperit bei 95 °C nur einige Minuten; man setzt jedoch die 50

Entgiftungszeit beim Kochen vergifteter Bekleidung auf mindestens eine halbe Stunde fest, um sicher zu sein, daß der Kampfstoff vollständig hydrolysiert wird. Ähnliche Zeiten gelten auch für andere Kampfstoffe mit einer relativen Beständigkeit gegenüber Wasser. 2.2.2 Verhalten gegen Entgiftungsmittel Viele chemische Kampfstoffe erfordern zu ihrer Beseitigung von Gegenständen, Bekleidungsstücken oder von der Haut chemische Entgiftungsverfahren. Aus diesem Grunde interessiert ihr Verhalten gegenüber den technisch leicht zugänglichen Entgiftungsstoffen (Chlorkalk, Alkalien, Chloramine, einige Oxydationsmittel). Diese Entgiftungsmittel wirken hauptsächlich oxydierend, hydrolysierend und chlorierend auf die Kampfstoffe. Dabei muß berücksichtigt werden, daß in Abhängigkeit von der Eigenart und dem chemischen Aufbau der Kampfstoffe die Entgiftungsreaktionen für diesen oder jenen Kampfstoff von mehr oder weniger praktischer Bedeutung sind. In vielen wissenschaftlichen Arbeiten wurden diese Umsetzungsreaktionen untersucht und die jeweils günstigsten Entgiftungsmöglichkeiten ausgewählt. Oxydierende Entgiftungsmittel wie Chlorkalk und Kaliummanganat eignen sich für leicht oxydierbare Kampfstoffe vom Typ des Yperits. Alkalien sind günstig für Kampfstoffe mit Esterstruktur wie Tabun, Sarin und Soman. Für die Entgiftung chemischer Kampfstoffe sind besonders solche Reaktionen von Bedeutung, bei denen die Endprodukte nur geringe oder keine toxische Wirkung besitzen. In diesem Zusammenhang sind besonders die Kampfstoffe zu nennen, die in ihrer Struktur Arsen enthalten, da bei diesen Stoffen selbst mit den energischsten Entgiftungsmitteln die toxische Wirkung nicht voll51

ständig beseitigt werden kann. Die Endprodukte derartiger Entgiftungsreaktionen enthalten Arsen und sind deshalb noch immer giftig, obwohl ihnen der Kampfstoffcharakter fehlt. Ähnlich verläuft die Umsetzung von Blausäure mit Alkalien. Im Ergebnis dieser Reaktionen bilden sich Zyanide, die noch über eine ziemlich hohe Toxizität verfügen, aber ebenfalls keinen Kampfstoffcharakter mehr besitzen. Bei der Behandlung der einzelnen Kampfstoffe werden die jeweils wichtigsten Entgiftungsreaktionen angeführt.

Mengen ermöglichen. Bei der Bestimmung moderner Kampfstoffe vom Sarin-Typ müssen beispielsweise noch Mengen von 0,01 mp/m3 Luft in wenigen Minuten sicher erfaßt werden. Daran zeigt sich die Wichtigkeit der Untersuchung analytischer Reaktionen zur Erkennung und quantitativen Bestimmung der chemischen Kampfstoffe. Da diese Fragen aber nur einen kleinen Kreis von Militärchemikern interessieren, soll auf sie im Rahmen dieser kurzen Einführung in die Probleme der chemischen Kampfstoffe nicht näher eingegangen werden.

2.2.3 Analytische Reaktionen

Die Existenz, Art und Menge chemischer Kampfstoffe in der Luft, in Erd-, Stoff- und anderen Proben wird meist mit Hilfe chemischer Reaktionen festgestellt, die mehr oder weniger spezifisch für den betreffenden Kampfstoff oder auch eine Kampfstoffgruppe sind. Diese Reaktionen führen bei Anwesenheit chemischer Kampfstoffe zu charakteristischen Färb- oder anderen physikalischen Eigenschaftsänderungen, die zur Erkennung oder quantitativen Bestimmung der Kampfstoffe ausgenutzt werden. In der militärchemischen Forschung nimmt das Interesse an der Erforschung neuer und für die einzelnen Kampfstoffe spezifischer Reaktionen und Nachweismethoden ständig zu. Das hängt mit der modernen Entwicklung der Kampfstoffchemie zusammen. Die Entdeckung der Kampfstoffe mit extrem hoher Giftwirkung wie Sarin und Soman erfordert neue und hochempfindliche Nachweisund Bestimmungsmethoden für den militärischen Gebrauch. Während noch vor dem 2. Weltkrieg zur Bestimmung der damals bekannten Kampfstoffe eine geringe Empfindlichkeit und Spezifität ausreichte, müssen heute Reaktionen und Verfahren angewendet werden, die eine sichere Erkennung des Kampfstoffes noch in minimalsten 52

2.3 Physiologische Wirkungen chemischer Kampfstoffe

Als physiologische Wirkung der chemischen Kampfstoffe bezeichnet man die Art und Weise sowie die Stärke ihrer Einwirkung auf den Organismus. Die Art der Einwirkung auf den Organismus hängt von den Eigenschaften des Kampfstoffes ab. Es gibt Kampfstoffe mit vorwiegend reizerregender Wirkung auf die Augen, die Schleimhäute des Nasen-Rachenraumes und die Haut, lungenschädigende, zellzerstörende sowie blut- und nervenschädigende Kampfstoffe; außerdem gibt es Kampfstoffe, die vorwiegend auf die physiologischen Mechanismen des Gasaustausches in der Lunge wirken. Es ist verständlich, daß bei dieser Vielzahl der Wirkungsmöglichkeiten die Systematisierung der Kampfstoffe nach physiologischen Gesichtspunkten nur bedingt möglich ist. Hinzu kommt, daß die meisten chemischen Kampfstoffe mehrere physiologische Einwirkungsarten auf den Organismus besitzen. Ferner spielt eine Rolle, daß die physiologischen Wirkungen in beträchtlichem Maße von der Menge des einwirkenden Kampfstoffes und von der Empfindlichkeit des Organismus abhängen. Noch schwieriger als die Systema53

tisierung ist die Gewinnung brauchbarer Zahlenangaben, mit deren Hilfe die Wirksamkeit ähnlicher chemischer Kampfstoffe auf den Organismus verglichen werden kann. Trotzdem ist es erforderlich, wenigstens relative Werte für die Beurteilung der Kampfstoffe zu ermitteln. Zu diesem Zwecke unterscheidet man Kampfstoffe mit vorwiegend reizerregenden Eigenschaften und solche mit ausgeprägter Giftwirkung. Zur Charakterisierung der Kampfstoffe mit vorwiegend reizerregenden Eigenschaften dienen die Reizschwelle und die Erträglichkeitsgrenze. Bei Kampfstoffen mit vorwiegender Giftwirkung kann die tödliche Dosis, die tödliche Konzentration und - mit Einschränkung — das Tödlichkeitsprodukt zur Einschätzung der Giftwirkung dienen. 2.3.1 Reizschwelle

Als Reizschwelle bezeichnet man die Konzentration eines Kampfstoffes, die bei einer einminütigen Einwirkungszeit auf den Teil des Organismus, auf den die Substanz hauptsächlich wirkt, einen gerade noch merkbaren Reiz hervorruft. Die Konzentration wird dabei meist in Millipond je Liter oder auch in Pond je Kubikmeter Luft angegeben. Bei Augenreizstoffen wird als Reizschwellenwert die Konzentration angegeben, die gerade noch Tränenfluß hervorruft; bei Nasen-Rachenreizstoffen entspricht der kleinste merkbare Reizeffekt des Stoffes auf die Schleimhäute des Nasen-Rachenraumes dem Reizschwellenwert. Ähnliches gilt für die Hautreizstoffe oder für andere Kampfstoffe, die neben ihrer Giftwirkung noch eine nicht zu unterschätzende Reizwirkung auf den Organismus haben, zum Beispiel Diphosgen. Mitunter wird auch die Reizschwelle für hautschädigende Kampfstoffe angegeben. In diesen Fällen gilt die begin54

nende Hautrötung als Kriterium für die minimalste merkbare Einwirkung. Um die physiologischen Wirkungen der Reizstoffe besser miteinander vergleichen zu können, empfiehlt sich nur ein Vergleich der Reizschwellenwerte der Kampfstoffe, die an ähnlichen Orten auf den Organismus einwirken und die sich in ihren sonstigen Eigenschaften nur wenig unterscheiden. Da für militärische Zwecke — besonders für Gefechtsbedingungen — nur die Wirksamkeit interessiert, kann mit einigen Einschränkungen der Reizschwellenwert als allgemeines Charakteristikum herangezogen werden. Die wichtigsten Reizstoffe mit militärischer Bedeutung besitzen folgende Reizschwellenwerte: Kampfstoff Adamsit Diphenylarsinchlorid Brombenzylzyanid Chlorazetophenon Bromazeton Chlorpikrin

Reizschwellenwert (mp/m3) 0,01 0,02 0,3 0,5 1,0 2,0

Der stärkste Reizstoff ist nach dieser Aufstellung Adamsit. Er wird auch als der Reizstoff angesehen, der selbst in einem modernen Krieg noch von Bedeutung ist. Es muß jedoch betont werden, daß es nicht möglich ist, nur aus einer Eigenschaft eines Stoffes die Zweckmäßigkeit seines Einsatzes unter Gefechtsbedingungen zu beurteilen. Bei Adamsit sprechen allerdings auch seine sonstigen Eigenschaften und die Produktionsmöglichkeiten für seinen Einsatz als chemischer Kampfstoff. 55

2.3.2 Erträglichkeitsgrenze Als Erträglichkeitsgrenze bezeichnet man die Konzentration eines Stoffes, die von einem Menschen bei einer einminütigen Einwirkung gerade noch ohne behindernde Reizerregungen ertragen werden kann. Bei Augenreizstoffen gilt die Erträglichkeitsgrenze als erreicht, wenn die Augen nicht mehr geöffnet werden können; bei NasenRachenreizstoffen versteht man darunter die Konzentration, bei der sich nicht mehr zu unterdrückender, Husten und Kopfschmerzen einstellen. Die Erträglichkeitsgrenze hat für die militärische Anwendung der Reizstoffe große Bedeutung. Beim Gefechtseinsatz müssen, um wirksame Effekte zu erzielen, mindestens Konzentrationen angewendet werden, die über der Erträglichkeitsgrenze liegen. Deshalb wurde bei Einsatzberechnungen die Erträglichkeitsgrenze oder ein mehrfaches dieses Wertes als Grundlage genommen, um die Granat- beziehungsweise Bombenzahl je Flächeneinheit des Zieles zu berechnen. Die wichtigsten Reizstoffe besitzen folgende Erträglichkeitsgrenzwerte : Kampfstoff

Erträglichkeitsgrenzwert (mp/m3) Adamsit 0,4 Diphenylarsinchlorid 1,0 Chlorazetophenon 4,5 Bromazeton 30 Brombenzylzyanid 30 Chlorpikrin 50 Auch diese Tabelle zeigt die hohe Wirksamkeit von Adamsit. Die übrigen genannten Kampfstoffe besitzen nur noch geringe militärische Bedeutung, da ihre Herstellung meist schwierig und kostspielig ist und ihre 56

Lagerungsmöglichkeit begrenzt ist. Chlorazetophenon und Chlorpikrin werden in den meisten Ländern nur noch für Dichtheitsprüfungen der Schutzmasken und für Übungszwecke gebraucht. 2.3.3 Tödliche Dosis Als tödliche Dosis bezeichnet man die Menge eines Giftes, die bei der Einwirkung auf den Organismus tödlich verlaufende Vergiftungserscheinungen hervorruft. Dieser Wert läßt sich sehr schwierig bestimmen, da die für eine tödliche Vergiftung notwendige Giftmenge von sehr vielen Faktoren abhängt. So müssen bei Versuchstieren die Tierart, das Geschlecht, das Alter des Tieres, die Lebensgewohnheiten, die Konstitution, der Gesundheitszustand und die Art beziehungsweise der Ort der Einwirkung des Giftes berücksichtigt werden. Es ist allerdings nicht möglich, die bei Tierversuchen gewonnenen Ergebnisse auf andere Tierarten oder gar auf den Menschen zu übertragen. Um deshalb für Vergleichszwecke brauchbare Mittelwerte zu erhalten, wird bei Tierversuchen eine größere Anzahl von Tieren zur Bestimmung der Tödlichkeitswerte verwendet. Meist gibt man nicht die absolut tödliche Dosis an, sondern die Menge des Giftes, die bei 50% der benutzten Versuchstiere zu tödlichen Vergiftungen führt. Die Angabe erfolgt zweckmäßigerweise in Gewichtsteilen (Millipond oder Pond) je Kilopond Körpergewicht. Man nennt diesen Wert die 50%ige tödliche Dosis (LD50). Bei Angabe dieses Wertes muß noch die Art der Giftaufnahme (Applikationsart) genannt werden, da die tödlichen Dosen bei verschiedenen Aufnahmearten sehr unterschiedlich sein können. So sind die tödlichen Dosen bei der Aufnahme durch die Haut (kutane Aufnahme) wesentlich höher als bei Injektionen in die Muskeln (intramuskuläre Injektion), 57

in die Venen (intravenöse Injektion) oder bei der Aufnahme mit Speisen oder Getränken (Aufnahme durch den Mund — per os). Vergleich der 50%ig tödlichen Dosen einiger nervenschädigender Kampfstoffe: Kampfstoff 50%ig tödliche Dosis (LD50) Aufnahme durch Injektion in die die Haut Muskeln Tabun 50-70 mp/kp 0,1 -0,2 mp/kp Sarin 30-50 mp/kp 0,06-0,09 mp/kp Soman . . . 10-30 mp/kp 0,03-0,06 mp/kp 2.3.4 Tödliche Konzentration Um die Giftwirkung eines Stoffes bei seiner Aufnahme mit der Atmungsluft zu beurteilen, muß man seine tödliche Konzentration kennen. Dieser Wert ist besonders für die Beurteilung gasförmiger beziehungsweise dampfförmiger chemischer Kampfstoffe wichtig. Auch hier gibt man am besten die Konzentration des Giftes an, die bei 50% der Versuchstiere zu tödlichen Vergiftungen führt. Man spricht dann analog der tödlichenDosis von der 50 %ig tödlichen Konzentration (LC50). Die tödlichen Konzentrationen der Kampfstoffe sind sehr unterschiedlich. Es ist natürlich, daß der Kampfstoff die größte Wirksamkeit besitzt, der bei den niedrigsten Konzentrationen Vergiftungserscheinungen hervorruft. Bei der 50%ig tödlichen Konzentration ist die gleichzeitige Angabe der Einwirkungszeit erforderlich, da bei längerer Dauer bereits geringere Konzentrationen tödliche Vergiftungen zur Folge haben. Die LC50-Werte einiger chemischer Kampfstoffe: Kampfstoff 50 %ig tödliche Konzentration Einwirkungszeit 10 min Phosgen . 500 mp/m 3 Blausäure 400 mp/m3 58

Kampfstoff Tabun Sarin Soman

50 %ig tödliche Konzentration Einwirkungszeit 10 min 50 mp/m3 20 mp/m3 10 mp/m3

2.3.5 Tödlichkeitsprodukt Der deutsche Chemiker Haber führte für den Vergleich der physiologischen Wirksamkeit der Kampfstoffe das sogenannte Tödlichkeitsprodukt ein. Dieser Wert ist das Produkt aus tödlicher Konzentration und Einwirkungszeit : C*t

= Tp

C = Konzentration des Kampfstoffes t = Einwirkungszeit Tp = Tödlichkeitsprodukt Die Konzentration wird meist in Millipond je Kubikmeter und die Einwirkungszeit in Minuten angegeben. Das Tödlichkeitsprodukt kann natürlich nur für grobe Einschätzungen und zu Überschlagsberechnungen verwendet werden, da die Zahlenwerte jeweils nur für einen kleinen Bereich der Konzentrationen und wenig unterschiedliche Einwirkungszeiten angenähert stimmen. Trotzdem wurden in vielen Staaten die Tödlichkeitsprodukte als Grundlage der Normen für die Anwendung chemischer Kampfstoffe genommen. Die Tödlichkeitsprodukte einiger chemischer Kampfstoffe : Kampfstoff Tödlichkeitsprodukt Chlor 10 000 Diphosgen 5 300 Phosgen 5 000 Chlorzyan 4 500 59

Kampfstoff Blausäure Tabun Sarin Soman

Tödlichkeitsprodukt 4 000 450 150 80

Ein Kampfstoff ist um so gefährlicher, je geringer der Wert des Tödlichkeitsprodukts ist. Man kann die angegebenen Werte für Überschlagsberechnungen aber nur bei Einwirkungszeiten von wenigen Minuten als Grundlage nehmen. In den letzten Jahren wurden die Tödlichkeitsprodukte immer weniger zur Einschätzung chemischer Kampfstoffe gebraucht, da die exaktere 50%ig tödliche Dosis wesentlich genauere Beurteilungen erlaubt.

3. Klassifizierung chemischer Kampfstoffe Die chemischen Kampfstoffe können nach verschiedenen Gesichtspunkten eingeteilt werden. So können die chemischen oder physikalischen Eigenschaften, die physiologischen Wirkungen oder die taktischen Einsatzmöglichkeiten die Grundlage zu einer Einteilung der Kampfstoffe geben. Die Einteilung nach chemischen Gesichtspunkten ist kompliziert, sie kann meist auch nur zur genauen chemischen Erläuterung der Eigenschaften der Kampfstoffe verwendet werden. Sie gibt nur wenig Hinweise für die taktischen Anwendungsmöglichkeiten. Am einfachsten ist die Einteilung nach physikalischen Gesichtspunkten, da durch die physikalischen Eigenschaften der Kampfstoffe eine grobe Einteilung nach Anwendungsmöglichkeiten durchführbar ist. Prinzipiell kann man je nach dem Aggregatzustand bei normalen Temperaturen die Kampfstoffe in gasförmige, flüssige und feste chemische Kampfstoffe einteilen. Je nach Flüchtigkeit unterscheidet man flüchtige und seßhafte Kampfstoffe.

3.1 Flüchtige Kampfstoffe Zu den flüchtigen Kampfstoffen zählen alle Stoffe, die bei normaler Temperatur nur kurzzeitig im Gelände eine hohe Konzentration in der Luft bilden. Zu dieser Gruppe gehören alle Kampfstoffe, deren Siedepunkt unter 130 °C liegt. Man bezeichnet diese Stoffe auch als kurzwirkende Kampfstoffe. In diese Gruppe werden außer den gasförmigen Kampfstoffen Phosgen und Chlorzyan auch Diphosgen, Blausäure, Chlorpikrin, Phosgenoxim und ähnliche Kampfstoffe eingeordnet. 61

3.2 Seßhafte Kampfstoffe

Die seßhaften Kampfstoffe haben eine geringe Flüchtigkeit und sind infolge ihres geringen Dampfdruckes in der Lage, einen Geländeabschnitt längere Zeit zu vergiften. Zu dieser Gruppe, auch Gruppe der langwirkenden Kampfstoffe genannt rechnet man die schwerflüchtigen Stoffe Yperit, Stickstoff-Yperit, Lewisit, Tabun, Phenylarsindichlorid und andere. Auch die Kampfstoffe Sarin und Soman sind viel weniger flüchtig als die Gruppe der kurzwirkenden Kampfstoffe und können deshalb als seßhafte Kampfstoffe bezeichnet werden.

3.3 Aerosole

Eine Reihe von Kampfstoffen, besonders Kampfstoffe mit einem hohen Siedepunkt, erreichen ihre größte Wirksamkeit, wenn sie als Nebel oder Rauch (Aerosol) eingesetzt werden. Zu dieser Gruppe gehören Adamsit, Diphenylarsinchlorid, Diphenylarsinzyanid sowie einige andere Stoffe. Diese Stoffe besitzen ausgesprochen reizerregende Eigenschaften auf die Schleimhäute des NasenRachenraumes. Sie werden entsprechend ihrer Anwendungsform auch als Giftrauchstoße bezeichnet. Diese Stoffe sind nach ihrer praktischen Wirkungsdauer mit den kurzwirkenden Kampfstoffen gleichzusetzen, da sie sich wie die Luft im Gelände verhalten. Daneben können einige hier unter den seßhaften Kampfstoffen aufgezählte Stoffe ebenfalls durch Versprühen in der Luft in eine hochwirksame Form gebracht werden.

62

3.4 Klassifizierung nach physiologischen Gesichtspunkten

Sehr zweckmäßig ist die Einteilung der chemischen Kampfstoffe nach physiologischen Gesichtspunkten. Bei dieser Einteilung ordnet man die Kampfstoffe nach ihrer Hauptwirkung auf den Organismus. Man unterscheidet: 1. Augenreizstoffe 2. Nasen- und Rachenreizstoffe 3. Lungenschädigende Kampfstoffe 4. Hautschädigende Kampfstoffe 5. Blut- und nervenschädigende Kampfstoffe Natürlich hat diese Einteilung Mängel, da viele Kampfstoffe gleichzeitig auf mehrere Organe einwirken können. Chlorpikrin beispielsweise wirkt außer auf die Augen auch sehr stark auf die Lunge. Die Dämpfe von Yperit oder aerolisiertes Yperit verursachen sehr starke Verletzungen der Augen und der Atmungsorgane, obwohl Yperit zu den hautschädigenden Kampfstoffen zählt.

4. Augenreizstoffe Als Augenreizstoffe bezeichnet man die chemischen Kampfstoffe, deren Wirkung auf den Organismus vorwiegend auf eine Tränenerregung beschränkt ist. Sie werden in der Literatur auch als Tränenreizstoffe oder Tränengase bezeichnet. Chemisch handelt es sich bei diesen Stoffen meist um halogenierte Ketone, Halogenkarbonsäureester sowie halogenierte aromatische Verbindungen. Sie haben meist nur eine geringe Giftwirkung und sind unter modernen Gefechtsbedingungen nur noch von untergeordneter Bedeutung. Sie werden hauptsächlich für Übungszwecke und für Dichtheitsprüfungen der Schutzmasken verwendet. In den kapitalistischen Ländern werden für Polizeizwecke Tränengashandgranaten und andere Mittel gegen Streikende, Demonstranten und gegen Freiheitskämpfer in den noch kolonialen Ländern eingesetzt. Die wichtigsten Augenreizstoffe sind Bromazeton,Chlorazetophenon und Brombenzylzyanid.

4.1 Bromazeton

BrCH2-CO-CH3

Einer der ersten von der deutschen Armee im 1. Weltkrieg eingesetzten Augenreizstoffe war das Bromazeton. Es wurde unter der Deckbezeichnung B-Stoff als Füllung für chemische Granaten und Handgranaten verwendet. Dieser Stoff wurde erstmalig 1863 von Linnemann hergestellt und beschrieben. Die starken tränenerregenden Eigenschaften und die technisch einfache Herstellungsweise veranlaßten die deutschen Chemiker, das Bromazeton für militärische Zwecke auszuwählen. Die ersten Granaten mit Brom64

azetonfüllung kamen Anfang 1915 an die Front und wurden später entsprechend ihrer Kennzeichnung zu den Weißkreuz-Granaten*) gezählt. 4.1.1 Physikalische und chemische Eigenschaften

Bromazeton ist im reinen Zustand eine farblose, stechend riechende Flüssigkeit mit einem spezifischen Gewicht von 1,6. Bei normalem Druck siedet es bei 136 °C. Der Erstarrungspunkt liegt bei — 54 °C, der Dampfdruck bei 20 °C entspricht 9 mm Hg-Säule. Infolge der hohen Sättigungskonzentration, die 75 p/m 3 bei 20 °C beträgt, wird Bromazeton zu den flüchtigen chemischen Kampfstoffen gezählt. Bei längerem Stehen und unter Einfluß von Wärme und Licht verfärbt sich dieser Stoff durch Bildung von Zersetzungsprodukten allmählich bräunlich. Dieser Zersetzungsprozeß kann durch Stabilisatoren verzögert werden. Während des 1. Weltkrieges wurde dem Bromazeton feinpulverisiertes Magnesiumoxyd zugesetzt, das bei der Lagerung freiwerdende Säure band und das Auftreten von Zersetzungserscheinungen um einige Monate verzögerte. Bromazeton ist in Wasser wenig, in Alkohol, Benzol, Azeton und anderen organischen Lösungsmitteln gut löslich. Technisches Bromazeton ist eine gelbe bis braune Flüssigkeit, die bei längerem Stehen einen harzigen Bodensatz bildet. Bromazeton greift bei der Lagerung eiserne Behälter an, da sich Bromwasserstoffsäure abspaltet, die stark korrodierend wirkt. Blei-, Glas- und Porzellangefäße werden nicht angegriffen. Um Korrosionsschäden an den Granathüllen zu vermeiden, wurden die Granaten im 1. Weltkrieg mit Blei ausgekleidet, später verwendete man Granaten, deren Innenraum emailliert war. Eine Entgiftung ist nach einer Bromazeton-Einwirkung *) Als Weißkreuz-Granaten wurden in der deutschen Armee alle Granaten mit Augenreizstoffüllung bezeichnet. 5

Kampfstoffe

65

meist nicht notwendig, da es infolge seiner hohen Flüchtigkeit schnell verdampft. Sind Textilien oder andere poröse Materialien stark mit Bromazeton benetzt, so kann der Reizstoff durch Lüften oder (im Winter) durch eine Warmluftbehandlung leicht entfernt werden. In Laboratorien oder anderen Räumen, in denen sich durch Unvorsichtigkeit oder nach Dichtheitsprüfungen starke Konzentrationen gebildet haben oder in denen sich flüssiges Bromazeton befindet, kann der Reizstoff durch eine Lösung zerstört werden, die 250 p Natriumsulfid (oder Kaliumsulfid) und 30 p Seife oder Waschmittel in 10 1 Wasser enthält. Diese Lösung wird auf die benetzten Oberflächen oder im Raum versprüht. 4.1.2 Physiologische Wirkungen Bromazeton ist einer der stärksten Augenreizstoffe. Die Reizschwelle liegt bei 1 mp/m3 und die Erträglichkeitsgrenze bei 30 mp/m3. Bei einer Konzentration von 40 bis 50 mp/m3 tritt eine so starke Tränenreizung ein, daß es unmöglich ist, die Augenlider zu öffnen. Stärkere Konzentrationen können Augenbindehautentzündungen hervorrufen. Die Empfindlichkeit gegenüber Bromazetondämpfen ist sehr verschieden. Manche Menschen werden bei wiederholter Einwirkung auf die Augen überempfindlich, während sich andere fast daran gewöhnen. Wenn flüssiges Bromazeton in die Augen gerät, so entstehen schwere Augenverletzungen, die sich unter Umständen zur Erblindung steigern können. Die Giftwirkung des Bromazetons ist sehr gering. Erst Konzentrationen von einigen Pond je Kubikmeter sind gefährlich. Kommen flüssige Bromazetontropfen mit der Haut in Berührung, so rötet sich die Haut, und es bilden sich Blasen. Diese Erscheinungen sind jedoch ungefährlich, da sie spätestens nach einigen Tagen wieder vergehen. 66

4.1.3 Anwendungsmöglichkeiten

Von französischer Seite wurde Bromazeton unter der Bezeichnung Martonite in einer Mischung mit 20% Chlorazeton in Granaten verschossen. Nachdem man aber bessere und stabilere Reizstoffe entwickelt hatte, fand das Bromazeton kaum noch militärische Verwendung. Infolge seiner hohen Reiz- aber geringen Giftwirkung kann das. Bromazeton für Dichtheitsprüfungen beim Anpassen von Schutzmasken verwendet werden. Die Konzentration darf dabei 100 mp/m3 nicht übersteigen, um Verletzungen zu verhindern. Bei hohen Bromazetonkonzentrationen kann die Bekleidung eine große Menge Reizstoff aufnehmen und noch Stunden danach eine starke Reizwirkung hervorrufen. Im 1. Weltkrieg wurde Bromazeton auch für die Prüfung von Schutzmaskenfiltern verwendet. Zu diesem Zweck wurde ein Luftstrom mit einer Geschwindigkeit von 20 l/min und einem Bromazetongehalt von 15 p/m 3 durch den Filtereinsatz geblasen. Die Filter mußten 45 min lang den Durchbruch des Reizstoffes aufhalten.

4.2 Brommethyläthylketon BrCH2-CO-C2H5

Brommethyläthylketon wurde im 1. Weltkrieg als Ersatz für Bromazeton eingeführt. Dieser Ersatz wurde notwendig, da das zur Herstellung von Bromazeton benötigte Azeton in großen Mengen als Lösungsmittel für die Sprengstoffindustrie gebraucht wurde. Die Reizwirkung dieses Stoffes ist etwas geringer als die von Bromazeton. Deutscherseits wurde Brommethyläthylketon als Bn-Stoff und französischerseits als Homomartonite bezeichnet. 67

4.2.1 Physikalische und chemische Eigenschaften Brommethyläthylketon ist eine farblose oder leicht bräunliche Flüssigkeit mit einem spezifischen Gewicht von 1,43. Der Siedepunkt liegt bei 145 °C. Bei dieser Temperatur treten bereits Zersetzungserscheinungen auf. Der Stoff kann deshalb nur unter vermindertem Druck destilliert werden. In Wasser ist Brommethyläthylketon unlöslich. Gegenüber Bromazeton ist es etwas länger lagerungsfähig. Die chemischen Eigenschaften des Brommethyl äthylketons ähneln denen des Bromazetons. Durch alkoholische Alkalilösung läßt sich zum Beispiel das Brom abspalten. Zur Entgiftung kann gleichfalls NatriumsulfidSeifenlösung verwendet werden. 4.2.2 Physiologische Wirkungen Die Reizschwelle von Brommethyläthylketon liegt bei 2 mp/m3 und die Erträglichkeitsgrenze bei 15 mp/m3. In seinen sonstigen physiologischen Wirkungen entspricht es dem Bromazeton.

4.3 Bromessigester BrCH2COOC2H5 Bromessigester (genauer Bromessigsäureäthylester) soll nach deutschen Angaben als erster chemischer Stoff mit Reizwirkung von der französischen Armee bereits in den ersten Kriegsmonaten des 1. Weltkrieges eingesetzt worden sein. Er soll zur Füllung von Gewehrgranaten und später auch von Artilleriegeschossen gedient haben. Dieser Stoff wurde von Perhin und Duppa im Jahre 1858 hergestellt. Bromessigester wird von der chemischen Industrie in großen Mengen als Zwischenprodukt für organische Synthesen im Labor und bei großtechnischen Prozessen hergestellt. 68

Dieser Stoff soll nach deutschen Angaben bereits 1912 auf Vorschlag des städtischen Laboratoriums der Stadt Paris in die Ausrüstung der französischen Armee aufgenommen worden sein. Diese Mitteilung ist in vielen deutschsprachigen Veröffentlichungen enthalten, um Frankreich die Schuld für den Beginn des völkerrechtswidrigen chemischen Krieges in die Schuhe zu schieben. Während des 1. Weltkrieges wurde Bromessigester nur selten für Reizstoffgranaten verwendet, da sich Bromazeton und andere Reizstoffe wesentlich leichter herstellen lassen und auch eine stärkere Wirksamkeit haben. 4.3.1 Physikalische und chemische Eigenschaften Reiner Bromessigsäureäthylester ist eine farblose Flüssigkeit mit einem stechenden Geruch. Der Siedepunkt dieses Stoffes liegt bei 168 °C und der Erstarrungspunkt bei - 13,8 °C. Das spezifische Gewicht beträgt bei 20 °C 1,51, die Sättigungskonzentration bei der gleichen Temperatur 21 p/m3. Im Wasser ist Bromessigsäureäthylester unlöslich, gut löslich dagegen in allen organischen Lösungsmitteln. Bei längerer Berührung mit Wasser oder der Luftfeuchtigkeit tritt ein hydrolytischer Zerfall ein. Durch wäßrige oder wäßrig-alkoholische Natronlauge läßt sich Bromessigsäureäthylester schnell zersetzen. In Metallgefäßen kann er relativ lange ohne starke Zersetzungserscheinungen aufbewahrt werden. 4.3.2 Physiologische Wirkungen Bromessigester ist ein starker Augenreizstoff. Die Reizschwelle liegt bei 10 mp/m3 und die Erträglichkeitsgrenze bei 40 mp/m3. Gefährliche Vergiftungen sollen bei einer Konzentration von 0,3 p/m 3 und einer Einwirkungszeit von 10 bis 15 min beobachtet worden sein. .69

4.4 Xylylbromid

CH 3 -(C 6 H 4 )-CH 2 Br

Im Januar 1915 wurden von der deutschen Armee Granaten eingesetzt, die eine Füllung von Xylylbromid enthielten. Es wurde als T-Stoff bezeichnet und in eigens dafür hergestellte Granaten gefüllt. Von deutscher Seite wurden im 1. Weltkrieg etwa 500 Mp dieses Stoffes hergestellt und eingesetzt. Es war praktisch der erste chemische Kampfstoff, der im 1. Weltkrieg zur Anwendung kam. Der erste Einsatz an der deutsch-russischen Front brachte jedoch keinen Erfolg, da die tiefen Temperaturen eine Gefechtswirkung unmöglich machten. Erst bei einem zweiten Einsatz an der Flandernfront erwies sich Xylylbromid als ausreichend gefechtswirksam. Xylylbromid wurde erstmalig im Jahre 1882 von Radziszewski hergestellt.

Ursachen tödliche Vergiftungen. Xylylbromid wurde noch im Verlaufe des 1. Weltkrieges durch das Phenylkarbylaminchlorid abgelöst, das über günstigere Eigenschaften verfügen soll.

4.5 Phenylkarbylaminchlorid

C6H5-NCC12

Phenylkarbylaminchlorid wurde im 1. Weltkrieg von der deutschen Armee angewendet. Man gebrauchte etwa 700 Mp dieses Stoffes als Maskierungsmittel für das gefährlichere Yperit. Durch diesen Stoff sollte der Geruch des Yperits überdeckt und dem Gegner somit ein alleiniger Einsatz von Reizstoff vorgetäuscht werden. Phenylkarbylaminchlorid wurde 1874 von Sell und Zierold hergestellt.

4.4.1 Physikalische und chemische Eigenschaften Xylylbromid ist im reinen Zustand eine farblose Flüssigkeit, die bei 210 °C siedet. Bei 20 °C beträgt das spezifische Gewicht 1,4 und die Sättigungskonzentration 600 mp/m3. Technisches Xylylbromid ist ein braunes Öl, das aus den drei isomeren Substitutionsprodukten besteht. Es riecht stark aromatisch. Bei der Lagerung in Metallgefäßen zersetzt sich Xylylbromid und wirkt stark korrodierend, weshalb es im 1. Weltkrieg nur in bleiausgekleideten Gefäßen gelagert wurde. Auch die Granaten erhielten aus diesem Grunde Bleiwandungen.

4.5.1 Physikalische und chemische Eigenschalten Phenylkarbylaminchlorid ist eine ölige Flüssigkeit mit einem starken, zwiebelähnlichen Geruch. Der Siedepunkt liegt bei 210 °C. Das spezifische Gewicht ist 1,3, und die Sättigungskonzentration liegt bei 20 °G bei 2 p/m3. Phenylkarbylaminchlorid ist unlöslich in Wasser, löst sich jedoch gut in organischen Lösungsmitteln und flüssigen Kampfstoffen (Yperit). Bei Zimmertemperatur wird es von Wasser nur wenig angegriffen. Es ist auch in Metallgefäßen ausreichend lagerfähig. Wegen seines hohen Siedepunktes und der geringen Flüchtigkeit wird Phenylkarbylaminchlorid zu den seßhaften chemischen Kampfstoffen gerechnet.

4.4.2 Physiologische Wirkungen Die Reizschwelle des Xylylbromids liegt bei 1,8 mp/m 3 und die Erträglichkeitsgrenze bei 15 mp/m3. Die Giftwirkung ist verhältnismäßig gering. Erst 6 p/m 3 ver-

4.5.2 Physiologische Wirkungen Die Reizschwelle dieses Kampfstoffes liegt bei 3 mp/m3 und die Erträglichkeitsgrenze bei 30 mp/m3. Tödliche

70

71

Vergiftungen sollen erst bei einer Konzentration von 5 p/m 3 bei einer Einwirkungszeit von 10 min auftreten. Unter modernen Bedingungen ist dieser Stoff ohne besondere Bedeutung.

4.6 Chlorazeton

ClCH2-CO-CH3

Chlorazeton wurde von den Franzosen als Ersatz für bromhaltige Reizstoffe eingesetzt, da sich in Frankreich bereits kurz nach Kriegsbeginn ein akuter Brommangel bemerkbar machte. Dieser Kampfstoff wurde in französischen Veröffentlichungen als Tonite bezeichnet. Nachdem auf französischer Seite wirksamere Kampfstoffe gefunden worden waren, verwendete man diesen Stoff nur noch als Lösungsmittel für taktische Mischungen und für Übungszwecke. Chlorazeton wurde bereits 1859 von Riche hergestellt, als dieser eine Lösung von Chlorwasserstoff in Azeton elektrolysierte. 4.6.1 Physikalische und chemische Eigenschaften Chlorazeton ist eine wasserklare Flüssigkeit mit einem stechenden Geruch, die bei 119 °C siedet. Das spezifische Gewicht beträgt 1,16. Die Sättigungskonzentration bei 20 °C liegt bei 61 mp/m3. Chlorazeton ist in Wasser nur wenig löslich, dagegen gut in organischen Lösungsmitteln. Wasser zersetzt den Stoff nicht. Von Aktivkohle werden die Chlorazetondämpfe gut adsorbiert. Bei längerer Lagerung zersetzt sich Chlorazeton zu einer festen, dunklen Substanz. Eisen beschleunigt diesen Vorgang. Die Granaten und Lagergefäße mußten deshalb mit einer Schutzschicht versehen werden. 72

4.6.2 Physiologische Wirkungen Die Reizwirkung von Chlorazeton ist geringer als die von Bromazeton. Die Reizschwelle liegt bei 18 mp/m3 (Bromazeton 1 mp/m3) und die Erträglichkeitsgrenze bei 100 mp/m 3 (Bromazeton 30 mp/m3). Die Giftwirkung ist stärker als bei den bisher beschriebenen Stoffen ausgeprägt. Konzentrationen von 3 p/m3 sollen nach Literaturangaben bei einer einminütigen Einatmung zu tödlichen Vergiftungen führen.

4.7 Chlorazetophenon

C1CH2-CO-C6H5

Chlorazetophenon wurde nach dem 1. Weltkrieg in den USA auf seine Eignung als chemischer Kampfstoff untersucht und in großen Mengen für militärische Zwecke hergestellt. Es ist der wirksamste Augenreizstoff, der bisher in der Literatur beschrieben wurde. In den USA wird dieser Stoff militärisch als CN-Gas bezeichnet und noch immer in großen Mengen hergestellt und gelagert. Erstmalig wurde Chlorazetophenon von Graebe beschrieben, der es durch Einwirkung von Chlor auf Azetophenon darstellte. Später wurde es von Friedet und Crafts durch die nach diesen beiden Chemikern benannte Reaktion — Umsetzung von Chlorazetylchlorid mit Benzol bei Gegenwart von Aluminiumchlorid — erhalten. Bereits in den damaligen Veröffentlichungen wurde die starke Reizwirkung dieses Stoffes beschrieben. 4.7.1 Physikalische und chemische Eigenschaften Reines Chlorazetophenon ist ein farbloser, kristalliner Stoff mit einem schwachen Geruch, der an Faulbeerbaum blätter erinnert.. Der Schmelzpunkt liegt bei 58 °C und 73

der Siedepunkt unter normalem Druck bei 244 °C. Der Dampfdruck bei 20 °C ist gering und entspricht etwa 0,01 mm Hg-Säule. Bei der gleichen Temperatur beträgt die Sättigungskonzentration etwa 105 mp/m 3 . Das spezifische Gewicht ist bei 15 °C 1,32. Technisches Chlorazetophenon ist gelb bis gelbbraun gefärbt und besitzt einen stärkeren aromatischen Geruch als der reine Stoff. In Wasser ist Chlorazetophenon nur wenig löslich (1 p in 1000 cm3), es wird durch Wasser praktisch nicht zersetzt. In organischen Lösungsmitteln (Alkohol, Tetrachlorkohlenstoff, Benzol, Äther, Benzin) ist es gut löslich, in verschiedenen flüssigen Kampfstoffen sogar sehr gut (Diphosgen, Chlorzyan, Bromazeton). Die gute Löslichkeit des Kampfstoffes wird bei seiner Anwendung in Zerstäubereinrichtungen ausgenutzt. Aus einer konzentrierten Lösung von Chlorazetophenon in Tetrachlorkohlenstoff verdampft nach der Zerstäubung das Lösungsmittel, und das Chlorazetophenon bleibt in einer feinen, reizkräftigen Verteilung in der Luft zurück.

wichtigsten Augenreizstoffe, die auch noch unter modernen Bedingungen von Bedeutung sind. In Metallbehältern ist eine jahrelange Lagerung ohne Korrosionserscheinungen möglich. Auch die Lösungen lassen sich bei luftdichtem Abschluß der Behälter mehrere Jahre lang aufbewahren. Entgiftungsmaßnahmen sind bei diesem Kampfstoff unter .Gefechtsbedingungen wahrscheinlich nur selten notwendig, da er sich beim Lüften der Bekleidung oder bei Luftzutritt an die Oberflächen der vergifteten Geräte schnell wieder verflüchtigt. Räume oder Geräte, die mit Kampfstofflösungen benetzt oder verunreinigt wurden, können durch eine Lösung von 5 bis 10% Natriumsulfid in 50 %igem Alkohol gereinigt werden. Notfalls kann man eine angewärmte Natriumsulfid-Wasserlösung dazu benutzen. Bei der Umsetzung von Chlorazetophenon mit Natriumsulfid bildet sich, besonders wenn eine warme alkoholische Lösung angewendet wird, Phenazylsulfid nach folgender Reaktionsgleichung:

Chlorazetophenon ist physikalisch und chemisch gesehen eine sehr stabile Substanz. Es wird im Wasser auch beim Sieden nicht zersetzt und unterliegt selbst bei einer langen Lagerung in feuchter Atmosphäre keinen chemischen Zersetzungsreaktionen. Unter normalem Druck treten beim Siedepunkt ebenfalls keine wesentlichen Zersetzungserscheinungen auf; beim Verschwelen in ReizstoffSchwelkörpern oder bei der Detonation von Granaten und Bomben wird es praktisch vollständig als Dampf oder Aerosol verteilt.

2 C5H6COCH2C1

Infolge seines relativ hohen Schmelzpunktes läßt sich Chlorazetophenon leicht in Granaten, Bomben oder andere Anwendungsmittel einschmelzen und ohne besondere Schutzmaßnahmen handhaben. Daher ist es einer der 74

Na2S

(C6H5COCH2)2S Phenazylsulfid

2 NaCl

Die bei der Umsetzung entstehenden Endprodukte besitzen keine Reizwirkung. Bekleidung oder andere Ausrüstungsgegenstände können auch durch Warmluftverfahren gereinigt werden. 4.7.2 Physiologische Wirkungen Chlorazetophenon wirkt ausgesprochen tränenreizerregend. Die Reizschwelle liegt bei 0,5 mp/m 3 . Auch bei Chlorazetophenon ist die Wirkung stark individuell bedingt. In den meisten Fällen nimmt die Empfindlichkeit bei wiederholter Einwirkung von Chlorazetophenon zu. Die Erträglichkeitsgrenze liegt bei 4,5 mp/m 3 . 75

Bei Konzentrationen über 5 mp/m 3 tritt besonders bei der Mundatmung ein ausgesprochener Rachenreiz auf; bei höheren Konzentrationen werden auch Reizerscheinungen auf der Haut, besonders an empfindlichen Hautstellen beobachtet. Die Hautreize sind meist harmloser Natur und verschwinden kurze Zeit nach' dem Verlassen der vergifteten Atmosphäre. Wird die Haut mit Chlorazetophenonlösungen benetzt, machen sich stechendes Brennen und Hautrötungen bemerkbar, die nach dem Abtupfen der Lösung fast immer wieder verschwinden. Die Giftwirkung von Chlorazetophenon ist sehr gering. Erst bei Konzentrationen von über 5 p/m 3 und einer mehrminütigen Einwirkungszeit sollen tödlich verlaufende Vergiftungen bei Tierversuchen vorgekommen sein. 4.7.3 Anwendungsmöglichkeiten

Die faschistische Wehrmacht besaß chemische Granaten, die eine Füllung von Chlorazetophenon hatten und sich besonders für die gleichzeitige Anwendung mit Brisanzund Splittergranaten eignen sollten. Auch chemische Bomben mit kombinierter Splitter- und Reizwirkung (Chlorazetophenonfüllung) wurden im faschistischen Deutschland hergestellt. Nach dem 2. Weltkrieg wurden außerdem Nebelgranaten mit einem Zusatz von Chlorazetophenon in den Munitionsfabriken aufgefunden. In den USA wurden Reizstoff-Nebelkörper produziert, die in der Brandmischung oder in besonderen Schwelkammern Chlorazetophenon enthielten. Eine in der Literatur beschriebene Reizstoff-Nebelmischung bestand aus einer Zinknebelmischung mit einem Zusatz von Chlorazetophenon. Die Lagerbeständigkeit dieser Mischungen soll jedoch ungenügend sein. Für Übungszwecke wurden in verschiedenen Staaten Nebelkörper mit einer Chlorat76

-Zuckermischung hergestellt, die in einer Bohrung Chlorazetophenon enthielten. Chlorazetophenonlösung ist in den meisten TränengasHandgranaten enthalten, die von den Polizeikräften der kapitalistischen Staaten gegen Demonstranten eingesetzt werden.

4.8 Brombenzylzyanid

Brombenzylzyanid wurde gegen Kriegsende und auch noch nach dem 1. Weltkrieg in den Laboratorien und auf den Versuchsplätzen des Chemical Warfare Service*) der USA-Armee in Edgewood-Arsenal im Staat Maryland auf seine militärische Brauchbarkeit untersucht. Die Versuchsergebnisse zeigten eine hohe Reizwirkung und eine ziemlich hohe Beständigkeit. Das Brombenzylzyanid wurde in den USA als Ca-Gas und in Frankreich als Camite bezeichnet. Einige Megapond aus amerikanischer Produktion sollen gegen Ende des 1. Weltkrieges von der französischen Armee eingesetzt worden sein. Erstmalig wurde dieser außerordentlich starke Reizstoff von Reimer im Jahre 1881 hergestellt. Reines Brombenzylzyanid konnte erst 1914 isoliert werden. 4.8.1 Physikalische und chemische Eigenschatten

Reines Brombenzylzyanid besteht aus weißgelben Kristallen. Der Schmelzpunkt liegt bei 25,4 °C und der Siedepunkt bei 242 °C unter normalem Druck. Bei dieser Temperatur treten Zersetzungserscheinungen auf. Die Kristalle des reinen Produkts werden bei der Lagerung allmählich gelb. Das spezifische Gewicht des Stoffes beträgt *) Chemischer Dienst.

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bei 20 °C 1,51. Der Dampfdruck entspricht 0,012 mm HgSäule, die Sättigungskonzentration wurde bei 20 °C mit 130 mp/m3 bestimmt. Technisches Brombenzylzyanid ist ein braunes Öl mit einem scharfen, stechenden Geruch. Es erstarrt bei etwa — 5 bis — 10 °C. Brombenzylzyanid ist in Wasser unlöslich, leicht löslich dagegen in Alkohol, Benzol, Tetrachlorkohlenstoff, Azeton, Bromazeton, Chlorpikrin, Diphosgen und anderen Kampfstoffen. Die gute Löslichkeit in anderen Kampfstoffen wird ausgenutzt, um taktische Mischungen herzustellen. Von verschiedenen Forschungsinstituten wurde die Mischbarkeit von Brombenzylzyanid und Chlorpikrin untersucht, wobei gefunden wurde, daß besonders eine Mischung mit 25% Chlorpikrin eine hohe Wirksamkeit bis zu Temperaturen von etwa 10 °C besitzt. Brombenzylzyanid ist gegen chemische Einwirkung verhältnismäßig beständig. Durch Wasser wird es nur langsam zersetzt. Da entsprechend der physikalischen Eigenschaften Brombenzylzyanid zu den seßhaften chemischen Kampfstoffen gerechnet werden muß, kann beim Einsatz dieses Stoffes eine Entgiftung mit chemischen Mitteln notwendig werden. Zur Vernichtung von Brombenzylzyanid auf Geräte-Oberflächen, in Räumen und auf Straßen kann eine wäßrige alkoholische Natriumsulfidlösung angewendet werden, die etwa 30% Alkohol und 10% Natriumsulfid enthält. Notfalls genügt eine angewärmte Natriumsulfidlösung in Wasser. Bei der Entgiftung bildet sich Dizyanbenzylsulfid, das keine Reizeigenschaften besitzt.

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Bei Erhitzung ist Brombenzylzyanid nicht beständig. In der amerikanischen Literatur wird deshalb mehrfach von der Abfüllung in so konstruierte Granaten und Bomben gesprochen, daß bei deren Detonation keine hohen Temperatur- und Druckeffekte auftreten. Wird Brombenzylzyanid längere Zeit in Metallgefäßen gelagert, treten starke Korrosionserscheinungen auf; der Kampfstoff zersetzt sich langsam. In emaillierten oder Porzellangefäßen hält sich der Kampfstoff besser. 4.8.2 Physiologische Wirkungen Brombenzylzyanid ist ein Augenreizstoff mit starker Wirkung. Die Reizschwelle liegt bei 0,3 mp/m3. Bei einem Aufenthalt von 2 min in einer Atmosphäre mit einer Konzentration von 1 mp/m 3 macht sich ein schwacher Reiz im Nasenraum bemerkbar. Bei etwa 10 mp/m3 tritt zusätzlich ein schwacher Rachenreiz auf, und bei 30 mp/m3 liegt die Erträglichkeitsgrenze. Die Giftwirkung des Stoffes ist praktisch ohne Bedeutung. Erst bei Konzentrationen von über 10 mp/m 3 sollen beim Tierversuch tödliche Vergiftungen beobachtet worden sein. Tritt Brombenzylzyanid auf die Haut, löst es nur schwache Reizeffekte aus, die sofort nach dem Abtupfen wieder verschwinden. Auch auf den Schleimhäuten und in Wunden erzeugt Brombenzylzyanid ein stark brennendes Gefühl. 4.8.3 Anwendungsmöglichkeiten Nach älteren amerikanischen Veröffentlichungen kann Brombenzylzyanid in Bomben und Granaten abgefüllt werden, deren Konstruktion eine Zerstäubung ohne starken Druck- und Temperaturanstieg ermöglicht. In verschiedenen Veröffentlichungen wird darauf hingewiesen, daß sich Brombenzylzyanid zur lang anhaltenden 79

Geländevergiftung eignet, wenn es aus Flugzeugen oder Fahrzeugen versprüht wird, die mit den nötigen Zerstäubervorrichtungen ausgerüstet sind. Unter modernen Bedingungen sind diese Möglichkeiten jedoch bedeutungslos. Einige Veröffentlichungen enthalten den Hinweis, Brombenzylzyanid als Maskierungsmittel für giftigere seßhafte Kampfstoffe zu verwenden.

4.9 Schutzmaßnahmen gegen Augenreizstoffe

Zum Schutz vor den Augenreizstoffen genügt es, die Schutzmaske schnell und sicher aufzusetzen, nachdem der Giftstoff erkannt wurde. Durch Atemanhalten kann man verhindern, daß während des Aufsetzens Kampfstoffdämpfe eingeatmet werden. Die in den sogenannten Totraum der Maske (Luftraum zwischen Gesicht und Maske) eingedrungenen Kampfstoffdämpfe müssen durch kräftiges Ausatmen entfernt werden. Die modernen Schutzmaskenfilter bieten lange Zeit, auch bei höheren Konzentrationen, sicheren Schutz vor Reizstoffen. Lebensmittel, Wasser, Geräte und medizinische Mittel sollten von vornherein nur in einer kampfstoffsicheren Verpackung aufbewahrt und transportiert werden, die eine Oberflächenentgiftung erleichtert und das Eindringen von gasförmigen und flüssigen Stoffen verhindert.

hafte Schädigungen zurückbleiben. Die Augen dürfen nach der Einwirkung nicht gerieben oder mit einem Tuch ausgewischt werden, weil das den Tränenreiz verstärkt und verlängert oder neuer Reizstoff in die Augen kommen kann. Ist die Bekleidung von Reizstoffen behaftet, so muß sie gewechselt und gut gelüftet werden. Im Freien ist diese Maßnahme nur selten notwendig, da die Reizstoffe hier schnell verdunsten. Ist flüssiger Reizstoff in die Augen gekommen, so müssen die Augen mit schwacher Bikarbonatlösung gespült werden. Notfalls können 0,1 bis 0,5 %ige Sodalösungen oder auch reines Wasser verwendet werden. Bei Augenreizungen dürfen keinesfalls stark alkalische oder aktivchlorhaltige Stoffe (Chlorkalk, Chloramine usw.) zur Ersten Hilfe verwendet werden. Sind die Augen durch das Eindringen flüssiger Reizstoffe verletzt worden, ist auch bei scheinbar raschem Abklingen der Reizerscheinungen ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das ist besonders deshalb wichtig, weil viele gefährliche Kampfstoffe durch Augenreizstoffe getarnt sein können. Einige flüssige Augenreizstoffe können auf der Haut Rötungen und Blasen hervorrufen. In solchen Fällen wird der Kampfstoff mit Watte, Gaze oder sauberen Tüchern von der Haut getupft. Nicht von der Haut reiben, weil dadurch der Kampfstoff mit einer größeren Hautfläche in Berührung kommt.

4.10 Erste Hilfe bei Verletzungen durch Augenreizstoffe

Augenreizstoffe führen nur selten Verletzungen herbei, da die starke Reizwirkung in geringen Konzentrationen sofort zum Anlegen der Schutzmaske zwingt. Der heftige Tränenreiz läßt meistens schnell nach, ohne daß ernst6

Kampfstoffe

5. Nasen- und Rachenreizstoffe Zur Gruppe der Nasen- und Rachenreizstoffe gehören hochwirksame chemische Kampfstoffe, die hauptsächlich als Aerosole ihre typischen Wirkungen entfalten. Diese Kampfstoffe verursachen starke Reizerregungen im Nasen-Rachenraum. Die typischen Vertreter dieser Gruppe sind die arsenhaltigen Verbindungen Diphenylarsinchlorid, Diphenylarsinzyanid und Adamsit. Diese Gruppe wurde in. der faschistischen Wehrmacht entsprechend ihrer Munitionskennzeichnung im 1. Weltkrieg als Blaukreuzgruppe bezeichnet. Man kann zu dieser Gruppe auch noch einige andere arsenhaltige Kampfstoffe rechnen, zum Beispiel das Phenylarsindichlorid oder das Äthylarsindichlorid, die chemisch gesehen den typischen Nasen-Rachenreizstoffen strukturell verwandt sind, daneben aber noch eine beträchtliche hautschädigende Wirkung haben. Die Wirkung der typischen Nasen-Rachenreizstoffe kann am einfachsten durch das Verhalten ihrer Aerosolteilchen in der Atmungsluft im Nasen-Rachenraum erklärt werden. Das Verhalten dieser Teilchen, ihr Niederschlagen oder Festhalten an den Schleimhäuten des NasenRachenraumes ist von ihrer Größe abhängig. Teilchen mit einem Durchmesser von mehr als 10 um*) werden im Nasen-Rachenraum niedergeschlagen und können dort ihre Wirkung entfalten. Teilchen von etwa 3 bis 6 um werden zu etwa 20 % und Teilchen mit einem geringeren Durchmesser zu etwa 90 % mit dem Luftstrom bis in die Lungenbläschen geführt. Am stärksten ist die Wirkung der Nasen-Rachenreiz•) 1 um = 1 Mikrometer = 1/10000 cm.

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stoffe, wenn sich die Aerosolteilchen auf den Schleimhäuten des Nasen-Rachenraumes festsetzen. Das entspricht etwa einer Teilchengröße von 5 bis 30 um. Es war daher das Ziel der Militärchemiker in den kapitalistischen Staaten, Anwendungsmittel zu entwickeln, mit denen derartige Teilchengrößen erreicht werden konnten. Prinzipiell ist das bei chemischen Bomben und Granaten durch einen entsprechend vorberechneten Detonationsund Zerstäubungsverlauf sowie durch die Wahl geeigneter Lösungsmittel und entsprechender Düsenkonstruktionen hei der Aerolisierung des Kampfstoffes durch Sprühanlagen oder Flugzeugabsprühgeräte möglich. Es muß angenommen werden, daß dieses Problem im allgemeinen praktisch gelöst ist. Theoretisch sind auch Kombinationen möglich, so beispielsweise, wenn als Bomben- oder Granatfüllung konzentrierte Lösungen verwendet werden, die nach der Detonation ein Maximum an Aerosolteilchen im obenerwähnten Durchmesserbereich ergeben. Die außerordentliche Wirksamkeit und die anhaltenden Reizeffekte erklären sich durch das Wirken der auf den Schleimhäuten festgehaltenen Aerosolteilchen. Die folgende Skizze (nach Müller) verdeutlicht die unterschiedliche Wirksamkeit bei der Aufnahme gasförmiger und aerolisierter Kampfstoffe.

Wirksamkeit bei der Aufnahme gasförmiger und aerolisierter Kampfstoffe 83

Auf dem linken Teil der Skizze ist die Einwirkung von gasförmigen Kampfstoffen dargestellt. Die Kampfstoffdämpfe wirken gleichmäßig auf die gesamte Oberfläche der Schleimhaut. Es ist verständlich, daß dies nur so lange der Fall ist, bis die vergiftete Luft wieder aus dem NasenRachenraum ausgeatmet ist. Die Reizauslösung hängt also unmittelbar mit dem Aufenthalt der vergifteten Luft an der Schleimhautoberfläche zusammen. Die Eindringtiefe der Kampfstoffe ist verhältnismäßig gering; in der Skizze ist das an der relativ geringen Tiefe der Wirkungszone zu erkennen. Im rechten Teil der Skizze wird die Wirkung von Aerosolteilchen gezeigt. Diese Teilchen bleiben an der Schleimhautoberfläche haften und lösen so lange Reize aus, bis sie durch die Bewegung der Schleimhaut und die Schleimhautabsonderung von den Haftstellen entfernt werden. Demzufolge hält die reizauslösende Wirkung auch dann noch an, wenn die vergiftete Luft nach dem Ausatmen den Nasen-Rachenraum bereits wieder verlassen hat. Die relativ hohe Kampfstoffkonzentration an den Haftstellen verursacht außerdem eine größere Tiefenwirkung (auf der Skizze durch die gestrichelte Zone dargestellt). Natürlich läßt sich diese Wirkung nicht erklären, ohne die Besonderheiten der Nervenstrukturen und der Nervenfunktionen sowie der spezifischen Wirkungsmechanismen zu berücksichtigen. Auf diese Fragen kann aber im Rahmen dieser kurzen Einführung verzichtet werden. Es muß außerdem berücksichtigt werden, daß sich beim Einsatz der NasenRachenreizstoffe Besonderheiten ergeben, wenn Aerosolteilchen geringer Größe verwendet werden, die auf die empfindlichen Wände der Lungenbläschen wirken. In diesen Fällen entstehen Lungenschäden, ähnlich wie bei ausgesprochen lungenschädigenden Kampfstoffen vom Typ des Phosgens. 84

5,1 Diphenylarsinchlorid

(C6H5)2AsCl

Diphenylarsinchlorid war der erste Nasen- und Rachenreizstoff, der im 1. Weltkrieg angewendet wurde. Sein Einsatz war das Ergebnis einer großangelegten Untersuchung, die von den deutschen militärchemischen Forschungsinstituten in den ersten Kriegsjahren mit dem Ziel durchgeführt wurde, Kampfstoffe zu entwickeln, die den gegnerischen Atemschutz durchschlagen konnten. Der Einsatz von Diphenylarsinchlorid war eine der vielen Überraschungen, die der 1. Weltkrieg auf chemischem Gebiet mit sich brachte. Da bis zum Einsatz dieses Kampfstoffes die damaligen Schutzmaskenfilter nur für gasförmige Kampfstoffe berechnet waren, brachte die überraschende Anwendung dieses Aerosol-Kampfstoffes der deutschen Seite einen zeitweiligen militärischen Vorteil. Zum Schutz vor derartigen Stoffen mußten die Truppen Schutzmasken mit einer Schwebstoffilterschicht bekommen. Die besten Filter der Jahre 1915 und 1916 hatten Aktivkohleschichten, die einen guten Schutz vor praktisch allen damaligen Kampfstoffen boten. Die Verwendung von Aktivkohle in den Filterschichten war bereits in der Industrie erprobt und erstmals von dem russischen Chemiker Selinski für militärische Zwecke vorgeschlagen worden. Zum Schutz vor KampfstoffAerosolen wurden nach 1917 Wattebausch- oder Bierfilzschichten in die Filtereinsätze der Schutzmasken eingebaut. Doch auch noch nach der Einführung dieser verbesserten Filter hatten das Diphenylarsinchlorid und ähnliche chemische Kampfstoffe einen großen Vorteil gegenüber anderen Kampfstoffen, da häufig infolge der etwas verzögerten Reizauswirkung nach dem Einatmen Kampfunfähigkeit bei den beschossenen Einheiten verursacht werden konnte. Der Einsatz von Diphenylarsin85

chlorid war ein markantes Beispiel für den fortwährenden Kampf zwischen der Wirksamkeit der Kampfstoffe einerseits und der Wirksamkeit der Schutzmittel andererseits. Diphenylarsinchlorid wurde erstmalig 1880 von La Coste und Michaelis hergestellt. Die Entdecker beschreiben in ihrer Veröffentlichung auch die starken Reizwirkungen, die der Stoff auf die Schleimhäute des Nasen-Rachenraumes ausübt. Die Deutschen bezeichneten diesen Stoff als Clark I (Chlorarsin-Kampfstoff).

Chlorwasser bilden durch energische Oxydation Diphenylarsinsäure. Diphenylarsinchlorid ist bei kurzzeitiger Erhitzung bis zu Temperaturen von 250 °C beständig. Es ist deshalb gegen Detonationen unempfindlich und kann in Brisanzgranaten und in Bomben angewendet werden. Metalle werden von Diphenylarsinchlorid nur unwesentlich angegriffen. Deshalb ist es möglich, Diphenylarsinchlorid längere Zeit in Metallgefäßen (Bomben, Granaten) zu lagern.

5.1.1 Physikalische und chemische Eigenschaften Reines Diphenylarsinchlorid besteht aus farblosen Kristallen, die bei 41 °C schmelzen. Der Siedepunkt liegt unter normalem Druck bei 333 °C. Bei 20 °C beträgt das spezifische Gewicht 1,4, der Dampfdruck entspricht 0,0005 mm Hg-Säule, und die Sättigungskonzentration liegt bei 0,68 mp/m3. Technisches Diphenylarsinchlorid ist ein Öl, das sich bei längerer Lagerung in eine zähe Masse verwandelt. In Wasser ist der Stoff praktisch unlöslich (in 100 p weniger als 0,1 p). In organischen Lösungsmitteln (reiner Alkohol, Petroleum, Benzol, Tetrachlorkohlenstoff), in Phosgen, Diphosgen sowie in Chlorpikrin ist er leicht löslich. Wasser hydrolysiert Diphenylarsinchlorid bei längerer Einwirkung zu Diphenylarsinoxyd.

5.1.2 Physiologische Wirkungen Die starke Reizwirkung des Diphenylarsinchlorids tritt erst im Aerosolzustand auf. Geringste Konzentrationen des Aerosols rufen starke Reizungen der Schleimhäute des Nasen-Rachenraumes hervor. Die Reizschwelle liegt bei 0,02 mp/m3 und die Erträglichkeitsgrenze bei 1 mp/m3. Die Reizwirkungen treten bei diesen Konzentrationen erst etwa 1 bis 2 min nach Beginn der Einwirkung auf. Diese Latenzzeit (Verzögerungszeit) läßt sich dadurch erklären, daß sich erst eine gewisse Menge der Kampfstoffteilchen auf den Schleimhäuten des Nasen-Rachenraumes festsetzen muß, um die zur Reizerregung notwendige Konzentration zu schaffen. Die ersten Reizerscheinungen sind Kribbeln in der Nase und im Rachenraum. Darauf stellen sich starker Schleimfluß und Niesen ein. Diese Reizeffekte steigern sich noch nach einigen Minuten, selbst wenn die vergiftete Atmosphäre bereits wieder verlassen worden ist.

2 (C6H5)2AsCl + H2O--> [(C6H5)2As]2O + 2 HC1 Bei Zimmertemperatur geht die Hydrolyse sehr langsam vor sich. Bei erhöhter Temperatur und besonders bei Anwesenheit von Alkohol und Alkalien verläuft sie schneller. Luftsauerstoff wirkt praktisch nicht auf den Stoff ein. Erst stärkere Oxydationsmittel wie Salpetersäure und 86

Bei Konzentrationen von 2 bis 4 mp/m 3 oder bei mehrminutigem Aufenthalt in einer geringeren Konzentration leiden die Betroffenen unter heftigem Husten und starkem Würgen im Hals. Sind größere Mengen des Kampfstoffes in den Rachenraum gedrungen, so treten keuchhusten87

ähnliche Anfälle auf. Bei diesen Konzentrationen können auch starke Zahnschmerzen entstehen. Eigenartig für Vergiftungen mit Nasen-Rachenreizstoffen ist das periodische Auf- und Abschwellen der Reizerscheinungen nach Verlassen der vergifteten Atmosphäre. Selbst bei Aufnahme geringer Mengen kann der Rachenreiz bis zu 1 h andauern. Das brennende Gefühl im Nasen-Rachenraum führt nicht selten zu Angstzuständen, die durch schmerzhafte Atemnot und starke Druckgefühle hinter dem Brustbein verstärkt werden. Bei Konzentrationen über 1 p/m 3 kann die Lunge lebensgefährlich verletzt werden. Lungenschäden wurden im 1. Weltkrieg jedoch nur selten beobachtet, da der starke Reiz, der meist mit Erbrechen verbunden ist, zum Verlassen der vergifteten Atmosphäre zwingt. Starke Konzentrationen des Stoffes in der Luft erzeugen neben Tränenfluß zuweilen auch Hornhautschäden in den Augen. Auf der Haut können bei hohen Konzentrationen sowie durch Tropfen von Diphenylarsinchloridlösung Hautrötungen und ekzemartige Schäden auftreten. Die Hautschäden verschwinden im Gegensatz zu den Hautverletzungen durch hautschädigende Kampfstoffe nach wesentlich kürzerer Zeit, ohne daß es zu gefährlichen Komplikationen kommt. Wird Diphenylarsinchlorid mit Getränken und Speisen aufgenommen, kommt es zu starken Magen- und Darmschmerzen, die von Erbrechen und Durchfall begleitet sind. Im allgemeinen können Rachenreizstoffe unter feldmäßigen Bedingungen keine tödlichen Verletzungen hervorrufen. Gefürchtet waren im 1. Weltkrieg jedoch kombinierte Einsätze mit Phosgen und anderen lungenschädigenden Kampfstoffen, die meist hohe Verluste unter den beschossenen Truppen verursachten. 88

5.1.3 Anwendungsmöglichkeiten Unter modernen Bedingungen besitzt das Diphenylarsinchlorid nur noch untergeordnete Bedeutung, da es heute wirksamere Kampfstoffe der Nasen-Rachenreizstoffgruppe gibt, die einfacher herzustellen sind. Bereits gegen Kriegsende und besonders nach dem 1. Weltkrieg wurde die Kampfstoffproduktion der meisten kapitalistischen Länder auf Adamsit, den wirksamsten bisher bekanntgewordenen Kampfstoff dieser Gruppe umgestellt. In den Kampfstoffarsenalen der faschistischen Armee wurden nach 1945 allerdings noch große Mengen Diphenylarsinchlorid aufgefunden. Diese Kampfstoffbestände stammten zum Teil noch aus der Zeit kurz nach dem 1. Weltkrieg, zum Teil aber auch aus den Kriegsjahren, als Adamsit infolge fehlenden Diphenylamins (Rohstoff für die Herstellung von Adamsit) nur in relativ geringen Mengen produziert werden konnte. Auch die Umsetzung zu dem wirksameren Diphenylarsinzyanid konnte wegen Natriumzyanidmangel nur zum Teil durchgeführt werden.

5.2 Diphenylarsinzyanid

(C6H5)2AsCN

Diphenylarsinzyanid wurde von der deutschen Armee gegen Kriegsende unter der Bezeichnung Clark II eingesetzt. Es ist wirksamer als Diphenylarsinchlorid, insbesondere auch deshalb, weil seine Wirkung nachhaltiger und längerdauernder ist. Erstmalig wurde Diphenylarsinzyanid von Sturniolo und Bellinzoni dargestellt. 5.2.1 Physikalische und chemische Eigenschaften Reines Diphenylarsinzyanid besteht aus farblosen Kristallen mit einem schwachen Bittermandelgeruch. Der 89

Schmelzpunkt liegt bei 35 °C; der Stoff siedet unter Zersetzungserscheinungen bei 377 °C. Bei vermindertem Druck (21 mm Hg-Säule) siedet er ohne Zersetzungserscheinungen bei 200 bis 201 °C. Bei 20 °C beträgt das spezifische Gewicht 1,45, der Dampfdruck 0,0002 mm Hg-Säule und die Sättigungskonzentration 0,12 mp/m3. Das technische Produkt ist bräunlich gefärbt und riecht stark nach Bittermandeln. Diphenylarsinzyanid ist in Wasser nur wenig löslich, gut dagegen in Alkohol, Chloroform, Benzol, Äther und Ligroin. Wirkt Wasser auf Diphenylarsinzyanid, bildet sich Diphenylarsinoxyd und Blausäure: 2 (C6H5)2AsCN+

H2O

-> [(C6H5)2As]2O + 2 HCN

Diese Reaktion ist die Ursache für den Blausäuregeruch des Stoffes. Die Hydrolyse verläuft jedoch langsamer als bei Diphenylarsinchlorid. Daraus ergibt sich, daß Diphenylarsinzyanid gegenüber atmosphärischen Einflüssen beständiger ist als Diphenylarsinchlorid. Diese Eigenschaft, die auch die Lagerbeständigkeit günstig beeinflußt, war zusammen mit der stärkeren Reizwirkung der Grund, weshalb im faschistischen Deutschland der Produktion des Diphenylarsinzyanids große Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Starke Oxydationsmittel, zum Beispiel Salpetersäure, oxydieren Diphenylarsinzyanid zu Diphenylarsinsäure. 5.2.2 Physiologische Wirkungen Diphenylarsinzyanid ist der stärkste Rachenreizstoff, der im 1. Weltkrieg eingesetzt wurde. Die Reizschwelle liegt bei diesem Stoff bei 0,02 mp/m3. In einigen Veröffentlichungen wird die Reizschwelle auch höher angegeben. Diese Unterschiede sind wahrscheinlich auf die unter90

schiedlichen Beinheitsgrade der bei den Untersuchungen verwendeten Produkte zurückzuführen. Auch bei den arsenhaltigen Kampfstoffen spielen — ähnlich wie bei den Augenreizstoffen — individuelle Besonderheiten eine große Rolle. In den meisten Fällen tritt jedoch bei wiederholter Einwirkung von derartigen Reizaerosolen erhöhte Empfindlichkeit auf. Die Erträglichkeitsgrenze liegt bei 1,0 mp/m3. Die hohe Wirksamkeit dieses Stoffes wird anschaulicher, wenn man bedenkt, daß bereits 0,002 mp bei einem Atemzug genügen, um den Betroffenen infolge unerträglicher Reizerregungen kampfunfähig zu machen. Die Reizerregung hält im Vergleich zum Diphenylarsinchlorid länger an. 1 bis 2 h nach Verlassen der vergifteten Atmosphäre hören die Reizerregungen wieder auf, ohne daß anhaltende Organschäden entstanden sind. Sofern Diphenylarsinzyanid nicht mit anderen Kampfstoffen kombiniert eingesetzt wurde, waren bei seiner Anwendung im 1. Weltkrieg auch keine gefährlichen Lungenverletzungen festzustellen. 5.2.3 Anwendungsmöglichkeiten Das Diphenylarsinzyanid wurde im 1. Weltkrieg als Maskenbrecher eingesetzt. Es sollte den Gegner zwingen, die Schutzmasken abzunehmen, da sich bei überraschenden Einsätzen und bei nicht dichtsitzenden Masken in den meisten Fällen starke Brechreize einstellten. Gleichzeitig mit den Nasen-Rachenreizstoffgranaten wurden Granaten mit Phosgenfüllung verschossen, die unter den schutzlosen Soldaten tödliche Vergiftungen hervorrufen sollten. Bei überraschenden Artilleriefeuerüberfällen und hohen Kampfstoffkonzentrationen wurde dieses Ziel oft erreicht. Die Artillerievorbereitung zur deutschen Sommeroffensive an der Somme im Jahre 1918 war auf der Wirkung eines 91

solchen Buntkreuz-Beschusses*) aufgebaut und hatte, da günstiges Wetter war und die Artilleriedichte ausreichte, eine große Wirkung: sie verursachte starke Ausfälle bei den alliierten Truppen. Einige Male wurden von deutscher Seite Versuche mit Artilleriegranaten durchgeführt, die eine Lösung von Diphenylarsinzyanid in Diphosgen enthielten. Derart kombinierte Füllungen hatten jedoch keine ausreichende Wirkung. Wegen Herstellungsschwierigkeiten und der geringen Produktionskapazität für Diphenylarsinzyanid wurde in den letzten Monaten des 1. Weltkrieges dann nur noch eine Mischung von Diphenylarsinchlorid mit Diphenylarsinzyanid eingesetzt, die bei der unvollständigen Umsetzung in den Produktionsstätten anfiel. Im 2. Weltkrieg stellte das faschistische Deutschland im großen Umfang Diphenylarsinzyanid her. Nach alliierten Angaben sollen nach 1945 etwa 30 000 Mp aufgefunden worden sein. Es kann angenommen werden, daß Diphenylarsinzyanid nur noch eine untergeordnete Bedeutung besitzt, da Adamsit einfacher hergestellt werden kann und überdies bessere Lager- und Abfülleigenschaften hat. 5.3 Adamsit Dieser Stoff wurde während des 1. Weltkrieges sowohl in Deutschland als auch in den USA hergestellt und auf seine Brauchbarkeit als chemischer Kampfstoff untersucht. In den USA war es der Chemiker Adams, der diesen *) Unter Buntkreuz-Beschuß verstand man die kombinierte Anwendung von Nasen-Rachenreizstoffen mit Phosgen oder Diphosgen, so benannt nach der Munitionskennzeichnung (Blaukreuz für Nasen-Rachenreizstoffgranaten und Grünkreuz für Phosgen- oder Diphosgengranaten).

92

Stoff herstellte und großtechnische Herstellungsverfahren ausarbeitete. Nach ihm wurde dieser Stoff als Adamsit bezeichnet. Chemisch gesehen ist diese Verbindung Phenarsazinchlorid. Adamsit gehört zu den stärksten bekanntgewordenen Reizstoffen und ähnelt in seiner Wirkung den Diphenylarsinhalogeniden. In der amerikanischen Militärliteratur wird Adamsit auch als DM-Gas bezeichnet. 5.3.1 Physikalische und chemische Eigenschaften Reines Adamsit besteht aus gelben Kristallen mit einem Schmelzpunkt von 195 °C. Der Siedepunkt unter Normaldruck liegt bei 410 °C (berechnet aus der Dampfdruckkurve). Bei dieser Temperatur treten bereits Zersetzungserscheinungen auf. Bei 20 °C ist das spezifische Gewicht des Stoffes 1,648, der Dampfdruck entspricht 2 * 10 - 1 3 mm Hg-Säule, und die Sättigungskonzentration beträgt nur 0,02 mp/m3. Adamsit ist in Wasser unlöslich. In organischen Lösungsmitteln wie Benzol, Xylol, Benzin und Tetrachlorkohlenstoff löst es sich nur wenig. Auch in anderen organischen Lösungsmitteln ist die Löslichkeit verhältnismäßig gering. Gut löst es sich dagegen in Arsentrichlorid und in konzentrierter Schwefelsäure. Technisches Adamsit ist durch Verunreinigungen grün gefärbt. Es läßt sich gefahrlos handhaben und hat im festen, kompakten Zustand nur eine geringe Reizwirkung. Wird es erwärmt, verflüssigt es sich leicht und läßt sich in Behälter abfüllen. Diese Eigenschaften machen es zusammen mit der hohen Reizwirkung zum wichtigsten Reizstoff, der auch unter modernen Bedingungen noch von Bedeutung ist. Adamsit wird durch Wasser nur langsam hydrolysiert. Diese Umsetzung verläuft schneller, wenn auf den Stoff 93

etwa 70%iger Alkohol einwirkt. Dabei bildet sich Phenarsazinoxyd, das noch beträchtliche Reizwirkungen h a t : 2HN(C 6 H 4 ) 2 AsCl + H 2 O -> [HN(C 6 H 4 ) 2 As] 2 O + 2 HC1 Das gleiche Oxyd bildet sich bei der Einwirkung alkalischer Lösungen auf Adamsit. Mit starken Oxydationsmitteln, zum Beispiel Wasserstoffsuperoxyd in saurer Lösung, wird Adamsit zu Phenarsazinsäure oxydiert. Dabei wird das Arsen von der dreiwertigen Stufe in die fünfwertige übergeführt. HN (C6H4)2AsO(OH)

Phenarsazinsäure

Phenarsazinsäure bildet sich auch bei der Einwirkung von Chloramin-T-Lösung in wäßrigem Alkohol. Diese Reaktion kann notfalls zur Beseitigung des Kampfstoffes verwendet werden. Adamsit greift bei der Lagerung langsam Eisen-, Stahl-und Kupfergefäße an, weshalb in den USA zur Aufbewahrung emaillierte oder Kunststoffbehälter verwendet werden. 5.3.2 Physiologische Wirkungen Die Reizschwelle von Adamsit liegt bei einem Aerosol mit einer Teilchengröße von durchschnittlich 5 bis 15 um bei 0,01 mp/rn 3 . Die Erträglichkeitsgrenze liegt bei 0,4 mp/m 3 . In seinen physiologischen Wirkungen gleicht Adamsit dem Diphenylarsinzyanid. Tödliche Vergiftungen und schwere Lungenschäden sollen erst beiKonzentrationen von über 20mp/m 3 auftreten. Diese Konzentration ist jedoch unter feldmäßigen Bedingungen praktisch nicht möglich. 5.3.3 Anwendungsmöglichkeiten In den USA wurden Versuche mit chemischen Granaten und Bomben durchgeführt, die eine Adamsit-Füllung hatten. Diese Versuche sollen eine ausreichende Wirkung 94

ergeben haben. Außerdem sind in der Literatur verschiedene Bomben und Granaten beschrieben worden, die sowohl eine hohe Splitterwirkung als auch einen Adamsitzusatz haben. Dabei entspräche die Splitterwirkung denen normaler Splitterbomben und -granaten. In den USA wurden auch Reiznebelkörper hergestellt, die in einer besonderen Schwelkammer Adamsit enthalten und nach der Entzündung hohe Gefechtskonzentrationen schaffen. Außerdem sind Versuche zur Herstellung adamsitgefüllter Gewehrgranaten bekannt geworden, die besonders im Ortskampf und beim Sturmangriff zum Niederhalten von Bunkerbesatzungen dienen sollen.

5.4 Methylarsindichlorid

CH3AsCl2

Methylarsindichlorid wurde 1850 von Bayer entdeckt, der auch bereits die heftigen Reizwirkungen beschrieb. Gegen Ende des 1. Weltkrieges wurde dieser Stoff von den Amerikanern hergestellt und eingesetzt. In der deutschen Armee erhielt er die Bezeichnung Methyl-Dick. 5.4.1 Physikalische und chemische Eigenschaften In reinem Zustand ist Methylarsindichlorid eine farblose, ölige Flüssigkeit mit einem Siedepunkt von 133 °C. Das spezifische Gewicht beträgt bei 20 °C 1,84, die Sättigungskonzentration in Luft 7400 mp/m 3 . Der Dampfdruck entspricht bei Zimmertemperatur 8 mm Hg-Säule. Methylarsindichlorid löst sich in fast allen organischen Lösungsmitteln. Wasser wirkt schnell hydrolysierend auf diesen Kampfstoff ein. Dabei entsteht Methylarsinoxyd: CH3AsCl2

+ H20 -> CH3AsO + 2 HC1 95

Natronlauge und alkalische Flüssigkeiten zersetzen diesen Stoff ebenfalls schnell unter Bildung der entsprechenden Salze. Methylarsindichlorid wirkt nur in Anwesenheit von Wasser auf Metalle ein. Es kann deshalb im trockenen Zustand in Metallbehältern aufbewahrt und transportiert werden.

Nach einigen anderen Veröffentlichungen soll es sich auch gut beim Abrieseln aus Flugzeugen bewährt haben. Unter modernen Gefechtsbedingungen dürfte dieser Stoff kaum noch von Bedeutung sein.

5.5 Äthylarsindichlorid 5.4.2 Physiologische Wirkungen Methylarsindichlorid ist ein wirksamer Kampfstoff, der neben seiner Reizwirkung auf die Schleimhäute des Nasen-Rachenraumes noch eine beträchtliche Giftwirkung hat und auch Schäden auf der Haut hervorrufen kann. Bei Konzentrationen von 2 mp/m 3 tritt ein eigenartiger Geruch und ein heftiger Reiz der Nasen- und Rachenschleimhäute auf. Bei 20 mp/m 3 liegt die Erträglichkeitsgrenze. Höhere Konzentrationen bewirken Atemnot, Brustkrämpfe und Angstzustände. Diese Erscheinungen sind auch noch nach Verlassen des vergifteten Raumes zu beobachten. Die Vergiftungserscheinungen können periodisch mit wechselnder Stärke noch nach Stunden wiederkehren. Insgesamt ist also eine Kampfunfähigkeit von mehreren Stunden möglich. Konzentrationen von 400 mp/m 3 haben nach l0minutiger Einwirkung den Tod zur Folge. Die Haut wird durch Methylarsindichloriddämpfe erst bei Konzentrationen über 100 mp/m 3 angegriffen. Es treten dabei starke Juckreize auf. Durch Kampfstofftropfen können auf der Haut Blasen hervorgerufen werden, die jedoch nach einigen Tagen gutartig heilen.

C2H5AsCl2

Dieser Stoff wurde im 1. Weltkrieg unter dem Decknamen Dick von der deutschen Armee eingesetzt. Seine Eigenschaften gleichen denen des Methylarsindichlorids. Äthylarsindichlorid wurde 1881 durch La Coste hergestellt. 5.5.1 Physikalische und chemische Eigenschaften Äthylarsindichlorid ist eine farblose Flüssigkeit, die sich im Licht gelblich färbt. Es siedet bei 156 °C und hat ein spezifisches Gewicht von 1,7. Der Dampfdruck entspricht bei 20 °C 2 mm Hg-Säule, und die Sättigungskonzentration in Luft ist 20 p/m 3 . In Alkohol, Äther, Benzol, Tetrachlorkohlenstoff ist Äthylarsindichlorid leicht löslich. In Wasser wird der Stoff schnell hydrolysiert. Bei der Umsetzung mit Wasser bildet sich Äthylarsinoxyd nach der Gleichung:

C2H5AsCl2 + H20 -> C2H5AsO+ 2HC1

5.4.3 Anwendungsmöglichkeiten Nach amerikanischer Ansicht eignet sich das Methylarsindichlorid zur Verwendung in taktischen Mischungen.

Auch durch Natronlauge, Ammoniak, Natriumsulfid und Chlorkalk wird dieser Kampfstoff rasch zersetzt. Bei der Einwirkung von trockenem oder in Wasser emulgiertem Chlorkalk wird Äthylarsindichlorid schnell entgiftet. Daher wurde zur Entgiftung dieses Kampfstoffes im 1. Weltkrieg Chlorkalkbrei verwendet.

96

7

Kampfstoffe

97

5.5.2 Physiologische Wirkungen In seinen physiologischen Wirkungen gleicht Äthylarsindichlorid der besprochenen Methylverbindung. Charakteristisch ist ebenfalls die anhaltende Wirkung auf die Atmungsorgane nach Verlassen des vergifteten Raumes. Bei einer Konzentration von 0,5 mp/m3 wird ein obstartiger Geruch bemerkt. Die Erträglichkeitsgrenze liegt bei 10 mp/m8. Auf die Haut wirkt Äthylarsindichlorid erst bei Konzentrationen von über 100 mp/m3. Durch flüssigen Kampfstoff können schmerzhafte Nagelbettentzündungen entstehen, wenn die Finger mit ihm in Berührung kommen. Auch in den Augen können Spritzer gefährliche und schmerzhafte 'Verletzungen hervorrufen.

5.6

Phenylarsindichlorid

C6H5AsCl2

Phenylarsindichlorid wurde während der letzten Jahre des 1. Weltkrieges von deutscher Seite als Lösungsmittel für Diphenylarsinchlorid verwendet. Es besitzt außer seinen Reizstoffeigenschaften noch ausgeprägte hautschädigende Wirkungen. Es kann deshalb nur bedingt zu den Nasen-Rachenreizstoffen gerechnet werden. Phenylarsindichlorid wurde erstmalig 1880 von La Coste und Michaelis hergestellt. 5.6.1 Physikalische und chemische Eigenschatten Phenylarsindichlorid ist in reinem Zustand eine wasserklare Flüssigkeit. Beim Stehen verfärbt sich dieser Stoff langsam gelb bis gelbbraun. Der Schmelzpunkt liegt bei etwa - 20 °C und der Siedepunkt bei 252 °C. Bei 20 °C beträgt das spezifische Gewicht 1,65 und die Sättigungskonzentration 400 mp/m 3 , der Dampfdruck entspricht 0,012 mm Hg-Säule. Das technische Produkt ist eine braune, ölige Flüssigkeit mit einem eigenartigen aromatischen Geruch. Entsprechend den physikalischen Eigenschaften kann Phenylarsindichlorid zu den seßhaften Kampfstoffen gezählt werden. Phenylarsindichlorid löst sich in Wasser nur wenig, jedoch gut in fast allen organischen Lösungsmitteln. In anderen Kampfstoffen (Yperit, Lewisit, Diphosgen) ist es gut löslich, es kann andererseits auch als Lösungsmittel für viele feste Kampfstoffe, insbesondere Reizstoffe, verwendet werden.

5.5.3 Anwendungsmöglichkeiten Äthylarsindichlorid wurde gegen Ende des 1. Weltkrieges mehrfach als Füllung für Werfergranaten verwendet, die für schlagartige Überfälle vorgesehen waren. Hier kam die hohe Flüchtigkeit des Kampfstoffes zur Geltung. Dabei wurden nicht selten Konzentrationen von über 100 mp/m 3 auf großen Flächen erreicht. Die deutsche Armee setzte auch Mischungen dieses Kampfstoffes mit anderen Stoffen ein. Die wichtigsten taktischen Mischungen waren etwa folgendermaßen zusammengesetzt : - Dichlordimethyläther 18%, Äthylarsindichlorid 37% und Äthylarsindibromid 45 % - Dichlordimethyläther 20%, Äthylarsindichlorid 80% Am günstigsten soll die Flüchtigkeit der zweiten taktischen Mischung gewesen sein. Unter modernen Gefechtsbedingungen wird dieser Kampfstoff kaum Bedeutung haben.

Wirkt Wasser auf Phenylarsindichlorid ein, bildet sich unlösliches Phenylarsinoxyd: C6H5AsCl2 + H2O --> C6H5AsO + 2HC1 99

..

Natronlauge setzt sich mit diesem Kampfstoff unter Bildung des Natriumsalzes der Phenylarsinsäure um: C6H5AsCl2 + 4 NaOH -> C6H5As(ONa)2 + 2 NaCl + 2 H2O Diese Reaktion kann zur Entgiftung des Kampfstoffes ausgenutzt werden. Im reinen Zustand greift Phenylarsindichlorid Eisen nicht an. Deshalb ist es möglich, das frisch destillierte Produkt in luftdicht abgeschlossenen Eisengefäßen längere Zeit zu lagern. 5.6.2 Physiologische Wirkungen Phenylarsindichlorid ist ein starker Nasen-Rachenreizstoff, der daneben noch über hautschädigende Eigenschaften verfügt. Die Reizschwelle dieses Stoffes liegt bei 4 bis 5 mp/m3 und die Erträglichkeitsgrenze bei 16 mp/m3. Bei stärkeren Konzentrationen und längeren Einwirkungszeiten können schwere Lungenschäden entstehen. Dämpfe und besonders Tropfen des Kampfstoffes können auf der Haut Blasen hervorrufen, die im Gegensatz zu den typischen hautschädigenden Kampfstoffen mit einem Nesselreiz verbunden sind. 5.6.3 Anwendungsmöglichkeiten Phenylarsindichlorid wurde im 1. Weltkrieg als Lösungsmittel für andere Nasen-Rachenreizstoffe verwendet. Während des 2. Weltkrieges diente dieser Stoff in Deutschland als gefrierpunkterniedrigender Zusatz zu Yperit. Das sogenannte Winterlost enthielt einen beträchtlichen Anteil Phenylarsindichlorid.

100

5.7 Schutzmaßnahmen gegen Nasen-Rachenreizstoffe Zum Schutz vor Nasen-Rachenreizstoffen dient die Schutzmaske. Die modernen Schutzmaskenfilter haben eine ausreichende Abscheidungswirkung, so daß Gefechtskonzentrationen dieser Kampfstoffe selbst bei stundenlanger Einwirkung dem Schutzmaskenträger nicht gefährlich werden. Voraussetzung für einen sicheren Schutz ist jedoch das schnelle und sorgfältige Aufsetzen der Schutzmasken und ihr guter Sitz. Es muß besonders darauf geachtet werden, daß unmittelbar nach dem Erkennen chemischer Kampfstoffe beziehungsweise nach dem vereinbarten Zeichen für chemischen Alarm beim Anlegen der Schutzmaske die Luft angehalten wird und danach die im sogenannten Totraum der Maske befindliche Luft durch kräftiges Ausatmen herausgestoßen wird. Diese Vorsichtsmaßnahme ist besonders bei Nasen-Rachenreizstoffen wichtig, da bereits geringste Mengen einen starken Brechreiz hervorrufen und den Schutzmaskenträger zwingen, die Maske abzunehmen. Lebensmittel, Wasser sowie die Oberflächen von Gegenständen können nach Überfällen mit Nasen-Rachenreizstoffen durch abgesetzte Kampfstoffteilchen vergiftet sein. In diesen Fällen kann der Kampfstoff mit Seifenlösung abgewaschen oder bei Wasservergiftungen durch Filtration mit Struktur- oder behelfsmäßigen Wasserfiltern entgiftet werden. 5.8 Erste Hilfe bei Verletzungen durch Nasen- und Rachenreizstoffe Schwere und lebensgefährliche Verletzungen durch NasenRachenreizstoffe treten nur in den seltensten Fällen auf, da die im Verhältnis zur Giftwirkung starken Reiz101

erscheinungen sofort zum Verlassen der vergifteten Atmosphäre zwingen. Gegen die starken Reizerscheinungen, die diese Kampfstoffe im Nasen-Rachenraum verursachen, hilft meist die Inhalation einer Mischung aus Alkohol und Chloroform, die unter der Bezeichnung Riechflüssigkeit bekannt ist. Die Schmerzen lassen beim Einatmen der Dämpfe dieser Mischung nach. Sofern sich der Verletzte noch im Bereich der vergifteten Atmosphäre befindet, ist zur Verhinderung weiterer " Kampfstoffeinwirkungen die Schutzmaske aufzusetzen und ein mit der Riechflüssigkeit getränkter Wattebausch unter den Maskenkörper zu schieben. In vielen Fällen lassen die Reizerscheinungen sofort nach. Die Inhalation der Riechstoffdämpfe muß nach einiger Zeit wiederholt werden. Bei Augenverletzungen, Hautschäden und Verletzungen der Atmungsorgane werden die bei den entsprechenden Kampfstoffgruppen erwähnten Erste-Hilfe-Maßnahmen angewandt. Sind feste oder flüssige Nasen-Rachenreizstoffe mit der Nahrung in den Magen-Darmkanal gelangt, so empfiehlt sich die sofortige Einnahme von Abführ- und Brechmitteln, um gefährliche Arsenvergiftungen zu vermeiden.

6. Lungenschädigende Kampfstoffe

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Zu den lungenschädigenden Kampfstoffen zählen stark giftige, meist gasförmige oder leichtflüchtige Kampfstoffe, deren Hauptangriffspunkt bei der Einwirkung auf den Organismus die Lunge ist. Der typische Kampfstoff dieser Gruppe ist das Phosgen, das in der chemischen Industrie in großen Mengen bei der Herstellung wichtiger Chemikalien verwendet wird. Obwohl in den letzten Jahren wesentlich giftigere Kampfstoffe entdeckt und produziert wurden, ist es nicht ausgeschlossen, daß im Falle eines Krieges auch lungenschädigende Kampfstoffe vom Phosgen-Typ eingesetzt werden. In vielen imperialistischen Staaten werden noch heute große Phosgenmengen für militärische Zwecke erzeugt und die Produktionsstätten ausgebaut. Die lungenschädigenden Kampfstoffe zerstören bei ihrer Einwirkung auf die Lunge die feinen Membranen der Lungenbläschen. Infolgedessen werden die Membranen für das Blutplasma durchlässig, und die Lunge saugt sich voll Flüssigkeit. Die Gefährlichkeit dieses Vorganges wird anschaulicher, wenn man sich vorstellt, daß die Gesamtfläche der Lunge, die für den Gasaustausch zur Verfügung steht, mit etwa 100 m2 der Größe eines Volleyballplatzes entspricht.*) Eine solch große Fläche ist natürlich ein idealer Angriffsort für einen gasförmigen Giftstoff. Der Übertritt der Blutflüssigkeit durch die Membranen der Lungenblasen bewirkt ein starkes Anschwellen der Lungenflügel und verringert die für den Gasaustausch zur Verfügung *) Als Gasaustausch in den Lungen bezeichnet man den Austausch von Kohlendioxyd — einem Folgeprodukt der Lebenstätigkeit im Organismus, das vom Blut in die Lungen transportiert wird — gegen Sauerstoff aus der eingeatmeten Luft, der bei den Oxydationsprozessen im Organismus benötigt wird.

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stehende Fläche. Bild 2 zeigt einen normalen und einen durch Phosgen geschädigten Lungenflügel. Man sieht deutlich das Größenverhältnis, wie es sich etwa 5 h nach der Aufnahme einer tödlich wirkenden Phosgenmenge ausgebildet hat.

Ansicht einer normalen und einer Phosgenlunge Gewicht Normallunge 250 p; Phosgenlunge 1250 p

Die Folgen einer derartigen Vergiftung sind verständlich. Durch die verminderte Sauerstoffbeladung des Blutes tritt ein akuter Sauerstoffmangel im Organismus ein, der sich äußerlich durch Erstickungssymptome und bei akuten Fällen durch Blauwerden der Lippen und anderer Hautstellen zeigt. Dieses Blauwerden (Zyanose) gleicht den Sauerstoffmangelerscheinungen, wie sie bei Ertrunkenen bekannt sind. Außerdem wird ein merkbares Dickwerden des Blutes durch Flüssigkeitsverlust beobachtet. Alle diese Erscheinungen, die noch viel komplizierter sind, als hier geschildert werden konnte, führen 104

zum Tode, wenn nicht sofort Erste Hilfe und ärztliche Betreuung gegeben werden. Diese verheerende Giftwirkung war die Ursache, daß im 1. Weltkrieg die lungenschädigenden Kampfstoffe zu den gefürchtetsten chemischen Kampfmitteln wurden. Im einzelnen rechnet man zu den lungenschädigenden Kampfstoffen außer Phosgen noch Diphosgen und Chlorpikrin. In den vergangenen Jahrzehnten wurden in den imperialistischen Staaten große Anstrengungen unternommen, um diese Kampfstoffgruppe durch die Herstellung giftigerer Kampfstoffe mit den typischen lungenschädigenden Wirkungen weiter zuentwickeln. Viel diskutiert wurden Stoffe, bei denen neben der Wirkung auf die Lunge noch eine schädigende Wirkung auf das sogenannte Atmungszentrum im Zentralnervensystem hinzukommt. Aus einigen Veröffentlichungen geht hervor, daß man auch aggressive Fluorverbindungen untersucht hat, bei denen eine Lungenschädigung zu erwarten ist. Als Beispiel für einen derartigen Stoff ist in diesem Abschnitt eine kurze Beschreibung des Schwefelpentafluorids eingefügt, das etwa in dieser Richtung liegen dürfte.

6.1 Chlor Cl2 Chlor war der erste Kampfstoff, der im 1. Weltkrieg in großen Mengen eingesetzt wurde. Bei dem bereits erwähnten Gasangriff am 22. April 1915 bei Ypern wurden von der deutschen Armee 30 Mp Chlor abgeblasen. Da man sich vor Chlor leicht schützen kann, hat es als Kampfstoff jedoch nur geringe militärische Bedeutung. Bei der Herstellung fast aller Kampfstoffe werden aber bedeutende Mengen Chlor verbraucht. 105

6.1.1 Physikalische und chemische Eigenschaften Chlor ist ein grünes Gas mit einem eigenartigen, stechenden Geruch. Es kondensiert bei — 33,6 °C oder unter einem Druck von 6 atü bei Zimmertemperatur. Flüssiges Chlor hat ein spezifisches Gewicht von 1,46, die Dampfdichte des gasförmigen Stoffes gegenüber Luft ist 2,5. Aus einem Liter flüssigen Chlores entstehen bei der Entspannung fast 500 1 Chlorgas. In der chemischen Industrie fallen große Mengen Chlor als Nebenprodukt bei der elektrolytischen Herstellung von Ätznatron an. Von Wasser wird Chlor im gewissen Umfang gelöst. Dabei bilden sich durch Disproportionierung Salzsäure und unterchlorige Säure: CL2 + H2O -> HCl + HOC1 Chlor setzt sich auch bei Zimmertemperatur ziemlich schnell mit Natriumthiosulfat (Fixiersalz) in wäßriger Lösung um. Dabei bilden sich Natriumtetrathionat und Natriumchlorid gemäß folgender Gleichung: 2 Na2S2O3 + Cl2 -> Na2S4O6 + 2 NaCl Diese Reaktion wurde bei den Behelfsschützern ausgenützt, die in den Wochen nach dem ersten Einsatz von Chlor ausgegeben wurden und bis zur Ausrüstung der Truppen mit Schutzmasken gute Dienste geleistet haben. In der französischen und der englischen Armee wurden an der Flandern-Front zu diesem Zweck, Mullbinden mit einer Lösung von Natriumthiosulfat in einer Mischung von Glyzerin und Wasser getränkt. 6.1.2 Physiologische Wirkungen Chlor wirkt auf die Atmungsorgane. Etwa 10 mp/m3 erzeugen Husten und Reizungen der Rachenschleimhäute. Bei 100 mp/m 3 liegt die Erträglichkeitsgrenze. Die Lunge 106

wird von Chlor stark geschädigt. Durch Gefäßzerstörungen tritt blutiger Schleimfluß und krampfhafter Husten ein. Die tödliche Konzentration liegt bei einer Einwirkungszeit von 10 min bei 1,5 p/m 3 . Die Augen und die Haut werden erst bei höheren Konzentrationen angegriffen.

6.2 Chlorpikrin

CC13NO2

Chlorpikrin wurde im 1. Weltkrieg in bedeutenden Mengen eingesetzt. In der deutschen Armee wurde dieser Stoff als Klop, in der englischen und amerikanischen als PS-Gas bezeichnet. Chlorpikrin nimmt, streng genommen, eine Zwischenstellung zwischen den Reizstoffen und den lungenschädigenden Kampfstoffen ein. In geringen Konzentrationen wirkt Chlorpikrin als ausgesprochener Reizstoff, während bei höheren Konzentrationen starke phosgenähnliche Lungenverletzungen auftreten können. Chlorpikrin, dessen chemische Bezeichnung Trichlornitromethan lautet, wurde 1848 von Stenhouse durch Einwirkung von Chlorkalk auf Pikrinsäure hergestellt. 6.2.1 Physikalische und chemische Eigenschaften Chlorpikrin ist eine farblose, flüchtige Flüssigkeit mit einem stechenden Geruch. Es siedet bei 112 °C und erstarrt bei — 64 °C. Chlorpikrin kann deshalb sowohl im Sommer als auch im Winter als Kampfstoff eingesetzt werden. Das spezifische Gewicht beträgt bei 20 °C 1,66. Bei der gleichen Temperatur entspricht der Dampfdruck 16,9 mm Hg-Säule und die Sättigungskonzentration 184 p/m 3 . Technisches Chlorpikrin ist gelb bis braun gefärbt. 107

Entsprechend seinem hohen Dampfdruck wird Chlorpikrin zu den flüchtigen Kampfstoffen gezählt. In Wasser ist Chlorpikrin nur wenig löslich (in 100 p nur 0,7 p bei 20°C). Gut löslich ist es in Benzol, Schwefelkohlenstoff, Alkohol und Chlorkohlenwasserstoffen. Es kann als Lösungsmittel für andere chemische Kampfstoffe verwendet werden. Durch Wasser oder Alkalien wird Chlorpikrin praktisch nicht zersetzt. Selbst beim Erwärmen mit Alkalilösungen treten nur geringe Zersetzungserscheinungen auf. Natriumsulfidlösungen zerstören Chlorpikrin. Diese Umsetzung kann zur Entgiftung verwendet werden. Die Reaktion verläuft folgendermaßen:

Reizwirkung auf die Augen so stark, daß sich die Augenlider sofort schließen. Etwa bei der gleichen Konzentration treten Reizungen des Nasenraumes und im Rachen auf. Bei 50 mp/m 3 liegt die Erträglichkeitsgrenze. Tödliche Vergiftungen sind ab etwa 1 p/m 3 möglich, wenn der Aufenthalt in der vergifteten Zone mehrere Minuten beträgt. Bei hohen Konzentrationen werden typische Lungenschäden beobachtet. Als Besonderheiten gegenüber Phosgen-Vergiftungen treten ein heftiger Brechreiz und starkes Brennen in der Magengegend auf. Wird Chlorpikrin mit Getränken und Speisen aufgenommen, werden heftige Bauchschmerzen, die von Durchfall und Erbrechen begleitet sind, beobachtet.

2 CC13NO2 + 3 N a 2 S -> 3S + N2 + 2 C0 2 + 6 NaCl Bei starker Erhitzung zersetzt sich Chlorpikrin in Phosgen und Nitrosylchlorid entsprechend folgender Gleichung:

6.2.3 Anwendungsmöglichkeiten

CC1 3 NO 2 -> COC12 + NOC1 Nitrosylchlorid Die Bildung von Phosgen bei der Zersetzung des Chlorpikrins infolge Erhitzung war schon mehrfach die Ursache gefährlicher Vergiftungen. Gegenüber Metallen ist die Wirkung von Chlorpikrin unterschiedlich. So werden nach Ireland Stahl nur wenig, Blei und Kupfer jedoch stark angegriffen. Bei Aluminiumoberflächen bildet sich infolge der Einwirkung von Chlorpikrin eine festhaftende Oxydschicht, die das Metall vor einer weiteren Einwirkung des Kampfstoffes schützt. Chlorpikrin kann daher in Aluminiumbehältern aufbewahrt werden. 6.2.2 Physiologische Wirkungen Chlorpikrin reizt die Augen und die oberen Luftwege. Die Reizschwelle liegt bei 1 mp/m 3 . Bei 5 mp/m 3 ist die 108

Im 1. Weltkrieg diente Chlorpikrin als Füllung für chemische Granaten. Es wurde besonders von der amerikanischen und der russischen Armee eingesetzt. Dabei kam es in einer taktischen Mischung zur Anwendung, die 5 0 % Sulfurylchlorid enthielt. Von französischen Einheiten wurde zeitweise eine Mischung mit 5 0 % Zinntetrachlorid verwendet, die nach der Detonation der Granaten erheblichen Nebel entwickelte. Chlorpikrin wird unter modernen Gefechtsbedingungen keine Bedeutung mehr besitzen. Es wird jedoch noch in großen Mengen von der chemischen Industrie als Schädlingsbekämpfungsmittel, besonders gegen Ratten und Wühlmäuse, produziert.

(5.3 Phosgen COC12 Phosgen war im 1. Weltkrieg einer der wichtigsten und meistgebrauchten chemischen Kampfstoffe. Allein Frankreich produzierte 15 800 Mp und setzte sie an der 109

Front auch ein. In Deutschland war Phosgen in den ersten Kriegsjahren unter dem Decknamen Zusatz, in Frankreich unter dem Namen Collongite bekannt. In der amerikanischen Literatur wird Phosgen als CG-Gas bezeichnet. Nach Statistiken sollen 80% aller im 1. "Weltkrieg tödlich verlaufenen Kampfstoffvergiftungen auf den Einsatz von Phosgen zurückzuführen sein. Phosgen wurde 1812 von dem englischen Chemiker Davy dargestellt, als dieser Chlor und Kohlenmonoxyd dem Sonnenlicht aussetzte; daher auch der Name Phosgen, der auf Deutsch etwa mit „das durch Licht erzeugte'' übersetzt werden kann. 6.3.1 Physikalische und chemische Eigenschaften Bei Zimmertemperatur ist Phosgen ein farbloses Gas mit einem eigentümlichen Geruch, etwa nach faulem Heu oder Obst. Es kondensiert bei einer Abkühlung auf 8 °C; unter einem Druck von 15 atü bei 20 °C. Bei — 118 °C erstarrt es zu einer weißen, kristallinen Masse. Das spezifische Gewicht des flüssigen Phosgens beträgt am Siedepunkt 1,4. Die Dampfdichte im Verhältnis zu Luft ist 3,5. Das technische Produkt ist im flüssigen Zustand durch Verunreinigungen gelb bis braun gefärbt und enthält neben etwa 95 % Phosgen Chlor, Chlorwasserstoff, Eisenchlorid und Chlorkohlenwasserstoffe. Das Verdampfen von flüssigem Phosgen wird durch den hohen Dampfdruck und die niedrige Verdampfungswärme (etwa 60 cal) auch bei Wintertemperaturen begünstigt. Es muß deshalb auch im Winter zu den flüchtigen Kampfstoffen gezählt werden. Flüssiges Phosgen besitzt bei — 20 °C eine Seßhaftigkeit von etwa 2 bis 4 h. Phosgen löst sich leicht in organischen Lösungsmitteln (1 p Phosgen löst sich in 1 p Benzol beziehungsweise 1,5 p Toluol). 110

Im Handel befindet sich deshalb eine etwa 30%ige Toluollösung, die sich für Arbeiten in chemischen Laboratorien eignet. Phosgen ist auch sehr gut in anderen Kampfstoffen sowie in nebelbildenden Stoffen löslich, zum Beispiel in Siliziumtetrachlorid und in Titantetrachlorid. Außerdem ist flüssiges Phosgen selbst ein gutes Lösungsmittel für andere Kampfstoffe, zum Beispiel für Yperit, Lewisit, Phenylarsindichlorid, Chlorpikrin und Diphenylarsinchlorid. Chlor wird bei — 20 °C zu etwa 20 % gelöst. Phosgen ist bei Abwesenheit von Wasser sehr stabil. Es kann deshalb wie flüssiges Chlor in Stahlflaschen aufbewahrt werden. Auch gegen Luftfeuchtigkeit ist Phosgen relativ beständig. Bei starkem Regen wird es jedoch hydrolysiert: COCL2 + H2O -> 2 HC1 + CO2 Phosgen kann aus diesem Grunde bei Regenfällen nicht im Gefecht eingesetzt werden. Bei kurzzeitigen Erhitzungen, wie sie beispielsweise bei der Detonation von Granaten und Bomben auftreten, sind keine wesentlichen Zersetzungserscheinungen beobachtet worden. Phosgen wird verhältnismäßig gut von Aktivkohle adsorbiert. Die Schutzdauer der Filterschichten ist um so größer, je höher der Feuchtigkeitsgehalt der Aktivkohle ist. Ein Maximum an Schutzwirkung zeigt sich bei einem Feuchtigkeitsgehalt der Filterschichten von etwa 20%. Zweckmäßiger sind jedoch Filterschichten, die mit einem Katalysator imprägniert sind. Dazu eignen sich Manganoxyd oder Mischkatalysatoren von Metalloxyden. Bei der Einwirkung von Alkalien, besonders von Natronlauge, wird Phosgen schnell zersetzt. Es bilden sich dabei nur ungiftige Produkte: COC12 + 4 NaOH -> Na2CO3 + 2 NaCl + 2 H2O Diese Reaktion kann zur Entgiftung von Phosgen aus111

genutzt werden. Eine andere Möglichkeit ist die Behandlung von Oberflächen oder porösen Gegenständen mit einem Warmluft-Wasserdampf-Gemisch. In den meisten Fällen ist jedoch eine Entgiftung wegen des hohen Dampfdruckes von Phosgen nicht notwendig. Eine Vergiftung von Lebensmitteln und Wasser ist meist nicht zu befürchten, da die relativ geringen Kampfstoffmengen, die beim Gefechtseinsatz auftreten können, durch Wasser schnell zersetzt werden und der Stoff beim Erwärmen praktisch vollständig zerstört wird. Auf vulkanisierten Naturkautschuk wie auf die meisten synthetischen Gummiarten wirkt Phosgen zerstörend. 6.3.2 Physiologische Wirkungen Phosgen besitzt keine ausgeprägte Reizschwelle und Erträglichkeitsgrenze. Bei etwa 5 mp/m 3 werden schwache Reizeffekte in den Augen und Atmungsorganen bemerkt, die sich durch schwachen Tränenfluß und leichten Husten äußern. Sie sind jedoch durchaus erträglich und werden bei schwerer Arbeit oder Unaufmerksamkeit meist übersehen. Eine längere Einwirkung dieser Konzentration kann aber bereits zu gefährlichen Vergiftungen führen. Im 1. Weltkrieg nutzte man zur Erkennung dieses Kampfstoffes die Geschmacksveränderungen aus, die beim Zigarettenrauchen selbst bei geringsten Kampfstoffkonzentrationen auftreten. Auch der beste Tabak schmeckt widerlich und ekelerregend, wenn gleichzeitig mit dem Zigarettenrauch Phosgen aufgenommen wird. Es ist bemerkenswert, daß diese Geschmacksveränderung bereits bei Konzentrationen auftritt, die mit chemischen Indikatoren nur schwer feststellbar sind. Besonders charakteristisch ist bei einer Phosgenvergiftung die lange Latenzzeit.*)

Die ersten deutlichen Vergiftungssymptome nach der Einwirkung einer gefährlichen Konzentration von "200 mp/m3 werden erst nach etwa 5 bis 10 h bemerkbar. Die 50%ig tödlich wirkende Konzentration von Phosgen liegt bei einer Einwirkungszeit von 10 min bei 500 mp/m3. Bei der Einatmung dieser Giftkonzentration treten nach etwa 4 bis 6 h sehr starke Hustenanfälle und ein beklemmendes Brustgefühl auf. Dann kommen starkes Herzklopfen, Kopfschmerzen und allgemeine Schwäche hinzu. Meist sind diese Vergiftungssymptome nur zeitweise so stark, daß sie zu ernsten körperlichen Beschwerden führen. Bei vielen gefährlichen Vergiftungsfällen wurde beobachtet, daß sich der Vergiftete nach einer derartigen Schwächeperiode wieder ganz normal fühlte und den zurückgebliebenen Symptomen keine besondere Aufmerksamkeit mehr schenkte. In solchen Fällen werden nach einigen Stunden stärkste Vergiftungserscheinungen bemerkt, die besonders ernst sind, wenn die Kampfstoffverletzten während des scheinbaren Zurückgehens der Vergiftungssymptome ohne medizinische Hilfe bleiben und womöglich noch schwer arbeiten. Atemnot, blutiger Schleimfluß und zeitweilige Bewußtlosigkeit sind dann die charakteristischen Vergiftungssymptome. Solche Vergiftungen enden meist tödlich. Nach Aufnahme einer tödlich wirkenden Menge Phosgen tritt bei fehlender Behandlung der Tod meist nach 2 Tagen ein. Wirken geringere Konzentrationen ein oder wird der Kampfstoffvergiftete in einem Lazarett behandelt, sind die Vergiftungssymptome meist noch nach Wochen zu erkennen.

*) Als Latenzzeit bezeichnet man die Zeit von der ersten Einwirkung des Kampfstoffes bis zum ersten Auftreten der Vergiftungssymptome.

6.3.3 Anwendungsmöglichkeiten Im 1. Weltkrieg wurde Phosgen als Füllung für chemische Granaten und Wurfgranaten verwendet sowie im Blas-

112

8

Kampfstoffe

113

verfahren eingesetzt. Die deutsche Armee benutzte zum Abblasen eine Mischung, die etwa 50 % Phosgen enthielt. Die französische Artillerie verschoß wiederholt Granaten, die eine Lösung von Phosgen in Arsentrichlorid enthielten. Besonders wirksam soll nach französischen Angaben eine Mischung im Gewichtsverhältnis 1:1 gewesen sein. Mehrfach versuchte man, das heimtückische Phosgen durch nebelbildende Stoffe zu tarnen. So wurden taktische Mischungen eingesetzt, die als Nebelbildner Siliziumtetrachlorid oder Zinntetrachlorid enthielten. Die faschistische Wehrmacht ließ vor und während des 2. Weltkrieges ähnliche taktische Mischungen herstellen, die besonders für den Einsatz in chemischen Bomben vorgesehen waren. Von den Alliierten wurden nach 1945 verhältnismäßig große Vorräte an chemischer Munition mit Phosgenfüllung in den deutschen Kampfstofflagern aufgefunden. In den letzten Jahren ist wiederholt festgestellt worden, daß die Tschiang-Kai-schek-Clique sich nicht scheut, beim Beschuß des chinesischen Festlandes chemische Granaten mit Phosgenfüllung einzusetzen. Unter modernen Bedingungen wird das Phosgen nur noch eine relativ geringe militärische Bedeutung besitzen. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß im Falle eines chemischen Krieges bei Kampfstoffmangel auf diesen Stoff zurückgegriffen wird.

6.4 Diphosgen

C1COOCC13

Diphosgen ist chemisch der Trichlormethylester der Chlorkohlensäure. Es wurde von der deutschen Armee erstmalig 1916 unter der Bezeichnung Perstoff angewendet. 114

6.4.1 Physikalische und chemische Eigenschalten

Diphosgen ist eine farblose, flüchtige Flüssigkeit mit einem Geruch, der dem des Phosgens ähnelt. Es siedet bei 128 °C und erstarrt bei — 57 °C. Das spezifische Gewicht von Diphosgen beträgt 1,64. Der Dampfdruck entspricht bei 20 °C 4 mm Hg-Säule, und die Sättigungskonzentration beträgt bei der gleichen Temperatur 54 p/m3. Der Dampfdruck von Diphosgen ist sehr gering; er bewirkt eine für flüchtige Kampfstoffe verhältnismäßig hohe Seßhaftigkeit. Diphosgen ist gut in Benzol, Toluol, Tetrachlorkohlenstoff, Dichloräthan, Trichloräthylen und Chlorbenzol löslich. Es kann selbst als Lösungsmittel für Chlorpikrin, Phosgen, Diphenylarsinchlorid und andere Kampfstoffe verwendet werden. Technisches Diphosgen ist durch Beimischungen braun oder rötlich gefärbt. Der rötliche Farbton kann durch Phenol entstehen, das meist als Stabilisierungsmittel zugesetzt wird. In seinen chemischen Eigenschaften ähnelt Diphosgen dem Phosgen. Wird es erwärmt oder kommt es mit porösen Körpern in Berührung, kann es in Phosgen zerfallen. ClCOOCCl3-> 2 COCl2 Auf diesen Zerfall soll auch die enorme Giftwirkung zurückzuführen sein. Ein Zerfall von Diphosgen tritt auch auf, wenn das technische Produkt in Eisenbehältern gelagert wird oder wenn der reine Stoff mit Eisensalzen in Berührung kommt. Daher kann Diphosgen nur kurze Zeit oder nur bei Zugabe von Stabilisatoren in eisernen Behältern gelagert werden. Durch Umsetzung mit Wasser entstehen Kohlendioxyd und Salzsäure (wie bei Phosgen): C1COOCC13 + 2 H2O -> 4 HC1 + 2 CO2 115

Durch Alkalien (zum Beispiel Natronlauge) wird Diphosgen sehr schnell zerstört. Dabei entstehen wie bei Phosgen die entsprechenden Salze: ClCOOCCl3 + 8 NaOH -> 2 Na2CO3 + 4 NaCl + 4H 2 O Diese Reaktion wird bei Zimmertemperatur für die Entgiftung von Geräten ausgenutzt. Bei der Umsetzung mit Ammoniak entsteht neben Ammoniumchlorid Harnstoff: ClCOOCCl3 + 8 NH 3 -> 4 NH4C1 + 2 (NH2)2CO (Harnstoff) Diese Reaktion wird ausgenützt, wenn — besonders im Winter — Textilien vergiftet wurden und AmmoniakDampfentgiftungen vorgenommen werden müssen. 6.4.2 Physiologische Wirkungen Diphosgen hat eine ähnliche physiologische Wirkung wie Phosgen. Es reizt jedoch die Schleimhäute der Augen und der Atmungsorgane stärker als Phosgen. Die Reizschwelle liegt bei 5 mp/m3. Die Erträglichkeitsgrenze wird in der Literatur mit 40 mp/m 3 angegeben. Die LC50 liegt bei einer Einwirkungsdauer von 10 min bei 500 mp/m3. 6.4.3 Anwendungsmöglichkeiten Im 1. Weltkrieg wurde Diphosgen in Granaten und Wurfgranaten abgefüllt. Um hohe Produktionskosten und komplizierte Trennverfahren zu vermeiden, wurden von deutscher Seite unvollständig chlorierte und gereinigte Produkte eingesetzt, deren Diphosgengehalt bei etwa 70 bis 80 % lag. Im 2. Weltkrieg besaß die faschistische Wehrmacht in ihren Lagern Bomben und Granaten, die mit Diphosgen 116

oder Mischungen von Diphosgen und anderen Kampfstoffen sowie mit nebelbildenden Stoffen gefüllt waren. Diphosgen wirkt im Gelände bedeutend länger als Phosgen und kann im Winter bei tieferen Temperaturen zu den seßhaften Kampfstoffen gerechnet werden. Die Vorzüge des Diphosgens liegen in seiner einfachen und relativ ungefährlichen Abfüllbarkeit. 6.5

Schwefelpentafluorid

S2F10

Verschiedene Autoren sind der Meinung, daß Schwefelpentafluorid als chemischer Kampfstoff eingesetzt werden kann. Schwefelpentafluorid ist eine farblose, leichtflüchtige Flüssigkeit mit einem Siedepunkt von 29 °C und einem Schmelzpunkt von — 92 °C. Das spezifische Gewicht der Flüssigkeit beträgt bei 0 °C 2,08. Schwefelpentafluorid kann durch Umsetzung von Schwefel mit elementarem Fluor hergestellt werden:

Schwefelpentafluorid wird durch Wasser merklich zer-setzt. Es ist giftiger als Phosgen und wirkt stark ätzend auf die Lunge, ohne jedoch einen merklichen Reiz auf die oberen Atmungsorgane auszuüben. Die Vergiftungssymptome sind ähnlich wie bei Phosgen. Hohe Konzentrationen rufen selbst bei kurzer Einwirkungsdauer tödliche Vergiftungen hervor. 6.6 Schutzmaßnahmen gegen lungenschädigende Kampfstoffe

Zum Schutz vor lungenschädigenden Kampfstoffen dient die Schutzmaske. Entscheidend ist — wie bei den Reizstoffen — das schnelle und sichere Aufsetzen der Maske. 117

Die Filterkapazität moderner Schutzmasken ist gegenüber Phosgen und ähnlichen Stoffen fast unbegrenzt. Bekleidung, Verbandstoffe, Lebensmittel und andere Güter müssen durch sichere Verpackung geschützt werden.

6.7 Erste Hilfe bei Verletzungen durch lungenschädigende Kampfstoffe

Da Verletzungen durch lungenschädigende Kampfstoffe gewöhnlich stärker sind als der Betroffene annimmt, ist in jedem Falle oberstes Prinzip, dem Vergifteten die Schutzmaske aufzusetzen oder ihn aus der vergifteten Atmosphäre hinauszuschaffen. Der Vergiftete muß völlig ruhig gestellt werden. Jegliche Anstrengung oder Bewegung muß untersagt werden. Selbst das Sprechen erhöht den Sauerstoffbedarf des Körpers und hat zu unterbleiben. Beim Transport muß der Vergiftete ruhig getragen werden. Werden diese Punkte berücksichtigt, kann der Sauerstoffverbrauch des Körpers auf ein Minimum gesenkt und eine Verschlimmerung der Vergiftung vermieden werden. Der Vergiftete muß ständig durch Wolldecken oder Kleidungsstücke warm gehalten werden. Da bei der Einwirkung lungenschädigender Kampfstoffe die Sauerstoffzufuhr in den Körper stark vermindert wird, ist in fast allen Fällen eine drucklose Sauerstoffbehandlung notwendig. Dabei muß darauf geachtet werden, daß der Sauerstoffgehalt des Beatmungsgases über 75 % liegt. Bei der Sauerstoff behandlung sind 6 l/min zur Erleichterung der Atmung und zur Behebung der Störungen notwendig. Die Sauerstoffbehandlung ist von Zeit zu Zeit zu unterbrechen. Sie muß wiederaufgenommen werden, wenn sich erneut Atemnot einstellt. Der Vergiftete ist sobald als möglich einer ärztlichen Behandlung zuzuführen. 118

7. Hautschädigende Kampfstoffe Zur Gruppe der hautschädigenden Kampfstoffe zählen alle Kampfstoffe, deren Hauptwirkung in einer Schädigung der Haut besteht. Dazu gehören die typischen Zellgifte wie Yperit, Stickstoff-Yperit und Lewisit sowie die Gruppe der sogenannten Nesselstoffe, die auf der Haut unangenehme Nesselerscheinungen hervorrufen. Die typischen, als Zellgifte bezeichneten Kampfstoffe dieser Gruppe waren das Objekt eingehender wissenschaftlicher Studien und Untersuchungen. Es wurden viele Arbeiten durchgeführt, um diese Kampfstoffe weiterzuentwickeln, um neue Stoffe mit ähnlichen Eigenschaften darzustellen und neue Anwendungsmöglichkeiten zu erproben. Trotzdem ist auch heute noch das Yperit der wichtigste Kampfstoff dieser Gruppe. Selbst die Entdeckung und Produktion der hochgiftigen Phosphorsäureester-Kampfstoffe konnten dem Yperit nicht seine Bedeutung als wirkungsvollster Geländekampfstoff nehmen. Nach wie vor werden in den imperialistischen Staaten große Mengen Yperit hergestellt und eingelagert. Die hautschädigenden Kampfstoffe besitzen die Fähigkeit sowohl die Atmosphäre (durch Dämpfe oder Aerosole) als auch das Gelände (für längere Zeit) zu vergiften. Dadurch können auch Menschen, die durch Atemschutzgeräte weitgehend geschützt sind, geschädigt werden. Muntsch erklärt die Ursachen der schweren Zellzerstörungen durch eine Reaktion des Stoffes mit lebenswichtigen Aminosäuren in den Gewebezellen. Dadurch entsteht der durch Blasenbildung äußerlich sichtbare Zellzerfall. Die Yperitmoleküle dringen infolge ihrer guten Löslichkeit und der relativ hohen chemischen Beständigkeit in die Organgewebe ein und entfalten innerhalb der Zellen ihre zerstörende Wirkung. 119

Besonders empfindlich sind natürlich die Zellen der unteren Hautschichten sowie die Zellen der Schleimhäute. Das erklärt auch, warum die Vergiftungserscheinungen an so empfindlichen Hautstellen wie im Nacken, an den Achselfalten, an den Geschlechtsteilen und zwischen den Fingern und Zehen stärker und gefährlicher sind als an anderen Hautstellen, wo die Hornhaut dem Eindringen des Kampfstoffes einen größeren Widerstand entgegensetzt. Bei der Einwirkung der Kampfstoffe auf die intakte Haut treten nach einer Latenzzeit von einigen Stunden die ersten Vergiftungserscheinungen in Form von Hautrötungen und Schwellungen auf. Die Oberhaut wird zwar vom Kampfstoff durchdrungen, bleibt aber intakt. Nachdem sich Zellzerstörungen in den unteren Hautschichten ausgebildet haben, hebt sich die Oberhaut infolge Blasenbildung ab, und die Vergiftung ähnelt in diesem Stadium einer Hautverbrennung. Gleichzeitig mit der Blasenbildung entstehen Entzündungsflächen in der Nähe der Einwirkungsherde, was darauf hindeutet, daß mit der Einwirkung des Kampfstoffes schwere Fermentschäden verbunden sein müssen. Im weiteren Verlauf der Vergiftung wird der Kranke hochempfindlich gegen Infektionserreger, das ist besonders stark im Stadium des Blasenzerfalls möglich. Die Vergiftung verläuft bei fehlender Behandlung äußerst langwierig und kann sich — bis zur vollständigen Wiederherstellung — monatelang hinziehen. Durch eine rechtzeitige Behandlung kann jedoch der vollen Ausbildung des Hautschadens entgegengewirkt werden. Bei der Einwirkung auf die Schleimhäute der Atmungsorgane und des Magen-Darmkanals sind lebensgefährliche Vergiftungen möglich. Besonders schwer sind Vergiftungen, die durch die Einwirkung von Kampfstoffdämpfen 120

auf die Lunge und durch die Aufnahme des Giftes mit Speisen und Getränken entstehen. Bei der Einwirkung von Stickstoff-Yperit können stärker als bei SchwefelYperit Schädigungen des Nervensystems entstehen.

7.1 Yperit

Yperit (chemisch Dichlordiäthylsulfid) ist einer der wichtigsten chemischen Kampfstoffe. Er wurde bereits im 1. Weltkrieg angewendet, hat aber auch noch unter modernen Bedingungen Bedeutung. In der chemischen Literatur wird Yperit oft auch als Lost bezeichnet. Diese Bezeichnung war vor allem in Deutschland gebräuchlich. Sie.wurde aus den Anfangsbuchstaben der Namen zweier deutscher Chemiker gebildet, die im 1. Weltkrieg die technische Herstellung dieses Stoffes bearbeiteten (Lommel und Steinkopf). In der englisch-sprachigen Literatur findet man auch die Bezeichnung Mustard-Gas, entsprechend dem senfartigen Geruch, der besonders dem technischen Produkt eigen ist. In der amerikanischen Militärliteratur findet sich die Bezeichnung H-Gas. Wie die gesamte Gruppe der hautschädigenden Kampfstoffe wurde das Yperit in der faschistischen Wehrmacht auch Gelbkreuz genannt, entsprechend der Munitionskennzeichnung im 1. Weltkrieg. Yperit war, wie fast alle chemischen Kampfstoffe, die im 1. Weltkrieg angewendet wurden, schon lange vor dem Krieg bekannt. Es wurde bereits 1854 von Riche und 1860 von A. Niemann durch die Einwirkung von Schwefelchlorür auf Äthylen hergestellt. Sehr charakteristisch schildert Niemann in seiner Veröffentlichung die Eigenschaften dieses Stoffes: „Sie (die Flüssigkeit, E. St.) zeigt einen sehr eigentüm121

lichen, unangenehmen, an Meerrettich erinnernden, die Geruchsnerven aufreizenden Geruch . . . Die charakteristische Eigenschaft dieses Öles ist zugleich eine sehr gefährliche. Sie besteht darin, daß selbst die geringste Spur, die zufällig auf irgendeine Stelle der Haut kommt, anfangs zwar keinen Schmerz hervorruft, nach Verlauf einiger Stunden aber eine Rötung derselben bewirkt und bis zum folgenden Tage eine Brandblase hervorbringt, die sehr lange eitert und außerordentlich schwer heilt, unter Hinterlassung starker Narben, eine Wirkung, welche dieser Körper auf gleiche Weise bei verschiedenen Individuen hervorbrachte. Es ist deshalb auch beim Arbeiten mit demselben große Vorsicht erforderlich."*) Auch von Guthrie, der sich um die gleiche Zeit mit dem Dichlordiäthylsulfid beschäftigte wie Niemann, wurde eine gute Charakteristik des Stoffes veröffentlicht: .,Sie riecht stechend und nicht angenehm, dem Senföl ähnlich; sie schmeckt zusammenziehend und ähnlich wie Meerrettich. Die geringsten Mengen Dampf, welche sich von ihr verbreiten, greifen die zarteren Teile der Haut, zum Beispiel zwischen den Fingern und um die Augen, an und zerstören die Epidermis. Läßt man sie im flüssigen Zustand auf der Haut verweilen, so bildet sich eine Brandblase."**) Später hat sich Viktor Meyer sehr eingehend mit dem Dichlordiäthylsulfid beschäftigt und die Eigenschaften des Stoffes genau beschrieben. 7.1.1 Physikalische und chemische Eigenschaften Yperit ist in reinem Zustand eine farblose, ölige Flüssigkeit mit einem schwachen Geruch nach Rizinusöl. Der Schmelzpunkt liegt bei 14 °C und der Siedepunkt unter *) Niemann, Liebigs Annalen der Chemie, 1860, Band 113, Seite 288. **) Guthrie, Journal of the Chemical Society, 1870, Band 12, Seite 116.

122

normalem Druck bei 217 °C. Bei 20 °C beträgt das spezifische Gewicht 1,27. Der Dampfdruck entspricht bei der gleichen Temperatur 0,115 mm Hg-Säule. Den Dampfdruck des Yperits kann man für verschiedene Temperaturen nach der Formel

berechnen. (T = Temperatur in Grad Kelvin) Danach ergeben sich folgende Werte des Dampfdruckes und der Sättigungskonzentration bei verschiedenen Temperaturen : Temperatur Dampfdruck 0 °C 10° 20° 30° 40°

0,035 mm Hg 0,055 mm Hg 0,12 mm Hg 0,23 mm Hg 0,45 mm Hg

Sättigungskonzentration 0,28 mp/1 0,42 mp/1 0,65 mp/1 1,44 mp/1 3,66 mp/1

Bei technischem Yperit liegt die Sättigungskonzentration bei etwa 0,57 mp/1 (20 °C). Technisches Yperit ist ein gelbes oder dunkelbraunes 01 mit einem senfähnlichen Geruch. Dieser Geruch stammt von verschiedenen Verunreinigungen, die bei der großtechnischen Herstellung entstehen. Technisches Yperit erstarrt bei Temperaturen von 5 bis 10 °C. Yperit ist in Wasser schlecht löslich. Bei 20 °C löst sich in 1 1 Wasser weniger als 1 p. Infolge dieser geringen Löslichkeit kann es mit wäßrigen Lösungen nur schwer entgiftet werden. Gut löslich ist Yperit in Benzol, Tetrachlorkohlenstoff, Dichloräthan, Trichloräthan, Schwefelkohlenstoff, Äther und Eisessig. Mit diesen Lösungsmitteln kann der Kampfstoff von empfindlichen 123

Oberflächen, bei denen eine Entgiftung mit chemischen Entgiftungsmitteln nicht möglich ist, sowie von Glasund Metalloberflächen abgelöst werden. In Alkohol ist Yperit nur wenig löslich. In 92%igen Äthylalkohol lösen sich bei Zimmertemperatur nur 30 p Yperit je Liter. Auch in Benzin, Erdöl und anderen Kohlenwasserstoffen ist die Löslichkeit nur beschränkt. Bei niedrigsiedenden flüssigen Kohlenwasserstoffen wie Leichtbenzin und Petroläther reicht bei Temperaturen von über 10 °C die Löslichkeit noch aus für physikalische Entgiftungsmethoden. Im Winter löst sich Yperit in diesen Lösungsmitteln aber so wenig, daß eine wirkungsvolle Entfernung des Kampfstoffes oft nicht möglich ist. Im faschistischen Deutschland wurden BekleidungsEntgiftungsverfahren erprobt, bei denen der Kampfstoff durch Warmextraktion mit Benzinen entfernt wurde. Diese Verfahren für stationäre Anlagen sollen auch bei klebrigen Yperit-Mischungen gute Ergebnisse gehabt haben. Yperit kann selbst als Lösungsmittel für andere Kampfstoffe dienen. So lösen sich beispielsweise Chlorpikrin, Lewisit, Phosphorsäureester und Phenylarsindichlorid sehr gut in Yperit. Mischungen von Yperit und Phenylarsindichlorid wurden von der faschistischen Wehrmacht für den Wintereinsatz bereitgehalten (sogenanntes Winterlost).

Yperit wird gut von Gummi, Holz, Leder und anderen Materialien aufgesogen. Es durchdringt sehr schnell Textilien und Gewebe. Das hohe Durchdringungsvermögen bereitet bei der Entgiftung große Schwierigkeiten. Es wurde beobachtet, daß von Holz aufgesogenes Yperit noch nach Wochen seine Wirksamkeit besaß. Das Durch dringungsvermögen von Yperit hängt ab vom Material, 124

von der Temperatur und der Porosität des Stoffes, der mit dem Yperit in Berührung kommt. Gewöhnliche Ziegel sind wenig durchlässig, glasierte Ziegel, Porzellan, Glas und Metall überhaupt nicht. Unlackiertes Holz saugt Yperit leicht auf. Die Aufnahme geschieht am schnellsten in der Faserrichtung. Papier-, Lack- und Wachsschichten werden von Yperit schnell durchdrungen. Guten Widerstand gegen Yperit bieten verschiedene Kunststoffarten wie Oppanol, Butylkautschuk oder Polyäthylen. Im allgemeinen haben hochpolymere Stoffe eine höhere Widerstandskraft als nieder polymere. Diese Kunststoffe eignen sich als Oberschicht für Stoffe, die für Schutzanzüge und Schutzmatten verwendet werden sollen. Gegen Ende des 2. Weltkrieges, als im faschistischen Deutschland eine allgemeine Materialknappheit herrschte, wurden Polyamidschichten für derartige Schutzstoffe verwendet. Die bei der faschistischen Wehrmacht gebräuchlichen Gasschutzplanen waren mit einer Kaseinschicht versehen. Um die Klebkraft und Wirksamkeit des Yperits zu erhöhen, wurden dem Yperit Zusätze beigegeben, die seine Zähigkeit und das Haftvermögen erhöhten. Die faschistische Wehrmacht hatte derartige taktische Mischungen unter der Bezeichnung Zählost in ihrem Bestand. Diese Mischungen haften gut an Geweben, der Haut und anderen Materialien. Die Entgiftung des Kampfstoffes wird durch diese Zusätze erheblich erschwert; sie verlängern auch die Wirkungsdauer im Gelände selbst bei sommerlichen Temperaturen. Yperit ist im Verhältnis zu den anderen chemischen Kampfstoffen sehr beständig. Beim Erhitzen bilden sich, beginnend bei 150 °C, ein tränenreizendes Gas und Salzsäure. Der Zerfall ist bei 500 °C vollständig. Bei der Einwirkung von Wasser tritt ein hydrolytischer 125

Zerfall des Yperits ein. Bei dieser Umsetzung bilden sich Thiodiglykol und Salzsäure:

Die Geschwindigkeit dieser Umsetzung wird durch die Temperatur, das Mengenverhältnis Yperit:Wasser, den Säure- beziehungsweise Alkaligehalt des Wassers und den Verteilungsgrad des Yperits im Wasser bestimmt. Bei Zimmertemperatur dauert eine 50%ige Zersetzung des Yperits etwa 1 h. Beim Kochen einer 1 %igen Lösung des Yperits in Wasser ist die Hydrolyse nach etwa 15 min vollständig. Man kann deshalb schwach vergiftetes Trinkwasser oder Speisen durch Kochen entgiften. Durch Oxydationsmittel wird Yperit in das entsprechende Sulfoxyd oder in das Sulfon übergeführt:

Durch starke Oxydationsmittel (rauchende Salpetersäure, Chromschwefelsäure) wird Yperit vollständig zerstört. Mit Chlorkalk bilden sich durch Oxydation und Chlorierung verschiedene Endprodukte, darunter das dem Yperit entsprechende Sulfoxyd:

126

Mit Chloramin, zum Beispiel dem Monochloramin T, bildet sich eine Additionsverbindung unter Abspaltung von Natriumchlorid:

Diese Umsetzung ist besonders wirkungsvoll, wenn das Monochloramin in einer wäßrig-alkoholischen Lösung angewendet wird. Bei der Entgiftung von Yperit mit Chlorkalk oder hochaktiven Chloraminen können die Reaktionen so schnell verlaufen, daß leichtentzündbare Stoffe wie Heu, Papier und trockenes Holz entflammt werden. Man verwendet deshalb meistens Chlorkalkbrei oder Chloraminlösungen. Mit Alkalien treten je nach Stärke verschiedene Reaktionen ein. Starke alkoholische Alkalilaugen zersetzen Yperit zu Divinylsulfid:

Verdünnte Alkalilösungen bewirken die Bildung von Thiodiglykol:

127

Diese Hydrolyse tritt ein, wenn Bekleidung oder Ausrüstungsgegenstände durch Wasserdampf-Ammoniakverfahren entgiftet werden. 7.1.2 Physiologische Wirkungen Yperit ist das typischste Zellgift der Gruppe der hautschädigenden Kampfstoffe. Es kann seine Wirkung als Flüssigkeit, als Aerosol oder als Dampf entfalten. Hauptangriffsorte bei der äußeren Einwirkung sind die Haut, die Schleimhäute, eventuelle Wunden, die Augen und der Nasen-Rachenraum. Wird die intakte Haut durch flüssige Kampfstofftropfen benetzt, so sind die ersten Vergiftungssymptome nach etwa 6 bis 8 h bemerkbar. Nach dieser Zeit wird dann eine Rötung der Haut beobachtet, die meistens von einem leichten Juckreiz begleitet ist. Dann entstehen Blasen, die sich nach etwa 2 bis 3 Tagen öffnen und bei fehlender Behandlung erst nach Wochen oder Monaten heilen. Oft bleiben bei Yperitverletzungen der Haut stark pigmentierte Stellen zurück. Besonders langwierig ist die Krankheit, wenn sich in geschädigten Hautstellen infolge Infektion eitrige Herde bilden. Die Hautschädigungen durch flüssiges Yperit können bei folgenden Giftstoffdosen entstehen:

Die Wirkung von Yperitdämpfen auf die Haut zeigt folgende Tabelle: Einwirkungszeit 5 min 15 min 60 min Hautrötung 0,03 mp/1 0,02 mp/1 0,006 mp/1 Blasenbildung... 2,0 mp/1 1,0 mp/1 0,7 mp/1

Die tödliche Dosis für Menschen liegt bei etwa 40 bis 50 mp/kp Körpergewicht. Ähnliche Vergiftungserscheinungen wie durch Flüssigkeitstropfen entstehen auch bei der Einwirkung von Kampfstoffdämpfen auf die Haut. Dabei sind besonders die Augenschleimhäute und die empfindlichen und zarten Hautstellen oder Wunden gefährdet.

Besonders empfindlich gegen Yperitdämpfe sind die Augen. Die Augenverletzungen entwickeln sich nach etwa 2 bis 4 h und machen sich durch starkes Brennen, Lichtscheu, Tränenfluß und bei längerer Einwirkung von Dämpfen oder Aerosolteilchen durch Rötung der Augenlider und starkes Anschwellen der Schleimhäute bemerkbar. Kommen Flüssigkeitstropfen in die Augen, schwellen die Lider so stark an, daß sie sich nur schwer öffnen lassen. Flüssigkeitstropfen, die in die Augen gelangt sind, können Hornhauttrübungen und dadurch zeitweise oder ständige Blindheit verursachen. Bei leichten Augenverletzungen dauert die Erkrankung oft einige Wochen. Rötungen der Augenschleimhäute entstehen bei 0,01 mp/1 bei einer Einwirkungszeit von etwa 15 min. Werden Yperitdämpfe oder -nebel eingeatmet, entstehen Schäden des Nasen-Rachenraumes und der Lunge. Die ersten Anzeichen einer solchen Vergiftung zeigen sich meist nach 4 bis 12 h und sind durch starke Hustenanfälle, Kratzen im Halse und — bei schweren Vergiftungen — durch blutigen Auswurf gekennzeichnet. Nach einigen Stunden treten starke Kopfschmerzen und Sprechschwierigkeiten, mitunter sogar teilweiser Verlust des Sprechvermögens auf. Oft werden Vergiftungen des Nasen-Rachenraumes durch Infektionen kompliziert. Besonders schnell entwickeln sich die Vergiftungssymptome bei der Einwirkung von Yperit-Aerosolen. Hier können die ersten Vergiftungssymptome bereits nach wenigen

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9

Hautrötung kleine Blasen große Blasen

bei 0,01 mp/cm2 bei 0,1 mp/cm2 bei 0,5 mp/cm2

Kampfstoffe

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Minuten auftreten und schwerste, bei fehlender Behandlung meist tödlich ausgehende Lungenschäden entstehen. Gelangt Yperit mit Getränken und Speisen oder mit Wasser in den Magen-Darmkanal, so entstehen schwere innere Vergiftungen. Die ersten Anzeichen einer Vergiftung machen sich bereits nach 30 bis 60 min durch starke Leibschmerzen, Magenkrämpfe und Erbrechen bemerkbar. Nach einigen Stunden tritt blutiger Durchfall auf. Vergiftungen durch Yperit, das mit Speisen und Getränken aufgenommen wurde, enden in der Mehrzahl tödlich. Yperitvergiftungen sind von allgemeinen Vergiftungssymptomen begleitet, die unabhängig vom Einwirkungsort entstehen, da der Giftstoff durch das Blut oder die Lymphflüssigkeit im Körper verteilt wird und auf die lebenswichtigen Organe wie Herz, Nieren und Leber sowie auf das zentrale Nervensystem einwirkt. Deshalb ist eine starke Yperitvergiftung von Temperaturerhöhungen, psychischer Depression und heftiger Abmagerung begleitet. 7.1.3 Anwendungsmöglichkeiten Yperit ist der typischste aller seßhaften Kampfstoffe. Er kann zur langdauernden Vergiftung des Geländes eingesetzt werden. Sein Einsatz ist in Granaten, Bomben sowie aus Vergiftungsfahrzeugen und Flugzeugen mit Absprüheinrichtungen möglich. Entsprechend seinen physikalischen Eigenschaften ist nach der Anwendung flüssigen Yperits eine Wirkungsdauer von mehreren Stunden oder Tagen zu erwarten. Nach einigen Veröffentlichungen soll die Wirkungsdauer im offenen Gelände bei geringer Bodenbewachsung wie folgt sein: 10 °C 12 bis 24 h 20 °C 10 bis 16 h 30 °C 6 bis 12 h 130

Die Wirkungsdauer ist aber nicht nur von der Temperatur, sondern auch noch von der Windgeschwindigkeit und der Bodenstruktur abhängig. Am längsten ist die Wirkung in Wäldern oder im Buschgelände, weil dort die Verdampfungsgeschwindigkeit infolge der relativ niedrigen Bodengeschwindigkeiten niedrig ist. Auf Beton- oder Asphaltstraßen muß eine wesentlich geringere Wirkungsdauer angenommen werden. Klebrige Mischungen des Yperits sind selbst bei hohen Temperaturen im Sommer bis zu mehreren Tagen im Gelände wirksam. Im Sommer wird jedoch neben der hautschädigenden Wirkung durch Flüssigkeitstropfen besonders bei Windstille oder in Stagnationsräumen eine starke Wirkung der Kampfstoffdämpfe auf die Atmungsorgane und empfindliche Hautstellen zu erwarten sein. Beim Überfall des faschistischen Italiens auf Abbessinien (1935) wurde Yperit auch bei relativ hohen Temperaturen von den italienischen Truppen eingesetzt. Dabei wurden — besonders bei ungeschützten Menschen — Schäden im Nasen-Rachenraum und den Augen festgestellt. Weil die mit Yperit vergifteten Geländeabschnitte leicht am starken Yperit-Geruch erkannt werden können, setzten die italienischen Truppen wiederholt sogenannte geruchlose Loste ein. Das Yperit wurde zu diesem Zweck sehr stark gereinigt, so daß es nur eine leichte gelbliche Färbung und nur noch einen schwachen Geruch besaß. Für den Einsatz im Winter wurde von der faschistischen Wehrmacht eine Mischung von Yperit und Phenylarsindichlorid mit einem Zusatz Diphenylarsinchlorid gelagert. Diese taktische Mischung war bis zu — 35 °C flüssig und sollte in der Sowjetunion zur Anwendung gelangen. In England wurden nach dem 2. Weltkrieg Versuche mit einer Mischung Diisopropylfluorphosphat und Yperit sowie Mischungen von Sarin und Yperit erprobt, die eben131

falls im Winter eingesetzt werden können und eine erheblich höhere Toxität haben als das rein technische Yperit. In den Munitionslagern der faschistischen Wehrmacht wurden nach dem 2. Weltkrieg Granaten mit YperitFüllung aufgefunden, die einen Distanzzünder enthielten und mittels einer starken Sprengladung ein feines, äußerst gefährliches Yperit-Aerosol erzeugen konnten. Auch chemische Splitterbomben mit einer erheblichen Aerosolwirkung wurden aufgefunden. Diese Granaten und Bomben sollten gegen Menschen außerhalb von Deckungen, gegen Kolonnen sowie gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt werden. 7.2 Stickstoff-Yperit (Trichlortriäthylamin)

Stickstoff-Yperit ist ein Kampfstoff, der kurz vor dem 2. Weltkrieg bekannt wurde. Er ist ein Ergebnis der zahllosen Forschungen, die nach dem 1. Weltkrieg zur Weiterentwicklung der hautschädigenden Kampfstoffe durchgeführt wurden. Aus dem Vergleich der chemischen Formeln des Yperits und des Stickstoff-Yperits läßt sich der ähnliche Aufbau des Stoffes leicht erkennen:

Schwefel-Yperit

Stickstoff-Yperit

dung, das Methyldichlordiäthylamin, als Kampfstoff hergestellt. Methyldichlordiäthylamin hat die Formel:

Nach dem 2. Weltkrieg sind die Stickstoff-Yperite als Mittel für Geschwulstbehandlung bekannt geworden. 7.2.1 Physikalische und chemische Eigenschaften

Stickstoff-Yperit ist im reinen Zustand eine farb- und geruchlose Flüssigkeit mit einem Siedepunkt von 230 °C. Es erstarrt bei — 4 °C zu kleinen Kristallen. Der Dampfdruck des Stoffes bei 20 °C liegt unter 0,005 mm Hg-Säule und die Sättigungskonzentration bei 40 mp/m3. Das spezifische Gewicht bei 20 °C beträgt 1,24. Technisches Stickstoff-Yperit ist eine gelbbraune Flüssigkeit ohne charakteristischen Geruch. In Wasser ist Stickstoff-Yperit wenig löslich. Bei 20 °C lösen sich nur 0,5 p/l Wasser. Diese Menge reicht aber aus, um beim Genuß von vergiftetem Wasser schwere Vergiftungen mit meist tödlichem Ausgang hervorzurufen. In organischen Lösungsmitteln löst sich Stickstoff-Yperit gut. Auch Mischungen mit anderen Kampfstoffen sind möglich. Trichlortriäthylamin ist als organische Aminverbindung in der Lage, mit Säuren Salze zu bilden. Mit Salzsäure bildet es ein kristallines, giftiges Salz, das bei 131 °C schmilzt. Die Hydrolyse verläuft wesentlich langsamer als beim Yperit. Durch die vollständige Hydrolyse wird Triäthanolamin gebildet:

Die chemische Bezeichnung für das Stickstoff-Yperit ist Trichlortriäthylamin. Im faschistischen Deutschland wurde außerdem noch eine ähnliche chemische Verbin132

133

Diese Entgiftungsreaktion verläuft sehr langsam und bei Zimmertemperatur nur unvollständig, da die sich bildenden Zwischenprodukte der Hydrolyse noch eine starke zellschädigende Wirkung haben. Durch starke Oxydationsmittel wird Trichlortriäthylamin zu Trichlortriäthylaminoxyd oxydiert.

Das bei dieser Reaktion entstehende Oxyd ist noch beträchtlich giftig, weshalb die üblichen Oxydations mittel keine ausreichende Entgiftung gewährleisten. Durch chlorierend wirkende Stoffe ist Trichlortriäthylamin nur schwer zu entgiften. Nur starkwirkende Chlorierungs- oder Oxydationsmittel sind dazu geeignet. Man verwendet deshalb zur Entgiftung von Stickstoff-Yperit Hypochlorite (Chlorkalk DTS) oder hochaktive Chloraminlösungen. Aber auch bei diesen Entgiftungsmitteln verläuft die Reaktion nur unvollständig. Nach einer Entgiftung von Geräten ist deshalb anschließend das Gerät unter Einhaltung aller Sicherheitsmaßnahmen sorgfältig mit Lösungsmitteln zu reinigen. Zur Entgiftung können auch alkoholische Lösungen von Natriumsulfid verwendet werden. Bei der Reaktion bildet sich ein kompliziert aufgebauter Stoff:

7.2.2 Physiologische Wirkungen

Trichlortriäthylamin wirkt ähnlich wie Yperit und andere hautschädigende Kampfstoffe. Neben der hautschädigenden Wirkung kann bei schweren Vergiftungen auch das 134

Nervensystem betroffen werden, allerdings schwächer als bei den typischen nervenschädigenden Kampfstoffen. Trichlortriäthylaminvergiftungen zeichnen sich durch die gleichen Besonderheiten wie Yperitvergiftungen, so durch Schmerzlosigkeit bei der Einatmung und eine versteckte Periode bei der Einwirkung auf den Organismus, aus. Die Dosis, die bei der Einwirkung auf die Haut Hautrötungen und leichte Verletzungen hervorruft, liegt bei 0,001 mp/cm2. Technisches Stickstoff-Yperit ruft auf der Haut sehr schwache Reizerscheinungen hervor. Die tödliche Dosis von Stickstoff-Yperit beträgt 20 mp/kp bei der Aufnahme durch die Haut. Bei der Einwirkung auf die Atmungsorgane wirken 1 bis 2 mp/1 bei einer Einwirkungszeit von 5 mm tödlich. Charakteristisch für die Verletzungen durch StickstoffYperit sind die kleinen Blasen, die nur selten zu größeren zusammenfließen. Bei der Einwirkung auf die Augen treten die gleichen Erscheinungen auf wie bei Yperit; auch Verletzungen der Verdauungsorgane verlaufen ähnlich wie dort. 7.2.3 Anwendungsmöglichkeiten

Stickstoff-Yperit ist ein seßhafter chemischer Kampfstoff. Im Kriege kann er ähnlich wie das Yperit zur Geländevergiftung und als Aerosol eingesetzt werden. Besonders wirkungsvoll sollen nach englischen Ansichten Mischungen mit Phosphorsäureestern sein. Der Vorteil dieses Kampfstoffes im Gefechtseinsatz soll gegenüber Yperit in seiner Geruchlosigkeit und schweren Entgiftbarkeit liegen. Tatsächlich läßt sich Stickstoff-Yperit, besonders klebrige Mischungen, nur schwer entgiften. Es hat im Gelände eine ähnlich lange Wirkung wie das Yperit. In der faschistischen Wehrmacht waren Stickstoff-YperitVorräte unter anderem für Wasser- und Lebensmittelvergiftungen bestimmt. 135

7.3 Lewisit

C1CH = CH-AsCl2

Lewisit wurde gegen Ende des 1. Weltkrieges von G. Lewis in den USA hergestellt. Dieser Kampfstoff kam im 1. Weltkrieg nicht mehr zur Anwendung. Man unterscheidet drei Lewisitarten: Lewisit A C1CH = CH-AsCl2 Lewisit B [C1CH = CH]2-AsCl Lewisit G [C1CH = CH]3As Von diesen drei Lewisitarten ist das Lewisit A, chemisch Chlorvinylarsindichlorid, das wirksamste und als Kampfstoff brauchbar. Lewisit wurde in übertriebenen amerikanischen Berichten nach dem 1. Weltkrieg als Todestau bezeichnet. Man schrieb ihm eine ungeheure Wirksamkeit zu. Genauere Untersuchungen in den Nachkriegsjahren haben jedoch gezeigt, daß dieser Kampfstoff in seinen Eigenschaften und Wirkungen etwa dem Yperit gleichzusetzen ist. 7.3.1 Physikalische und chemische Eigenschaften Lewisit ist im reinen Zustand eine farblose Flüssigkeit, die bei 190 °C unter Zersetzungserscheinungen siedet. Der Schmelzpunkt liegt bei —18 °C. Das spezifische Gewicht bei 20 °C beträgt 1,9. Der Dampfdruck entspricht bei 20 °C 0,4 mm Hg-Säule und die Sättigungskonzentration 2300 mp/m3. Technisches Lewisit ist eine bräunliche Flüssigkeit mit einem starken geranienähnlichen Geruch. Die technische Mischung enthält etwa 70% Chlorvinylarsindichlorid sowie Arsentrichlorid und andere Arsenverbindungen. In Wasser ist Lewisit schwer löslich, es wird aber schnell hydrolysiert. In Benzin, Tetrachlorkohlenstoff, Dichloräthan, Alkohol und anderen organischen Lösungsmitteln 136

löst sich Lewisit gut. Auch mit Kampfstoffen wie Yperit, Diphosgen und Chlorpikrin ist Lewisit gut mischbar. Bei der Einwirkung von Wasser hydrolysiert Lewisit unter der Bildung giftiger Arsenverbindungen: C1CH=CH—AsCL2 + H 2 0 -> C1CH=CH—AsO + 2 HC1 Wegen der giftigen Hydrolyseprodukte kann durch Lewisit vergiftetes Wasser auch nach dem Abkochen weder für Speisezwecke noch für andere Wirtschaftszwecke verwendet werden. Bei der Umsetzung mit Alkalien bilden sich ebenfalls giftige Umsetzungsprodukte: C1CH=CH—AsCl2 + 2 KOH -> C1CH=CH—AsO + 2 KC1 + H 2 0 Chlorvinylarsinoxyd Chlorvinylarsinoxyd ist ebenso wie das Lewisit selbst ein Giftstoff mit blut- und nervenschädigender Wirkung. Bei der Einwirkung starker Laugen (über 30 %) entstehen Azetylen und andere Produkte: 2 C1CH=CH—AsCl2 + 6 NaOH -> 2 CH=CH + As2O3 + 6 NaCl + 3 H2O Das Arsentrioxyd (As2O3) ist ebenfalls giftig. Bei der Einwirkung von Oxydationsmitteln entstellt aus Lewisit Chlorvinylarsinsäure:

Die Chlorvinylarsinsäure besitzt keine hautschädigende Wirkung. Auch die Chlorierung von Lewisit zerstört den Kampfstoff und vermindert die Giftwirkung. Lewisit dringt stärker als Yperit in Gummi, Kunststoffe und andere Materialien ein. Während eine 0,5 mm starke Weichgummischicht von Yperit in etwa 20 bis 30 min 137

durchdrungen wird, liegt die Durchschlagzeit für Lewisit bei etwa 10 bis 15 min. Deshalb ist auch die Entgiftung von Gummibekleidung, die mit Lewisit durchsetzt ist, nur schwer möglich. 7.3.2 Physiologische Wirkungen Lewisit ist ein starkes Hautgift. Seine allgemeingiftige Wirkung ist stärker als die von Yperit. Gelangt Lewisit auf die Haut, sind die Verletzungen weniger tiefgreifend als bei Yperit; sie heilen auch schneller. Blasen bilden sich auf der Haut bei der Einwirkung von 0,2 mp/cm2. Im Gegensatz zum Yperit stellt sich sofort nach der Einwirkung Hautbrennen ein. Die Hautverletzungen (Rötungen, später Blasenbildung) werden bereits nach etwa 15 bis 20 min spürbar. Die sich bei einer Lewisitvergiftung bildenden Blasen sind mit einer durch Blut gefärbten Flüssigkeit gefüllt. Dieses Blut gelangt durch Porenblutergüsse in die Blasenflüssigkeit. Die Lewisitvergiftungen sind, sofern keine tödlichen Mengen aufgenommen wurden, nicht so langwierig wie Yperitvergiftungen. Beim Einatmen führen Konzentrationen von 0,05 mp/1 bei einer Einwirkungszeit von etwa 1 h zu schweren Vergiftungen. Tödlich wirken Konzentrationen von 0,5 mp/1 bei einer Einwirkungszeit von 5 min. Die Dämpfe können bei einer Einwirkungszeit von etwa 1 h und bei einer Konzentration von 3 mp/1 Blasenbildung auf der Haut, besonders auf weichen Hautstellen, hervorrufen. Wirken Lewisitdämpfe auf die Augen, schwellen die Augenlider an, die Hornhaut rötet sich und, starkes Augenbrennen tritt ein. Die Augenverletzungen durch Lewisitdämpfe heilen schneller als bei Yperit. Kommt Lewisit in den Magen-Darmkanal, so treten sofort , heftige Leibschmerzen und später Krämpfe auf. Tödlich wirken Mengen von 20 mp/kp Körpergewicht. 138

7.3.3 Anwendungsmöglichkeiten Lewisit kann ähnlich wie Yperit als seßhafter chemischer Kampfstoff zur Geländevergiftung eingesetzt werden. Die Anwendungsmethoden sind ähnlich wie bei Yperit. Nach einigen westlichen Veröffentlichungen sollen sich Yperit-Lewisit-Mischungen infolge ihres niedrigen Erstarrungspunktes für den Einsatz im Winter eignen. Bei feuchtem Wetter ist jedoch eine ausreichende Gefechtswirksamkeit nicht zu erwarten, da dieser Kampfstoff zu schnell vom Wasser hydrolysiert wird. 7.4 Phosgenoxim C12CNOH Phosgenoxim galt während des 2. Weltkrieges im faschistischen Deutschland als chemischer Kampfstoff. Der Vorteil dieses Kampfstoffes sollte in seiner stark hautreizenden Wirkung (Nesselwirkung) liegen. Die für den militärischen Einsatz nachteilige Latenzzeit der anderen hautschädigenden Kampfstoffe sollte damit wegfallen. Die chemische Instabilität dieses Stoffes und seine geringe Toxizität lassen die militärische Bedeutung dieses Stoffes jedoch zweifelhaft erscheinen. Phosgenoxim und ähnliche chemische Verbindungen wurden in der faschistischen Wehrmacht als RotkreuzKampfstoffe — entsprechend der vorgesehenen Munitionskennzeichnung — bezeichnet. 7.4.1 Physikalische und chemische Eigenschaften Phosgenoxim ist ein farbloser, kristalliner Stoff mit einem Siedepunkt von 129 °C und einem Schmelzpunkt von 43 °C. Es besitzt einen eigenartigen penetranten Geruch. Technisches Phosgenoxim ist eine gelbbraune Flüssigkeit mit einem hohen Dampfdruck. Phosgenoxim ist ohne Zusatz von Stabilisatoren nur 139

kurze Zeit lagerfähig. Es ist in Alkohol, Wasser, Tetrachlorkohlenstoff und anderen organischen Flüssigkeiten gut löslich. Durch Wasser wird Phosgenoxim schnell hydrolysiert: C12CNOH + 2H 2 O-> CO2 + HC1 + NH2OH • HC1 Die Hydrolyse kann durch Alkalien oder Säuren beschleunigt werden. 7.4.2 Physiologische Wirkungen

Phosgenoxim hat neben seiner Reizwirkung noch eine starke hautschädigende Wirkung. In geringen Konzentrationen reizt der Stoff die Schleimhäute der Augen und des Nasen-Rachenraumes. Werden seine Dämpfe eingeatmet, treten sofort starke Hustenanfälle und Schmerzen im Kehlkopf auf. Gelangen die Dämpfe in die Lunge, so entwickeln sich örtliche Geschwülste. Bei schweren Verletzungen kommen zur Wirkung auf das Zentralnervensystem noch Störungen des Herzgefäßsystems. Kommen Tropfen des Kampfstoffes mit der Haut in Berührung, verspürt der Betroffene sofort einen schneidenden Schmerz. Danach entwickeln sich Blasen, die jedoch im Vergleich zu anderen hautschädigenden Kampfstoffen schneller heilen, ohne große Nachwirkungen zu hinterlassen. Die LD50 des Stoffes liegt bei 25 mp/kp Körpergewicht.

7.5 Schutzmaßnahmen gegen hautschädigende Kampfstoffe

Die wichtigsten Schutzmittel gegen diese Kampfstoffe sind die Schutzmaske und die Schutzbekleidung. Regenmäntel, Gummihandschuhe, Gummistiefel und Wetter140

schutzanzüge können zum Behelf angewendet werden. Besonders wichtig ist der Schutz der Augen, der Atmungsorgane und der Hände. Die Schutzmasken und die Schutzbekleidung gewähren ausreichenden Schutz vor den Wirkungen dieser Kampfstoffe. Besonderer Wert ist auf den Schutz von Nahrungsmitteln, Trinkwasser und Bekleidung zu legen. In diesem Zusammenhang muß darauf hingewiesen werden, daß es unumgänglich ist, bei einer möglichen Kampfstoff-Vergiftung ständig alle Lebensmittel und Futtermittel sowie das Wasser zu untersuchen. Aus diesem Grunde sind an möglichst vielen Stellen chemische Untersuchungsplätze einzurichten und mit dem notwendigen Gerät auszustatten.

7.6 Erste Hilfe bei Vergiftungen durch hautschädigende Kampfstoffe

Sind Spritzer von hautschädigenden Kampfstoffen auf die Haut gekommen, so müssen sie mit Wattebauschen oder speziellen Tupfern entfernt werden. Keinesfalls darf dabei gerieben werden, weil das die Einwirkungsfläche des Kampfstoffes vergrößert und die Vergiftung verschlimmert. Der Kampfstoff muß auch dann noch von der Haut getupft werden, wenn der Stoff bereits eine längere Zeit mit der Haut in Kontakt gewesen ist. Dadurch wird eine weitere Einwirkung verhindert und die Hautschädigung wesentlich eingeschränkt. Die Haut kann durch Hautentgiftungssalben, die Chloramin oder ähnlich wirkende Mittel enthalten, entgiftet werden. Außer Salben gibt es auch noch extra für die Hautentgiftung hergestellte Kalziumhypochloritprodukte, die als Tabletten in den Handel kommen. Derartige Hautentgiftungsprodukte müssen mit Wasser angefeuch141

tet und als Brei auf die kampfstoffverletzten Hautstellen aufgetragen werden. In jedem Falle sollten Flüssigkeitstropfen vorher abgetupft werden. Nach einigen Minuten wird der Entgiftungsbrei oder die aufgetragene Salbenschicht entfernt und die entgiftete Hautstelle mit Wasser oder Seifenlösung abgewaschen. Je schneller nach der Einwirkung des Kampfstoffes die Entgiftung erfolgt, um so weniger bildet sich die Hautvergiftung aus. Wird der Entgiftungsstoff bereits 1 bis 2 min nach der Kampfstoffeinwirkung aufgetragen, so ist nur in den seltensten Fällen mit einer vollständigen Ausbildung der Hautvergiftung zu rechnen. Bei Tierversuchen wurde beobachtet, daß sich dann nur leichte Hautrötungen zeigten, die nach einigen Stunden wieder verschwanden. Fehlen Hautentgiftungsmittel, kann notfalls auch mit Permanganatlösung oder schwacher Wasserstoffsuperoxydlösung entgiftet werden. Sind die Bekleidungsstücke vergiftet, so müssen diese schnellstens gewechselt werden, um die Einwirkung der Kampfstoffdämpfe auf die Haut zu verhindern. Kann die Bekleidung nicht gewechselt werden, so müssen Entgiftungsmittel angewendet werden. Nach jeder Entgiftung, gleich, ob von Hautstellen oder von Bekleidungsstücken, sollten die Hände entgiftet oder zumindest gründlich gewaschen werden. Dabei spielt keine Rolle, ob die Hände tatsächlich mit Kampfstoff in Berührung gekommen sind oder nicht. Sind die Atemwege durch hautschädigende Kampfstoffe verletzt worden, so hilft oft schon eine Wasserdampfinhalation oder Gurgeln mit schwachen alkalischen Lösungen. Auch Kaliumpermanganatlösungen können verwendet werden. Ist Kampfstoff in die Augen gekommen, empfiehlt sich eine Spülung der Augen mit Borwasser oder schwacher 142

Sodalösung. Bei Augenverletzungen können auch spezielle Salben, die BAL (Dithioglyzerin) enthalten, verwendet werden (besonders bei Lewisitvergiftungen). Bei Vergiftungen der Atmungsorgane und der Augen muß ärztliche Hilfe geleistet werden.

8. Nervenschädigende Kampfstoffe Die nervenschädigenden Kampfstoffe sind die wirksamsten und gefährlichsten chemischen Kampfstoffe, die bisher bekannt geworden sind. Zu dieser Gruppe gehören Blausäure, Chlorzyan, Bromzyan, DFP, Tabun, Sarin und Soman. Die Bezeichnung nervenschädigende Kampfstoffe ist nicht exakt, deshalb findet man in vielen Veröffentlichungen die Bezeichnungen allgemeingiftige oder auch blut- und nervenschädigende Kampfstoffe. Hier soll diese Gruppe unter der Bezeichnung nervenschädigende Kampfstoffe zusammengefaßt werden, da sich die Hauptwirkung dieser Stoffe durch Nervenschädigungen am einfachsten erklären läßt. Die oben angeführten Kampfstoffe lassen sich in zwei Untergruppen einteilen. Zur ersten Untergruppe gehören die Kampfstoffe vom Typ der Blausäure. Diese Kampfstoffe wirken hauptsächlich lähmend auf das Atemzentrum.] Die Wirkung läßt sich vereinfacht durch die Unterbindung der Sauerstoffübergabe in den Zellen des Organismus erklären. Gelangen Blausäure oder ähnlich wirkende Kampfstoffe wie Chlorzyan und Bromzyan mit der Atemluft in die Atmungsorgane, so werden diese Stoffe durch das Blut in den Organismus gebracht. Der gleichfalls durch das Blut transportierte Sauerstoff, mit dem sich das Blut beim Durchfließen der Lunge beladen hat, wird normalerweise durch die Wirkung der Atmungsfermente in den Zellen abgegeben. Die Blausäure hemmt jedoch im Organismus die Tätigkeit der Atmungsfermente und verhindert dadurch die Übergabe des Sauerstoffs in den Zellen. Dadurch wird ein akuter interzellularer Sauerstoffmangel hervorgerufen, durch den die verschiedensten physio144

logischen Mechanismen in den Zellen gehemmt werden. Durch viele Untersuchungen ist bekannt geworden, daß die Wirkung der Blausäure auf das Atmungsferment im wesentlichen durch eine Komplexbindung des im Ferment vorhandenen Eisens erklärt werden kann. Diese Erklärung wird noch dadurch erhärtet, daß die Blausäure mit Eisen und anderen Schwermetallionen sehr stabile Komplexverbindungen bildet. Durch diese Wirkung der Blausäure wird folglich nicht die Aufnahme des Sauerstoffs durch das Blut verhindert, sondern seine Übertragung auf die verschiedensten Zellen im Organismus. Daraus entstehen die vielfältigsten Vergiftungssymptome, die bei einer Blausäurevergiftung beobachtet werden können. Hauptsächlich machen sich diese Wirkungen durch Schwindelanfälle, Schwäche und Atembeschwerden bemerkbar. Durch Rückwirkungen auf das Atmungszentrum kommt es bei Einatmung tödlich wirkender Giftstoffmengen zu einer Verflachung der Atmung und Verkürzung der Einatmungszeiten. Nach einer gewissen Zeit, die von der Menge des eingeatmeten Giftstoffes und von der Einwirkungszeit abhängig ist, kommt es zum Atemstillstand. Die Herztätigkeit dauert danach noch so lange an, bis durch Sauerstoffmangel in den Herzmuskeln und zentral bedingte Störungen auch die Organtätigkeit aufhört. Infolge dieses Wirkungsmechanismus der Blausäure und die dadurch bedingten Organstörungen gehört die Blausäure zu den am schnellsten wirkenden Giftstoffen. Chlorzyan und Bromzyan wirken ähnlich wie die Blausäure, jedoch sind bei diesen Kampfstoffen noch andere physiologische Wirkungen, zum Beispiel erhöhte Reizeffekte bei der Einwirkung, zu beobachten. Die zweite Untergruppe der nervenschädigenden Kampfstoffe sind die Kampfstoffe vom Typ des Sarins. Um die Wirkung dieser Kampfstoffe zu erklären, ist es notwendig, kurz die 145

Fortleitung der Nervenreize in den Nervenbahnen zu erklären. Die Nervenbahnen haben die Aufgabe, Nervenimpulse, die zur Auslösung bestimmter Effekte, beispielsweise der Drüsen- und Muskeltätigkeit, vom Zentralnervensystem ausgelöst werden, an die entsprechenden Organe fortzuleiten. Umgekehrt werden durch die Nervenbahnen bestimmte Reizeffekte, die durch äußere Einwirkung auf die Sinnesorgane entstehen, zum zentralen Nervensystem geleitet, um dort entsprechende Gegenreaktionen auszulösen. Die Nervenbahnen bestehen aus vielen aneinandergereihten Nervenzellen. Die Reizübertragung, die mit der Fortleitung elektrischer Energie in Leitungen vergleichbar ist, erfolgt an den Nervenenden durch die Wirkung von Überträgerstoffen, den sogenannten transmitters. In den letzten Jahren sind die Wirkungen vieler derartiger Überträgerstoffe erforscht worden. Im Zusammenhang mit den Kampfstoffen vom Sarin-Typ interessieren hauptsächlich Nervenbahnen, in denen die Reizübertragung durch das Azetylcholin erfolgt. Diese Nervensysteme werden auch als cholinergische Systeme bezeichnet. Die Reizübertragung in der Nervenbahn erfolgt durch kurze Reizimpulse, die mit einer Frequenz von etwa 50 bis 60 Impulsen pro Minute übertragen werden. Bei jedem Impuls wird an den Nervenenden eine geringe Menge Azetylcholin freigesetzt, das durch entsprechende Reizung der benachbarten Nervenzelle den Reizimpuls überträgt. Untersuchungen haben ergeben, daß von diesem Stoff bereits die unvorstellbar geringe Menge von einigen millionstel Pond wirksam ist. Die Reizerregung auf die benachbarte Nervenzelle hält so lange an, wie in den Unterbrechungsstellen zwischen den Nervenzellen Azetylcholin wirksam ist. Um die schnelle Reizfolge zu ermöglichen und nach jedem Reizeffekt die Übertragungsstelle 146

für den nächsten Impuls wieder in den ursprünglichen Zustand zu versetzen, muß das gebildete Azetylcholin möglichst schnell wieder zersetzt werden. Diese schnelle Zersetzung des Azetylcholins wird durch ein Enzym bewirkt, das im gesamten Organismus und besonders an den Enden der Nervenzellen vorhanden ist. Dieses als Azetylcholinesterase bezeichnete Enzym ist in der Lage, die Hydrolysegeschwindigkeit des Azetylcholins enorm zu beschleunigen. Durch diese Enzymwirkung wird der Überträgerstoff praktisch sofort nach seiner Freisetzung an den Nervenenden und der erfolgten Reizübertragung zersetzt und die Übertragungswirkung hält nur weniger als eine tausendstel Sekunde an. Natürlich sind die Vorgänge wesentlich komplizierter, als es in dieser kurzen Erklärung dargelegt werden konnte. Die Wirkung der nervenschädigenden Kampfstoffe beruht, nachdem sie in den Organismus eingedrungen sind, auf einer Hemmung des für die Nervenreizleitung lebensnotwendigen Enzyms Azetylcholinesterase. Deshalb werden diese Stoffe auch oft als Cholinesteraseblocker bezeichnet. Gelangen geringste Mengen dieser Kampfstoffe an die Nervenzellen, so wird das entstehende Azetylcholin nicht oder nur unvollständig zersetzt, und eine unnatürliche Anhäufung dieses Stoffes an den Nervenenden ist die Folge. Die dadurch hervorgerufenen Veränderungen führen zu schwersten Störungen im gesamten Organismus. Die Reizeffekte in den Nervenbahnen werden anhaltender und stärker, und die normale Organtätigkeit wird gestört. So kommt es zu erhöhter Drüsentätigkeit und zu krampfartigen Zuständen der Muskeln. Durch die Lähmung der Muskulatur des Brustkorbes wird die Atmung erschwert oder völlig zum Stillstand gebracht. Ähnlich sind die Wirkungen auf die Muskulatur des Magen-Darmkanals und anderer Organe. Wenn man sich die durch geringste 10*

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Mengen des Azetylcholins ausgelösten Wirkungen vorstellt, so ist es verständlich, daß selbst geringste Mengen dieser Kampfstoffe zu schweren Vergiftungen führen, wenn sie an die entsprechenden Stellen im Organismus gelangen. Diese Kampfstoffe sind daher auch die giftigsten und gefährlichsten, die bisher bekannt geworden sind. Bereits Bruchteile von Pond reichen aus, um tödliche Vergiftungen bei Menschen hervorzurufen. Als Beispiel mag genügen, daß bereits weniger als ein halbes Pond Soman in der Lage ist, einem Hund Vergiftungen zuzufügen, die bereits nach wenigen Minuten den Tod zur Folge haben. In der ausländischen, besonders der skandinavischen Literatur, werden die Kampfstoffe vom Typ des Sarins entsprechend ihrer Wirkung als Krampfgifte bezeichnet. In der amerikanischen Literatur nennt man sie gewöhnlich Nervengase.

8.1 Blausäure

HCN

Blausäure wurde im Jahre 1782 erstmalig von dem bekannten Chemiker Scheele aus Berliner Blau, einem damals vielverwendeten Farbstoff, hergestellt. Nach dieser Darstellungsmethode erhielt diese Säure ihren Namen. Seit dieser Zeit sind ihre enorme Giftwirkung und ihre Eigenschaften bekannt. Im 1. Weltkrieg wurde von der französischen Armee versucht, die Blausäure als chemischen Kampfstoff zu verwenden. Es war jedoch mit den damaligen Mitteln nicht möglich, wirksame Gefechtskonzentrationen zu erzielen; man kam deshalb zu der Schlußfolgerung, daß die Blausäure keine Bedeutung als chemischer Kampfstoff besitzt. Erst durch Untersuchungen und Anwendungsversuche nach dem 1. Welt148

krieg wurden in den kapitalistischen Ländern Methoden gefunden, die einen wirkungsvollen Einsatz dieses Kampfstoffes ermöglichen. In der Industrie fällt die Blausäure mit ihren Salzen in großen Mengen als Zwischenprodukt bei der Herstellung von Düngemitteln und anderen chemischen Produkten, beispielsweise bestimmten Kunststoffen, an. Im faschistischen Deutschland diente die Blausäure den nazistischen Verbrechern in den Konzentrationslagern zur Vernichtung von Millionen Menschen. Die Direktoren und viele Chemiker des IG-Farben-Konzerns scheuten sich nicht, den Faschisten diesen Giftstoff tonnenweise zu liefern, um damit ihre Profite zu steigern und die menschheitsfeindlichen Handlungen der Faschisten zu unterstützen. Nicht zuletzt deshalb wurden viele der IG-Direktoren nach dem 2. Weltkrieg verurteilt. Wenn heute viele ehemalige Direktoren des IG-Farben-Konzerns im Bonner Staatsapparat und in der westdeutschen Wirtschaft wieder einflußreiche Funktionen besitzen, so wird auch damit vor aller Welt dokumentiert, wessen Geist in diesem Staate herrscht. Die Arbeiter der Deutschen Demokratischen Republik haben die ehemaligen Konzernbetriebe der IG-Farben in ihre eigenen Hände genommen und damit ein für allemal verhindert, daß in diesen Betrieben Giftstoffe für menschheitsfeindliche Aktionen hergestellt werden. Um in der Industrie die Gefahr von Blausäurevergiftungen zu vermeiden, werden meistens Verfahren angewendet, bei denen die Blausäure nur kurze Zeit im gasförmigen oder flüssigen Zustand auftritt. Wo es möglich ist, werden die Salze dieser Säure verwendet. 8.1.1 Physikalische und chemische Eigenschatten

Reine Blausäure ist eine sehr flüchtige Flüssigkeit mit einem Geruch nach bitteren Mandeln. Der Siedepunkt 149

der reinen Blausäure liegt bei 25,6 °C und der Erstarrungspunkt bei —15 °C. Das spezifische Gewicht bei 15 °C beträgt 0,69 und der Dampfdruck bei 20 °C 0,82 at. Die Sättigungskonzentration bei 20 °C liegt sehr hoch (1100 p/m3). Wasserfreie Blausäure ist nicht besonders lange lagerfähig. Sie kann sich, wenn sie Verunreinigungen enthält oder dem direkten Sonnenlicht ausgesetzt ist, spontan umwandeln. Braunwerden der Flüssigkeit ist ein Hinweis auf den Beginn der Umwandlung, der sich zur explosionsartigen Reaktion steigern kann. Die Lagerfähigkeit wird durch Alkali-Spuren stark vermindert und durch saure Stabilisatoren erhöht. Die von französischer Seite im 1. Weltkrieg angewendeten Blausäuremischungen hatten folgende Zusammensetzung : 50% 30% 15% 5%

Blausäure Arsentrichlorid Zinntetrachlorid Chloroform

Diese taktische Mischung wurde als Vincennite bezeichnet. Blausäure mischt sich in jedem Verhältnis mit Alkohol, Äther, Benzin, Chloroform und anderen organischen Lösungsmitteln. In Wasser gelöste Blausäure bewirkt eine saure Reaktion und ist nicht lange beständig. Auch mit Kampfstoffen, wie Yperit und Phosgen, ist Blausäure mischbar. Blausäuredämpfe werden durch verschiedene Stoffe stark adsorbiert. Besonders gut nehmen Tuche, Stroh, Heu, Leder und Holz die Blausäuredämpfe auf. Aus diesen Stoffen ist die Blausäure durch bloßes Lüften nur schwer zu entfernen, dazu ist erst eine Heißluftbehandlung notwendig. 100 p Stroh können bis zu 100 mp Blausäure 150

aufnehmen. Durch bloßes Lüften lassen sich daraus nur etwa 75% entfernen. Besonders gut wird Blausäure von Wollstoffen adsorbiert; es kann von diesen nur durch Umsetzung mit Alkalien, zum Beispiel schwache Natronlauge, oder durch Heißluftbehandlung entfernt werden. Blausäure verbrennt an der Luft mit einer bläulichen Flamme. Luft-Blausäure-Gemische brennen, wenn sie 5 bis 12% Blausäure enthalten. Chemisch ist die Blausäure ein sehr reaktionsfähiger Stoff. Als Säure ist sie äußerst schwach. Selbst von Kohlensäure wird sie aus ihren chemischen Verbindungen verdrängt. Wäßrige Lösungen von Blausäure werden langsam hydrolysiert. Dabei entstehen Ammoniumformiat (ameisensaures Ammonium) und andere Stoffe (Polymerisationsprodukte): H—CN + 2 H2O -> HCOONH4 Ammoniumformiat Durch Umsetzung von Blausäure mit alkalischen Hydroxyden werden ihre Salze (Zyanide) gebildet: H—CN + NaOH -> NaCN + H2O 2 H—CN + Ca(OH)2 -> Ca(CN)2 + 2 H2O Diese Reaktionen können zur Entgiftung der Blausäure ausgenützt werden. Allerdings entstehen dabei stark giftige Salze, die zwar keinen Kampfstoffcharakter mehr besitzen, jedoch Vergiftungen verursachen können! Zur Entgiftung der Blausäure ist die Umsetzung mit Ammoniak nicht geeignet, da das sich bei dieser Umsetzung bildende Ammoniumzyanid leicht in Blausäure und Ammoniak zerfällt: H—CN + NH3<-> NH4CN Reine Blausäure kann, wie gesagt, unter Umständen explodieren. Es wurde beobachtet, daß Blausäure, die 151

sich in Metallgefäßen befand, nach einer gewissen Zeit explodierte. Man nimmt an, daß die Ursachen für die Explosion in der beginnenden Polymerisation zu suchen sind, die durch die katalytische Einwirkung der Metalle verursacht wird. 8.1.2 Physiologische Wirkungen Die Blausäure ist ein starkes Gift, das sowohl bei der Einatmung der Dämpfe als auch bei der Aufnahme durch die Haut Vergiftungserscheinungen hervorrufen kann. Die Wirkung der Blausäure wird durch folgende Zahlen charakterisiert: Bei Konzentrationen unter 10 mp/m8 wird meist ein bittermandelähnlicher Geruch wahrgenommen. Erst bei längeren Einwirkungszeiten machen sich bei diesen Konzentrationen leichte Vergiftungserscheinungen bemerkbar. Dabei ist zu beachten, daß der menschliche Organismus geringe Mengen von Blausäure selbst entgiften kann. Diese Entgiftung ist lebensnotwendig, weil mit der Nahrung, zum Beispiel durch Obstkerne, ständig Blausäure in den Körper gelangt. Bei Konzentrationen von etwa 20 bis 40 mp/m3 wird bei der Einatmung ein leichtes Kratzen im Halse und ein eigenartiger Geschmack im Munde verspürt. Auch diese Konzentrationen können von den meisten Menschen bei einigen Stunden Einwirkungszeit ohne schwere Vergiftungen ertragen werden. Höhere Konzentrationen, etwa 40 bis 80 mp/m3, verursachen nach einigen Minuten Einwirkungszeit heftige Kopfschmerzen, Schwindelgefühl und Erbrechen. Im allgemeinen treten bei diesen Konzentrationen bereits Atemnot und ein beklemmendes Gefühl in der Brust sowie starkes Herzklopfen auf. Konzentrationen von etwa 100 mp/m3 führen bei etwa 152

30minutiger Einwirkung zu tödlich verlaufenden Vergiftungen. Konzentrationen von etwa 200 mp/m 3 und eine Einwirkungszeit von wenigen Minuten führen zur augenblicklichen Lähmung des Atemzentrums. Bei höheren Konzentrationen tritt bereits nach wenigen Minuten der Tod ein. Nach den Vergiftungsbeschreibungen bricht der Vergiftete mit einem Aufschrei zusammen, und unter starken Krämpfen tritt die Lähmung des Atemzentrums und Herzstillstand ein. Die 50%ig tödliche Konzentration liegt bei etwa 800 mp/m3 bei einer Einwirkungszeit von 1 min. Bei Konzentrationen von über 500 mp/m3 kann die Blausäure auch durch die Haut in den Organismus treten und Vergiftungen hervorrufen. Besonders gefährlich wirken sich Flüssigkeitstropfen auf der Hautoberfläche aus, da hierbei erhebliche Mengen des Giftes in den Körper gelangen können. Auch durch die Aufnahme blausäurehaltiger Getränke und Speisen sind gefährliche Vergiftungen möglich. 8.1.3 Anwendungsmöglichkeiten Entsprechend den physikalischen Eigenschaften der Blausäure ist für wirksame Gefechtskonzentrationen eine Menge von mindestens mehreren Pond Kampfstoff pro Kubikmeter Luft notwendig. Derartig hohe Konzentrationen können aber wahrscheinlich nur mit großen Bomben oder durch massierte Artillerieüberfälle geschaffen werden. Infolge des hohen Dampfdruckes und der etwa der Luft entsprechenden Dampfdichte kann die Konzentration selbst in Stagnationsräumen nur kurze Zeit aufrechterhalten werden. Trotzdem kann man annehmen, daß im Sommer, besonders in Städten und Wäldern, einige Minuten lang gefährliche Konzentrationen geschaffen werden können. Im Winter dürfte die Seßhaftig153

keit der Blausäure nur einige Stunden betragen. Außer den hier genannten Anwendungsmöglichkeiten ist es nicht ausgeschlossen, daß Blausäure auch als Sabotagegift eine Rolle spielen kann. Für derartige Zwecke können auch Natrium- oder Kaliumzyanid eingesetzt werden. 8.2 Chlorzyan C1CN Chlorzyan wurde im 1. Weltkrieg von der französischen Armee im Gemisch mit Arsentrichlorid unter dem Decknamen Vitrite eingesetzt. Der Einsatz blieb jedoch infolge der niedrigen Gefechtskonzentration, die sich mit den damaligen Mitteln erreichen ließ, ohne Erfolg. Chlorzyan wurde von Wurtz entdeckt und erstmalig von Bertholet 1802 dargestellt. In der Industrie dient Chlorzyan in Mischungen mit Blausäure für Schädlingsbekämpfungszwecke als Warnsubstanz. In diesen Mischungen verzögert das zugesetzte Chlorzyan gleichzeitig die Polymerisationserscheinungen und wirkt deshalb als Stabilisator. 8.2.1 Physikalische und chemische Eigenschaften Chlorzyan ist bei Zimmertemperatur ein Gas mit einem Siedepunkt von 13 °C. Flüssiges Chlorzyan besitzt einen eigenartigen Geruch und hat starke reizerregende Eigenschaften. Der Schmelzpunkt liegt bei - 6,5 °C. Bei 0 °C entspricht der Dampfdruck 444 mm Hg-Säule. In Alkohol, Äther, Azeton und anderen sauerstoffhaltigen Lösungsmitteln ist Chlorzyan gut löslich. In einem Raumteil Wasser lösen sich 25 Raumteile gasförmiges Chlorzyan. Durch Wasser wird Chlorzyan zu Zyansäure und Salzsäure hydrolysiert:

Bei der Einwirkung von Alkalien entstehen die entsprechenden Salze der Salzsäure und der Zyansäure: Cl—CN + 2 NaOH -> NaCl + NaOCN + H2O Durch die Einwirkung von Ammoniak entstehen aus Chlorzyan Ammoniumchlorid und Zyanamid: Cl—CN + 2 NH3 -> NH4C1 + NH2CN Diese Reaktionen können für Entgiftungszwecke ausgenützt werden. Bei längerer Lagerung entsteht aus Chlorzyan infolge Polymerisation Zyanurchlorid: 3 Cl—CN -> C13C3N3 8.2.2 Physiologische Wirkungen Die Giftwirkung des Chlorzyans ähnelt der von Blausäure. Eine Besonderheit ist jedoch die starke Reizwirkung. Die Reizschwelle des Chlorzyans liegt bei 1 mp/m3. Bei Konzentrationen von 60 mp/m3 liegt die Erträglichkeitsgrenze. Wirkt Chlorzyan auf die Atmungsorgane, entstehen Kopfschmerzen, Übelkeit, Tränenfluß und starke Atembeschwerden. Konzentrationen von 300 mp/m3 verursachen nach einer Einwirkungszeit von etwa 15 min tödlich verlaufende Vergiftungen. Hohe Chlorzyankonzentrationen wirken schnell tödlich. 8.2.3 Anwendungsmöglichkeiten Chlorzyan kann als blausäureähnlicher Kampfstoff durch chemische Bomben und massierte Artillerieüberfälle verbreitet werden. Im Gegensatz zu Blausäure ist jedoch der Schutz vor Chlorzyan infolge seines höheren Molekulargewichts und der dadurch bedingten besseren Adsorptionsmöglichkeiten leichter.

Cl—CN + H2O -> HC1 + HOCN 154

155

8.3 Bromzyan

BrCN

Bromzyan wurde 1827 erstmalig von Serullas hergestellt. Im 1. Weltkrieg wurde es von der österreichischen Armee in Mischungen mit Bromazeton und Benzol eingesetzt. Die Wirkung war sehr gering, und die Österreicher gingen schnell wieder von der Verwendung dieses Gemisches ab. 8.3.1 Physikalische und chemische Eigenschaften Bromzyan ist eine kristalline Substanz, die bei 51 °C schmilzt. Der Siedepunkt liegt bei 61 °C. Der Dampfdruck entspricht etwa 90 mm Hg-Säule, und die Sättigungskonzentration beträgt 286 p/m 3 bei 20 °C. Bromzyan ist nur wenig in Wasser löslich. In organischen Lösungsmitteln (Alkohol, Äther, Schwefelkohlenstoff, Benzol, Azeton) ist es leicht löslich. Bei der Einwirkung von Wasser hydrolysiert Bromzyan sehr schnell. Alkalien bilden mit Bromzyan Zyanate und Bromide: BrCN + 2 NaOH -> NaBr + NaOCN + H2O Durch Einwirkung von Natriumsulfidlösungen entsteht ungiftiges Natriumrhodanid: BrCN + Na2S -> NaCNS + NaBr Diese Reaktion kann zur Entgiftung verwendet werden. 8.3.2 Physiologische Wirkungen Bromzyan bringt ähnliche Vergiftungserscheinungen hervor wie die Blausäure. Es besitzt wie Chlorzyan eine starke reizerregende Wirkung. Konzentrationen von 6 mp/m3 reizen stark die Augenbindehaut und die Schleimhäute der Atmungsorgane. Die Erträglichkeitsgrenze liegt bei 85mp/m3. Konzentrationen von 300 mp/m3 erzeugen bei einer Einwirkungszeit von etwa 10 min auf den ungeschützten Organismus tödliche Vergiftungen. 156

8.4 Tabun

Tabun wurde erstmalig im Jahre 1937 von Gerhard Schrader im Labor hergestellt. Die technische Synthese dieses hochwirksamen, nervenschädigenden Kampfstoffes wurde noch vor dem 2. Weltkrieg im faschistischen Deutschland ausgearbeitet, und es wurde in Versuchsanlagen erprobt. Bei Kriegsbeginn wurden Großanlagen projektiert und mit ihrem Aufbau begonnen. Die großtechnische Produktion von Tabun lief etwa 1942 an. Bis Kriegsende wurden für die faschistische Wehrmacht beträchtliche Mengen dieses Kampfstoffes hergestellt und eingelagert. In der faschistischen Wehrmacht wurde Tabun mit dem Decknamen Trilon 83 versehen. Entsprechend seiner chemischen Zusammensetzung wird Tabun vereinfacht als Dimethylaminozyanphosphorsäureäthylester bezeichnet. 8.4.1 Physikalische und chemische Eigenschaften Chemisch reines Tabun ist eine farblose oder leicht gelblich gefärbte Flüssigkeit mit einem etwas süßlich-fruchtartigen Geruch. Bei höheren Konzentrationen soll ein schwacher fischartiger Geruch wahrnehmbar sein. Der Siedepunkt des Tabuns liegt unter normalem Druck bei 235 °C. Etwa ab 200 °C treten beim Erhitzen bereits Zersetzungserscheinungen auf. Der Schmelzpunkt liegt bei - 48 °C. Bei 20 °C beträgt der Dampfdruck 0,073 mm Hg-Säule und die Sättigungskonzentration 650 mp/m3. Technisches Tabun ist eine gelbbraune Flüssigkeit mit schwachem bittermandelartigem Geruch. Dieser Geruch 157

beruht auf der während der Lagerung des technischen Produkts stattfindenden Abspaltung von Blausäure. Zur Stabilisation des technischen Tabuns wurden im 2. Weltkrieg bis zu 20% Chlorbenzol zugesetzt, wodurch eine Lagerungsdauer von einigen Jahren erreicht wurde. Dieses Gemisch wurde als Tabun B bezeichnet und diente zur Füllung von Granaten, Bomben und chemischen Minen. In organischen Lösungsmitteln löst sich Tabun gut. In Wasser ist es bei 20 °C zu etwa 12% löslich. Die wäßrige Lösung wird in der Kälte langsam und bei Erwärmung schnell hydrolysiert. Dabei spaltet sich Blausäure ab; bei weiterer Hydrolyse bilden sich ungiftige Produkte:

Bei 20 °C werden nach Holmstedt in 9 h etwa 50% des Zyanids vom Tabun abgespalten, bei 95 °C etwa in 10 min. Entsprechend dieser Reaktion kann mit Tabun vergiftetes Wasser durch längeres Kochen entgiftet werden. Man rechnet, daß bei einer Konzentration von 1% Tabun in Wasser die Hydrolyse nach einer Kochzeit von etwa 1/2 h vollständig verläuft. In jedem Falle muß bei derartig hochgiftigen Kampfstoffen vor dem Verbrauch des Wassers durch chemische Untersuchungen festgestellt werden, ob die Hydrolyse vollständig ist. Um die Hydrolyse bei der Entgiftung von Bekleidung und anderen Gegenständen durch Dampf-Heißluftverfahren zu beschleunigen, wird dem Wasserdampf Ammoniak zugesetzt. 158

Von Alkalilaugen wird Tabun vollständig zersetzt. Bei dieser Zersetzung bilden sich außer Alkalizyaniden nur ungiftige Produkte.

Diese Zersetzung des Tabuns mit Alkalien, besonders mit Natronlauge, kann zur Entgiftung des Kampfstoffes auf Metalloberflächen, auf Straßen und im Gelände ausgenutzt werden. Für die Entgiftung empfindlicher Oberflächen können auch angewärmte Sodalösungen eingesetzt werden. 8.4.2 Physiologische Wirkungen Tabun ist eines der stärksten Nervengifte. Die Vergiftungen sind am stärksten, wenn die Dämpfe des Kampfstoffes eingeatmet werden. In verschiedenen Veröffentlichungen wird angegeben, daß Konzentrationen von 30 bis 40 mp/m 3 bei einer Einwirkungszeit von etwa 10 min bereits leichte Vergiftungen hervorrufen, die sich durch Pupillenverengung und dadurch bedingtes Nachlassen der Sehschärfe, durch Atemnot und Beklemmungsgefühl in der Brust bemerkbar machen. Die wiederholte Einwirkung dieser Konzentrationen kann bei verschiedenen Menschen zu erhöhter Empfindlichkeit führen. Leichte Vergiftungen sind meist von tagelangen Kopfschmerzen begleitet. Mittlere Vergiftungen treten bei Konzentrationen von etwa 40 bis 80 mp/m 3 und bei einer Einwirkungszeit von etwa 10 bis 15 min auf. Außer den bereits genannten Symptomen treten starke Krampferscheinungen, erhöhter Speichelfluß und stärkste Kopfschmerzen auf. Bei der159

artigen Vergiftungen hält die Vergiftung mehrere Tage an, und noch nach Wochen lassen sich bei den betroffenen Menschen Restwirkungen feststellen. Tödliche Vergiftungen wurden im Tierversuch nach Literaturangaben bei Konzentrationen von über 100 mp/m 3 und Einwirkungszeiten von etwa 5 bis 10 min beobachtet. Hierbei folgen die Vergiftungssymptome schnell aufeinander, und nach stärksten Muskelkrämpfen, die zur Bewußtlosigkeit, Atem- und Herzstillstand führen, tritt der Tod ein. Das ist bei diesen Konzentrationen meist schon wenige Minuten nach der Einwirkung des Kampfstoffes der Fall. Schwere Vergiftungen entstehen auch, wenn Kampfstofftropfen auf die Haut gelangt sind. Die Haut wird schnell durchdrungen, und es treten ähnliche Vergiftungssymptome auf wie bei der Einatmung. Bei der Einwirkung durch die intakte Haut sollen Tabun-Dosen von 60 bis 80 mp/kp Körpergewicht tödlich wirken. Besonders gefährliche und meist tödlich verlaufende Vergiftungen entstehen, wenn der Kampfstoff mit Getränken oder Speisen aufgenommen wird. Schwerste Magen- und Darmschmerzen sollen dabei auftreten. Die schnelle Wirkung des Tabuns zeigt, wie wichtig es ist, Tabunvergifteten möglichst sofort nach der Gifteinwirkung Erste Hilfe und ärztliche Betreuung zu erweisen, um die Vergiftung zu verhindern oder abzuschwächen. 8.4.3 Anwendungsmöglichkeiten Tabun wird entsprechend seinen physikalischen Eigenschaften zu den seßhaften chemischen Kampfstoffen gerechnet. Man kann annehmen, daß bei Temperaturen von 15 bis 20 °C und günstigen Geländebedingungen die Wirkung des flüssigen Kampfstoffes etwa 10 h anhält 160

und die Dampfwirkung sogar noch nach 20 Stunden zu bemerken ist. Nach westlichen Angaben über Geländeversuche sollen die Kampfstoffdämpfe bei günstigen Wetter- und Geländebedingungen noch etwa 5 km in der Abzugsrichtung der Kampfstoffwolken Vergiftungen verursachen können. Tabun kann in Granaten, Bomben und chemische Minen abgefüllt werden. Die faschistische Wehrmacht unternahm den Versuch, Tabun aus Spezialfahrzeugen zur Geländevergiftung einzusetzen. Die Versuche sollen erfolgreich gewesen sein.

8.5 DFP (Diisopropylfluorphosphat) In englischen Forschungslaboratorien wurden während des 2. Weltkrieges intensiv die Ester der Fluorphosphorsäure auf ihre Brauchbarkeit als chemische Kampfstoffe untersucht. Als besonders wirksam erwies sich der Diisopropylester der Fluorphosphorsäure, der nach dem 2. Weltkrieg unter der Bezeichnung DFP bekannt geworden ist. DFP ist wie Tabun ein starkes Nervengift. Die Untersuchungen an der Universität Cambridge ergaben, daß dieser Kampfstoff relativ leicht aus einfachen chemischen Rohstoffen hergestellt werden kann. 8.5.1 Physikalische und chemische Eigenschatten DFP ist eine farblose Flüssigkeit. Der Siedepunkt bei 12 mm Hg-Säule liegt bei 67,5 °C. Bei 760 mm Hg-Säule liegt der Siedepunkt bei 183 °C. Der Dampfdruck des Stoffes bei 20 °C beträgt 0,9 mm Hg-Säule, und die Sättigungskonzentration liegt bei 9200 mp/m3. 161

DFP ist in organischen Lösungsmitteln leicht löslich. Auch mit Kampfstoffen wie Yperit und Phenylarsindichlorid ist es leicht mischbar. Die Erstarrungspunkte vieler bei Zimmertemperatur flüssiger Kampfstoffe können durch Zusatz von DFP erheblich erniedrigt werden. Von Wasser wird DFP sehr langsam hydrolysiert. Es entsteht dabei als Hydrolyseprodukt Flußsäure:

Die Hydrolyse einer 1 %igen wäßrigen Lösung ist bei etwa 20 °C erst nach 72 Stunden vollständig. Mit Alkalien, zum Beispiel Natriumhydroxyd, verläuft die Hydrolyse wesentlich schneller. Dabei entstehen Natriumfluorid und Natriumdiisopropylphosphat:

Die Vergiftungssymptome entsprechen im wesentlichen denen von Tabun. Die 50 %ig tödliche Dosis soll etwa bei 0,5 mp/kp Körpergewicht liegen. 8.5.3 Anwendungsmöglichkeiten DFP kann ähnlich wie -Tabun eingesetzt werden. In England wurden Versuche durchgeführt, die zu wirkungsvollen taktischen Mischungen mit Yperit geführt haben sollen, die sich besonders für den Einsatz im Winter eignen. Es ist jedoch wahrscheinlich, daß DFP keine derartige Kampfstoffbedeutung hat wie Sarin und Soman.

8.6 Sarin Sarin wurde zum ersten Mal während des 2. Weltkrieges in Deutschland hergestellt. Chemisch gesehen ist es der Isopropylester der Methylfiuorphosphorsäure. Im faschistischen Deutschland wurde Sarin als Trilon 46 bezeichnet.

Bei einer Temperatur von 25 °C ist die Umsetzung bereits nach etwa 15 min vollständig. Auch durch Chlorkalk mit entsprechenden Lösungsmitteln wird DFP schnell zerstört. 8.5.2 Physiologische Wirkungen DFP ist wie Tabun ein hochwirksamer, nervenschädigender Kampfstoff. Die Toxizität soll etwas geringer sein als die von Tabun. 162

8.6.1 Physikalische und chemische Eigenschalten Reines Sarin ist eine fast geruchlose Flüssigkeit, die unter Normaldruck bei 151,5 °C siedet und bei 100 °C zu einer glasartigen Masse erstarrt. Unter einem Druck von 12 mm Hg-Säule siedet Sarin bei 42 °C. Bei 20 °C beträgt das spezifische Gewicht 1,1, der Dampfdruck 1,43 mm Hg-Säule und die Sättigungskonzentration 11 300 mp/m3. Technisches Sarin ist eine gelbe Flüssigkeit mit sehr schwachem, aromatisch-fruchtähnlichem Geruch. 163

Sarin ist in organischen Lösungsmitteln wie Alkohol, Äther, Tetrachlorkohlenstoff, Dichloräthan und Essigester löslich. Mit Wasser ist es in jedem Verhältnis mischbar. Lösungen von Sarin in Wasser hydrolysieren sehr langsam. Bei der Hydrolyse entsteht Flußsäure:

Die Hydrolyse wird von Alkalien stark beschleunigt, da die freiwerdende Flußsäure zu Fluoriden gebunden wird. Starke Ätzalkalilösungen oder alkoholische Alkalilösungen zerstören Sarin schnell und sicher:

Auch durch Säuren wird die Hydrolyse stark beschleunigt. Durch Chlorkalk kann Sarin nicht entgiftet werden. Es sind jedoch in der Literatur kalziumhydroxydhaltige Chlorkalksorten beschrieben worden, die sich zur Entgiftung des Kampfstoffes im Gelände eignen. Im allgemeinen kann jedoch gesagt werden, daß sich für die Entgiftung des flüssigen Kampfstoffes am besten alkalische Entgiftungsmethoden eignen. Besonders erwähnenswert ist, daß Sarindämpfe leicht von Bekleidungsstücken (Wolle) adsorbiert werden und beispielsweise beim Betreten warmer Räume (Bunker) infolge Verdampfung Vergiftungen hervorrufen können. 164

8.6.2 Physiologische Wirkungen Sarin ähnelt in seinen physiologischen Wirkungen dem Tabun, seine Wirkung ist jedoch wesentlich höher. Leichte Vergiftungen sollen bereits bei Konzentrationen von 20 bis 30 mp/m3 und einer Einwirkungsdauer von etwa 10 min entstehen. Mittlere Vergiftungen entstehen bei etwa 30 bis 40 mp/m3. Die tödliche Konzentration bei einer Einwirkungsdauer von 5 min soll bei etwa 50 bis 70 mp/m 3 liegen. Die 50%ig tödliche Dosis liegt bei etwa 0,06 mp/kp Körpergewicht. 8.6.3 Änwendungsmöglichkeiten Entsprechend den physikalischen Eigenschaften nimmt Sarin eine Zwischenstellung zwischen den flüchtigen und seßhaften chemischen Kampfstoffen ein. Man kann annehmen, daß bei Temperaturen von 15 bis 20 °C wie überhaupt bei günstigen Wetter- und Geländebedingungen die Flüssigkeit noch nach etwa 2 bis 3 h und die Dämpfe noch nach 10 bis 20h wirksam sind. Nach französischen Angaben über Versuche sollen bei Artillerieüberfällen gefährliche Sarinkonzentrationen noch in einer Entfernung von 10 bis 15 km in der Abzugsrichtung der Kampfstoffschwaden wirksam sein. Sarin kann in Granaten, Bomben und chemischen Minen eingesetzt werden.

8.7 Soman

Soman wurde während des 2. Weltkrieges in Deutschland entwickelt. Es ist der giftigste aller bisher bekannt 165

gewordenen Kampfstoffe. Chemisch gesehen handelt es sich um den Pinakolylester der Methylfluorphosphorsäure. 8.7.1 Physikalische und chemische Eigenschaften Reines Soman ist eine wasserklare Flüssigkeit mit einem schwachen kampferartigen Geruch. Der Siedepunkt dieses Stoffes liegt bei 200 °C und der Schmelzpunkt bei — 80 °C. Bei einem Druck von 0,2 mm Hg-Säule siedet Soman bei 42 °C. Das spezifische Gewicht bei 20 °C beträgt 1,41. Die Sättigungskonzentration beträgt bei 20 °G 10 p/m3. Das technische Soman soll ebenfalls einen kampferartigen Geruch besitzen. Soman ist in den meisten organischen Lösungsmitteln gut, in Wasser nur wenig löslich (unter 1%). Die Hydrolyse mit Wasser verläuft äußerst langsam. Wie bei Sarin wird durch die Hydrolyse des Somans Flußsäure frei:

Alkalien und Ammoniak zerstören Soman schnell. Diese Stoffe können zur Entgiftung verwendet werden. 8.7.2 Physiologische Wirkungen Soman ist etwa dreimal giftiger als Sarin. In seinen Wirkungen ähnelt es dem Tabun. 166

Kampfstoffkonzentrationen von 10 bis 20 mp/m3 sollen bei einer Einwirkungsdauer von etwa 10 min bereits zu tödlichen Vergiftungen führen. Die tödliche Dosis soll bei etwa 0,03 mp/kp Körpergewicht liegen. Einige Pond des Kampfstoffes sollen auf unbeschädigter Haut, wenn keine Erste Hilfe geleistet wird, tödliche Vergiftungen hervorrufen. 8.7.3 Anwendungsmöglichkeiten Soman wird zu den seßhaften chemischen Kampfstoffen gezählt. Es ist anzunehmen, daß seine Wirkungsdauer im Gelände wesentlich höher ist als die von Sarin. Soman eignet sich zur Geländevergiftung und kann als Füllung für Granaten, Bomben und chemische Minen dienen.

8.8 Schutzmaßnahmen gegen nervenschädigende Kampfstoffe Gegen Blausäure bieten moderne Schutzmasken völlige Sicherheit. Wichtig ist dabei aber, wie bei allen Atmungsgiften, das schnelle und sichere Aufsetzen der Schutzmaske, um zu verhindern, daß selbst geringe Mengen des hochwirksamen Giftes in die Atmungsorgane eindringen. Die modernen Schutzmaskenfilter besitzen, um ihre Schutzwirkung zu erhöhen, meist noch besondere Imprägnierungen und Schichten, die besonders gegen Blausäuredämpfe wirken. Die Entgiftung von verpackten Lebensmitteln, von Bekleidung, Wasser und Gerät ist bei Blausäure infolge ihrer hohen Flüchtigkeit meist nicht notwendig. Sollten dennoch Bekleidungsstücke durch flüssige Kampfstoffspritzer vergiftet sein, so läßt sich der Kampfstoff durch Heißluftbehandlung oder notfalls durch Lüften leicht entfernen. 167

Bei Vergiftungen durch Kampfstoffe vom Sarin-Typ sind besonders wirkungsvolle Schutzmaßnahmen erforderlich. Ein zuverlässiger Schutz der Atmungsorgane ist nur durch Filter und gut sitzende Schutzmasken zu erreichen. Das Anlegen der Schutzmaske im Gefahrfall hat sofort nach der geringsten Giftwahrnehmung oder beim bloßen Verdacht zu erfolgen. Behelfsschützer, wie sie in verschiedenen Veröffentlichungen als behelfsmäßiger Schutz gegen klassische Kampfstoffe beschrieben werden, würden bei hohen Konzentrationen des Kampfstoffes in der Luft nur wenige Minuten ausreichenden Schutz bieten. Auch bei den modernen Schutzmasken ist der effektive Schutz nur dann gewährleistet, wenn der Träger diese ständig auf Dichtheit und fehlerfreie Arbeit der Ausatemventile überprüft. Die Schutzdauer der Maskenfilter gewährleistet bei ordnungsgemäßer Behandlung und Lagerung der Schutzmasken einen mehrere Stunden währenden Aufenthalt selbst bei gefährlichen Konzentrationen. Die Haut wird gegen das Eindringen der Kampfstoffe durch Schutzbekleidung oder notfalls durch dichtschließende Gummibekleidung geschützt. In jedem Falle ist aber darauf zu achten, daß auch kleinste Kampfstoffmengen sofort nach dem Auftreffen auf die Bekleidung oder die Haut durch alkalisch wirkende Entgiftungsmittel beseitigt werden. Um sich vor vergifteten Speisen und Getränken schützen zu können, muß ein zuverlässig funktionierendes Untersuchungssystem vorhanden sein, das mit Hilfe entsprechender Laboruntersuchungsverfahren bereits geringste Kampfstoffmengen vom Sarin-Typ feststellen kann. Den sichersten Schutz für Lebensmittel und für "Wasser bietet eine zweckmäßige Verpackung.

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8.9 Erste Hilfe bei Vergiftungen durch nervenschädigende Kampfstoffe

Bei Vergiftungen durch nervenschädigende Kampfstoffe ist die rechtzeitige Erste Hilfe von entscheidender Bedeutung. Je schneller nach der Kampfstoffeinwirkung die entsprechenden Gegenmaßnahmen eingeleitet werden, desto günstiger sind die Aussichten für eine schnelle Wiederherstellung der physiologischen Wirkungsmechanismen und desto leichter kann die Todesgefahr abgewendet werden. Allgemein gilt, daß dem Vergifteten die Schutzmaske aufgesetzt oder er aus dem vergifteten Raum herausgebracht werden muß, um ihn einer weiteren Einwirkung des Kampfstoffes zu entziehen. Bei Vergiftungen durch Kampfstoffe vom Blausäure-Typ sollen nach der Vergiftung möglichst schnell entsprechende Gegenmittel angewendet werden. In vielen Armeen sind persönliche Erste-Hilfe-Päckchen eingeführt worden, die Ampullen mit Isoamylnitrit enthalten, das sich bei Blausäurevergiftungen bewährt haben soll. Diese Ampullen werden zerbrochen, der Inhalt wird auf einen Wattebausch gegeben, und die Dämpfe werden eingeatmet. Hat der Vergiftete die Schutzmaske auf, so wird der Wattebausch unter die Schutzmaske gebracht. Bei Blausäurevergiftungen ist außerdem künstliche Beatmung zu empfehlen. Bei Vergiftungen durch Kampfstoffe vom Sarin-Typ kann einem gefährlichen Verlauf durch die sofortige Injektion von Atropin oder ähnlich wirkenden Gegenmitteln vorgebeugt werden. Zu diesem Zweck wurden Injektionsampullen entwickelt, die eine einfache Selbstinjektion ermöglichen. Außerdem soll eine künstliche Beatmung bei druckloser Sauerstoffzufuhr durchgeführt werden, um die durch die Brustmuskelkrämpfe erschwerte Atmung zu unterstützen. 169

Wird der Kampfstoff durch vergiftete Speisen oder Getränke aufgenommen, so müssen sofort Brechreizmittel und Abführmittel verabreicht werden. Dadurch kann die Aufnahme des Giftstoffes im Magen-Darmkanal weitgehend verhindert oder doch zumindest eingeschränkt werden. In jedem Falle müssen Vergiftete, die nervenschädigenden Kampfstoffen ausgesetzt waren, sobald als möglich einer ärztlichen Betreuung zugeführt werden.

9. Sonstige militärisch bedeutsame Gifte 9.1 Kohlenmonoxyd

CO

Kohlenmonoxyd bildet sich in großen Mengen bei der unvollständigen Verbrennung kohlenstoffhaltiger organischer Verbindungen. Im Kriege entstehen vielfach Kohlenmonoxydvergiftungen durch die bei der Detonation von Sprengstoffen entstehenden Gase. Die Gase, die durch die Detonation von Trinitrotoluol entstehen, enthalten bis zu 60% Kohlenmonoxyd. Es kann deshalb in Bunkern, Geschütztürmen und in Panzern bei ungenügender Entlüftung zu derartigen Vergiftungen kommen. Auch die Auspuffgase von Verbrennungsmotoren enthalten bis zu 7% Kohlenmonoxyd. Deswegen ist es auch verboten, in geschlossenen Garagen die Motoren laufen zu lassen. Die durch die Detonationsgase hervorgerufenen Vergiftungen werden oft als Pulverkrankheit bezeichnet. An diesen Vergiftungserscheinungen ist Kohlenmonoxyd gemeinsam mit dem ebenfalls bei der Detonation entstehenden Stickstoffoxyden beteiligt. Kohlenmonoxyd ist bei normalen Temperaturen ein farbund geruchloses Gas. Es siedet bereits bei — 191,5 °C. Unterhalb dieser Temperatur ist Kohlenmonoxyd eine farblose Flüssigkeit. In Wasser ist Kohlenmonoxyd nur wenig löslich (2%). Kohlenmonoxyd ist ein genügend beständiger Stoff. Im Gemisch mit Sauerstoff ist es bei Zimmertemperatur sogar lange Zeit beständig. Erst beim Entzünden verbrennt Kohlenmonoxyd mit blaßblauer Flamme zu Kohlendioxyd.

CO + 1/2 O2 -> CO2 Diese Reaktion erfolgt auch bei Zimmertemperatur, wenn geeignete Katalysatoren anwesend sind. Einer der be171

kanntesten Katalysatoren ist Hopcalit, das in den CO-Filtern verwendet wird. Dieser Katalysator besteht aus einer Mischung von Mangandioxyd, Kupferoxyd und anderen Metalloxyden. Diese Mischung wirkt nur bei einem sehr geringen Feuchtigkeitsgehalt. Aus diesem Grund sind in den CO-Filtern noch geeignete Trockenschichten vor und zwischen den Katalysatorschichten eingebettet, die den Feuchtigkeitsgehalt der Luft vermindern und somit die Gebrauchstüchtigkeit der Katalysatorschichten gewährleisten. Kohlenmonoxydvergiftungen sind von Kopfschmerzen, Schwindelgefühlen und Ohrensausen begleitet. Stärkere Vergiftungen erzeugen einen eigenartigen Druck in der Herzgegend, Erbrechen, Atemnot und allgemeines Unwohlsein. Wirkt Kohlenmonoxyd längere Zeit oder in hohen Konzentrationen auf den Organismus ein, so entstehen Muskelkrämpfe und Bewußtlosigkeit, die zum Tode führen, sofern keine Gegenmaßnahmen eingeleitet werden. Tödlich wirken Konzentrationen von 2 bis 4 mp/1 bei einer Einwirkungszeit von 15 min. Erste Hilfe. Der Vergiftete muß schnell aus der vergifteten Atmosphäre entfernt und künstlich beatmet werden. Während der künstlichen Beatmung ist dem. Vergifteten Sauerstoff mit einer Beimischung von 5% Kohlendioxyd zuzuführen. Die Haut soll gerieben, und die Atmung durch Salmiakgeist angeregt werden. Beim Transport, bei der Lagerung und der Beatmung müssen enganliegende und die Atmung behindernde Kleidungsstücke gelockert werden, ohne daß sich der Körper durch die Außenluft abkühlen kann.

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9.2 Arsenwasserstoff

AsH3

Arsenwasserstoff ist eine stark giftige chemische Verbindung, die blutschädigend wirkt. Es ist nur schwer möglich, mit Arsenwasserstoff eine genügende Gefechtskonzentration zu schaffen; trotzdem wurde mehrmals vorgeschlagen, diese Verbindung als Kampfstoff zu verwenden. In verschiedenen deutschen Arbeiten wurde vor dem 2. Weltkrieg auf diese Möglichkeit hingewiesen. Arsenwasserstoff ist ein farbloses Gas mit einem unangenehmen, knoblauchartigen Geruch. Es siedet bei - 58,5 °C und erstarrt bei — 111 °C. Unter hohem Druck kann es bei Zimmertemperatur verflüssigt werden. Die Dichte des Gases im Verhältnis zur Luft beträgt 2,07. Arsenwasserstoff löst sich gut in organischen Kohlenwasserstoffen und einigen anderen Lösungsmitteln. In Wasser ist es dagegen nur wenig löslich. Mit Luft bildet Arsenwasserstoff ein explosives Gemisch. Vergiftungen mit Arsenwasserstoff machen sich erst nach einer Latenzzeit von einigen Stunden bemerkbar. Die ersten Anzeichen sind Kältegefühl, Mattigkeit, Übelkeit und Erbrechen. Die Haut nimmt bei Vergiftungen eine gelbe und später rötliche Färbung an. Arsenwasserstoff wirkt auf die roten Blutkörperchen zersetzend. Sehr oft sind Nierenschäden und Blut im Harn festzustellen. Infolge Sauerstoffmangel entsteht allgemeine Schwäche und Bewußtlosigkeit. Bei schweren Vergiftungen tritt der Tod zwei bis drei Tage nach der Einwirkung des Giftstoffes ein. Erste Hilfe. Der Kranke ist aus der vergifteten Atmosphäre zu schaffen; ihm sind reichlich Milch oder andere Flüssigkeiten einzugeben. Ärztliche Hilfe ist unbedingt erforderlich.

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9.3 Bleitetraäthyl

Pb(C2H5)4

Bleitetraäthyl wird als Antiklopfmittel zur Verbesserung der Vergaserbrennstoffe verwendet. Es wird aus diesem Grunde in großen Mengen von der chemischen Industrie produziert. Es ist eine sehr giftige chemische Verbindung, die verschiedentlich als möglicher chemischer Kampfstoff bezeichnet wird. Bleitetraäthyl ist eine farblose, ölige Flüssigkeit mit einem etwas süßlichen, aromatischen Geruch. Es siedet bei 200 °C unter teilweiser Zersetzung. Bei -156 °C erstarrt es zu einer farblosen Masse. Das spezifische Gewicht beträgt bei 15 °C 1,62. Bleitetraäthyl ist in organischen Lösungsmitteln, in den meisten Kampfstoffen sowie in Fetten löslich. In Wasser löst es sich nicht. Chemisch ist Bleitetraäthyl eine stabile Verbindung, die nur von aggressiven Stoffen wie Sulfurylchlorid zersetzt wird. Von Wasser wird Bleitetraäthyl nur äußerst langsam angegriffen. Bleitetraäthyl wirkt als Nervengift. Vergiftungen können sowohl bei der Aufnahme des Giftes durch die Atmung, die Haut und die Nahrung auftreten. Sie werden durch geistige Verwirrung, Blutdruckabfall und schwere Kopfschmerzen gekennzeichnet. Die Vergiftungssymptome können selbst bei guter ärztlicher Behandlung noch wochenlang anhalten. Bei jeder Vergiftung ist unbedingt ärztliche Hilfe erforderlich.

10. Anwendungsmöglichkeiten chemischer Kampfstoffe Für die chemischen Kampfstoffe gibt es im Kriege vielseitige Anwendungsmöglichkeiten. Wie bereits die Ausführungen über die geschichtliche Entwicklung der chemischen Kriegführung und über die Entwicklungstendenzen vor und während des 2. Weltkrieges gezeigt haben, können die Erfahrungen und die Angaben aus dem 1. Weltkrieg nur noch bedingt für eine Einschätzung der Anwendungsmöglichkeiten unter modernen militärtechnischen Bedingungen herangezogen werden. Die jüngste Entwicklung der Kernwaffen, der Raketen und der sonstigen Waffentechnik haben in dieser Hinsicht neue Verhältnisse geschaffen, die berücksichtigt werden müssen. Schon im 1. Weltkrieg konnte bei chemischen Überfällen nur mit einer hohen Wirkung gerechnet werden, wenn die chemischen Kampfmittel überraschend, massiert und auf großen Flächen sowie unter Berücksichtigung der meteorologischen und der Geländebedingungen eingesetzt wurden. Betrachtet man die Anwendungsmöglichkeiten der chemischen Kampfstoffe im modernen Gefecht, so muß man beachten, daß in den letzten Jahrzehnten die Schutzmöglichkeiten vor chemischen Kampfstoffen wesentlich verbessert wurden. Außerdem wurden Kampfmethoden und neue taktische Grundprinzipien für die Truppenführung ausgearbeitet, durch deren Anwendung die Gefahren eines Kampfstoffeinsatzes für die Truppen vermindert werden. Das bezieht sich besonders auf die Dezentralisation der Truppen, die durch die Gefahr von Kernwaffenschlägen bedingt ist, sowie auf die vollständige Ausstattung der Armeeangehörigen mit Schutzmitteln sowie Mitteln für die Entgiftung und die Erste Hilfe bei Kampfstoffvergiftungen. Außerdem muß beachtet werden, daß die modernen automatischen 175

Adamsit, Phosgen, Yperit, Stickstoff- Yperit, Lewisit, Blausäure, Chlorzyan, Tabun, Sarin und Soman. Diese Kampfstoffe können sowohl allein als auch in taktischen Mischungen zum Einsatz kommen. Die wichtigsten Mischungen dieser Art sind: klebrige Mischungen des Yperits, des Lewisits und des Stickstoff-Yperits, Phosgen-Nebelmischungen, Mischungen von Yperit und Lewisit sowie Yperitmischungen für den Wintereinsatz. Theoretisch sind natürlich auch andere Kombinationen möglich, beispielsweise Nebelstoffe, die Sarin oder Soman enthalten, oder Mischungen verschiedener Arsenkampfstoffe. Die Anwendungsarten für chemische Kampfstoffe können wie folgt gegliedert werden: 1. durch die Luftstreitkräfte; 2. durch die gezogenen und reaktiven Systeme der Artillerie und Werferverfahren; 3. durch Vergiftungsfahrzeuge oder andere Vergiftungsgeräte ; 4. durch chemische Nahkampfmittel; 5. durch chemische Minen, Schwelkörper oder durch das Abblasen gasförmiger Kampfstoffe unter günstigen Bedingungen.

Kampfstofferkennungsgeräte die Gefahren des chemischen Krieges wesentlich herabgesetzt haben. Nicht zuletzt ist auch die Ausbildung der Armeeangehörigen im Gebrauch der Schutzmittel und -methoden ein Faktor, der die möglichen Verluste bei der Anwendung chemischer Kampfstoffe unter Gefechtsbedingungen vermindert. Heute gibt es in allen modernen Armeen der Welt intensive Schulungen über die Wirkungen der Massenvernichtungswaffen, über das Verhalten bei ihrer Anwendung und über die Schutzmöglichkeiten vor ihnen. Schon die Erfahrungen des 1. Weltkrieges zeigen, daß eine gut ausgebildete Truppe selbst unter den schwierigsten Bedingungen beim Einsatz chemischer Kampfstoffe ihre Gefechtsaufgaben erfolgreich und mit geringen Verlusten lösen kann, wenn die Soldaten über die notwendigen Schutzmittel verfügen und in deren zweckmäßigstem Gebrauch geübt sind. Heute bieten die Panzer, Schützenpanzerwagen und anderen gepanzerten Fahrzeuge der Truppe zusätzlichen Schutz vor den Wirkungen der chemischen Kampfstoffe. Man kann sagen, daß die Entwicklung der Schutzmethoden und der Schutzmittel mit der Entwicklung der chemischen Anwendungsverfahren Schritt gehalten hat. Unter diesem Gesichtspunkt müssen auch die im allgemeinen modernen Gefecht möglichen Anwendungsarten chemischer Kampfstoffe betrachtet werden, um zu einer realen Beurteilung eines Kampfstoffeinsatzes, insbesondere, was seinen Umfang und die Vernichtungswirkungen anbetrifft, zu kommen.

10.1 Anwendungsmöglichkeiten durch die Luftstreitkräfte

Die Zahl der im modernen allgemeinen Gefecht einsatzfähigen chemischen Kampfstoffe ist trotz intensiver Forschungs- und Entwicklungsarbeiten relativ gering geblieben. Nach der Meinung von Spezialisten aus den imperialistischen Ländern sind nur folgende Kampfstoffe für den Einsatz im Kriege von Bedeutung:

Die Entwicklung der Luftstreitkräfte und besonders die Entwicklung der Bombenflugzeuge schuf günstige Voraussetzungen für die Anwendung chemischer Kampfstoffe. Chemische Bomben haben gegenüber den anderen Anwendungsarten große Vorteile, weil dabei die chemischen

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Kampfstoffe in der gesamten Reichweite der Bombenflugzeuge eingesetzt werden können, also auch in der strategischen Tiefe. Die Gefahr eines Einsatzes chemischer Kampfmittel besteht also für das gesamte Territorium eines kriegführenden Staates. Das erfordert wiederum eine kostspielige Ausrüstung und Ausbildung aller Zivilverteidigungskräfte und der Zivilbevölkerung eines Landes. Das zeigt, vor welch ungeheuren Schwierigkeiten die Organisation der Landesverteidigung unter modernen Bedingungen steht. In den zwanziger Jahren wurden in vielen Staaten Versuche mit Absprühgeräten in Bomben- oder Jagdflugzeugen durchgeführt. Besonders in Italien wurden derartige Anwendungsmethoden erprobt und beim Überfall auf Abessinien auch angewendet. Diese Absprühverfahren verlangten eine niedrige Flughöhe und relativ geringe Fluggeschwindigkeiten. Für die damaligen Verhältnisse waren diese Verfahren sehr wirkungsvoll, und es wurden große Geländestreifen mit hohen Kampfstoffkonzentrationen belegt. Angesichts der gestiegenen Fluggeschwindigkeiten und der verbesserten Fliegerabwehrmittel und -methoden kann man annehmen, daß diese Anwendungsmöglichkeiten unter modernen Bedingungen nur noch geringe Bedeutung besitzen. Unter besonderen Umständen können sie jedoch noch für die Vergiftung von Geländestreifen angewendet werden, die wichtige Frontabschnitte sichern sollen und mit Vergiftungsfahrzeugen nicht vergiftet werden können. Das kann bei Wäldern, Schluchten und schwer zugänglichen Geländeabschnitten der Fall sein, sofern keine starken feindlichen Gegenmaßnahmen zu erwarten sind. In den Jahren vor dem 2. Weltkrieg wurden auch sogenannte Zisternenflugzeuge erprobt. Diese Flugzeuge besaßen einen fest eingebauten Kampfstofftank, der so 178

groß war, wie es die Flugeigenschaften des Flugzeuges gerade erlaubten. Zum Versprühen waren Verteiler- und Düsensysteme eingebaut worden. Diese Flugzeuge sollten nach italienischen Angaben die beste Möglichkeit für den Einsatz chemischer Kampfstoffe bieten. Unter modernen Bedingungen sind diese Zisternenflugzeuge sicherlich sehr unzweckmäßig. 10.1.1 Chemische Bomben Als wichtigste Anwendungsart chemischer Kampfstoffe ist ihr Einsatz in chemischen Bomben anzusehen, da diese von den verschiedensten Flugzeugtypen abgeworfen werden können und sie der Entwicklungstendenz moderner Mehrzweckflugzeuge am ehesten entsprechen. Die Vorteile der chemischen Bomben gegenüber den Anwendungsmöglichkeiten durch die Artillerie liegen im günstigeren Verhältnis des Gesamtgewichts der Bombe zum Kampfstoffinhalt. Während bei chemischen Granaten das Verhältnis nur etwa 100:30 beträgt, kann man bei chemischen Bomben mit einem Verhältnis von 100:60 rechnen; bei einer Bombe von 100 kp Gewicht kann also mit einem Kampfstoffinhalt von etwa 60 kp gerechnet werden. Dieses Verhältnis schwankt natürlich bei den verschiedenen Kampfstoffen infolge ihres unterschiedlichen spezifischen Gewichts und ist auch noch von der Konstruktion der Bombe abhängig. In der einschlägigen Literatur werden die verschiedensten Bombenkonstruktionen beschrieben, die für den Einsatz chemischer Kampfstoffe in Frage kommen. Demnach gibt es chemische Bomben mit Gewichten zwischen 10 bis 1000 kp. Chemische Bomben können sowohl mit kurz- als auch mit langwirkenden chemischen Kampfstoffen gefüllt werden. Desgleichen sind chemische Splitterbomben beschrieben worden, die 179

neben der Vergiftungswirkung noch eine gewisse Splitterwirkung besitzen. Chemische Bomben unterscheiden sich in ihrer. Form nicht von anderen Bomben. Sie enthalten eine kleine Sprengladung, die so bemessen ist, daß sie gerade ausreicht, um die Bombenhülle zu zerstören und den Kampf stoffinhalt zu versprühen. Chemische Bomben können, sowohl Aufschlag- als auch Zeitzünder besitzen. Bild 3 zeigt das Bild einer deutschen chemischen Bombe aus dem 2. Weltkrieg.

Deutsche chemische Bombe aus dem 2. Weltkrieg (links - Außenansicht; rechts - Schnitt) 1 - Sprengstoffröhrchen; 2 - Kampfstoffkammer; 3 - Zwischenwand; 4Öffnung für die Anhängevorrichtung; 5 - Einfüllöffnung; 6 - Zündermundloch; 7 - Anhängering.

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Der Zünder der Bombe ist bei dieser Konstruktion an der Seite angebracht. Bei anderen Konstruktionen befindet er sich an der Spitze der Bombe, oder es sind zur Sicherheit zwei verschiedene Zünder eingesetzt. Die Kampfstoffladung ist meist nur vom Mantel der Bombe umhüllt, der aus Eisen- oder Stahlrohr gefertigt ist. Chemische Bomben, die gasförmige Kampfstoffe oder leicht verdampfbare Stoffe wie Phosgen und Blausäure enthalten, müssen eine stärkere Stahlhülle besitzen. Bei Flüssigkeitsfüllungen ist immer ein gewisser Kaum freizulassen, damit sich die Flüssigkeit bei Erwärmung ausdehnen kann. Zum Schutz gegen vorzeitige Detonation haben die Zünder wie Sprengbomben noch Schutzkappen und Sicherungen. Bekannt sind Schutzkappen mit Flügeln, die sich beim Flug der Bombe abschrauben und damit den Zünder entsichern. Für chemische Bomben sind äußerst empfindliche Zünder notwendig, denn sie müssen sofort, nachdem die Bombe auf ein Hindernis aufgetroffen ist, die Detonation auslösen, damit der Kampfstoffinhalt gut zerstäubt wird. Dringt die Bombe in den Boden ein, würde ein großer Teil der Kampfstoffladung nicht versprüht werden. Einzelne Bombenkonstruktionen aus dem 2. Weltkrieg hatten einen sogenannten Zündstab, der während des Fluges der Bombe durch einen Flügel aus der Bombenspitze herausgedreht wurde und den Zünder bereits in Stabhöhe über dem Erdboden auslöste. Andere Konstruktionsarten besaßen Zeit- oder Distanzzünder, die auf eine bestimmte Höhe über den Erdboden oder auf eine vorher berechnete Flugzeit eingestellt waren. Durch eine solche Einrichtung kann die Kampfstoffladung völlig ausgenutzt werden. Nach Literaturangaben können chemische Bomben mit Aufschlagzündern und Yperit-Füllung folgende Flächen vergiften: 181

Gewicht der Bombe

50 kp 250 kp 1000 kp

Größe der vergifteten Fläche 2

etwa 800 m etwa 2000 m2 etwa 3000 m2

Diese Aufstellung zeigt, daß bei Yperit mehrere kleine Bomben eine bessere Ausnutzung des Kampfstoffes ermöglichen als Bomben mit großen Gewichten. Bei einer Yperit-Bombe, die in einer Höhe von 100 m detoniert, kann man bei 250 kp Bombengewicht mit einer Vergiftungsfläche von etwa 5000 m2 rechnen, wenn man durchschnittlich eine Vergiftungsdichte von 20 p/m 2 und eine Ausnutzung der Ladung von 50% annimmt. Chemische Bomben mit einer derart hohen Detonationshöhe sollten in der faschistischen Wehrmacht eine Füllung mit klebrigen Kampfstoffmischungen erhalten. Die hohe Viskosität und der davon wesentlich abhängige Dampfdruck dieser Mischungen verhinderten das starke Verdampfen des Kampfstoffes während des Herabregnens. In der englischen Literatur wurden Bombenkonstruktionen für detonationsempfindliche feste Kampfstoffe beschrieben, die einen Erhitzersatz enthielten. Dieser ließ den Kampfstoff bei Temperaturen unterhalb des Zersetzungspunktes schmelzen. Die Sprengladung braucht in solchen Bomben nur so groß zu sein, daß sie die Bombenhülle aufreißt und die verflüssigte Kampfstoffladung zerstäubt. 10.1.2 Flugzeugabsprühgeräte

Die in der Literatur beschriebenen Flugzeugabsprühgeräte werden in zwei Gruppen unterschieden: Druckgeräte und Luftstromgeräte. Druckgeräte zum Abregnen chemischer Kampfstoffe bestehen aus einem stromlinienförmigen Kampfstoffbehälter mit Einfüllöffnung und 182

Zerstäuberdüse sowie den notwendigen Regulierventilen und der Druckgasflasche, die vom Piloten bedient werden kann. Bild 4 zeigt ein deutsches Flugzeugabsprühgerät aus dem 2. Weltkrieg. Dieses Gerät war für eine Füllung mit 300 kp Yperit berechnet.

Deutsches Flugzeugabsprühgerät aus dem 2. Weltkrieg

Bei den Luftstromgeräten wurde der Kampfstoffbehälter durch den beim Flug auftretenden Staudruck entleert. Bei Luftstromgeräten ist die Zeit, in der der Kampfstoffbehälter entleert wird, abhängig von der Fluggeschwindigkeit. Nach amerikanischen Angaben soll bei einem 150-kp-Behälter und einer Flughöhe von 15 m bei langsamfliegenden Flugzeugen eine Fläche von 275 m Breite und 1400 m Länge mit Yperit vergiftet werden können. Derartige Behälter eignen sich auch zum Einsatz von Nebel oder zum Absprühen verdickter Brandöle. Die beim Absprühen erzielten Teilchengrößen sind von der Konstruktion der Düsen und von dem jeweiligen Druck abhängig. Der Abtrieb der erzeugten Kampfstoffwolke und die Geschwindigkeit, mit der die Teilchen niedersinken und damit die Größe des vergifteten Raumes sind von der Flughöhe," der Fluggeschwindigkeit, der Windrichtung und der Windgeschwindigkeit abhängigNach amerikanischen Ansichten ist das Abregnen des Kampfstoffes nur in Flughöhen bis zu 600 m zweckmäßig. 183

Aus größeren Höhen sind nur noch verdickte Kampfstoffmischungen anwendbar, es sei denn, es herrschen sehr günstige Windverhältnisse.

10.2 Anwendungsmöglichkeiten der Artillerie und der Werfer

Chemische Granaten und Werferverfahren wurden bereits im 1. Weltkrieg zur Verbreitung chemischer Kampfstoffe angewandt. Insgesamt verschoß im 1.Weltkrieg die Artillerie aller beteiligten Staaten etwa 66 Millionen chemische Granaten und Wurfgranaten. In chemischen Granaten können alle Arten chemischer Kampfstoffe verwendet werden. Die Anwendungsmöglichkeiten der Artillerie haben viele Vorteile gegenüber anderen Anwendungsverfahren. So ist die Trefferwahrscheinlichkeit bei der Artillerie besser als beim Bombenabwurf, und der Einsatz der Artillerie ist auch unter beliebigen Wetterund Geländebedingungen möglich. Nachteilig wirkt sich jedoch die begrenzte Reichweite der Artillerie aus. Gegenüber Brisanzgranaten haben chemische Granaten den Vorteil, daß es genügt, die Granate nur in unmittelbarer Nähe des Zieles zur Detonation zu bringen, um Vergiftungen auch bei den Soldaten zu erreichen, die gegenüber Sprenggranaten durch Bunker, Deckungen oder gepanzerte Fahrzeuge geschützt sind. Nachteilig für den Einsatz chemischer Kampfstoffe durch die Artillerie ist besonders die außerordentlich hohe Massierung von Artilleriekräften, die zur Vergiftung einer großen Fläche notwendig ist. Im Verlaufe des 1. Weltkrieges nahm die Bedeutung der chemischen Granaten ständig zu. Waren in den ersten Jahren nur vereinzelt chemische Granaten in relativ 184

unbedeutender Zahl verschossen worden, so änderte sich dieses Verhältnis gegen Ende des 1. Weltkrieges wesentlich. In der zweiten Marneschlacht von 1917 waren nicht weniger als 60% aller Artilleriegranaten mit chemischen Kampfstoffen gefüllt. Große Schwierigkeiten hatten die Kampfstoffspezialisten im 1. Weltkrieg zu überwinden, ehe sie alle Probleme, die mit der Abfüllung und der ballistischen Stabilität der Geschosse während des Fluges zusammenhingen, zufriedenstellend gelöst hatten. Diese Schwierigkeiten wurden erst in monatelangen Versuchen überwunden. Bei der Konstruktion chemischer Granaten sind gegenüber normaler Sprengmunition zahlreiche Besonderheiten zu berücksichtigen. Die Sprengladung einer chemischen Granate ist meist klein und reicht gerade aus, um die Granate zu zerlegen. Sie befindet sich entweder in der Spitze oder in einem zylinderförmigen Behälter in der Mitte der Granate. Als Zünder dienen hochempfindliche Aufschlag-, Distanz- beziehungsweise Zeitzünder. Eine besondere Konstruktion erfordern chemische Granaten, die mit flüssigen chemischen Kampfstoffen gefüllt werden sollen. Würde einfach der Hohlraum der Granate mit der Flüssigkeit ausgefüllt, so könnte beim Abschuß infolge des Beharrungsvermögens der Flüssigkeit eine der Schußrichtung entgegengesetzte Flüssigkeitsbewegung auftreten, durch welche die ballistische Stabilität der Granate während des Fluges nicht "mehr gewährleistet wäre. Die ersten Granaten, die mit flüssigen chemischen Kampfstoffen verschossen wurden, überschlugen sich tatsächlich während des Fluges oft in der Luft oder wichen zumindest stark von der Schußrichtung ab. Diese Abweichungen wurden überwunden, indem man Prallbleche in die Füllräume der Granaten einbaute oder den Kampfstoff von Kieselgur aufsaugen ließ. 185

Bei der Abfüllung des Kampfstoffes in die Granaten kam es während des 1. Weltkrieges oft zu schweren Vergiftungen. Diese Schwierigkeiten wurden mitunter dadurch umgangen, daß man den Kampfstoffinhalt in einem vorgefertigten und bereits in den Betrieben gefüllten Bleibehälter in die Granate einbrachte. Der Behälter wurde dann durch Kitt befestigt und der Zünder mit dem Sprengsatz im vorderen Teil der Granate festgeschraubt. Bei Flüssigkeitsfüllungen mußte ein Luftzwischenraum gelassen werden, der eine Ausdehnung der Flüssigkeit bei Erwärmung gestattete. Bei einer 155-mm-Granate betrug dieser Ausdehnungsraum etwa 30 cm3. Als erste chemische Granaten mit ausgesprochenem Giftstoffinhalt wurden 1915 Phosgengranaten eingesetzt. Diese Granaten wurden bei der Detonation mit leisem Knall aufgerissen. Bei einer erfahrenen Truppe konnten deshalb die Detonationsgeräusche zur Unterscheidung chemischer Granaten von normalen Granaten dienen. Bild 5 zeigt einige chemische Granaten aus dem 1. Weltkrieg, die infolge der geringen Sprengladung nur aufgerissen wurden.

Zerlegung von chemischen Granaten ohne Splitterwirkung aus dem 1. Weltkrieg 186

Gegen Ende des 1. Weltkrieges wurden von der deutschen Armee erstmals Kampfstoffgranaten mit Nasen- und Rachenreizstoffen eingesetzt, die eine Füllung von Diphenylarsinchlorid und später von Diphenylarsinzyanid hatten. Nach ihrer Farbkennzeichnung wurden diese Granaten als Blaukreuz-Granaten bezeichnet. Sie brauchten einen höheren Sprengstoffsatz als flüssigkeitsgefüllte Granaten, da ja die festen Kampfstoffe nur als Aerosole ihre Wirkung auf die Schleimhäute des Nasen-Rachenraumes entfalten. Der Kampfstoff mußte durch die Sprengladung auf eine hohe Temperatur gebracht werden, bei der er besser verdampfen und zerstäubt werden konnte. Zu diesem Zwecke wurde der Kampfstoff in einer Blechhülse in die Sprengladung des Geschosses eingegossen. Das Verhältnis Sprengstoff zu Kampfstoff betrug dabei meist 2:1. Trotz dieser Maßnahme wurde ein großer Teil des Kampfstoffes durch die Detonation und die damit verbundene Überhitzung des Kampfstoffes zersetzt. Erst nach dem 1. Weltkrieg wurde in England eine brauchbare Konstruktion für derartige Kampfstoffgranaten entwickelt, die eine wesentlich bessere Ausnutzung des Kampfstoffinhalts gestattete. Bei dieser Konstruktion wurde — ähnlich wie bei chemischen Bomben — ein Erhitzersatz in die Kampf stoffüllung eingebaut, der unmittelbar vor der Zerlegung der Granate den Kampfstoff durch Erwärmung verflüssigte. In diesem Falle ist zur Zerlegung der Granate nur eine minimale Sprengladung nötig, sie braucht nur wenig größer zu sein als bei flüssigkeitsgefüllten Granaten. Eine andere Möglichkeit, Nasen- und Rachenreizstoffe einzusetzen, besteht in der Verwendung konzentrierter Lösungen. Mit derartigen Versuchen haben sich vor dem 2. Weltkrieg einige Staaten beschäftigt, und es scheint, daß dabei brauchbare Ergebnisse erzielt worden sind. 187

Schwierig ist aber die Wahl des Lösungsmittels, da einerseits der Kampfstoff in dem betreffenden Lösungsmittel gut löslich sein und er andererseits schnell aus der Lösung durch Verdunstung des Lösungsmittels freigesetzt werden muß. Günstig als Lösungen sind Kampfstoffe wie Chlorpikrin, Phenylarsindichlorid oder Äthylarsindichlorid. In diesen Fällen ist das Lösungsmittel ebenfalls ein physiologisch stark wirksamer Stoff, der die Reizwirkungen des gelösten Kampfstoffes verstärkt. Besonderheiten in der Konstruktion weisen auch chemische Splittergranaten auf. Bei diesen Granaten sind in die verfestigte Kampfstoffladung Metallkugeln oder Stahldrahtstückchen eingegossen, die bei der Zerlegung der Granate eine hohe Splitterwirkung entwickeln. Als Füllung können praktisch alle die Kampfstoffe verwendet werden, die auch für gewöhnliche chemische Granaten geeignet sind. Bei einigen Konstruktionen, die für den Einsatz im 2. Weltkrieg vorgesehen waren, wurden klebrige Kampfstoffmischungen vom Yperit-Typ als Ladung benutzt. Im 1. Weltkrieg wurden in den Jahren 1917 und 1918 sogenannte Gaswerfer eingesetzt. Die ersten Werfer waren noch recht primitiv. Aus einfachen Rohren wurden mit Hilfe einer Treibladung Behälter mit leicht verdampfenden Kampfstoffen in die gegnerischen Stellungen geschossen. Diese Behälter waren meist einfache kleine Stahlflaschen, die in der Längsachse eine Sprengladung hatten. Die Ladung wurde durch einen Zeitzünder noch über dem Erdboden zur Detonation gebracht. Dadurch konnte der Kampfstoffinhalt der Flasche über eine große Fläche versprüht werden. Bild 6 zeigt eine derartige Gaswerferflasche, die für eine Phosgen-Füllung vorgesehen war. Durch den massenhaften Einsatz der Gaswerfer wurden im 1. Weltkrieg große Flächen mit höchsten Kampfstoff-

konzentrationen vergiftet. Die Gaswerfer wurden einige hundert Meter hinter dem ersten Graben in Gruppen von 200 bis 300 Rohren in sogenannten Gaswerferfeldern eingegraben (Bild 7) und zentral gezündet. Für einen

Französische Gaswerferflasche aus dem 1. Weltkrieg

Frontkilometer setzte man etwa 1000 Rohre ein. Dadurch konnten mit einem Schlage 20 000 kp Kampfstoff in die gegnerischen Stellungen geworfen werden. Für derart hohe Kampfstoffkonzentrationen reichten die damaligen Schutzmasken natürlich nicht aus. Durch überraschende Überfälle konnten deshalb unter den gegnerischen Truppen schwere Verluste verursacht werden. Die deutsche Armee setzte für derartige Angriffe Gas189

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werfer ein, die bei einem Kaliber von 160 mm und mit gezogenem Rohr eine Schußweite bis zu 3500 m erreichten. Die Wurfflaschen waren mit Phosgen gefüllt, das von Bimssteinstückchen aufgesaugt war. Durch diese Füllung konnten die ballistischen Eigenschaften wesentlich verbessert und die beschossenen Geländeabschnitte längere Zeit mit dem Kampfstoff vergiftet werden. Die Bimssteinstückchen, die nicht in den Erdboden eindrangen, gaben den Kampfstoff nur langsam ab. Dadurch wurde eine anhaltende Wirkung erreicht und der Einsatz selbst bei feuchtem Wetter ermöglicht.

sich auch die schnelle Feuerbereitschaft und die große Beweglichkeit (rascher Stellungswechsel) der Werfer auswirken. Aus dem 2. Weltkrieg sind die reaktiven Werfer der faschistischen Wehrmacht (DO-Werfer) bekannt. Bild 8 zeigt einen derartigen Werfer mit sechs Rohren, aus denen die Granaten in kurzen Abständen nacheinander abgeschossen werden konnten.

Deutsches Gaswerferfeld aus dem 1. Weltkrieg

Mehrrohriger reaktiver Werfer aus dem 2. Weltkrieg

Eine Weiterentwicklung der Gaswerfer aus dem 1. Weltkrieg waren die im 2. Weltkrieg zahlreich eingesetzten reaktiven Granatwerfer. Auch durch diese Werfer, die sich durch hohe Feuergeschwindigkeit auszeichnen, können wirkungsvoll chemische Kampfstoffe eingesetzt werden. Das Gewicht einer reaktiven Wurfgranate beträgt etwa 40 bis 100 kp; als chemische Füllung kann eine Granate 20 bis 60 kp Kampfstoff enthalten. Durch die große Kampfstoffladung und die hohe Feuergeschwindigkeit der reaktiven Werfer sind höchste Kampfstoffkonzentrationen möglich. Nach Ansicht ausländischer Autoren sind die reaktiven Werfer das beste Mittel der Erdtruppen zur Anwendung chemischer Kampfstoffe. Vorteilhaft sollen

Die reaktiven Geschosse der Werfer aus dem 2. Weltkrieg enthielten im vorderen Teil des Geschosses die Treibladung und im hinteren Teil die chemische Füllung. Die Geschosse konnten sowohl mit flüchtigen als auch mit seßhaften chemischen Kampfstoffen gefüllt werden. In der faschistischen Wehrmacht waren besonders Geschosse mit Yperit, Tabun, Phosgen, Phosgen-Nebelmischungen und klebrigen Kampfstoffmischungen für den Einsatz vorgesehen. Bild 9 zeigt den Aufbau dieser reaktiven Geschosse. Nach dem 2. Weltkrieg ist durch verschiedene westliche Veröffentlichungen bekannt geworden, daß man sich in den kapitalistischen Staaten mit der Weiterentwicklung reaktiver Werfer beschäftigt. Im Vordergrund steht dabei

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die Entwicklung mehrrohriger Werfersysteme auf Selbstfahrlafette und die Verbesserung des Verhältnisses der chemischen Ladung zum Gesamtgewicht des Geschosses.

es im Falle eines Rückzuges und bei der Sicherung offener Flanken am zweckmäßigsten ist, Kampfstoffe vom Typ des Yperits direkt aus Behältern im Gelände zu versprühen. Nach dem 2. Weltkrieg sind sowohl Spezialfahrzeuge als auch tragbare Sprühbehälter bekannt geworden, die diesem Zwecke dienen sollen. Die faschistische Wehrmacht besaß Halbkettenfahrzeuge, auf die ein Tank mit einem Fassungsvermögen von 1000 bis 2000 1 montiert war. Dieses geländegängige Fahrzeug konnte bei einem Kampfstoffinhalt von 1000 1 eine Fläche von 5,0 bis 15 ha je nach Kampfstoffart und vorgesehener Vergiftungsdichte chemisch sperren. Der Einsatz dieser Fahrzeuge war auf Straßen, Wegen oder in befahrbaren Geländeabschnitten möglich. Die Sprühbreite konnte durch entsprechende Veränderungen der Sprühdüsen reguliert werden. Maximal konnte eine Breite von 30 m erreicht werden (Bild 10).

15-cm-reaktives Geschoß mit grünem bzw. gelbem Ring 1 - reaktiver Teil; 2 - Treibladung; 3 - ballistische Kappe; 4 - Verstärkung; 5 - Düse; 6 - Inneres Rohr mit Sprengladung; 7 - Bodenzünder; 8 - Grüner bzw. gelber Ring, der die Kampfstoffart angibt; 9- Gewindepfropfen für die Einfüllöffnung; 10 - Gewichtsklasse in römischen Ziffern; 11 - Bezeichnung des Sprengstoffes; 12 - Bezeichnung des Kampfstoffes; 13 - Bezeichnung der Geschoßart; 14 - Fülldatum der Granate; 15 - Fülldatum und Kennzeichen der für die Füllung verantwortlichen Personen.

Deutsches Fahrzeug zur Geländevergiftung aus dem 2. Weltkrieg 10.3 Fahrzeuge und Geräte zur Geländevergiftung

Vor dem 2. Weltkrieg wurden in verschiedenen Staaten Geräte entwickelt, die eine rasche Geländevergiftung ermöglichen sollten. Man ließ sich dabei davon leiten, daß 192

Der Kampfstoff wurde durch Preßluft versprüht, die entweder aus Flaschen entnommen oder in einem mitgeführten kleinen Kompressor erzeugt wurde. Durch Veränderung des Überdruckes im Behälter konnte die Sprühdichte und die bei der Vergiftung von Gelände 193

wichtige Teilchengröße der Kampfstofftropfen verändert werden. Der zum Versprühen notwendige Druck war abhängig von der Zähigkeit des Kampfstoffes und von der geplanten Vergiftungsdichte sowie von der Fahrgeschwindigkeit des Fahrzeugs. In verschiedenen Veröffentlichungen sind tragbare Geländevergiftungsgeräte beschrieben worden, die zur Vergiftung von Bunkern, Häusern, Schluchten und Pfaden verwendet werden sollten, also für Geländeabschnitte und Stellen, die von Fahrzeugen nicht vergiftet werden können. Diese Geräte entsprachen in ihrem Aufbau den bekannten Obstbaumspritzen für die Schädlingsbekämpfung. Der notwendige Überdruck im Behälter wurde meist durch eine Handluftpumpe geschaffen. Als Kampfstoffe für diese Behälter kamen Gifte vom Yperit-Typ in Betracht. Der Einsatz solcher tragbarer Behälter hätte zu vielen Vergiftungen unter dem Bedienungspersonal geführt, besonders, wenn versucht worden wäre, Kampfstoffe vom Typ des Tabuns anzuwenden. In einigen ausländischen Veröffentlichungen wird in der letzten Zeit davon gesprochen, daß es am zweckmäßigsten ist, unwegsame Waldgebiete, Schluchten, Pfade und Stellungen durch Hubschrauber, die mit den entsprechenden Absprühvorrichtungen ausgerüstet sind, zu vergiften. Eine andere Möglichkeit, das Gelände zu vergiften, bieten chemische Minen. In den letzten Jahren ist eine Vielzahl solcher Minen bekannt geworden. Prinzipiell bestehen chemische Minen aus dem Kampfstoffbehälter, der Sprengladung und der Zündvorrichtung. Als Füllung können alle chemischen Kampfstoffe eingesetzt werden. Es ist auch möglich, Minen mit kombinierter chemischer und Splitterwirkung einzusetzen.

gezündet werden können, in dem der Gegner das Gelände betritt. In der Literatur werden zumeist ferngezündete chemische Minen beschrieben, die durch Draht oder Funk zentral ausgelöst werden können. Mitunter können auch chemische Minen mit Berührungszünder zweckmäßig sein. Die faschistische Wehrmacht besaß im 2. Weltkrieg chemische Minen mit einem Kampfstoffinhalt von etwa 10 1. Eine derartige Mine konnte mit einer Yperit-Füllung eine Fläche von etwa 100 m2 vergiften. Einige Konstruktionen besaßen Ausstoßladungen, die den mit Kampfstoff gefüllten Behälter kurz vor der Detonation der Sprengladung ausstießen. Dadurch sollte eine bessere Flächenwirkung erreicht werden. Ähnlich waren auch chemische Splitterminen konstruiert. In Bild 11 wird eine ungetarnte chemische Mine gezeigt,

Chemische Mine 10.4 Mittel zum Ablassen gasförmiger Kampfstoffmischungen und Giftrauch

Chemische Minen haben gegenüber der Geländevergiftung durch Fahrzeuge den Vorteil, daß sie in dem Augenblick

Im 1. Weltkrieg wurden häufig sogenannte Blasangriffe durchgeführt, bei denen aus Druckgasflaschen gasförmige Kampfstoffe abgelassen wurden. Als Kampfstoffe dienten

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Chlor, Phosgen sowie Mischungen dieser Stoffe. In den Druckgasflaschen befindet sich der Kampfstoff im flüssigen Zustand. Nachdem die Ventile geöffnet wurden, entströmt der Kampfstoff dem Druckgefäß und geht in den gasförmigen Zustand über. Dabei vermischt sich der Kampfstoff mit der umgebenden Luft und wird durch die Luftbewegung fortgetragen. Im 1. Weltkrieg wurden auf diese Weise kilometerbreite Kampfstoffwolken erzeugt, die bei günstigen Windverhältnissen in die gegnerischen Stellungen abgetrieben wurden. Nachteilig wirken sich bei diesem Verfahren die starke Abhängigkeit von der Windrichtung, der Windgeschwindigkeit und der hohe Aufwand beim Einbau der Druckgasflaschen in den vordersten Linien aus. Am günstigsten für das Blasverfahren sind Windrichtungen, die keine größere Abweichung als 30° von der direkten Richtung zum Gegner haben. Jede weitere Abweichung erhöht die Gefahr der Schädigung der eigenen Truppen. Als günstigste Windgeschwindigkeiten wurden im 1. Weltkrieg 3 bis 5 m/s ermittelt. Bei geringeren Windgeschwindigkeiten ist es möglich, daß sich die Kampfstoffwolke auch in die eigenen Stellungen verbreitet. Bei diesen Geschwindigkeiten muß auch mit einem schnellen Umschlagen des Windes in andere Richtungen gerechnet werden. Vereinzelt wurde im 1. Weltkrieg bei großflächigen Blasangriffen starke Luftabkühlung infolge Verdampfung des Kampfstoffes beobachtet. Das führte zur Stagnation der Kampfstoffwolke oder bei geringen Windgeschwindigkeiten zum Umschlagen des Windes. Bei Windgeschwindigkeiten über 5 m/s läßt sich meist keine zusammenhängende Kampfstoffwolke erzielen, und die Kampfstoffschwaden werden schnell über die gegnerischen Objekte hinweggetragen. Um bei so hohen Wind196

geschwindigkeiten eine geschlossene Kampfstoffwolke zu bilden, wären derart viel Abblasgeräte notwendig, daß der Aufwand in keinem Verhältnis zum Erfolg stehen würde. Für Blasangriffe wurden im 1. Weltkrieg normale Industrie-Druckgasflaschen verwendet, mit Ventilen, Ableitungen und Sprühdüsen. Meist wurden mehrere Düsen und mehrere Flaschen zu einer Batterie verbunden, die elektrisch gleichzeitig in Tätigkeit gesetzt werden konnten. Bild 12 zeigt einen derartigen Druckgasbehälter, der im 1. Weltkrieg verwendet wurde.

Kampfstoffbehälter (Druckgasflasche) 1-Kampfstoff; 2 - Preßluft; 3-Saugrohr; 4-Ventil; 5 - Stutzen; 6 - Kappe; 7 - Gummischläuche; 8 - Zerstäuber; 9 - Behälter.

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Die Druckgasbehälter ermöglichten meistens einen Kampfstoffinhalt von etwa 10 bis 30 kp. Diese Kampfstoffmenge konnte je nach Düseneinstellung oder deren Konstruktion in etwa 5 bis 15 min abgelassen werden. In dieser Zeit wurde der umgebenden Luft so viel Gas beigemischt, daß bei einer genügenden Anzahl von Druckgasbehältern eine zur gefährlichen Vergiftung ausreichende Giftstoffmenge sogar noch in 5 bis 10 km Entfernung wahrgenommen werden konnte. Um die Wirksamkeit der Blasangriffe zu erhöhen und die betroffenen Truppen zu demoralisieren, führte man im 1. Weltkrieg sogenannte Wellenangriffe durch, das heißt, der Kampfstoff wurde jeweils in Abständen von einigen Minuten abgeblasen. Dadurch wurden die gegnerischen Truppen auf breiten Frontabschnitten lange Zeit unter die Schutzmaske und in die Bunker gezwungen und damit an der Erfüllung ihrer Kampfaufgaben gehindert. Eine andere Möglichkeit, die Luft zu vergiften, bieten die sogenannten Giftrauchkörper. Als Giftrauchkörper oder chemische Schwelkörper bezeichnet man Nebelkörper oder Verdampfungsgeräte, bei denen durch einen Erhitzersatz chemische Kampfstoffe oder Kampfstoff-Nebelmischungen verdampft oder aerolisiert werden. Bei Giftrauchkörpern entspricht der Aufbau und die Handhabung normalen Nebelkörpern. Durch die Brandoder Nebelmischung wird der Kampfstoff verdampft. Als Kampfstoffzusatz eignen sich in erster Linie Kampfstoffe mit einem hohen Zersetzungspunkt, zum Beispiel Adamsit oder Chlorazetophenon. Natürlich können auch Giftstoffe, deren physikalische und chemische Eigenschaften dieser Anwendungsmethode entsprechen, in Giftrauchkörpern angewendet werden. In den USA wurden in den Jahren vor dem 2. Weltkrieg Reizstoffkörper entwickelt, bei denen der gesondert unter198

gebrachte Kampfstoff durch eine Wärmequelle verdampft und die Dämpfe durch Kanäle an die Luft geführt wurden. Sowohl Giftrauchkörper als auch die zuletzt beschriebenen Reizstoffkörper können unter modernen Bedingungen noch eingesetzt werden. Es ist möglich, lang anhaltende Giftrauchwolken zu erzeugen und damit den Gegner, der lange Zeit unter die Schutzmaske gezwungen wird, zu erschöpfen. Das kann jedoch nur an Frontabschnitten durchgeführt werden, an denen sich die Truppen längere Zeit gegenüberliegen. Außerdem sind diese Giftraucheinsätze nur bei günstigen Windrichtungen und -geschwindigkeiten möglich. Nach verschiedenen Veröffentlichungen können die geeigneten chemischen Kampfstoffe nur wirkungsvoll eingesetzt werden, wenn die Windgeschwindigkeit 2 bis 4 m/s beträgt und keine aufsteigende Luftströmung herrscht. Bei günstigen Bedingungen soll eine Wirkungstiefe bis zu 10 und 15 km erreicht worden sein. Diese Tiefen dürften sich jedoch nur bei kilometerbreiten Einsatzfronten und mit hochwirksamen Gift- oder Reizstoffen erzielen lassen.

11. Entgiftungs- und Lösungsmittel — Methoden zur Entgiftung chemischer Kampfstoffe 11.1 Die Entgiftung chemischer Kampfstoffe Werden in einem Krieg chemische Kampfstoffe angewandt, spielt nicht nur der passive Schutz der Soldaten, der Zivilbevölkerung, der Lager und der Transportmittel eine überragende Rolle, sondern auch die Vernichtung der vom Gegner eingesetzten Kampfstoffe, das heißt ihre Entgiftung. Mit chemischen Kampfstoffen können das Gelände, die Bekleidung, Waffen, Geräte, Transportmittel, Nachschubgüter, das Wasser und viele andere Dinge vergiftet sein. Im allgemeinen brauchen nur Gegenstände, Geräte usw. entgiftet werden, die durch seßhafte Kampfstoffe vergiftet wurden. Abgesehen von den Wintermonaten ist die Entgiftung flüchtiger Kampfstoffe nicht notwendig. Auch in geschlossenen Räumen kann unter ungünstigen Umständen eine Entgiftung flüchtiger Kampfstoffe erforderlich sein. Die Entgiftungsmethoden und die dazu nötigen Stoffe hängen ab von der Art des chemischen Kampfstoffes, dem Material des vergifteten Gegenstandes und dessen Oberflächenbeschaffenheit. Die Entgiftungsmethoden kann man in chemische, physikalische und gemischte Verfahren gliedern. Bei chemischen Entgiftungsverfahren, wird der Kampfstoff durch die Reaktion mit dem Entgiftungsmittel zersetzt, wobei sich ungiftige oder nur schwachgiftige Stoffe bilden. Physikalische Entgiftungsverfahren zerstören den Giftstoff nicht oder nur unbedeutend. Zu diesen Verfahren gehören das Heißluftverfahren sowie das Abspülen und Ablösen der Kampfstoffe mit Lösungsmitteln oder oberflächenaktiven Flüssigkeiten. 200

Gemischte Verfahren sind solche, bei denen sowohl chemische Umsetzungen als auch physikalische Vorgänge ausgenutzt werden. Dazu rechnet man das Entfernen der Kampfstoffe durch Feuer, heißes Wasser, Dampf usw. Für die Entgiftung chemischer Kampfstoffe ist es wichtig, die Eigenarten und Zerstörungswirkungen der Entgiftungsverfahren zu kennen, um Materialzerstörungen, Korrosionserscheinungen usw. zu vermeiden. Die Entgiftung chemischer Kampfstoffe muß mit der nötigen Vorsicht durchgeführt werden, um Vergiftungen durch auftretende Kampfstoffdämpfe oder Schädigungen durch aggressive Entgiftungsmittel zu vermeiden. Die Entgiftungsmittel und Lösungsmittel werden in folgende Gruppen untergliedert: 1. Aktivchlorhaltige Entgiftungsmittel (Chlorkalk, Hypochlorite, Chloramine usw.) 2. Alkalische Entgiftungsmittel (Ätznatron, Soda, Natriumsulfid usw.) 3. Oxydationsmittel (Kaliumpermanganat, Wasserstoffsuperoxyd usw.) i. Lösungsmittel (Tetrachlorkohlenstoff, Dichloräthan usw.) Beim feldmäßigen Einsatz wird angestrebt, mit einer geringen Zahl von Entgiftungs- und Lösungsmitteln auszukommen, um die Schwierigkeiten beim Nachschub zu vermindern. 11.1.1 Aktivchlorhaltige Entgiftungsmittel 11.1.1.1 Chlorkalk Chlorkalk ist einer der wichtigsten Entgiftungsstoffe; er kann zur Entgiftung von Geländeabschnitten und - im beschränkten Umfang — auch zur Entgiftung von Geräten 201

angewendet werden. Er diente bereits im 1. Weltkrieg zur Entgiftung von Yperit. Chlorkalk ist ein weißes, durch Feuchtigkeit leicht zusammenbackendes Pulver mit einem stechenden Chlorgeruch. Es ist in Wasser nur wenig löslich. Chemisch ist Chlorkalk eine Mischung verschiedener Kalziumhypochlorite, Kalziumchlorid und Kalziumhydroxyd. Technischer Chlorkalk ist durch verschiedene Metallsalze, Sulfate und Karbonate verunreinigt. Chlorkalk ist gegen Feuchtigkeit nicht beständig. Selbst der Feuchtigkeitsgehalt der Luft zersetzt diesen Entgiftungsstoff. Die entgiftende Wirkung dieses Stoffes beruht darauf, daß er leicht Sauerstoff abgibt und dadurch die Oxydation der Kampfstoffe ermöglicht. Die Aktivität des Chlorkalks wird durch seinen Aktivchlorgehalt bestimmt. Bei der Bestimmung des Aktivitätsgrades von Chlorkalk oder anderen aktivchlorhaltigen Stoffen rechnet man den durch die Umsetzung des abspaltbaren Chlors mit Wasser entstehenden Sauerstoff in das äquivalente Chlor um. 16 p Sauerstoff (1 g-Atom) entsprechen bei dieser -Umrechnung 71p Chlor (2 gAtome). 100 p 25 %iger Chlorkalk entwickeln demnach bei der Umsetzung mit Wasser soviel aktiven Sauerstoff, wie 25 p Chlor bei der Umsetzung mit Wasser. Hinsichtlich ihres Aktivchlorgehaltes werden auch alle anderen aktivchlorhaltigen Verbindungen auf diese Weise eingeschätzt. Frisch produzierter Chlorkalk enthält mindestens 35% Aktivchlor. Bei der Lagerung verliert dieser Chlorkalk selbst bei guter Verpackung 0,25% Aktivchlor je Monat. Chlorkalkreserven müssen deshalb periodisch erneuert werden. Chlorkalk mit einer Aktivität unter 10% ist nicht mehr zur vollständigen Entgiftung gebrauchsfähig. 202

Chlorkalk muß — um unnötige Verluste zu vermeiden — in luft- und wasserdichten Fässern oder sonstigen Behältern gelagert werden. Die Lagerräume sollen kühl und trocken sein und dürfen keine leicht brennbaren oder explosiven Stoffe enthalten. Zur Entgiftung können reiner Chlorkalk oder Wasseraufschlämmungen und -breie verwendet werden. Im allgemeinen benutzt man zur Entgiftung des Geländes eine Aufschlämmung mit Wasser im Verhältnis 1:2 oder 1:4. Bei der Entgiftung mit trockenem Chlorkalk muß beachtet werden, daß bei der Umsetzung mit Kampfstoffen wie Yperit die Oxydationsreaktion unter Flammenbildung stattfinden kann. Zur Entgiftung von Holzgegenständen, Holzbrücken oder von Gelände mit trockenem Gras darf deshalb bei trockenem Wetter nur eine Chlorkalkaufschlämmung verwendet werden. 11.1.1.2 Chlorkalk DSChlorkalk DS ist ein Stoff, der etwa folgender chemischer ' Formel entspricht: Ca(OCl)2 • 2 Ca(OH)2 Er wird ähnlich wie Chlorkalk hergestellt und enthält in frischem Zustand 38 bis 40% Aktivchlor. Chlorkalk DS ist ein weißes kristallines Pulver mit starkem Chlorgeruch. Es löst sich in Wasser nur unvollständig. Die Lagerstabilität ist größer als bei normalem Chlorkalk. 11.1.1.3 Chlorkalk DTS Chlorkalk DTS ist ebenfalls ein basisches Kalziumhypochlorit mit einer Zusammensetzung, die etwa folgender Formel entspricht: 3 Ca(OCl)2 • 2 Ca(0H)2 • H2O Dieser Stoff enthält 56 bis 58% Aktivchlor und besteht 203

aus kleinen spitzen Kristallnadeln. Im Wasser ist Chlorkalk DTS besser löslich als Chlorkalk DS. Der in "Wasser unlösliche Rückstand besteht aus Kalziumhydroxyd und beträgt etwa 25%. Zur Entgiftung können Chlorkalk DS und DTS als Pulver oder in Wasseraufschlämmungen verwendet werden. Mit Stabilisatoren lassen sich aus Chlorkalk DTS in Wasser genügend beständige Emulsionen herstellen, die sich gut zur Geländeentgiftung eignen und mehrere Stunden stabil bleiben. 11.1.1.4 Losantin, Perchloron und Caporit Losantin ist ein Entgiftungsstoff, der in Deutschland in großen Mengen hergestellt wurde. Dieser Stoff enthielt 40 % Aktivchlor und wurde durch Vermischen von 65 % Kalziumhypochlorit mit 35 % gelöschtem Kalk hergestellt. Perchloron und Caporit sind aktivchlorhaltige Entgiftungsstoffe, die bis zu 70 % Aktivchlor enthalten. Sie sind bedeutend beständiger als Chlorkalk und lösen sich teilweise unter Bildung eines geringen Bodensatzes in Wasser. 11.1.1.5 Sulfurylchlorid Sulfurylchlorid SO2C12 ist eine gelbliche Flüssigkeit mit einem stark stechenden Geruch. Der Siedepunkt liegt bei 69 °C und der Schmelzpunkt bei - 54 °C. Die Flüchtigkeit des Stoffes ist bedeutend, so daß beim Umgang mit ihm größte Vorsicht geboten ist. Wird Sulfurylchlorid umgefüllt, muß die Schutzmaske getragen werden, um Vergiftungen zu vermeiden. Sulfurylchlorid ist ein geeignetes Entgiftungsmittel für chemisch stabile Kampfstoffe und kann im Winter in Mischungen mit Lösungsmitteln zur Geländeentgiftung verwendet werden, wenn keine wäßrigen Entgiftungslösungen zum Einsatz kommen können. 204

Infolge seiner chemischen Aktivität kann Sulfurylchlorid nicht zur Entgiftung empfindlicher Gegenstände (Optiken, Meßgeräte usw.) verwendet werden. 11.1.1.6 Monochloramin B (DT-1) Monochloramin B ist ein weißes, kristallines Pulver mit Chlorgeruch. Seine chemische Formel ist C6H5SO2NClNa • 3 H2O. Monochloramin B besitzt einen Aktivchlorgehalt von etwa 30%. Sein Schmelzpunkt liegt bei 180 bis 185 °C. Es ist gut löslich in Wasser und Alkohol. Mit den wäßrigen oder Wasser-Alkohol-Lösungen des Stoffes können die Bekleidung, die Haut sowie Geräte entgiftet werden. 11.1.1.7 Monochloramin T (DT-1 T) Monochloramin T ist dem Monochloramin B ähnlich. Es ist chemisch die entsprechende Toluolverbindung: CH3C6H4SO2NClNa • 3 H2O. Es enthält 24% Aktivchlor und schmilzt bei 175 bis 180 °C. Es entspricht in seinen Eigenschaften dem Monochloramin B. 11.1.1.8 Dichoramin B (DT-2) . Dichloramin B ist das Dichloramid der Benzolsulfonsäure C6H5SO2NC12. Es enthält 58 bis 61 % Aktivchlor und schmilzt bei 70 bis 72 °C. In Wasser ist Dichloramin B unlöslich, gut löslich jedoch in chlorierten organischen Lösungsmitteln. In Kohlenwasserstoffen ist die Löslichkeit ebenfalls gering. Zur Entgiftung können Lösungen in Tetrachlorkohlenstoff, Dichloräthan und Trichloräthylen verwendet werden. 205

11.1.1.9 Dichloramin I (DT-2 T)

11.1.1.12 Isozyanurtrichlorid

Dichloramin T ist eine dem Dichloramin B entsprechende Toluolverbindung:

Isozyanurtrichlorid ist ein Entgiftungsstoff, der besonders für die Entgiftung von Stickstoff-Yperit verwendet werden kann. Seine chemische Formel ist:

CH3C6H4SO2NC12 Es enthält 57 bis 59 % Aktivchlor und schmilzt bei 80 bis 83 °C. In seinen Eigenschaften ist es dem Dichloramin B ähnlich. 11.1.1.10 Hexachlormelamin (DT-6) Hexachlormelamin ist ein äußerst aktiver Entgiftungsstoff mit einem Aktivitätsgrad von 115 bis 120%. Es entspricht in seiner Zusammensetzung folgender Formel:

In der ehemaligen faschistischen Wehrmacht wurde eine Mischung von 50% Isozyanurtrichlorid mit 50% Quarzsand als Entgiftungsstoff 40 bezeichnet. 11.1.2 Alkalische Entgiftungsmittel 11.1.2.1 Ätznatron Hexachlormelamin besteht aus gelblichen Kristallen, die bei Erhitzung detonieren. Es muß deshalb kühl und trocken gelagert werden und darf nicht mit brennbaren organischen Materialien zusammengebracht werden. Zur Entgiftung können Lösungen in chlorierten organischen Lösungsmitteln eingesetzt werden. 11.1.1.11

Methansulfonsäuredichloramid CH3SO2NC12

Methansulfonsäuredichloramid ist ein Entgiftungsstoff, der einen Aktivchlorgehalt von 85,5 bis 86,5% und einen Schmelzpunkt von 75 bis 77 °C besitzt. Es löst sich gut in Benzin, schwerer in Dichloräthan und kann wie die Dichloramine verwendet werden. 206

Ätznatron (Natriumhydroxyd, NaOH) ist ein in der chemischen Industrie vielverwendeter Rohstoff. Es ist eine weiße, spröde und stark hygroskopische Masse mit einem spezifischen Gewicht von 2,13. In den Handel kommt Ätznatron in Form von Stangen, Schuppen oder eingegossen in Blechbehälter. Es ist in Wasser und Alkoholen gut löslich. Die wäßrige Lösung (Natronlauge) reagiert stark alkalisch und kann zur Entgiftung verwendet werden. Ätznatron löst sich in Wasser unter erheblicher Wärmeentwicklung auf, die bei Nichteinhalten der Lösungsvorschriften bis zum Sieden der Lösung führen kann. Man löst deshalb das Ätznatron stückweise in viel Wasser auf. Zum Schutze vor Verätzungen müssen beim Lösen Schutzbrillen, Schutzkittel und Schutzhandschuhe getragen werden. 207

11.1.2.2 Ätzkali

11.1.8 Oxydierende Entgiftungsmittel

Ätzkali (Kaliumhydroxyd KOH) ist eine analoge Verbindung zu Ätznatron. Es kann ebenfalls zur Herstellung alkalischer Entgiftungslösungen verwendet werden.

11.1.3.1 Kaliumpermanganat Kaliumpermanganat (KMnO4) dient in wäßriger Lösung zur Entgiftung von Lewisit, Yperit und einigen anderen Kampfstoffen. Es wirkt oxydierend auf diese Kampfstoffe und kann besonders bei der Entgiftung von Glas- und Metallgeräten verwendet werden. Kaliumpermanganat bestellt aus blauvioletten Kristallen, die sehr leicht in Wasser löslich sind und eine intensive Färbekraft besitzen,

11.1.2.3 Soda Soda (Natriumkarbonat, Na2CO3) kann in vielen Fällen in wäßriger 1- bis 5%iger Lösung als Entgiftungsmittel verwendet werden. Besonders wirksam sind angewärmte Sodalösungen für die Entgiftung der PhosphorsäureesterKampfstoffe. 11.1.2.4 Ammoniak Ammoniak (NH3) dient sowohl als Gas als auch in seiner wäßrigen Lösung (Ammoniakwasser) als Entgiftungsmittel. Ammoniak ist ein stechend riechendes Gas, dessen wäßrige Lösung stark alkalisch reagiert. Es kann im militärischen Einsatz hergestellt werden, indem Ammoniumkarbonat auf über 60 °C erhitzt wird, wobei es sich zersetzt. Ammoniakgas oder Ammoniakwasser wird besonders bei der Entgiftung von Bekleidung im Heißdampfverfahren verwendet. Ammoniak wirkt auf Textilien nicht so zerstörend wie Ätznatron oder Ätzkali.

11.1.3.2 Wasserstoffsuperoxyd Wasserstoffsuperoxyd H2O2 ist eine farblose Flüssigkeit, die meist in einer 30%igen Mischung (Perhydrol) in den Handel kommt. Sie kann auf etwa 5 % verdünnt zur Entgiftung der Haut eingesetzt werden. 11.1.3.3 Salpetersäure Salpetersäure HN0 3 kann in Laboratorien zur Entgiftung von Laborgeräten verwendet werden. Sie ist eine starke Säure, die in konzentrierter Form eine hohe Oxydationskraft besitzt. 11.1.4 Lösungsmittel 11.1.4.1 Tetrachlorkohlenstoff

11.1.2.5 Natriumsulfid Natriumsulfid (Na2S) ist eine graue oder graugelbe Masse mit Schwefelwasserstoffgeruch. Das spezifische Gewicht beträgt 1,85. Im Handel ist meist 60%iges Natriumsulfid erhältlich (Schwefelleber). Natriumsulfid ist in Wasser und Alkohol gut löslich. Seine wäßrige Lösung reagiert alkalisch und kann zur Entgiftung von halogenhaltigen Reizstoffen und Phosphorsäureester-Kampfstoffen verwendet werden. 208

Tetrachlorkohlenstoff CC14 ist eine farblose, süßlich riechende Flüssigkeit mit einem Siedepunkt von 77 °C. Der Schmelzpunkt liegt bei — 24 °C. Das spezifische Gewicht beträgt bei 20 °C 1,59. Tetrachlorkohlenstoff brennt nicht und kann als Lösungsmittel für viele Entgiftungsstoffe (Chloramine) und für Kampfstoffe verwendet werden. Im Sommer können zur Entgiftung 5- bis 10%ige Lösungen von Di- oder Hexa209

chloraminen verwendet werden. Im Winter lösen sich nur kleine Mengen von Chloraminen, so daß andere Lösungsmittel verwendet werden müssen. 11.1.4.2 Dichloräthan Dichloräthan C1CH2CH2C1 ist ein viel benutztes Lösungsmittel für Dichloramine. Es ist eine farblose, mitunter gelbliche Flüssigkeit mit schwachem Chloroformgeruch. Der Siedepunkt liegt bei 83 bis 84 °C und der Schmelzpunkt bei — 35 °C. Bei 20 °C beträgt das spezifische Gewicht 1,25. Dichloräthan löst die meisten chemischen Kampfstoffe gut. Dichloräthan wirkt als Nerven- und Atmungsgift, deshalb muß beim Umgang mit diesem Stoff die Schutzmaske getragen werden. Zur Entgiftung können 5- bis 10%ige Lösungen von Dichloraminen oder Hexachlormelamin verwendet werden. Die Lösungen der Chloramine in Dichloräthan sind nicht lange lagerfähig und müssen erst kurz vor dem Verbrauch angesetzt werden. 11.1.4.3 Tetrachloräthan C12CHCHC12 Tetrachloräthan ist eine farblose Flüssigkeit, die als Lösungsmittel für Entgiftungs- und Kampfstoffe verwendet werden kann. Der Siedepunkt liegt bei 146,2 °C und der Schmelzpunkt bei - 42,5 °C. Bei 20 °C entspricht das spezifische Gewicht 1,6. 11.1.4.4 Triehloräthylphosphat Trichloräthylphosphat (C1C2H4)3PO4 ist eine farblose, zähe Flüssigkeit, die in Wasser unlöslich ist. Das spezifische Gewicht beträgt bei 20 °C 1,43. Dieser Stoff diente in der ehemaligen faschistischen Wehrmacht für Methansulfonsäuredichloramid als Lösungsmittel (Waffenentgiftungsmittel). 210

12. Die Entgiftung von Holz-, Metallsowie anderen Oberflächen und Geräten 12.1 Rohe Holzoberflächen

Flüssige chemische Kampfstoffe (Yperit, Lewisit, Sarin und Soman) dringen schnell in rohe Holzoberflächen ein, während klebrige Kampfstoffmischungen ziemlich fest haften können. So dringt beispielsweise flüssiges Yperit innerhalb von 2 bis 5 min etwa 0,5 bis 3 cm tief in weiches Holz ein, wobei das Eindringen entlang der Holzfasern schneller geht als quer zum Faserverlauf. Bei Hartholz (Eiche, Buche) beträgt die Eindringtiefe nur wenige Millimeter. Rohe Holzflächen oder schwach gebeizte Holzteile werden mit Lösungen entgiftet, die eine ausreichend tiefe Entgiftungswirkung garantieren. Die Holzoberfläche wird mit der Entgiftungslösung abgespritzt oder — wenn Entgiftungsgeräte fehlen — mit einem Tuch oder mit Pinseln bestrichen. Etwa 10 bis 15 min nach dem ersten Aufspritzen wird nochmals Entgiftungslösung aufgetragen, damit die Lösung tief genug in das Holz eindringen kann. Um eine ausreichende Entgiftungswirkung zu erzielen, muß die Entgiftungslösung etwa 15 bis 30 min lang auf die Holzoberfläche einwirken. Danach wird die Oberfläche mit Wasser oder Waschlösung abgerieben und anschließend abgetrocknet. Wird Natronlauge zur Entgiftung von Holzoberflächen verwendet, so ist es nach der Entgiftung notwendig, die Oberfläche mit schwacher Essigsäurelösung abzuwaschen, um die überschüssige Natronlauge zu neutralisieren. Dafür können auch schwache Salzsäurelösungen (3 bis 5%) verwendet werden. Zur Entgiftung von Holzoberflächen werden folgende Mengen Entgiftungslösung benötigt: 211

Kampf stoffarten Entgiftungslösung

10% Monochloramin in Wasser 10% Dichloramin in Dichloräthan . . . 5%ige Natronlauge. 20- bis 25%iges Ammoniakwasser.. 5% ige Sodalösung 50 bis 60 °C warm.

flüssiges klebriges Yperit Yperit und Lewisit und Lewisit l/m 2

0,7

1,0

0,5

0,7

Sarin, Soman, Tabun l/m 2

0,5 0,5 bis 0,7 0,7 bis 1,0

Chlorkalk und Chlorkalkbreie können mit Erfolg nur zur Entgiftung von Lewisit, Yperit und klebrigen Mischungen dieser Kampfstoffe verwendet werden. Zu diesem Zweck sind der Chlorkalk oder der Chlorkalkbrei auf die vergiftete Holzoberfläche aufzutragen und dort etwa 30 bis 40 min lang zu belassen. Wird Chlorkalk verwendet, ist der Brei aus einem Teil Chlorkalk und 2 Teilen Wasser durch Verrühren herzustellen. Je Quadratmeter wird etwa 1 kp Brei benötigt. Unter Umständen kann auch die notwendige Menge Chlorkalk auf der Oberfläche mit Wasser angefeuchtet werden. War rohes Holz längere Zeit der Einwirkung von Kampfstoffen ausgesetzt, so kann der Kampfstoff nach einer nicht tief genug erfolgten Entgiftung nach Stunden oder Tagen wieder ausgeschwitzt werden und so Vergiftungen verursachen. Daher muß die entgiftete Oberfläche ständig einer Kontrolle unterzogen und — wenn notwendig — nochmals entgiftet werden. Sollen Holzgegenstände unmittelbar nach der Entgiftung verwendet werden, so müssen die Stellen, die mit un-

bedeckter Haut in Berührung kommen können (Spaten und Schaufelstiele, Bedienungshebel usw.) mit Folien, Papier oder anderem Material bedeckt werden. Kleinere Holzgegenstände können eventuell auch wirkungsvoll entgiftet werden, wenn sie in schwacher Sodalösung 10 bis 20 min lang auf 50 bis 80 °C erhitzt werden. Diese Entgiftungsmöglichkeit ist sowohl für Yperit und Lewisit als auch für Sarin, Tabun und Soman zweckmäßig. Schwierig kann die Entgiftung von Holz sein, das mit Stickstoff-Yperit vergiftet wurde. Hier sind größere Mengen und längere Einwirkungszeiten erforderlich. In jedem Falle muß dort, wo eine einwandfreie Entgiftung erreicht werden soll, nach der Entgiftung der betreffende Gegenstand mit Lösungsmitteln (Dichloräthan, Tetrachlorkohlenstoff, Benzin, Benzol oder Alkohol) gereinigt werden. Bei Stickstoff-Yperit ist immer eine anschließende Reinigung mit Lösungsmitteln zweckmäßig.

12.2 Lackierte Holzoberflächen

Die Entgiftung lackierter Holzoberflächen ist meistens einfacher als die roher Holzflächen. Die Entgiftungsmittel und -methoden sind dabei die gleichen wie bei rohen Flächen. Von Vort?il ist, daß der Kampfstoff in lackierte Holzoberflächen wesentlich langsamer eindringt als in unlackierte. Bei mit Ölfarbe gestrichenen Flächen ist die Eindringtiefe meist nicht größer als 2 bis 4 mm. Schwierigkeiten können bei der Entgiftung entstehen, wenn der Lack durch das Lösungsmittel des Entgiftungsstoffes abgelöst wird (Dichloräthan). Hier ist von Fall zu Fall zu entscheiden, ob entweder das Ablösen des Lackes in Kauf genommen werden kann oder ob andere Lösungs-

212 213

mittel angewendet werden müssen (Alkohole). Bei guten, lösungsmittelfesten Lacken (PVC-Lacken oder Einbrennlacken) kann die Entgiftung auch nur mit Lösungsmitteln durchgeführt werden. In diesen Fällen werden die Kampfstofftropfen mit einem Wattebausch, mit Lappen oder Putzwolle entfernt und die Oberfläche mit dem Lösungsmittel abgebürstet. Die lackierte Oberfläche muß aber mehrmals mit dem Lösungsmittel abgebürstet und abgerieben werden, um sicher zu sein, daß alle Kampfstoffreste entfernt werden. Bei der Entgiftung mit Lösungsmitteln wird etwa 1 l/m2 benötigt. Bei Kampfstoffen vom Typ des Sarins ist es möglich, daß bei Ölfarben oder nur wenig chemikalienfesten Lacken bei einer Einwirkungszeit von mehreren Stunden eine ziemlich große Kampfstoffmenge vom Lack aufgenommen wird. Dann ist eine Entgiftung oft nicht ausreichend. Um Vergiftungserscheinungen beim Gebrauch dieser Gegenstände zu vermeiden, muß entweder mehrmals entgiftet werden, oder die Lackoberfläche wird abgeschabt. Notfalls kann der Gegenstand auch mit Lappen, Stoffstreifen und anderen Hilfsmitteln, die mit schwacher Sodalösung getränkt sind, umwickelt werden. Wenn keine andere Möglichkeit besteht, können lackierte Oberflächen auch mit heißer Sodalösung abgewaschen werden, die eine Temperatur von über 70 °C besitzt. Das Abwaschen muß unter starkem Bürsten erfolgen und mehrere Male wiederholt werden. Dabei werden etwa 5 bis 10 1 Sodalösung pro Quadratmeter verbraucht. Wird Waschmittel- und sodafreies Wasser verwendet, sind etwa 10 bis 15 1 siedendes Wasser pro Quadratmeter notwendig.

12.3 Metalloberflächen Wie bei Holzoberflächen sind auch bei Metallflächen Unterschiede bei der Entgiftung unlackierter und lackierter Flächen zu beachten. Unlackierte, glatte und nicht eingefettete Metallflächen lassen sich verhältnismäßig leicht entgiften, da der Kampfstoff nur an der Oberfläche haften bleibt. Verschiedene klebrige Kampfstoffmischungen besitzen allerdings eine ziemlich hohe Haftfestigkeit und müssen mit Schabern oder Bürsten entfernt werden. Bei Metallflächen ist darauf zu achten, daß einige Entgiftungsmittel die Korrosion beschleunigen können. So sind die Chloraminlösungen für empfindliche Metalloberflächen wenig geeignet, da besonders Eisen nach der Entgiftung starken Rost zeigen kann. Aus diesem Grunde werden bei der Entgiftung von Eisenoberflächen nur schwache Chloraminlösungen verwendet und die Einwirkungszeiten möglichst kurz gehalten. Es ist auch zweckmäßig, bei der Entgiftung von Yperit, Lewisit und deren klebrigen Mischungen nur 5%ige Dichloraminlösungen in Dichloräthan zu verwenden und diese auch nur etwa 5 min lang auf die Metalloberflächen einwirken zu lassen. Um in dieser kurzen Zeit bei hohen Vergiftungsdichten trotzdem eine sichere Entgiftung zu erreichen, müssen vor der Anwendung der Entgiftungslösung die größeren Kampfstoffteilchen (Tropfen, Fladen) mit geeigneten Mitteln (Schaber, Lappen, Wattebausche) abgetupft beziehungsweise abgeschabt werden. Nachdem die Entgiftungslösung eingewirkt hat, müssen ihre Überreste sofort mit Lösungsmitteln oder Waschlösungen entfernt werden. Das muß bei sehr empfindlichen Geräten zweimal durchgeführt werden. Danach wird die Metalloberfläche mit Tüchern oder Lappen abgetrocknet und sorgfältig eingefettet oder eingeölt. 215

Zur Entgiftung grober Metalloberflächen, bei denen eine eventuelle Rostbildung die Gebrauchstüchtigkeit des Gerätes nicht beeinflußt, können auch Chlorkalkbrei oder entsprechende Emulsionen zur Entgiftung von Yperit, Lewisit und Stickstoff-Yperit verwendet werden. Dabei sind je Quadratmeter Fläche etwa 0,7 kp (~ 0,7 1) notwendig. Sind Metalloberflächen mit Stickstoff-Yperit vergiftet, müssen die Flächen nach der Entgiftung nochmals mit Lösungsmitteln abgebürstet werden, um auch die nicht zersetzten Kampfstoffreste sicher zu entfernen. Kleinere Metallgegenstände werden in die entsprechende

Entgiftungslösung getaucht und anschließend abgebürstet und abgerieben. Schwieriger ist die Entgiftung von Metallteilen mit rauher oder poröser Oberfläche oder von solchen Metallflächen, bei denen der Kampfstoff in Kitzen, Nuten usw. eingedrungen ist. In diesen Fällen ist zu berücksichtigen, ob die Funktionstüchtigkeit des Gerätes durch den höheren Verbrauch von Entgiftungsmitteln oder durch längere Einwirkungszeiten gemindert wird. Manchmal ist es zweckmäßiger, mit Entgiftungs-Aerosolen zu arbeiten. Zu diesem Zweck wird das Entgiftungsmittel in kleinsten Teilchen versprüht, die als Schwebstoff (Aerosol) in die tiefsten Stellen eindringen können. Durch den Zusatz von Korrosionsschutzmitteln kann die aggressive Wirkung der Entgiftungsstoffe wesentlich gemildert werden. Derartige Verfahren eignen sich besonders für die Entgiftung wertvoller Geräte. Da es trotz dieser Sonderverfahren aber immerhin möglich ist, daß komplizierte Metallgeräte nicht vollständig entgiftet werden, müssen — um schwierige und langwierige Entgiftungsverfahren zu vermeiden — alle Geräte und Gegenstände bei Gefahr eines chemischen Überfalls abgedeckt oder die Ritzen, Nuten usw. mit Kitt, Lehm und ähnlichen Stoffen verschmiert werden. Bei lackierten Metalloberflächen kann nach einer längeren Einwirkungszeit der Kampfstoff in die Lackschichten eindringen. Das ist besonders bei Yperit, Lewisit, Sarin und Soman zu erwarten. Dabei kann sich die Lackschicht verändern (dunkle Stellen, Blasen, Ablösen der Lackschicht). Am wenigsten dringen Kampfstoffe in chemikalienbeständige Lackschichten ein (PVC-Lacke, Einbrennlacke). Lackierte Flächen werden wie unlackierte Metalloberflächen entgiftet. Werden Entgiftungslösungen angewen-

216

15

Auch zur Entgiftung von Sarin und Soman auf Metalloberflächen kann bei der Anwendung von Natronlauge eine nur 5%ige Lösung von Ätznatron in Wasser gebraucht werden. Natronlauge darf nicht zur Entgiftung von Aluminiunioberflächen dienen. Zu diesem Zweck müssen Ammoniaklösungen (10 bis 15%) oder warme Sodalösungen (3 bis 5%) eingesetzt werden. Die Verbrauchsnormen bei der Entgiftung von glatten Metalloberflächen: Kampf stoffarten Entgiftungslösung

5% Monochloramin in Wasser 5% Dichloramin in Dichloräthan 5% ige Natronlauge 10- bis 15%iges' Ammoniakwasser 3- bis 5% ige Sodalösung 50 bis 60° warm

klebriges flüssiges Yperit Yperit und Lewisit und Lewisit l/m2

0,5

0,7

0,3

0,5

Soman, Sarin, Tabun

0,3 0,3 0,5

Kampfstoffe

217

det, die organische Lösungsmittel enthalten, so besteht die Gefahr, daß sich die Lackschicht ablöst. Um eine einwandfreie Entgiftung zu garantieren, sollte lieber das Ablösen der Lackschichten in Kauf genommen werden. Auch hier zeigt sich, daß schon bei der Konstruktion der verschiedenen Geräte diese Gesichtspunkte berücksichtigt werden müssen. Grundsätzlich sollte ihre Oberfläche so gestaltet werden, daß sie schnell entgiftet werden kann; sie sollte auch nur mit Lacken bestrichen werden, die gegenüber Entgiftungsmitteln weitgehend beständig sind. Lackierte Metalloberflächen können auch mit Chlorkalkbrei oder entsprechenden Emulsionen entgiftet werden. Dabei sind etwa 0,5 kp Chlorkalkbrei oder 0,7 1 Chlorkalkemulsion erforderlich. Feinmechanische und optische Geräte lassen sich meist recht schwierig entgiften. Dabei können Funktionsminderungen durch Kratzer auf der polierten Oberfläche, Ablösen von Kittstellen bei Linsensystemen und ähnliche Schäden auftreten. Am besten können derartige Geräte entgiftet werden, indem man sie in Alkohol, Benzin oder andere weniger lösend wirkende Mittel eintaucht. Bei größeren Gegenständen müssen die Kampfstofftropfen vorsichtig mit "Wattebauschen, Lappen usw. abgetupft oder abgerieben und anschließend mit lösungsmittelgetränkten Tupfern entfernt werden. Bei chirurgischen Instrumenten werden am besten Kochentgiftungsverfahren angewendet. So kann bei Kampfstoffen vom Yperit-Typ durch einstündiges Kochen in 2- bis 3%iger Sodalösung und bei Kampfstoffen vom Sarin-Typ durch halbstündiges Kochen in der gleichen Lösung nach vorheriger mechanischer Reinigung entgiftet werden. Medikamente, Verbandmaterialien und Lebensmittel sollen so verpackt werden, daß gegebenenfalls nur eine Entgiftung oder Entaktivierung der Ver218

packungsoberfläche erforderlich ist. Am günstigsten sind Verpackungen in luftdicht schließenden Metallbehältern oder Verbundfolien (möglichst Aluminiumverbundfolie mit Polyamid oder Polyäthylen). 12.4 Gummi- und Plastoberflächen

Kampfstoffe vom Typ des Yperits oder des Sarins können bei längerer Einwirkung ziemlich tief in Gummi- oder Plastteile eindringen. Die Eindringtiefe ist von der Kampfstoffmenge, den spezifischen Eigenschaften und dem Material abhängig. Die Eindringgeschwindigkeit von Yperit ist in Weichgummiteilen beispielsweise höher als bei Hartgummierzeugnissen; auch bei Plasten zeigen sich ähnliche Verhältnisse (weichgemachtes PVC nimmt Kampfstoff schneller auf als Hart-PVC, Polyäthylen, Oppanolmischungen oder harte Plaste). Kleine Gummi- oder Plastteile werden durch ein- oder mehrstündiges Kochen in Wasser entgiftet, soweit das Material eine derartige Behandlung verträgt. Große Gummi- oder Plastteile (Autoreifen u. ä.) können durch Chlorkalkbrei entgiftet werden. Die Entgiftungsmittel und -methoden entsprechen denen bei Holzoberflächen. Die Schutzausrüstung (Schutzanzüge, -Strümpfe, -handschuhe, Gummistiefel) wird in warmen oder heißen Sodalösungen oder durch Abreiben mit Chlorkalkemulsionen entgiftet. Wichtig ist, daß möglichst sofort nach der ersten Einwirkung des Kampfstoffes entgiftet wird, um ein tiefes Eindringen zu verhindern. Bei geringwertigen Gummi- oder Plasterzeugnissen kann es oft besser sein, die vergifteten Gegenstände zu vernichten, anstatt zeitraubende Entgiftungsverfahren anzuwenden. 219

12.5 Glas- und Keramikoberflächen

Glas- und Porzellangeräte lassen sich leicht entgiften, weil der Kampfstoff nicht in sie eindringen kann. Es sind die gleichen Entgiftungsmittel und -methoden anzuwenden wie bei Metalloberflächen. Die Verbrauchsnormen sind aber meistens geringer als bei diesen. Optische Gläser oder Fensterscheiben können mit Lösungsmitteln bearbeitet werden. Schwieriger ist die Entgiftung poröser Keramikteile. Hier hilft meist nur mehrstündiges Kochen oder die intensive Behandlung der Teile mit heißer Sodalösung. Emaillierte Oberflächen werden wie Glas oder Porzellan entgiftet. Schwierigkeiten sind dabei kaum zu erwarten.

12.6 Die Entgiftung der Bekleidung

Die Bekleidung kann durch längeres Lüften, Koch- und Waschverfahren sowie durch Heißluftbehandlungen entgiftet werden. Um die Bekleidung durch Lüften zu entgiften, braucht man sehr lange Zeit. Die Bekleidungsstücke müssen mehrere Tage auf Leinen oder Kleiderständern an die frische Luft gehängt werden. Bei klebrigen Kampfstoffen ist diese Methode unzuverlässig. Richtwerte für die Lüftungszeiten: Zeit der Lüftung in Tagen Gegenstand

Wintermäntel Sommeranzüge aus Baumwolle . . Wollanzüge Schutzbekleidung aus Gummi Lederstiefel und Schuhe 220

Sommer

Herbst, Winter und Frühling

8 bis 10 6 bis 8 8 bis 10 15 bis 25 8 bis 10

20 bis 25 15 bis 25 20 bis 25 30 bis 35 12 bis 15

Wie die hohen Lüftungszeiten zeigen, ist diese Methode unzweckmäßig. Schneller und sicherer sind Wasch-, Dampf- und Heißluftverfahren. Sollen die vergifteten Bekleidungsstücke durch Kochen entgiftet werden, müssen etwa 2 %ige Sodalösungen angewandt werden. Bei Baumwollstücken ist nach einer Kochzeit von etwa 30 min der Kampfstoff vollständig zersetzt. Wollene Bekleidungsstücke erfordern eine Temperatur von 70 °C und den Gebrauch von Feinwaschmitteln. Die Entgiftungszeit beträgt etwa 40 min. Bei Dederonbekleidungsstücken reicht es aus, wenn sie in 0,5 bis 1 %iger Sodalösung bei niedrigen Temperaturen (unter 35 °C) gewaschen werden. Auf jeden Fall muß nach der Entgiftung ausreichend gespült werden, um giftige Zersetzungsprodukte (Arsenverbindungen, Reste bei Stickstoff-Yperit) zu entfernen. Die Heißluftentgiftung erfordert besondere Anlagen. Sie kann durch Zusatz von Dampf und Ammoniakgas intensiviert werden. Durch diese Methode wird der Kampfstoff verdampft und größtenteils zersetzt. Vor der Heißluftbehandlung werden die Bekleidungsstücke in Wasser eingeweicht. Das Einweichen kann entfallen, wenn die Heißluftbehandlung mit Naßdampf unterstützt wird. Dederonbekleidungsstücke oder dederonhaltige Textilien können durch Heißluftbehandlung nicht entgiftet werden, da diese Methode das Material zu sehr angreift. Richtwerte für Temperaturen und Entgiftungszeiten: Gegenstand

Lederstiefel, Schuhe, Pelzwaren Gummiwaren (Schutzmittel). . Wollwaren (Wintermäntel) . . . Filzstiefel u. ä Zeltplanen, Kfz.-Planen

Temperaturen Entgiftungszeit °C 60° 70° 90 bis 95° 95 bis 100° 95 bis 100°

6h 6h 4h 6h 4h 221

Wenn Heißlufterzeuger vorhanden sind, kann die Heißdampfentgiftung auch in behelfsmäßigen, wärmeisolierten großen Holzkammern durchgeführt werden. Auch Desinfektionskammern oder Industrietrockenanlagen können für diese Zwecke ausgenutzt werden. Zur Intensivierung der Entgiftung kann — wie gesagt — gleichzeitig mit der Heißluft Ammoniakgas eingeblasen oder im Heißluftgenerator hergestellt werden.

weise der Vergiftungsdichte ab. Im allgemeinen dringen chemische Kampfstoffe wie folgt in den Boden ein: fester Boden 1 bis 2 cm, weicher Boden (Ackerland) bis zu 5 cm, sehr lockerer Boden oder Schnee (frisch gepflügter Boden) bis zu 20 cm. Auf Straßen und festen Wegen ist die Eindringtiefe geringer. Bei der Entgiftung mit flüssigen Entgiftungsmitteln werden an Lösungsmitteln benötigt: Kampfstoffart

12.7 Die Entgiftung von Straßen, Wegen und Geländeabschnitten

Straßen, Wege und Geländeabschnitte werden entgiftet, indem — ähnlich wie bei der Entaktivierung — der Kampfstoff abgespült, abgewaschen oder die oberste Erdschicht abgehoben wird. Andererseits können auch Erde aufgeschüttet beziehungsweise Bretter, Matten oder Spurbahnen aufgelegt werden. Die letztgenannten Methoden isolieren allerdings die vergiftete Fläche nur. Im Winter werden Gassen durch vergiftete Abschnitte geschaffen, indem ganz einfach der Schnee beiseite geräumt wird. Wirksamere Entgiftungsmethoden bestehen darin, Entgiftungslösungen auf die vergifteten Abschnitte aufzusprühen oder die vergifteten Flächen mit festen oder angefeuchteten Entgiftungsstoffen zu bedecken. Um die vergifteten Flächen zu berieseln, können Entgiftungsfahrzeuge, Straßenreinigungsfahrzeuge, Tornisterentgiftungsgeräte und zur Not auch Gießkannen verwendet werden. Feste Entgiftungsstoffe (Chlorkalk) können mit Schaufeln aufgetragen werden. Die zur Entgiftung mit flüssigen Entgiftungslösungen notwendige Menge der Lösung hängt von der Oberflächenstruktur und dem betreffenden Kampfstoff beziehungs222

Entgiftungslösung

Chloraminlösungen (5 bis 10%) Natronlauge (5 bis 10%). . Ammoniakwasser (15 bis 20% bei Temperaturen unter — 5 °C)

flüssiges klebriges Yperit Yperit und Lewisit und Lewisit 2 l/m l/m 2

1,0

Tabun, Sarin, Soman l/m 2

1,5

1,0 1,0

Eine vollständige Entgiftung ist in vielen Fällen nicht möglich, weil diese Mengen nicht ausreichen, um den Boden genügend tief zu benetzen. Bei Beton- und Asphaltstraßen genügen diese Mengen jedoch, so daß man nach einer Einwirkungszeit von 30 bis 60 min die Abschnitte ohne Schutzstrümpfe betreten kann. Bei Yperit, Lewisit und mit Einschränkung auch bei Stickstoff-Yperit können Chlorkalk, Chlorkalkbrei oder entsprechende Emulsionen verwendet werden. Dabei ist zu beachten, daß die Entgiftungswirkung des Chlorkalks nur bis zu Temperaturen von 5 °C ausreichend ist. Bei tieferen Temperaturen können alle Kampfstoffe durch Lösungen von Sulfurylchlorid in Dichloräthan entgiftet werden (Mischungsverhältnis Volumenteile 1:1 bis 0,5:1). Trockener Chlorkalk läßt sich nur erfolgreich anwenden, 223

wenn die Bodenbewachsung nicht höher als 10 cm und die Windgeschwindigkeit beim Auftragen nicht größer als 5 m/s ist. Notwendige Mengen an Entgiftungsstoffen: Kampf Stoffart Entgiftungsstoff

trockener Chlorkalk Chlorkalkbrei. . . Chlorkalkemulsion Wege . Bewachsung bis 10 cm . . . . Sulfurylchlorid in Dichloräthan (bei Temperaturen unter 5 °C) . . .

flüssiges klebriges Yperit Yperit und Lewisit in Lewisit

0,4 bis 0,5 kp 1,01

0,8 bis 1,0 kp 1,51

1,01

StickstoffYperit

0,8 bis 1,0 kp 1,51

Tabun, Sarin, Soman —

1,51

1,51

1,51

1,51



2,01

2,01

1,01

1,51

1,01

1,5 bis 2,01

Ist es unbedingt notwendig, ein Gelände mit hoher Bewachsung zu entgiften, muß diese vorher abgehauen oder abgemäht werden. In der Nähe von Bomben- oder Granattrichtern ist die Vergiftungsdichte meist so hoch, daß Entgiftungsmittel über die Norm benötigt werden. Trichter und Kampfstoffpfützen müssen zuerst mit der zwei- bis dreifachen Menge von Entgiftungsmitteln bedeckt und danach mit Erde, Sand oder Kies zugeschüttet werden. Über entgifteten Geländeabschnitten liegen häufig auch noch nach der Entgiftung Kampfstoffdämpfe; diese Abschnitte können nur mit angelegten Schutzmasken 224

betreten werden. Ihre Freigabe ist erst nach gründlicher Untersuchung möglich. Gassen durch vergiftete Abschnitte können folgende Breiten haben: Gassen mit zweiseitigem Verkehr 2 Gassen von je 4 bis 5 m Breite im Abstand von 25 m Gassen für einseitigen Verkehr

4 bis 5 m Breite

Pfade

1 bis 2 m Breite

Die Entgiftung hat jeweils 25 m vor und hinter dem vergifteten Abschnitt zu beginnen. Die Gassen werden markiert und der Verkehr durch Posten geregelt.

13. Sicherheitsmaßnahmen bei der Entgiftung Um bei Entgiftungsarbeiten Unfälle zu vermeiden, sind die Sicherheitsmaßnahmen streng einzuhalten. Die wichtigsten von ihnen: s Bei allen Arbeiten mit chemischen Kampfstoffen Schutzmasken und Schutzbekleidung tragen! • Vor Arbeitsbeginn die Arbeit genau einteilen und jeden Teilnehmer mit seinen Aufgaben vertraut machen! • Bei der Arbeit unter Schutzanzügen folgende Zeiten nicht überschreiten, um den Körper nicht zu überhitzen : Temperatur °C 30° und mehr 25 bis 29° 20 bis 24° 15 bis 19°

Arbeitszeit 15 bis 20 Minuten bis 30 Minuten 40 bis 50 Minuten 1,5 bis 2 Stunden

Diese Arbeitszeiten nur bei gut trainierten Personen nötigenfalls auf das 1,5- bis 2fache erhöhen, und auch dann nur, wenn man diese ständig mit Wasser besprüht! Bei direkter Sonneneinwirkung gelten die oben angeführten Zeiten als Höchstwerte. Während der Arbeit in vergifteten Abschnitten: • nicht die Schutzmittel ablegen; • ständig auf den Zustand der Schutzmittel achten (mechanische Beschädigungen usw.); • vergiftete Gegenstände nur dann berühren, wenn es die Spezialarbeiten erfordern. 226

Um im Winter keine Erfrierungen zu bekommen, unter der Schutzbekleidung warme Fußlappen oder Socken tragen und die Gummistiefel mit Stroh oder Papier auslegen. Die Schutzhandschuhe über warme Handschuhe ziehen, Kopfschützer tragen. Für Leiter von Arbeitsgruppen: Alle Angehörigen beobachten und bei plötzlichen Schwäche- oder anderen Erscheinungen den Betreffenden von der Arbeit befreien und ihn dem nächstgelegenen Sanitätspunkt zuführen! • Bei längeren Arbeitszeiten Ruhepausen einplanen (nach einer Arbeitszeit von 30 min eine Pause von 5 bis 10 min und mehr; nach 2 h Arbeit jeweils 30 min)! Je nach Schwierigkeit der Arbeit außerdem Ruhe- und Essenpausen einlegen! • Wird ein vergifteter Abschnitt verlassen, die Schutzmittel zumindest behelfsmäßig entgiften und diese Reinigung überwachen! Wird in stark vergifteten Abschnitten gearbeitet, auch während der Arbeit ständig darauf achten, daß Kampfstoffspritzer von der Schutzmaske und von den anderen Schutzmitteln entfernt werden! Das ist notwendig, um ein Eindringen der Kampfstoffe in die Gummiteile zu verhindern oder abzuschwächen und die spätere Reinigung zu erleichtern. • Die Schutzmittel nur an den gekennzeichneten Stellen ablegen und sofort danach die sanitäre Behandlung durchführen!

Literaturverzeichnis Flury, F. u. Zernik, F.: Schädliche Gase, Verlag Julius Springer, Berlin 1931 Fries and West: Chemical Warfare, Mc. Graw Hill Book Comp., New York 1921 Hanslian, R.: Der chemische Krieg, Verlag Mittler & Sohn, Berlin 1927 Lohs, Kh.: Synthetische Gifte, Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung, Berlin 1958 Lohs, Kh.: Nachweisgeräte für giftige Gase, Dämpfe und Stauhe, Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung, Berlin 1960. Meyer, J.: Der Gaskampf und die chemischen Kampfstoffe, Verlag S. Hirzel, Leipzig 1926 Moeschlin, S.: Klinik und Therapie der Vergiftungen, G.Thieme Verlag, Stuttgart 1958 Muntsch, O.: Leitfaden der Pathologie und Therapie der Kampfstofferkrankungen, Verlag G. Thieme, Leipzig 1944 Noyes jr., W. A.: Science in World War II — Chemistry. An Atlantic Monthly Press Book, Little, Brown and Comp., Boston 1948 Sartori, M. F.: Die Chemie der Kampfstoffe, Verlag Fr. Vieweg und Sohn, Braunschweig 1940 Sartori, M. F.: Neue Entwicklungen in der Chemie der Kampfstoffe, Chemical Reviews Bd. 48 (1951), S. 225-257 Sax, N. J.: Handbook of Dangerous Materials, Reinhold Publishing Comp., New York 1951 Vedder: The Medical Aspects of Chemical Warfare, Verlag Milliams & Wilkins, Baltimore 1925 Handbuch des Unteroffiziers für die Schutzausbildung (DV 66/6), Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung, Berlin 1959

Inhaltsverzeichnis

1. 2. 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6 2.1.7 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5

Vorwort

5

Die Entwicklung der chemischen Kriegführung

9

Allgemeine Eigenschaften und Wirkung chemischer Kampfstoffe Physikalische Eigenschatten chemischer Kampfstoffe Schmelzpunkt Siedepunkt Dampfdruck Sättigungskonzentration Spezifisches Gewicht Dampfdichte Löslichkeit Chemische Eigenschaften der Kampfstoffe Hydrolysierbarkeit Verhalten gegen Entgiftungsmittel Analytische Reaktionen Physiologische Wirkungen chemischer Kampfstoffe Reizschwelle Erträglichkeitsgrenze Tödliche Dosis Tödliche Konzentration Tödlichkeitsprodukt

38 38 38 40 42 44 48 46 47 49 49 51 52 53 54 58 57 58 59

3. 3.1 3.2 3.3 3.4

Klassifizierung chemischer Kampfstoffe 61 Flüchtige Kampfstoffe 61 Seßhafte Kampfstoffe 62 Aerosole 62 Klassifizierung nach physiologischen Gesichtspunkten 63

4. 4.1

Augenreizstoffe Bromazeton

64 64

4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 4.9 4.10

Brommethyläthylketon Bromessigester Xylylbromid Phenylkarbylaminchlorid Chlorazeton Chlorazetophenon Brombenzylzyanid Schutzmaßnahmen gegen Augenreizstoffe Erste Hüte bei Verletzungen durch Augenreizstoffe

67 68 70 71 72 73 77 80

5.

Nasen-Rachcnreizstoffc

82

5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7

Diphenylarsinchlorid Diphenylarsinzyanid Adamsit Methylarsindichlorid Äthylarsindichlorid Phenylarsindichlorid Schutzmaßnahmen gegen Nasen-Rachenreizstoffe Erste Hilfe bei Verletzungen durch Nasen- und Rachenreizstoffe

85 89 92 95 97 99

5.8 6. 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 7. 7.1 7.2 7.3

80

7.4 7.5

8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6 8.7 8.8 8.9

Phosgcnoxim 139 Schutzmaßnahmen gegen hautschädigende Kampfstoffe '. 140 Erste Hilfe bei Vergiftungen durch hautschädigende Kampfstoffe 141 Nervenschädigende Kampfstoffe Blausäure Chlorzyan Bromzyan Tabun DFP Sarin Soman Schutzmaßnahmen gegen nervenschädigende Kampfstoffe Erste Hilfe bei Vergiftungen durch nervenschädigende Kampfstoffe

144 148 154 156 157 161 163 165 167 169

101

9.

Sonstige militärisch bedeutsame Gifte

171

101

9.1 9.2 9.3

Kohlenmonoxyd Arsenwasserstoff Bleitetraäthyl

171 173 174

Lungenschädigende Kampfstoffe Chlor Chlorpikrin Phosgen Diphosgen Schwfelpentafluorid Schutzmaßnahmen gegen lungenschädigende Kampfstoffe Erste Hilfe bei Verletzungen durch lungenschädigende Kampfstoffe ,

103 105 107 109 114 117

Hautschädigende Kampfstoffe Yperit. Stickstoff-Yperit Lewisit

119 121 132 136

117 118

10.

10.1 10.1.1 10.1.2 10.2 10.3 10.4 11.

Anwendungsmöglichkeiten chemischer Kampfstoffe 175 Anwendungsmöglichkeiten durch die Luftstreitkräfte 177 Chemische Bomben 179 Flugzeugabsprühgeräte 182 Anwendungsmöglichkeiten der Artillerie und der Werfer 184 Fahrzeuge und Geräte zur Geländevergiftung .. 192 Mittel zum Ablassen gasförmiger Kampfstoffmischungen und Giftrauch 195 Entgiftungs- und Lösungsmittel — Methoden zur Entgiftung chemischer Kampfstoffe 200

11.1 11.1.1 11.1.2 11.1.3 11.1.4

Die Entgiftung chemischer Kampfstoffe Aktivchlorhaltige Entgiftungsmittel Alkalische Entgiftungsmittel Oxydierende Entgiftungsmittel Lösungsmittel

12.

Die Entgiftung von Holz-, Metall- sowie anderen Oberflächen und Geräten 211

12.1 12.2 12.3 12.4 12.5 12.6 12.7

Rohe Holzoberflächen Lackierte Holzoberflächen Metalloberflächen Gummi- und Plastoberflächen Glas- und Keramikoberflächen Die Entgiftung der Bekleidung Die Entgiltung von Straßen, Wegen und Geländeabschnitten

13.

200 201 207 209 209

211 213 215 219 220 220 222

Sicherheitsmaßnahmen bei der Entgiftung 226

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