0.1 Realit¨ at im Betrieb, Kontrolle und Grenzen Das geschah auf einer Betriebsversammlung eines großen Automobilwerkes im RheinNeckar-Gebiet: Ein Arbeiter kritisiert die Direktion. Er hat allen Grund dazu. Analytische Arbeitsplatzbewertung, vor allem die Arbeitswerteinstufungen, bringen Konflikte hervor. Auf dem R¨ ucken der Arbeiter wird rationalisiert. Zeitaufnahmen werden ohne Anwesenheit der Betriebsr¨ ate durchgef¨ uhrt. Eine viertelst¨ undige Badezeit soll nicht mehr gew¨ahrt werden, und im Zuge der Arbeitszeitverk¨ urzung will die Unternehmensleitung eine unbezahlte Fr¨ uhst¨ uckspause einf¨ uhren. Vor diesem Hintergrund sagt der Kollege seine kritischen Worte an die Adresse der Herren. Er dr¨ uckt sich bildhaft aus: Der Firmen Stern ist nicht mehr der gute Stern auf ” allen Straßen, sondern nur noch eine Funzel.“ 5000 Arbeiter und Angestellte lachen, klatschen Beifall. Der Kollege hat das ausgesprochen, was die meisten von ihnen denken oder f¨ uhlen. Die selbstverst¨andlichste Sache der Welt; es existiert doch das Recht auf freie Meinungs¨außerung, eines der elementarsten demokratischen Rechte . . . In der Spitze der Direktion hat man eine andere Meinung von Demokratie. Der Kollege wird zur Werksleitung zitiert. Ob ihm bewußt sei, was er mit seinem Ausspruch auf der Betriebsversammlung angerichtet habe? Er habe das Ansehen der Firma herabgesetzt. Ob er wisse, mit welcher Strafe gesch¨aftssch¨adigendes Verhalten geahndet werde? Mit ” K¨ undigung und Entlassung!“ Der Arbeiter macht das einzig Richtige, er geht zum Betriebsrat. Er berichtet von der Drohung der Gesch¨ aftsleitung. Ich soll meinen Ausdruck von der Funzel zur¨ ucknehmen, ” oder ich werde entlassen.“ Der Betriebsrat schaltet sich ein. Er f¨ uhrt Gespr¨ache mit der Direktion. Er kann die Entlassung verhindern. Nicht verhindern kann er, daß der Kollege gezwungen wird, schriftlich seinen Ausspruch zur¨ uckzunehmen. Und nicht verhindern kann er, daß der Kollege trotz seiner Entschuldigung von der Direktion verwarnt wird mit Eintrag in die Personalakte. Das wurde in einem Arbeitsgerichtsprozeß in Emden bekannt: Eine Arbeiterin wird entlassen, weil sie f¨ ur die Abteilung eines Autowerks eine bessere Entl¨ uftung fordert und als auf wiederholt vorgetragene Bitten die Direktion sich nicht r¨ uhrt - gemeinsam mit ihren Kolleginnen ¨ außert: Wenn sich u ußte man mal ¨berhaupt nichts ¨andert, dann m¨ ” die Arbeit f¨ ur eine Stunde niederlegen oder weniger arbeiten.“ Das sind laut ausgesprochene Gedanken. Die Arbeiterinnen streiken nicht. Sie erw¨agen schließlich eine Unterschriftensammlung, um ihrer Forderung nach besserer Entl¨ uftung Nachdruck zu geben. Aber das Wetter wird k¨ uhler, das Problem nicht mehr so dr¨angend, drei Wochen lang wird u uber gesprochen - bis eines Tages die ¨berhaupt nicht mehr dar¨ Arbeiterin zur Werksleitung zitiert wird. Nach einem Kreuzverh¨or wird sie fristlos entlassen: Durch Ihr Verhalten haben Sie sich der St¨orung des Betriebsfriedens schuldig ” gemacht, und das m¨ ussen wir mit der fristlosen K¨ undigung ahnden.“ Zwei krasse F¨ alle kapitalistischer Despotie? Eklatante Verst¨oße gegen das Grundrecht der freien Meinungs¨ außerung und gegen das Streikrecht? Krasse F¨ alle? Nein. Die Unternehmer benutzen Gesetze und Paragraphen in ihrem Sinne. Verst¨oße gegen demokratische Grundrechte? Ja. Solche F¨alle geschehen dutzendfach in
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Betrieben und Unternehmungen der Bundesrepublik. Hunderte Arbeiter und Angestellte geraten t¨ aglich in Konflikt mit den Herrschenden in der Wirtschaft. Ein andauernder Kleinkrieg ist im Gange, in dessen Verlauf wiederum Hunderte Arbeiter und Angestellte Opfer sind, als Entlassene auf die Straße fliegen, oder, was tausendmal h¨aufiger geschieht, schwere Verletzungen ihrer Menschenw¨ urde hinnehmen m¨ ussen.
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