Luhmann, Niklas - Anfang Und Ende

  • May 2020
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Niklas Luhmann

Anfang und Ende: Probleme einer Unterscheidung In: Luhmann, Niklas / Schorr, Karl Eberhard (Hrsg.): Zwischen Anfang und Ende. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt a.M. 1990 (Suhrkamp) 11

I Unterscheidungen verstehen sich nicht von selbst. Sie müssen gemacht werden. Das heißt auch: sie können gewählt werden. Man macht die eine oder die andere Unterscheidung, um etwas bezeichnen zu können. Jede Bezeichnung setzt eine Unterscheidung voraus – auch dann, wenn das, wovon sie etwas unterscheidet, gänzlich unbestimmt bleibt. Sagt man Sokrates, so meint man Sokrates und niemanden sonst. In diesem Falle fällt das, wovon das Bezeichnete unterschieden wird, mit dem zusammen, wovon die Unterscheidung selbst unterschieden wird. In anderen Fällen kommt diese Unterscheidung der Unterscheidung hinzu. Zum Beispiel wird etwas als groß bezeichnet, um es von Kleinem zu unterscheiden, nicht dagegen von etwas Leisem (laut/leise) und oder etwas Langsamem (schnell/langsam). Ungeachtet dieses Unterschiedes von unterscheidenden Unterscheidungen und nichtunterscheidenden Unterscheidungen, den wir hier nicht weiter verfolgen wollen1, kommt eine Unterscheidung nur vor, wenn sie gemacht wird. Wenn sie nicht gemacht wird, wird sie nicht gemacht. Sie ist nur eine Operation, hat also einen über Zeit vermittelten Bezug zur Faktizität. Sie realisiert sich selber, allerdings nur für einen Moment, und sie muß sich dann am Bezeichneten ihrer Kontinuierbarkeit und ihrer Wiederholbarkeit versichern, um sich zu de-arbitrarisieren. Wir wollen eine Operation, die etwas unterscheidet, um es zu bezeichnen, Beobachtung nennen. Ohne Unterscheidungen sind Beobachtungen nicht möglich. Mit Unterscheidungen geraten sie ----------------------------Und zwar: um den Paradoxieverdacht zu vermeiden, der aufkommen könnte, wenn man fragt, ob dieser Unterschied selbst eine unterscheidende oder eine nichtunterscheidende Unterscheidung ist. »Unterschied« (in Unterscheidung von »Unterscheidung«) dient uns mithin als Paradoxieabwehrbegriff. Natürlich nur: im Moment. 1

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unter die Bedingungen der Zeit, das heißt: in den Bann der Frage, ob eine De-arbitrarisierung gelingt oder nicht. Wenn sie gelingt, nimmt man an, daß die Operation der Beobachtung weltadäquat läuft. Wenn sie gelingt, nimmt man außerdem an, daß das Problem der Paradoxie geschickt vermieden ist. Sehr zu Unrecht, wie eine genauere Analyse immer wieder zeigen kann. Somit gilt qua Definition: ohne Beobachtung keine Unterscheidung. Das heißt dann zugleich: der Beobachter selbst ist die erste Unterscheidung2. Aber: wie ist er das? Will man ihn unterscheiden, erfordert das eine weitere Beobachtung – sei es die eines anderen Beobachters, sei es die desselben Beobachters zu einem späteren Zeitpunkt. Daraus folgt, daß Beobachtungen nur in einem Netzwerk von sozialer und zeitlicher Ausdehnung möglich sind, in dem es zu rekursiven Beobachtungsverhältnissen kommen kann. In einem solchen Netzwerk ist dann jede Beobachtung die erste Beobachtung, sofern sie als solche beobachtet wird. Und es gibt keinen Anfang und kein Ende des Beobachtens, sofern nicht das Beobachten schon angefangen und noch nicht aufgehört hat. Der Begriff des Beobachtens zwingt mithin dazu, Beobachtungsverhältnisse zweiter Ordnung, also ein Beobachten von Beobachtungen – zu beobachten. Damit ist noch nicht geklärt, was beobachtet wird, wenn Beobachtungen beobachtet werden. Da Beobachten Unterscheiden ist, kann es nur darum gehen zu beobachten, mit Hilfe welcher Unterscheidungen ein Beobachter beobachtet. Jede Unterscheidung ist mithin Unterscheidung eines Beobachters, der hinreichend ausgerüstet ist, um sie zu machen3. Jede Unterscheidung ist also konditionierte Willkür.4 Auch wenn jemand Sein/Nicht-------------------------2 So, in Anwendung der »Laws of Form« von George Spencer Brown (2. Aufl. London 1971), Fritz B. Simon, Unterschiede, die Unterschiede machen: Klinische Epistemologie: Grundlage einer systemischen Psychiatrie und Psychosomatik, Berlin 1988, S. 44. 3 Wir lassen in dieser Abstraktionslage ganz offen, ob es sich um einen Menschen oder um eine Maschine, ein Gehirn, ein Bewußtsein oder ein Kommunikationssystem handelt. Das sind bereits Unterschiede der Ausrüstung des Beobachters. 4 Ein offener (und erläuterungsbedürftiger) Widerspruch zur kantischen Begriffsbildung. Für Kant war Willkür gerade bestimmt durch das Fehlen empirischer Bedingtheiten, und der Sinn dieses Begriffs lag in seiner Unterscheidung vom positiven (aber ebenfalls: empirisch unbe-

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sein oder Gegenstand und Erkenntnis oder wahr/nichtwahr unterscheidet, kann man noch fragen: warum gerade so und nicht anders. Fragt man nach den Konditionierungen des Beobachters, dann beobachtet man den Beobachter, dann beobachtet man beobachtende Systeme5. Als immer schon konditionierte Operation kann sich keine Beobachtung der Beobachtung entziehen. Es gibt kein Entrinnen. Es gibt keinen unbeobachtbaren, keinen extramundanen Standort für Beobachter. Oder anders gesagt: die Theorie der Beobachtung beobachtender Systeme ist eine auf sich selbst an- wendbare Universaltheorie. II Ohne die erkenntnistheoretischen Implikationen dieser Darstellung hier weiter zu verfolgen, nehmen wir uns nunmehr eine bestimmte Unterscheidung vor, nämlich die von Anfang und Ende. Das Wichtigste ist bereits gesagt. Auch diese Unterscheidung kommt nur vor, wenn sie vorkommt. Es gibt also keinen Anfang und kein Ende als Tatsachen, die man unabhängig von einem Beobachter feststellen könnte (schon deshalb nicht, weil es ja auch gar keinen unabhängigen Beobachter gibt6). Wenn man einen Anfang oder ein Ende feststellen will, muß man also das System, das anfängt, beobachten. Und wenn man feststellen will, wie es möglich ist, Anfang und Ende zu beobachten, muß man ----------------------------------------------------dingten) freien Willen. Diese Begrifflichkeit war aber nur mit Hilfe der Unterscheidung empirisch/transzendental formulierbar, während Systemtheorie und Kybernetik der Beobachtungsverhältnisse (second order cybernetics) gerade leugnen, daß es empirisch Unkonditioniertes überhaupt geben kann. Ein Begriff wie Willkür wird dann zum Hinweis, daß daraufhin der Beobachter beobachtet werden muß. 5 Siehe die Forschungen, die sich heute als Neokybernetik oder als Kybernetik zweiter Ordnung bezeichnen; vor allem Heinz von Foerster, Observing Systems, Seaside Cal. 1981. Dt. Übersetzung (Auswahl), Sicht und Einsicht: Versuche einer operativen Erkenntnistheorie, Braunschweig 1985. 6 Ohnehin weiß man ja spätestens seit den Antinomien der reinen Vernunft (erste Antinomie), daß dies, auf die Welt angewandt, zu einem empirisch unauflösbaren Widerspruch und dadurch zum transzendentalen Idealismus führen würde.

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einen Beobachter beobachten. Das Anfangen selbst kann nur anfangen7. Die Frage, was beobachtet wird, wenn ein Anfang bzw. ein Ende beobachtet wird, läßt sich leicht beantworten. Es handelt sich immer um das Wirksamwerden bzw. Unwirksamwerden von Beschränkungen, und zwar in beiden Fällen: mit noch nicht feststehenden Konsequenzen, so daß der Beobachter auf weiteres Beobachten verwiesen wird. Das führt aber nur auf zwei weitere Fragen. Die erste lautet: wie ein Beobachter beobachtet, wenn er Anfang und/oder Ende beobachtet 8. Die zweite lautet: wer beobachtet? Oder anders gefragt: wer sieht einen Anfang bzw. ein Ende in bestimmten Ereignissen und wer vielleicht nicht? Die Klärung der »Wie-Frage« ist Voraussetzung für die Klärung der »Wer-Frage«. Wir müssen daher zunächst klären, wie man beobachtet, wenn man einen Anfang oder ein Ende beobachtet. Hier gilt es vor allem, einen wichtigen Punkt zu beobachten. Da es sich um eine Unterscheidung handelt, gibt es keinen Anfang ohne Ende und kein Ende ohne Anfang (so wie es auch nichts Großes ohne Kleines, nichts Heißes ohne Kaltes gibt). Gewiß kann man, wenn man nur die eine Seite der Unterscheidung be- zeichnen will, die andere im Unbestimmten lassen, also zum Beispiel offenlassen, wann und wie das aufhört, was angefangen hat. Die Unterscheidung erreicht ihr Ziel in der Bezeichnung der einen oder der anderen Seite, und unterscheidungspragmatisch kann man sich oft damit begnügen. Nur kann man die Frage nach dem Ende nicht mehr eliminieren, wenn man meint, einen Anfang feststellen zu können; und das gleiche gilt, in Umkehrung, für das Ende. Wer von Anfang spricht und bestreitet, daß das --------------------------------------7 Auch das französische Sprichwort hält dies fest: il faut commencer par le commencement. Dazu Hans Robert Jauß, »Il faut commencer par le commencement!«, in: Reinhart Herzog/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Poetik und Hermeneutik, Bd. XII, München 1987, S. 562-570. 8 Zur Klarstellung des »und/oder«. Man muß von »und« sprechen, wenn man die Komponente Unterscheidung meint, dagegen von »oder«, wenn man die Komponente Bezeichnung meint. Da beides unentbehrliche Bestandteile der Operation Beobachtung sind, kann die Operation als Einheit nur mit dieser Doppelterminologie bezeichnet werden. Wir werden diese Umständlichkeit im folgenden jedoch nur beachten, wenn es auf diesen Grad der Genauigkeit ankommt.

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Angefangene ein Ende haben könne, ist in eine falsche Terminologie geraten 9. Die alteuropäische Tradition (und noch Rousseau) hatte dies zu der Regel verdichtet: si qua finiri non possunt, extra sapientiam sunt: sapientia rerum terminos novit10. Wer etwas beginnt, ohne ein Ende abzusehen, handelt unklug. Ebenso ist aber auch das, was angefangen hat, erst feststellbar, wenn es am Ende angekommen ist. Dieser Sachverhalt wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, daß es sich bei »Anfang und Ende« um eine Unterscheidung zweiter Stufe handelt, nämlich um eine Unterscheidung, die eine andere Unterscheidung voraussetzt, und zwar die von »Vorher und Nachher«. Die Unterscheidung »Anfang und Ende« setzt ein zweimaliges »Vorher und Nachher« voraus, nämlich am Anfang und am Ende. Verdeutlichen wir uns dies an Hand einer Skizze:

Anfang -------------------------------------------------------- Ende Vorher/Nachher

Vorher/Nachher

Die Unterscheidung Vorher/Nachher ist viel breiter und anspruchsloser verwendbar, vor allem in der historischen Forschung: Europa vor und nach der Erfindung des Buchdrucks, vor und nach der Syphilis, vor und nach der Einführung der Kartoffel, vor und nach der Erfindung der Artillerie etc. Will man je- doch feststellen, daß etwas und was etwa damit »angefangen« hat, kommt man um die Frage nach dem Ende nicht mehr herum. Dann definiert man eine Periode, etwa die Neuzeit, die dann solange dauert, bis der Buchdruck (etwa durch Computerzugang) ersetzt wird, bis die Syphilis medizinisch kontrollierbar ist etc. Will man sich auf eine solche Ende-Bestimmung nicht einlassen, -------9 Natürlich kann man für eine normative bzw. evaluative Terminologie optieren und sagen, mit Freiheit, Demokratie, Frieden, Erziehung etc. habe es zwar angefangen, solle es aber nie zu Ende sein. Aber gerade dann ist, da eine solche Terminologie nur einen kontrafaktischen Sinn hat, interessant, genauer zu klären, unter welchen Umständen es dann damit zu Ende wäre – und sei es nur, um sich rechtzeitig auf ein Vermeiden des Endes vorbereiten zu können. 10 Seneca Epistula 94,16 zit. nach Philosophische Schriften, Bd. 4, 2. Aufl., Darmstadt 1987, S.424

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sollte man auch die Bestimmung eines Anfangs vermeiden. Es genügt dann die einfache Vorher/Nachher-Unterscheidung. Die Aggregation zweier Vorher/Nachher-Unterscheidungen durch die Anfang/Ende-Unterscheidung bringt also einen Sinnzuwachs, der dem einfachen Ereignis, das das Vorher vom Nachher trennt, als eine anspruchsvollere Sinngebung aufgedrängt wird. Das muß man als Konditionierung des Unterscheidens akzeptieren – mit dem Trost, daß man ja gar nicht so unterscheiden muß, sondern man sich mit der einfacher gebauten Beobachtung von Vorher und Nachher ins Getümmel begeben kann. Die Unterscheidung Anfang/Ende schränkt mithin die Freiheits- grade ein, mit denen die Vorher/Nachher-Unterscheidungen gehandhabt werden. Sie wählt aus der Menge der möglichen Anwendungen der Unterscheidung von »Vorher und Nachher« einige wenige aus, die sich zur Markierung von Anfängen bzw. Enden eignen. Man kann dies als Reduktion von Komplexität zum Aufbau von Komplexität bezeichnen oder auch als Herstellung von Indifferenz für das Viele zur Ermöglichung der Beobachtung des Besonderen (Abkopplung). Das kann, muß aber nicht bedeuten, daß die Verbindung von Anfang und Ende über kanalisierte Kausalitäten, also gleichsam technologisch, gesichert sein muß. Es genügt die Markierung selbst, um den Beobachtungsprozeß zu steuern; und jedenfalls wird es unter hochkomplexen Bedingungen zunehmend unwahrscheinlich, daß jemand ausgerechnet den Anfang als Ursache für das Ende in Anspruch nimmt. Neben dieser technologischen Falle ist auch die Sinnfalle zu vermeiden. Man darf nicht davon ausgehen, wozu zum Beispiel die Unterscheidung von Materie und Geist (Geist immer oben!) verführen könnte, daß die höherstufige Unterscheidung höheren Sinn hat oder sogar im Sinne eines Emergenzkonzeptes Sinn erst produziert. Gewiß, es gibt Sinn, der erst durch solche Aggregationen ermöglicht wird, aber auch dann wäre es unzutreffend, Sinn ebenenspezifisch zu lokalisieren, ihn gewissermaßen materiell dem Geiste zuzurechnen. Sinn ist Selektion, und der Sinn der Unterscheidung von Anfang und Ende ist daher immer mitbe- dingt durch das, wovon und woraufhin selegiert wird. Auch die Indifferenz gegen zahllose andere Verwendungen der Unterscheidung von »Vorher und Nachher« gehört mit zum Sinn der Unterscheidung von »Anfang und Ende«.

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Die Unterscheidung von Vorher und Nachher dient der Definition eines Ereignisses. Die Unterscheidung von Anfang und Ende dient der Definition einer Periode. Die Unterscheidung Vorher/Nachher ist daher viel einfacher zu handhaben. Sie kommt am Ereignis zur Evidenz. Man geht als Schüler ins Klassenzimmer und ist dann unter der Aufsicht des Lehrers (und eventuell kann man sich trösten: nur für eine Stunde). Die Unterscheidung von Anfang und Ende ist nie in dieser Weise evident. Daher ist hier auch die Wahrscheinlichkeit größer, daß verschiedene Beobachter Verschiedenes sehen, und zwar auch und gerade dann, wenn sie alle die Unterscheidung Anfang und Ende anwenden. Soll hier dann Konvergenz des Beobachtens und eventuell Konvergenz des Folgehandelns gesichert werden, ist man in höherem Maße auf Standardisierungen angewiesen, etwa auf die Uhr oder auf den Kalender oder auch auf organisierten Vollzug der Operationen. Aber was bedeutet das für den »Sinnzuwachs«, wenn derart technische Bedingungen eingesetzt werden müssen? Wenn Erzieher nicht aufhören können zu erziehen, so deshalb, weil sie nie autorisiert waren zu beginnen. (Dasselbe gilt für Exegeten, Interpreten, Hermeneuten jeder Art.) Sie können keine Perfektion erkennen, die Gesellschaft läßt das nicht mehr zu. Sie müssen daher sich externen Zeichen fügen, sie müssen sich beobachten lassen – und im Zweifel: durch Organisation.

III. Diese Überlegungen führen bereits auf unsere zweite Frage: auf die Frage, wer beobachtet. Bei alltäglichen, wahrnehmungsnahen Beobachtungen kann man sie oft vernachlässigen, wenn man nicht als Therapeut oder Kriminalist unter besonderen Ansprüchen operiert, also als Beobachter des Beobachters besonders gefordert ist. Wenn nicht, dann verläßt man sich auf hinreichende Gleichsinnigkeit. Bei aggregierenden Unterscheidungen wird das mehr und mehr anders, und das Interesse muß sich dann von der Frage, was beobachtet wird, auf die Frage, wie beobachtet wird und wer beobachtet, verlagern. Das ist unter komplexen gesellschaftsstrukturellen Bedingungen mehr und mehr der Fall, und die Kybernetik zweiter Ordnung wird genau deshalb entwickelt, damit auch dafür hinreichende Beobachtungskompetenzen zur

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Verfügung stehen (ein Argument der Beobachtung dritter Ordnung). Nimmt man Anfang und Ende in einem absoluten Sinne, kommt nur Gott als Beobachter ohne eigenen Anfang und ohne eigenes Ende in Betracht. Adam jedenfalls nicht.11 Das hatte, wie andere Fälle von Extrempositionen des Kleinsten und Größten, des Äußersten und Innersten, des Schnellsten und Langsamsten, Nikolaus von Kues zur These einer coincidentia oppositorum geführt. In Gott ist nichts unterschieden, also auch Anfang und Ende Dasselbe, und der Eindruck, daß es den Unterschied von Anfang und Ende gebe, kommt nur durch »contractio « der Welt auf bestimmte Bewegungen zustande. Nur das Beobachten der Menschen ist an derartige Unterscheidungen gebunden, während Gott ante omniam differentiam existiert. Diese Auflösung des Problems (wie aller Unterscheidungen) in einer die Einheit aller Unterscheidungen garantierenden Gotteslehre ist die vielleicht eindrucksvollste Lösung unseres Problems. Sie bleibt aber gebunden an die Festigung der »docta ignorantia« durch den Glauben an Gott. Dem weicht die Systemtheorie mit dem Postulat eines rekursiven Beobachtens von Beobachtern aus.12 Die Beobachtung des Beobachters kann sich dann an die für diesen typischen bzw. individuell bezeichnenden Konditionierungen halten. Diese kann man auf sehr verschiedene Weise sortieren, etwa in der Manier des 19. Jahrhunderts nach (1) Zeitgeist, (2) soziale Klasse und (3) psychologisch. Die Möglichkeiten des Unterscheidens nehmen zu, nicht ab, wenn man im Bereich der Kybernetik zweiter Ordnung operiert. Hier soll nur eine einzige dieser Möglichkeiten explizit erörtert werden, die Unterscheidung von Fremdbeobachtung und Selbstbeobachtung. ----11 »For man to tell how human life began / is hard; for who himself beginning knew«, meint Adam in Miltons Paradise Lost – zit. nach Sir Henry Newbolt (Hrsg.), Poems of John Milton, London: Nelson o.J. (1924), S. 177 f. 12 Theorietechnisch heißt dies, daß nur noch von möglichen Unterscheidungen (verschiedener Beobachter) gesprochen wird und die für den Cusaner wichtige Unterscheidung zwischen Ununterschiedenheit und der Unterschiedenheit mehrerer Unterscheidungen aufgegeben wird. Oder anders gesagt: Mögliche Unterscheidungen genügen und brauchen nicht in einer wirklichen Einheit rückversichert zu werden.

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Normalerweise denkt man bei Beobachtung an Fremdbeobachtung, und besonders das Anfangen und Beenden scheint einen Beobachter zu erfordern, der gleichzeitig mit dem Anfangen bzw. Beenden in Operation ist und bleibt, also kontinuiert. Eben deshalb ist bei dieser Unterscheidung die Möglichkeit der Selbstbeobachtung ein Problem, das besondere Aufmerksamkeit verdient. Wie kann ein System seinen Anfang und sein Ende beobachten? Und vor allem: wie kann es das Anfangen und Beenden seines Beobachtens, also seines Unterscheidens beobachten, wenn der Anfang schon selbst eine Unterscheidung ist und das Ende noch eine Unterscheidung erfordert? Natürlich kann ein System sein eigenes Anfangen und Enden nicht im Moment des Anfangens und Endens beobachten, sondern nur zwischendrin. Der Anfang kann nur im nachhinein erzählt werden, und die Erzählung wird auf die Folgen des Angefangenhabens reagieren. Am Anfang war das Wort. Oder am Anfang war der Mord, wenn man Rene Girard glauben will. 13 Erst nach dem Anfang bildet sich eine Mythologie, die erzählt, wie es angefangen hat und sich dabei bestimmen läßt durch die Probleme, die sich aus dem Anfang bereits ergeben haben. Die Mythologie hängt von den Problemen ab, die nachher zu bewältigen oder zu verdecken waren; so zum Beispiel von Unsicherheiten, die sich daraus ergeben, daß man nach dem Anfang zwar weiß, daß, aber nicht wie es zu Ende gehen wird. Das System beobachtet mithin sein Schonangefangenhaben und sein Aufhörenkönnen. Immer ist dabei schon etwas nicht mehr zu ändern anderes aber zu beschleunigen oder noch zu verhindern. Um die eigene Beobachtung im Hinblick auf ihr Anfangen oder Enden erfassen zu können, bedarf es im übrigen des Umwegs über einen externen Beobachter, der die Einheit des Vorher/Nachher am Anfang bzw. am Ende garantieren kann. Man könnte auch sagen: die Selbstbeobachtung des Anfangens und Endens läuft auf eine Paradoxie hinaus14, und die Externalisierung, also die Abwälzung des Problems auf einen externen Beobachter, dient der Entpara----

13 Le bouc émissaire, Paris 1982. 14 Siehe dazu für ähnliche Grenzfälle dieser Art auf Grund der Spencer Brownschen Logik Ranulph Glanville/Francisco Varela, »Your Inside is Out und Your Outside is In (Beatles 1968)«, in: George Lasker (Hrsg.), Applied Systems and Cybernetics, Bd. II, New York 1981, S. 638-641; Ranulph Glanville, »Distinguished and Exact Lies«, in:

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doxierung der Selbstbeobachtung. Das ändert aber nicht das geringste daran, daß nur geschieht, was geschieht, und kein System außerhalb seiner Grenzen oder vor seinem Anfang oder nach seinem Ende operieren kann. Ein System kann also nur so verfahren, daß es sich so beobachtet, als ob es von außen wäre. Und hierfür braucht man einen technischen Behelf, etwa die Uhr oder den Kalender. Verfügt man über diese Behelfe, gewinnen Anfang und Ende eine gewisse Unbestreitbarkeit – so wie die registrierte Stunde der Geburt und, wie anzunehmen, auch des Todes. Im übrigen ist gerade die Freiheit der Thematisierung von Anfang und Ende aus der Mitte heraus bemerkenswert. Man kann sich nach den Um- ständen richten – wenn man zum Beispiel sagen möchte, wann eine Liebesbeziehung angefangen und wann sie aufgehört hat15, oder wann eine Revolution angefangen und wann sie aufzuhören hat.

IV. Das, was der Unterscheidung von Anfang und Ende ihre Einheit verleiht, kann in zeitlicher Hinsicht auch als Periode bezeichnet werden. Je nachdem, was man als Periode bezeichnen will, regulieren sich Anfang und Ende. Damit ist nicht gesagt, daß man Beliebiges kombinieren könnte; sondern wiederum nur: daß man den Beobachter beobachten muß, wenn man etwas über die Konditionierungen erfahren will, auf Grund deren er so und nicht anders unterscheidet. Auch die Ansprüche an die Interdependenzverdichtung in der Periode können variiert werden. Will man zum Beispiel technologischen Ansprüchen genügen, müssen Sonderbedingungen erfüllt ---Robert Trappl (Hrsg.), Cybernetics and Systems Research 2, New York 1984, S. 655-662 15 Wer sagt das, und vor allem: wer sagt das dem anderen, ist eines der großen Themen der Liebessemantik gewesen. Deswegen die Tendenz zum Zuvorkommen im Anfangen und der Mythos der »Liebe auf dem ersten Blick« und deswegen das schwierige Taktieren beim Abkühlen der Beziehung. Wohlgemerkt: jeder Teilnehmer ist für sich selbst ein ausreichend überzeugungskräftiger Beobachter. Die Frage ist, wie das Kommunikationssystem Liebe sein eigenes Anfangen und Enden beobachten, das heißt: wie es darüber kommunizieren kann.

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werden. Technologie ist nichts anderes als die Beobachtung der Verhältnisse mit Hilfe von »heil und kaputt« im Hinblick auf Reparatur oder Ersatz.16 Dazu sind erhebliche Reduktionen erforderlich. Zum Beispiel müssen Strukturen und sonstige Konditionierungen gegen Rückwirkungen aus dem Verlauf der Operationen abgesichert werden – zumindest so weit, daß der Rest dann als Panne oder als Verschleiß definiert werden kann. Dem entspricht eine relativ deutliche Abgrenzung nach vorne und nach hinten, die technologische Prozesse vor anderen auszeichnet. Wohlgemerkt: es handelt sich nicht um einen besonderen Sachverhalt in der Realität (etwa um eine besondere Typik von vorfindbarer Kausalität), sondern um eine Beobachtung bzw. Beschreibung, die den Vorteil mit sich bringt, Einsatzentscheidungen zu erleichtern. Es ist leichter anzufangen, wenn man weiß, wie es läuft, wie man erkennen kann, wenn Fehler gemacht werden oder etwas kaputt geht, und wie man sich dann helfen kann. Oft nennt man solche Prozesse auch teleologisch, zielgerichtet, zweckorientiert. Dabei kann es bleiben, wenn man unter telos/Ziel/Zweck strikt das in Aussicht genommene Ende versteht. Aber der Technologiebegriff gibt noch zusätzliche Informationen über die Art, wie solche Perioden zustande kommen und wo- durch sie gegen andere Beobachtungen und Beschreibungen derselben Welt differenziert sind. Welche historischen und gesellschaftsstrukturellen Gründe auch immer dazu geführt haben: anscheinend korreliert der steigende Bedarf für eine technologische Weltbetrachtung mit Periodenhaftigkeit der Prozesse und mit Projekten als Organisationsform. Die Abstraktion, die das Beobachtungsschema der Technologie erzwingt, ist nur auf Zeit akzeptabel. Auf lange Zeit läßt sich die Rückwirkungsimmunisierung (Norbert Bischof) der Konditionierungen ohnehin nicht aufrechterhalten. Hier gilt ein neuer, auf Zeit bezogener kategorischer Imperativ: Wer anfangen will, muß auch aufhören können. Die Unterscheidung von Anfang und Ende muß auf jeden Fall limitieren, gleichgültig ob das Ziel er- reicht ist oder nicht. Die Periode ist auch dann zu Ende, wenn die --16 Ein modifizierter Technologiebegriff könnte auf fehlerfrei/fehlerhaft abstellen im Hinblick auf Lernen. Vgl. dazu den Einleitungsaufsatz in: Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr (Hrsg.), Zwischen Technologie und Selbstreferenz: Fragen an die Pädagogik, Frankfurt am Main 1982

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Unerreichbarkeit des Zieles feststeht, wenn die Reparatur sich nicht mehr lohnt, wenn eine Ersatzbeschaffung nicht mehr möglich ist oder wenn allzu gravierende Fehler passiert sind (eine technologische Variante von Todsünde). Das Ende ist, bezogen auf diese Art von Perioden, kein Wertbegriff, sondern ein Kriterium. In noch kruderen Fällen wird es einfach durch einen Termin markiert: Was bis zu diesem Zeitpunkt nicht geschafft ist, geht überhaupt nicht mehr. Diese Form wird vor allem dann gewählt, wenn das Ende zugleich Anschlußfähigkeiten ordnet, also mit den Anfängen anderer Personen zeitlich annähernd zusammenfallen muß. Technologisch/nichttechnologisch – das ist nur eine der im Zusammenhang mit Periodenbildung relevanten Unterscheidungen. Eine andere wird mit dem Begriff der Karriere markiert. 17 Karrieren müssen, um sich bemerkbar zu machen, bestimmte strukturelle Voraussetzungen erfüllen. Sie bestehen aus Sequenzen von Perioden, die aneinander anschließen (nicht notwendig zeitlich unmittelbar) und aufeinander aufbauen. Die Perioden werden dann noch einmal höher aggregiert. Sie aggregieren selbst je ihre Anfänge und Enden, aber dies kann, wenn sie Teilstücke einer Karriere sein sollen, nicht beliebig geschehen, sondern jeweils im Hinblick auf Anschlußwerte. Außerdem sind die Anfänge bzw. Enden der Perioden durch eine Kombination von Selbstselektion und Fremdselektion bestimmt (also durch eine weitere Unterscheidung markiert), wobei das Gewicht je nach Umständen mehr auf Selbstselektion (Ausrichtung eigener 1nteressen, Bewerbung) oder mehr auf Fremdselektion (Beurteilung, Zulassung, Rekrutierung) liegen kann. In beiden Hinsichten sind Freiheitsgrade variabel und einschränkbar. Dadurch wirkt die Karriere insgesamt als kontingent, und dies ermöglicht, erleichtert, ja erzwingt ihre Zurechnung auf das, was die Einzelperson »leistet«. Die Karrieren können entsprechend einer standardisierten sozialen Bewertung nach oben führen oder nach unten oder auch in eine Ruhelage, in der dann nur noch die erreichte Position gehalten werden muß. Nachdem die soziale Schichtung (Stratifikation) immer weniger --17 Vgl. die knappe Darstellung in: Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr, Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, Neudruck Frankfurt am Main 1988, S. 277 ff.

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in der Lage ist, Individuen der Gesellschaft zuzuordnen, scheinen je individuelle (aber doch über Fremdselektion beeinflußte) Karrieren die Funktion der Inklusion in die Gesellschaft zu übernehmen.18 Man ist, was man geworden ist. Teilnahme an Positiv- oder Negativ- oder Nullkarrieren ist Teilnahme an Gesellschaft, während die Teilnahme an den Funktionssystemen der Politik oder des Rechtes, der Wirtschaft oder der Erziehung, der Religion oder des Medizinsystems durch deren Inklusionsautonomie geregelt wird – nicht unabhängig von den Karrieren und auch nicht ohne Rückwirkung auf sie, aber doch nach eigenen strukturellen Bedingungen. Wir belassen es bei diesen beiden Beispielen: technologische Prozesse und Karrieren. Die Möglichkeiten einer Supracodierung von Perioden sind damit gewiß nicht ausgeschöpft, aber es handelt sich um für die moderne Gesellschaft besonders typische Einrichtungen, an denen man den Aufbau einer Ordnung von temporalen Unterscheidungen studieren kann. All das setzt das nicht außer Kraft, sondern arbeitet nur aus, was wir generell über Unterscheidungen wissen. Es handelt sich immer um Konstruktionen eines Beobachters, immer zugleich um faktische Operationen des Beobachtens und Beschreibens, die ihrerseits von den Konditionierungen des Beobachtens abhängen. Und es handelt sich um willkürliche Unterscheidungen (was aber nur heißt, daß man beobachten muß, wer sie trifft), die einem De-arbitrarisierungsprozeß unterworfen werden, in dem sie sich bewähren oder nicht bewähren. Technologische Prozesse und Karrieren sind demnach De-arbitrarisierungen, die zugleich Willkür als Kontingenz wiederzulassen. Nur so kann denn auch unter solchen Bedingungen Anfang und Ende unterschieden werden. --18 Hierzu näher Niklas Luhmann, »Individuum, Individualität, Individualismus«, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3, Frankfurt am Main 1989, S. 149-258 (231 ff.).

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