MA Modul 3/2 Strategisches Kulturmanagement. Strategische Kulturpolitik / Veit Larmann im Wintersemester 2008/2009 an der Hochschule Merseburg (FH) im Studiengang Angewandte Medien- und Kulturwissenschaften Yvonne Chaddé Leipzig, 5. März 2009
KULTURPOLITIK ALS GESELLSCHAFTSPOLITIK ANMERKUNGEN ZUM INTERVIEW MIT PROF. DR. HELENE KLEINE
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I. Im Werdegang von Helene Kleine, die 1959 im nordrhein-westfälischen Rhode geboren wurde, sind akademische Tätigkeit, Kulturarbeit und Kulturpolitik eng verzahnt.1 An der Heinrich Heine Universität in Düsseldorf studierte sie Sozial- und Erziehungswissenschaften sowie Sozialpsychologie und promovierte 1998 mit einer Arbeit zur Geschichte der Soziologie in der Weimarer Republik. Im Studiengang Kulturarbeit an der Fachhochschule Potsdam, zu dessen Gründung sie in den Jahren 1995 bis 2001 beauftragt wurde, hat Frau Kleine die Professur für den Studienbereich „sozialer und kultureller Wandel“ inne und bietet im Sommersemester Seminare zur Stadtsoziologie und zur Kultur im ländlichen Raum sowie zur Kulturgeschichte der beiden deutschen Staaten an. Im Zeitraum 2001 bis 2007 war Helene Kleine Rektorin der Fachhochschule Potsdam. Der Wandels zieht sich durch ihre Amtszeit. „Frau Kleines Amtszeit [war] geprägt von Konsolidierung und Innovation in Studium und Lehre, der Profilierung als forschende Hochschule und der Vernetzung nach innen und außen und über Fächergrenzen hinweg. Schwerpunkte waren die Entwicklung zukunftsfähiger Studiengänge und Weiterbildungsangebote, die Umstellung auf internationale Abschlüsse, die Verankerung und Ausweitung des Existenzgründungsprogrammes, die Umsteuerung auf den Globalhaushalt und die "leistungsbezogene Mittelzuweisung", die Umstellung der Vergütungsstruktur, die Einführung von Zielvereinbarungen und die Evaluation.“2 Dieses Konfliktfeld reflektierte Helene Kleine auch in einem halbstündigen Interview, dass ich mit ihr am 17. Dezember in ihrem Büro auf dem Campus der Fachhochschule Potsdam führte: die Aufgaben als Rektorin orientierten sich daran, wie die Hochschule auf dem Stand zu halten, wie sie durch die Veränderungen, die der Bologna-Prozess einfordere, zu bringen sei und wie die Weichen zu stellen seien für die Weiterentwicklung. Strategie ist mit den Worten des Politologen Ralf Tils der planmäßige Umgang mit dem Wandel: "Strategien versuchen (...) als längerfristig orientierte Handlungsanleitung, komplexe Konzepte für einen rationalen und geplanten Wandel in die gewünschte Richtung bereitzustellen." (Tils 2005: 11)
1 Im Weiteren arbeite ich eher Frau Kleines Bindung zur Wissenschaft heraus. Eckdaten zu ihrer kulturpolitischen Tätigkeit sind unter Anderem ihr Amt als Referentin für Kultur, Bildung und Frauenpolitik in der Fraktion der Grünen im Rathaus Düsseldorf von 1984 bis 1988 und Ihre Mitgliedschaft im Rat der Stadt Düsseldorf von 1989 bis 1991. Danach erprobte sie ihr später in Potsdam angewandtes Konzept von Kulturarbeit bis 1991 als Sprecherin des Vereins »Leben in der Fabrik« – Wohnen, Arbeiten und Kultur im Jagendberggelände, Düsseldorf Bilk und als Bereichsleiterin für Kultur und Soziales bei der „Internationalen Bauausstellung Emscher Park“ zwischen 1991 und 1995. 2 http://www.uni-protokolle.de/nachrichten/id/129805 (Stand: Oktober 2008)
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II. „KULTURPOLITIK ALS GESELLSCHAFTSPOLITIK“ Kulturpolitik wird im Rahmen der kulturpolitischen Diskurse der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V., einem der Interessensverbände der Kulturpolitik, dem meine Interviewpartnerin lange als Vizepräsidentin vorstand, als Gesellschaftspolitik verstanden. Kultur, die strukturell, finanziell und ideell durch Kulturpolitik gefördert wird, soll in diesem Sinne alle Bevölkerungsteile und –schichten einbeziehen und teilhaben lassen. Integration ist das ausschlaggebende Moment, der Gesellschaft und damit „dem Wohl aller“ (Sievers 2006: 31) verpflichtet zu sein. „(…) Kultur ist gesellschaftspolitisch und Kultur ist als Gesellschaftspolitik auch Teil des demokratischen Handelns, da es ja dann, wenn es den Bürgern Teilhabe ermöglicht, wenn es den Bürgern Mitgestaltung ermöglicht, wenn es den Bürgern Selbsterfaltung ermöglicht et cetera, et cetera, da spielt natürlich die Kultur, die künstlerischen, kulturellen Gegebenheiten (…) können da eine große Rolle spielen.“ (Kleine 2008: 16:50 min) Auch im Schlussbericht der Enquete-Kommission zur Klärung der Kultur in Deutschland, wird Kultur als öffentliche und gesellschaftliche Aufgabe verstanden, wobei die Argumentation stark von Oliver Scheytts3 Definition von Kultur als „Wirkungs- und Handlungsfeld“ (Deutscher Bundestag 2007: 51; Scheytt 2006: 119) geprägt ist. Im Handlungsfeld Kultur will Kulturpolitik gesellschaftliche Wirkung erzielen (ebd.). Gesellschaft und Kultur sind keine sich ausschließenden Kategorien. Die gesellschaftliche Ausrichtung bezieht sich auf das Kulturverständnis eines weiten Kulturbegriffs. Kultur ist hier ein Instrument gesellschaftlicher Gestaltung und soll frei gehalten sein von wirtschaftlicher- oder Zweckdienlichkeit, auch wenn die reine Spendermentalität eines „Kultur für alle“ - Programms inzwischen durch die Paradigmen der Neuen Kulturpolitik abgelöst ist, wo der Kulturstaat „potente“ Bürger unternehmerisch und politisch aktivieren will.4 In einem soziologisch motivierten Kulturbegriff dient Kultur der demokratischen Stabilität, der Identität, Integration, Partizipation. Sie wirkt systemunterstützend und werterhaltend (Schirmer 2002: 22). Kultur als „Mentalitäts- und Handlungszusammenhang“ (Konersmann 2003: 9) berührt die Fragen des menschlichen Zusammenlebens, da sie ihm Bedeutung verleiht.
3 Oliver Scheytt ist Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft 4 vergleiche die Debatte um den „aktivierenden Kulturstaat“
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Traditionell gründet das kulturpolitische Interesse für die Gesellschaft an den Gesellschaftsbildern, die den durch die Frankfurter Schule angeregten Diskurs tragen. „Das dahinter stehende Gesellschaftsmodell war durchaus kapitalismuskritisch, allerdings zutiefst davon überzeugt, dass es keine unüberwindlichen »antagonistischen Widersprüche« gab, sondern gesellschaftliche Integration auch und gerade mittels Kultur und Kulturpolitik erreicht werden kann.“ (Fuchs 2006: 63) Kultur hat hier die Funktion zu vermitteln und zu versöhnen, was die gesellschaftlichen Gegensätze und ihre ideologischen Fürsprecher auseinandertreiben. Denn Kultur integriert dort Vielfalt, wo sie politisch nicht zu integrieren ist (Fuchs 2006).5 Und da neben dem Ideal der Zweckfreiheit der Kultur (vergleiche die Freiheit der Kunst, die im Grundgesetz verankert ist), der kulturelle Habitus dem Bürger zum besseren Menschsein verhilft, sei das durch die Kultur transportierte Postulat der Toleranz moralisch gut. Kulturpolitik ist an Menschen gekoppelt. Es herrscht eine Gemengelage aus Interessen, die auf unterschiedlichen Konzepten von Gesellschaft und Kultur beruhen und in sich ein Konfliktpotential, das es im Prozess der Politik auszuhandeln gilt, tragen. Politik kann in seinen policy- und politics-Aspekten als Durchsetzung von Interessen (Macht) und Problemlösung aufgefasst werden6.
5 Zu bemerken ist, mit welchem Kulturbegriff hier operiert wird. Kultur wird breit konzipiert, aber nicht identisch mit Gesellschaft als kulturellem Phanömen gesetzt, sondern Gesellschaft mitkonstituierend. Wenn es so etwas wie die Kulturpolitik gibt, so orientiert sie sich, wie im Schlussbericht der Enquete-Kommission bestätigt, am UNESCO-Kulturbegriff von 1982: „Danach umfasst Kultur einerseits die eine Gesellschaft charakterisierenden Besonderheiten und spricht andererseits die Entfaltungsmöglichkeiten des einzelnen Individuums an. Kultur hat sowohl eine gesellschaftliche als auch eine individuelle Komponente.“ (Deutscher Bundestag 2007: 52) Mit Max Weber wird die Disposition zwischen Gesellschaft und Individuum ebenfalls deutlich: „konzeptionelle(r) Charakter von Kultur als einer Stellung des Menschen zur sozialen und natürlichen Welt, als eines Generators von Sinn und Bedeutung intersubjektiv geteilt, daher kollektiv und kommunizierbar (...)“ (Schirmer 2002: 22) 6 Problembewusstsein und Problemlösung kennzeichnen die policy-Perspektive, die Politics-Perskektive betrachtet die Funktionsweise von Politik als Machtgewinnung innerhalb der relevanten Prozessbedingungen des politischen Feldes. (Tils 2005)
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III. DER WANDEL Tatsächlich wird die Gesellschaft, von den wissenschaftlichen zu den politischen Diskursebenen als pluralistisch begriffen. Nach Max Fuchs herrschen in der Vielfalt soziologischer Gesellschaftsanalysen folgende gemeinsame Erkenntnisse vor: Unsere Gesellschaft wandelte sich von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft und mit steigendem Medieneinsatz zur Informationsgesellschaft. Die Identität mit der Arbeit ist problematisch, weil es zunehmend weniger Arbeit gibt. Ursache ist in den verschiedenen Prozessen der Globalisierung zu finden und der Wandel wird gemäß unterschiedlichen Kategorien rezipiert. „Man selbst ist ja auch nicht völlig stringent oder nur auf eine Sache orientiert.“ (Kleine 2008: 20:20 min) Der Wandel der Gesellschaft manifestiert sich in der Pluralisierung der Gesellschaft und ihrer subkulturellen Phänomene7, der Auflösung von Dichotomien oder politischen Stellungskriegen. Das Verständnis für die Widersprüchlichkeit einer persönlichen und auch politischen Auffassung von Kultur scheint Beleg für diese Entfaltung der Gesellschaft, die nicht mehr von Gegensätzen und Ideologien geprägt ist, sondern den Wandel und die Verhandelbarkeit des Zusammenlebens wahrnimmt. „Insgesamt kann man feststellen, dass seit den siebziger Jahren Gesellschaftsanalysen kulturellen Faktoren eine wichtigere Rolle zubilligen. Dazu hat sicherlich der Paradigmenwechsel beigetragen, der von dem Bild einer vertikal organisierten Gesellschaft (Klassen, Schichten) hin zu einer Gesellschaft der Lebensstile (als wesentlich kulturell definierte Struktur) geführt hat.“ (Fuchs 2006: 65) Kultur hat also in der Deutungsmacht der Wirklichkeit durch die Sozialwissenschaften an Gewicht gewonnen und besitzt auch, obwohl nur marginal budgetiert, hohe symbolische Kraft in den Rängen der Politik (Scheytt 2006). „Es treffen nämlich - abstrakt formuliert - Positionen einen Ökonomismus meist neoliberaler Provenienz mit einer Kunst- und Kulturauffassung aufeinander, die durchaus politikbestimmend in idealistischer Manier Kunst und Kultur als wertsetzende und sinnvermittelnde Sphäre individueller und gemeinschaftlicher ästhetischer Betätigung von hohen Freiheitsgraden begreift.“ (Stüdemann 2006: 21) Wie greift Kulturpolitik diesen Wandel auf? „Die Aufgabe von Kulturpolitik und entsprechenden Verbänden, auch der Lehre hier, ist es ja nicht den ständigen Wandlungen oder dieser ständigen Oberflächenbewegung hinterherzuhechten, sondern sie ist eher zu gucken, wie 7 „Da hat man sie grad mal aufgeschrieben, da ist die Szene schon wieder woanders “ (Kleine 2008: 25:48 min)
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sind in dieser hochpluralen, hochpluralistischen, individualisierten und so weiter Gesellschaft Strukturen zu schaffen, die, und da komme ich doch eben wieder dazu, die Teilhabe ermöglichen, et cetera, et cetera; Entfaltung und Teilhabe sozusagen.“ (Kleine 2008: 26:32 min) Transformationsprozesse erzeugen Ungewissheit und Unsicherheit. Dabei kommt sozialen Lernprozessen, die sich in Normen, Werten und Institutionen manifestieren, eine regulierende Bedeutung zu (Rabe-Kleberg 2004). Institutionen dienen der Bedürfnisregulierung und befriedigung auf Grundlage von gemeinsamen Zielsetzungen und Werten. Ist die Institution ihrer Funktion entbehrt, kann sie sich verändern. (Henecka 1997) „Es besteht eine zentrale Aufgabe des Kulturbereichs darin, die Frage nach der Legitimität der sozialen, politischen und ökonomischen Ordnung zu stellen.“ (Fuchs 2006: 66) Doch die in Frage gestellte Ordnung bedarf der Autorität einer moralischen Orientierung. Wissen kann als Strategie der Unsicherheitsvermeidung fungieren. „Formen des Wissens [entstehen], die letztlich darauf zielen, Ungewissheiten, die in Natur und Gesellschaft angelegt sind, nicht nur kategorial zu erfassen, zu begreifen, sondern auch in den Griff zu bekommen, zu minimieren, letztlich zu beherrschen.“ (Rabe-Kleberg 2004: 7) Jürgen Mittelstraß leitet die Bedeutung des Wissens her: Der Mensch verstehe sich nicht unmittelbar, sondern reflexiv. Wissensbildungsprozesse sind dem Menschen daher nicht äußerlich. Mit ihrer Hilfe orientiert er sich, das heißt, er eignet sich die Welt erklärend und deutend an, einschließlich der Beziehung der Gegenstände untereinander und seinen Umgang damit (Praxis). Wissenschaft hat kulturgeschichtlich dreifache Bedeutung: wissenschaftstheoretisch (bestimmte Form der Wissensbildung), gesellschaftstheoretisch (institutionell, die Gesellschaft organisierend), als auch moralisch („Arbeit des Menschen an seinem Vernunftswesen“ (Mittelstraß 2001: 21)). Experten zum Thema politische Strategie (Ralf Tils, Joachim Raschke) erfassen den Bedarf an Unsicherheit berechnendem Wissen ähnlich: Politische Akteure sehen sich heute einer wachsenden Komplexität, das heißt einem hohen Grad an systemischer Ordnung8 gegenüber gestellt. Bei Abnahme der Kalkulationsmöglichkeiten wächst zugleich die Kalkulationsnotwendigkeit. Dies erfordert strategisches Handeln, das heißt 8 Auch wenn bei den oben genannten Politikwissenschaftlern systemisch eher von wachsender Komplexität in einem Ordnungsgefüge ausgegangen wird, weniger von die Ordnung zersetzenden Umbrüchen. Sicher methodisch eine Frage, welche Ebene der Politik angesprochen ist. Soziologische Metatheorien haben einen anderen Wirkungsgegenstand als Realpolitik und das deutet sicherlich den gesamten Konflikt von Deutung und Bedeutung existierender Systeme und Subsysteme an.
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eine Folge von Strategiefähigkeit, Strategiebildung und strategischer Steuerung. Hierbei werden Strategien als „erfolgsorientierte Konstrukte, die auf situationsübergreifende Ziel-Mittel-Umwelt-Kalkulationen beruhen“ (Raschke/ Tils 2007: 126) verstanden, mit der Konzentration auf die Berechenbarkeit dieser Konstrukte, indem das strategisch-operational Wesentliche durch Analysekategorien herausgefiltert wird. Prozesse werden also bewusst herbeigeführt. Peter Schröder umreißt den Wirkungsgegenstand einer politischen Strategie: die zielgerichtete Führung einer großen Anzahl von Menschen, die durch unterschiedliche politische Ideen und Interessen geprägt sind, mit dem Ziel einen Zustand dauerhaft zu ändern, also Wandel herbeizuführen. „Wenn man politisch handelt, dann handelt man in der Regel planmäßig. Das heißt, man hat eine bestimmte Grundlage, ne Idee oder ein politisches Ideal, das man gerne, das man zur Handlungsanleitung für sich selber nimmt oder an dem man sein Handeln misst und von da man mehr oder weniger möchte, dass andere das teilen, weil man in der Regel Kooperationen oder Koalitionen braucht, das ist sicherlich der Fall. Natürlich kann man Bereiche, Institutionen, Organisationen und so weiter immer ändern; die sind ja nie auf Ewigkeiten angelegt.“ (Helene Kleine 2008: 15:16 min) Seit Durkheim ist es eine wissenschaftliche Tatsache, dass die Formen der Gesellschaft nicht naturgegeben, sondern Resultate von Verhandlungen sind. „Soziale und kulturelle Muster unseres Zusammenlebens zeigen sich nicht weniger anfällig für Wandel. Manchmal läuft dass Ephemere dem Stabilen den Rang ab.“ (Stüdemann 2006: 17) Im Wandel begriffen, erfordern neue Bedingungen neue Handlungsmodelle, die erprobt und zu deren Grundlegung Gesellschaftskonzeptionen zu Rate gezogen werden. Die Unsicherheit, die Zukunft zu bestimmen, wird durch die Einbettung von Prognosen in Metageschichten aufgefangen (Shiller 2009). Diese Historisierung von Krisen, um den Wandel deutend eine Herkunft und eine Zukunft zu geben, um sie entdramatisieren, hat nach den Forschungen des Kulturphilosophen Ralf Konersmann Tradition. Strategisch wird so Geschichte in ihrer Wahrnehmung als kontinuierlich konstruiert (Konersmann 2003: 61) Fühlt man dem Zeitgeist nach, so ist der Bedarf an Orientierung, nicht unerheblich. Es fehlt an Maß, wo das Wertegerüst, da die Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und deren Reflexion und ideellen Hohlformeln (siehe Zitat Stüdemann) augenscheinlich, brüchig wird. „Zur Maßlosigkeit gehört, dass man nicht einmal mehr sagen kann, in welchen Dimensionen man sie sich vorstellen soll. Daraus folgt alles Übrige, vor allem das Gefühl einer bodenlosen Werte-Inflation, die sich nicht nur
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auf ökonomische Güter, sondern auf sämtliche Wertskalen bezieht. Man weiß nicht mehr, was groß und klein, was viel und was wenig ist. Von Stabilität wagt niemand mehr zu sprechen.“ (Sloterdijk 2009: 8) Diese Neuverhandlungen gemäß veränderter Umstände können radikale strukturelle Veränderungen nach sich ziehen. Auf meine Frage, ob Kultur wieder als Wert beworben wird, um eine sinnstiftende Orientierung in Zeiten des Wandels zu bieten, antwortete Helene Kleine: „Ich denke, man muss wieder merken, dass es Dinge gibt, die in gewisser Weise nicht verhandelbar sind, und da gehören diese, die Kerne dieser, auch der Demokratie dazu. Wie nannte das Emile Durkheim, der berühmte Soziologe (...), das sind die so genannten nicht kontraktuellen Grundlagen des Vertrages, also die nicht vertragsmäßigen Grundlagen des Vertrages. Es gibt sozusagen ne Grundlage, die berührt man nicht und wenn man darauf steht, kann man verhandeln.“ (Kleine 2008: 13:17 min) Nach Durkheim, geschehen vertragliche Bindungen nicht aus Utilitarismus (Nutzenfaktor), sondern weil der Vertrag sozial reglementiert ist. Die normativen Regelungen umrahmen die vertragliche Einigung und gelten als gesellschaftlicher Konsens. Der Konsens funktioniert integrativ und hält die Gesellschaft zusammen. Normen sind relativ9, obwohl ein hohes Maß an Konformität das Bestehen eines sozialen Systems garantiert (Henecka nach Durkheim 1997: 69).
IV. DER INNERE KERN "Man muss diesen inneren Kern schützen, insofern gehören da Wissenschaft, Kultur und Religion zusammen. Alle drei haben so nen inneren Kern, der nicht verhandelbar ist. Wenn man anfängt, den zu berechnen, stößt man sowieso bald an seine Grenzen, weil man da kaum die Indikatoren findet und in der Regel zerstört man ihn da auch und macht da über kurz oder lang auch den angewandten Faktor kaputt." (Kleine 2008: 10:51 min) Wissenschaft und Kunst sind laut Artikel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes geschützt. (3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.10
9 „Normen, Werte und Institutionen sind also keine ewigen, unveränderlichen sozialen Tatsachen, sondern jeweils an einen bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhang gebunden; sie sind relativ, d.h. sie variieren sehr stark hinsichtlich Zeit und Ort.“ (Henecka 1997: 70)
10 http://www.bundestag.de/parlament/funktion/gesetze/grundgesetz/gg.html (Stand: Januar 2009)
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Artikel 20 des Grundgesetzes: (1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
V. ZURÜCK ZUR KULTURPOLITIK MIT HELENE KLEINE Wie ist, so fragte ich meine Gesprächspartnerin, der Paradigmenwechsel in der Kulturpolitik der neunziger Jahre, der eine zunehmende Verortung der Kulturpolitik unter unternehmerischen Kategorien veranlasste, zu bilanzieren? Zur Erinnerung: „Die Ökonomisierung der Kulturpolitik geschah in drei Wellen. Zuerst war es die noch freudig begrüßte Entdeckung von der volkswirtschaftlichen Bedeutung von Kultur (...). In der zweiten Welle kam das Kulturmanagement mit seiner betriebswirtschaftlichen Sichtweise. Die dritte Welle brachte mit der Verwaltungsreform das Neue Steuerungsmodell. Diese Diskurserweiterung war (...) äußerst wirkungsvoll in der Praxis.“ (Fuchs 2006: 65) Prekarität: Durch die Ausgliederung fester Stellen und den bedarfsbedingten Einkauf von Dienstleistungen arbeiten Unternehmen kostengünstiger und das Profil des Kulturarbeiters verschiebt sich vom Kulturverwalter mit übergreifendem Wissen zum Freiberufler mit spezifischem Wissen. Einerseits kann dies die Qualität der Leistungen steigern, andererseits entstehen prekäre Arbeitsverhältnisse, die umso prekärer, desto prekärer die Wirtschaftslage ist. Einflussnahme: Als weiteres Problem der Ökonomisierung ist die mangelnde Einflussnahme des Staates, vornehmlich der Kommune und der Körperschaften auf die Kultureinrichtung einzuschätzen. Durch Ausgliederung sind der direkte Zugriff und damit das demokratische Mitbestimmungsrecht genommen. Instabilität: In wirtschaftlichen schwierigen Zeiten führt die Privatisierung von staatlichem Eigentum zur Instabilität und kann keine soziale Gerechtigkeit garantieren. Diese Orientierung bilde schnell Abhängigkeiten vom „Wandel der Zeit“; das heißt in wirtschaftlich stabilen Zeiten liefe die Förderung von Wissenschaft und Kultur gut „… aber das kann sich schnell ändern.“
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(Kleine 2008: 9:07 min) Frau Kleine prognostiziert die Notwendigkeit einer Phase der langfristigen öffentlichen Absicherung von Kultureinrichtungen.
VI. FAZIT Unter Berücksichtigung von konsensuellen Grundlagen (Werten), sind in Zeiten des Wandels stabile Formen zu schaffen. Zu diesen Werten gehören die Verfassung (Schutz der demokratischen Grundordnung), die Kultur, Wissenschaft und Religion. Das bedeutet die Verhandelbarkeit des gesellschaftlichen Zusammenlebens, aber, in Übereinkunft mit politischen Idealen (Teilhabe, soziale Gerechtigkeit, Bildung, Entfaltung), das Unangetastetlassen der gesellschaftlichen Grundlagen, um sie vor Berechnung zu schützen. (Hier lässt sich eine gewisse Strategieresistenz ahnen.) Kulturpolitik muss, da es keine politischen Selbstverständlichkeiten mehr gibt, in den Dialog mit der Gesellschaft treten. Die Auseinandersetzung mit pluralen Lebenswelten und -entwürfen und deren Ausdrucksformen sowie „minoritäre und außereuropäische Kulturformen“ (Stüdemann 2007: 24) ersetzt den hegemonialen Anspruch der Kulturpolitik nach moralischer und ästhetischer Bildung gemäß des deutschen Bildungsideals. Der Deutungsanspruch gesellschaftlicher Wirklichkeit erfordert partnerschaftliches Verhalten mit Wirtschaft und Bürgern. Die Soziologie ist eine relevante Wissenschaftsdisziplin, den Zustand der Gesellschaft zu beschreiben und zu deuten, solange sich Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik versteht. Wissenschaftliche Deutungsmuster und Wahrnehmungsfilter anderer Disziplinen lassen sich unter dieser Metaebene zusammenfassen. Der Wunsch nach einer programmatischen Neuausrichtung der Kulturpolitik, sei es nun Richtung Staat oder Richtung Bürgergesellschaft, besteht (Kleine, Knoblich, Stüdemann, Fuchs), da offensichtlich neben Steuerungsinstrumenten, Gesetzgebung und Infrastrukturierung der gesellschaftliche Konsens neu verhandelt werden muss, die gesellschaftlichen Entwicklung zu korrigieren oder zu unterstützen. Im Wandel bedarf es also der Orientierung, um diesen steuern zu können. Dazu bedarf es der Reflexion der aktuellen Zeitgeschichte. Dies allerdings setzt voraus, dass ein gesellschaftlich legitimierter Wille besteht, die Machtdimension der Politik zu Gunsten einer symbolischen Idee einer Gesellschaft (eine höhere YVONNE CHADDÉ
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Ebene des Problembewusstseins) zurückzustellen. Der Staat und seine Institutionen müssen Strukturen schaffen, die krisensicher und vor der Willkür des Marktes geschützt sind. Die aktuelle Platzierung eines Krisenbewusstseins in der Öffentlichkeit mag strategisch dazu einleiten.
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