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WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR
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Nr. 45
30. Oktober 2008
Amerika hat die Wahl: Obama oder McCain
Der Ur-Mythos der Deutschen
Eine Hausgemeinschaft in New York: Wer wählt wen? Im Silicon Valley gibt es ein Amerika, das Hoffnung macht
Hermanns Sieg über die Römer vor 2000 Jahren bestimmt immer noch unser nationales Selbstbild: Doch wissenschaftliche Erkenntnisse werfen jetzt ein neues Licht auf die legendäre Varusschlacht
POLITIK SEITE 8–11, 15 WIRTSCHAFT SEITE 32/33
Unser Krieg in Afghanistan
DOSSIER SEITE 17–21
Helmut Schmidt: »Der Westen hat sich übernommen« Was denkt der oberste deutsche Soldat? Spaziergang mit General Schneiderhan POLITIK SEITE 2/3
Ein linker Putsch
Supermann Staat
Die hessischen Wähler haben politische Reife gezeigt. Sie verdienen endlich einen Neuanfang, aber keine Tricks VON GIOVANNI DI LORENZO
Die Regierungen können viel, dürfen aber nicht alles: Was der Wirtschaft jetzt hilft und wo sie sich selbst helfen muss VON UWE JEAN HEUSER
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eine Frau wird in Deutschland gegenwärtig weniger verstanden als Andrea Ypsilanti, nicht einmal Elke Heidenreich. Unbeirrbar hält die hessische SPD-Politikerin an einem Plan fest: Roland Koch muss weg! In der kommenden Woche will sie den Ministerpräsidenten der CDU aus dem Amt hebeln, an der Spitze einer rot-grünen Koalition und unter Tolerierung der Linkspartei. Weil sie genau diesen Pakt mit der Linken im Wahlkampf noch kategorisch ausgeschlossen hatte und weil jede Kritik daran, auch aus der eigenen Partei, bislang wirkungslos blieb, haftet ihr inzwischen der Ruch einer Fanatikerin an: verblendet von einer Mission, bewehrt mit eiskaltem Machtwillen – und verflucht durch den Betrug am Wähler. Daran ist natürlich fast alles überzeichnet. Dass ihr dies aber widerfährt, weil sie eine Frau ist, wie sie selbst gelegentlich zu verstehen gibt, ist in diesem Fall Unsinn; Kurt Beck, der die Wende der SPD in Hessen bekanntlich mitverursacht hatte, musste sich deswegen noch ganz andere Angriffe gefallen lassen – und verlor am Ende sogar den Parteivorsitz. In der Sache ist das Vorgehen von Frau Ypsilanti eher vorsichtig bewertet worden: Denn noch nie in der an Tricksereien und halsbrecherischen Koalitionsmanövern weiß Gott reichen Geschichte der Landtagswahlen in der Bundesrepublik ist so autistisch am Bürger vorbei agiert worden wie jetzt in Hessen. Es mag ja sein, dass die daran beteiligten Sozialdemokraten, Grünen und Linken gar nicht wissen, was sie tun, weil sie die Stimmung ihrer eigenen Parteifunktionäre und Sympathisanten mit dem Willen des Volkes verwechseln. Das ist aber keine Beruhigung, sondern ein erdrückender Beweis für die Autosuggestion von Parteiapparaten, die nun die rot-rot-grüne Mission am Main hervorgebracht hat. Sollte das Manöver tatsächlich zur Wahl von Andrea Ypsilanti als Ministerpräsidentin von Hessen führen, wäre das nichts weniger als ein Putsch gegen den Wähler.
Mehr als zwei Drittel der Hessen wollen keinen Pakt mit der Linken Es geht dabei grundsätzlich nicht einmal um die Frage, ob die SPD auch in einem westlichen Bundesland den Brückenschlag zur Partei von Oskar Lafontaine und Gregor Gysi wagen darf. Aus der Sicht der Sozialdemokraten ist das ganz offensichtlich ein Weg, außerhalb einer Großen Koalition eine Regierung zu stellen und gleichzeitig ihren neuerdings gefährlichsten politischen Gegner durch Teilhabe am Tagesgeschäft zu entzaubern. Das Beispiel des rot-roten Senats in Berlin unter Klaus Wowereit hat Schule gemacht. Ein solcher Kurswechsel braucht aber die Legitimation der Wähler, allemal, wenn vorher eine Zusammenarbeit abgelehnt worden war. So ist bei anderen spektakulären Bündnissen bislang auch immer verfahren worden, gerade in Hessen. Legendär ist die Kehrtwende, die in den achtziger
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Jahren der SPD-Ministerpräsident Holger Börner vollzogen hatte. Der gelernte Betonfacharbeiter wollte sich die damals gerade aufkommenden und im Kampf gegen Atomkraftwerke und Startbahn West erprobten Grünen am liebsten mit der Dachlatte vom eindrucksvollen Leib halten. Lieber regierte er zunächst als geschäftsführender Ministerpräsident – so wie nun Roland Koch –, als mit der Ökopartei zu koalieren. Erst als Neuwahlen unumgänglich wurden und die SPD wieder stärkste Partei wurde, schmiedete er das erste Bündnis mit den hessischen Grünen. Und auch Klaus Wowereit konnte man einiges vorwerfen, als er Anfang 2002 eine rot-rote Koalition in Berlin installierte, nicht aber Wortbruch: Er hatte im Wahlkampf verkündet, dass ihm ein Bündnis mit den Grünen am liebsten sei, er sich aber eine Kooperation mit der damaligen PDS vorstellen könne, wenn es anders nicht gehe. Andrea Ypsilanti hingegen macht eine andere Rechnung auf: Betrug sei es auch, wenn sie ihre Wahlversprechen nicht halte, obwohl es eine Chance zur Verwirklichung gebe, in der Bildungs- und Verkehrspolitik oder in der Energie- und Sozialpolitik. Wenn dem wirklich so wäre, dann dürfte sie erst recht keine Angst vor dem Votum der Wähler haben. Die aber wollen nach allen Umfragen vom Kurs Ypsilantis nichts wissen: Mehr als zwei Drittel der Befragten in Hessen wollen keinen Pakt mit der Linken, und inzwischen sieht ausgerechnet der blamierte Wahlverlierer vom Januar dieses Jahres, Roland Koch, schon wieder wie ein Sieger aus. Wären heute Landtagswahlen, hätten CDU und FDP die absolute Mehrheit. So überschattet das Streben, sich und ihre Getreuen an die Macht zu bringen, die vorgebliche Mission der Andrea Ypsilanti. Die Fixierung auf das eigene Milieu, das sich unter Hessens Sozialdemokraten geradezu museal erhalten hat, ist derart stark, dass sie sich nicht einmal darum gekümmert hat, den rechten Flügel ihrer eigenen Partei zu befrieden. Indem sie dem altlinken Weggefährten Hermann Scheer und nicht ihrem konservativen Widersacher Jürgen Walter das Wirtschaftsministerium angeboten hat, bootet sie auch noch den Teil der Partei aus, mit dem sich bürgerliche Wähler gerade noch so identifizieren könnten. Und gefährdet nebenbei auch ihre eigene Wahl zur Ministerpräsidentin, nachdem schon ein erster Versuch im März gescheitert war. Die hessischen Wähler haben Anfang des Jahres ein nachhaltiges Zeichen politischer Reife gesetzt. Sie haben den bis dahin überwiegend erfolgreichen Ministerpräsidenten Roland Koch abgestraft, zum Teil wegen seiner Bildungspolitik, vor allem aber wegen seines populistischen Versuchs, einen Überfall auf einen Rentner durch zwei junge Migranten im fernen München für seine Wahlzwecke zu instrumentalisieren. Diese Wähler haben einen Neuanfang verdient, nicht aber die Winkelzüge der Andrea Ypsilanti.
ie Krise ist angekommen, und sie sieht gewaltig aus. Plötzlich wird sie auch fühlbar, in Fabriken und Büros, an den Ladentheken und in den Kneipen. Die Frage ist nicht mehr: Wie sicher sind meine Spareinlagen? Sie lautet jetzt: Wie sicher ist mein Arbeitsplatz? Wir haben keine Aktien, also auch kein Problem, dachten viele Deutsche noch vor ein paar Tagen. Nun sind die Autokonzerne die Ersten, die Leiharbeiter auf die Straße setzen, die Arbeitszeiten reduzieren oder die Produktion aussetzen. Andere werden folgen im Domino von Auftragseingängen, Umsatzerwartungen und Arbeitsplätzen. Die deutsche Volkswirtschaft stagniert nicht bloß, sie könnte empfindlich schrumpfen. Denn der Abschwung erfasst die ganze Welt, schon geraten, von Ungarn bis zur Ukraine, ganze Länder in Zahlungsschwierigkeiten. Es gibt kaum noch Inseln der Wachstumshoffnung, das trifft unsere Exportnation besonders hart. Der letzte Hoffnungsträger ist der Staat. Der Supermann der Stunde soll die Banken im Alleingang aus dem Koma holen, die Konjunktur vor dem Absturz bewahren und ganze Industrien retten. Allein in Deutschland hagelte es in dieser Woche Dutzende von Vorschlägen. Und alle waren ernst gemeint. Kein Wunder, selbst seine größten Befürworter zweifeln derzeit am Segen des Marktes. Alan Greenspan, der bekannteste ökonomische Freiheitskämpfer, gestand, er habe sich im Markt getäuscht. Als Chef der US-Notenbank hatte Greenspan alle Versuche torpediert, das gefährliche Spiel der Banken von Staats wegen zu unterbinden. Schließlich, so fand er, würden die gewinnorientierten Banker nicht ihre eigene Existenzgrundlage gefährden. Falsch gedacht, sagt er nun. Mea culpa. Der Staat wird gebraucht – umso bedrohlicher, wenn er seine Macht missbraucht. Vor allem Nicolas Sarkozy läuft in diese Falle. Dass die Länder sich an notleidenden Banken beteiligen, ist für den französischen Präsidenten nur der Anfang. Frankreich will sich auch bei heimischen Industriekonzernen einkaufen, damit sie nicht in die Hände der Asiaten fallen. Ganz Europa soll es ihm nachtun. In Frankreich heißt so etwas Industriepolitik. Tatsächlich handelt es sich um Protektionismus. Mit dieser Haltung trieben die Industriestaaten die Welt nach 1929 in eine lange Depression, weil sie mit immer neuen Schutzmauern den globalen Austausch von Waren und Kapital unterbanden. Dieser Fehler darf nicht wiederholt werden. Zum Glück hat Berlin das Pariser Ansinnen zurückgewiesen. Genauso muss sich die Bundesregierung der Idee erwehren, sie könne zu Hause einer Branche nach der anderen mit Subventionen zu Hilfe eilen. Heute soll sie die Autohersteller retten, morgen ihre Zulieferer und übermorgen womöglich die Maschinenbauer. Dieses
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Rennen kann die Regierung nicht gewinnen, zumal Daimler, BMW und Co. unter mehr leiden als nur unter der schlechten Konjunktur. Zu lange haben sie immer schwerere und stärkere Fahrzeuge angeboten, während klar war: Die Zukunft gehört verbrauchsarmen, umweltfreundlichen Autos. Den notwendigen Wandel kann ihnen die Politik nicht abnehmen. Der Staat kann nicht alles richten. Er sollte nicht versuchen, jeder Gruppe im Land etwas zukommen zu lassen. Am Ende summieren sich die Kleinigkeiten zu nichts. Doch droht eine so schwere Konjunkturkrise, dass der Staat ihr vorbeugen und tatsächlich investieren sollte – nicht in einzelne Industrien, sondern in die Zukunft.
Wenn der Staat sich übernimmt, ist er schnell diskreditiert Berlin sollte Ausgaben vorziehen, die ohnehin anstehen. Beispiel Umweltschutz: Das Land braucht neue Mittel für die Wärmedämmung der Häuser und für erneuerbare Energien. Ein Tankstellennetz für Elektroautos muss entstehen. Und ohne eine Technologie, mit der sich Kohle sauber verbrennen lässt, sieht die Zukunft düster aus. Auch die Bildung lassen wir uns bisher zu wenig kosten. Neues Geld für mehr Lehrer und eine bessere Ausstattung der Schulen ist die beste Zukunftsinvestition überhaupt. Zudem lebt eine Hochleistungswirtschaft wie unsere von einer modernen Infrastruktur. Es stimmt schon: All dies kostet Geld, das der Staat nicht hat und sich bei den Bürgern leihen muss. Auch sind Nachfrageprogramme gefährlich, weil sie oft zu spät kommen. Doch in dieser ungewöhnlichen Krise sind die üblichen Argumente nur bedingt tauglich. Niemand weiß, welche Schocks noch kommen. Die Unsicherheit ist enorm, nur eines erscheint sicher: Das ökonomische Erdbeben dürfte länger anhalten, als wir das aus vergangenen Jahrzehnten kennen. Mit einem Investitionsprogramm im Rücken fällt es dem Staat im Übrigen leichter, sich den viel zu vielen neuen Begehrlichkeiten zu verweigern. Er sollte gar nicht erst versuchen, den Arbeitsmarkt zu lenken und künstliche Jobs zu schaffen. Und er muss sich der Forderung nach Protektionismus erwehren. Sonst übernimmt er sich – und ist schnell diskreditiert. Schwere Aufgaben gibt es in den kommenden Monaten genug. Berlin muss den Kreditkreislauf am Leben erhalten und an der entstehenden globalen Finanzarchitektur mitwirken. Bald dürfte die Regierung auch mit steigenden Lohnabgaben und neuen sozialen Härten zu kämpfen haben. Wir werden den Staat noch brauchen, nicht als Supermann, aber doch als Steuermann in dieser historischen Situation.
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ZEIT-Leser haben die Gelegenheit, ihre eigene Bestenliste zu erstellen. Nennen Sie uns das Buch, das Sie 2008 am meisten bewegte! POLITIK SEITE 2 a www.zeit.de/buchdesjahres
PROMINENT IGNORIERT
Ballack Obama Aufregende Tage liegen hinter uns, aufregendere vor uns. Der Kampf um die Präsidentschaft erschüttert die Amerikaner, der Streit an der Spitze der Nationalmannschaft die Deutschen. Harte Worte sind gefallen. Wird sich Ballack Obama John Löw unterwerfen? Wird Michael Barack gegen Joachim McCain gewinnen? Wenn nicht die Fußballer Könige werden, sagt Platon in der Apologia Michaelis, gibt es kein Ende der Übel. GRN. Kleine Fotos v.o.n.u.: Peter Foley/EPA/dpa; Werner Bartsch für DIE ZEIT; Tuomas Marttila/plainpicture; Waelischmiller/SVEN SIMON
ZEIT Online GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail:
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Nennen Sie uns Ihr Buch des Jahres 2008
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Titelillustration: Smetek für DIE ZEIT (verw. Gemälde von F. Tüshaus: »Schlacht zwischen Germanen und Römern am Rhein«, 1876; courtesy Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster/Rudolf Wakonigg (li.); Johann H. W. Tischbein »Hermann und Thusnelda«, 1822; courtesy Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Oldenburg (re.)
Preis Deutschland 3,40 €
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WORTE DER WOCHE
Wie sagt man einer Familie in Deutschland, dass der Tod des Sohnes in Afghanistan nicht sinnlos war? Generalinspekteur WOLFGANG SCHNEIDERHAN weicht der Frage nicht aus – nicht bei den Trauerfeiern und nicht beim Spaziergang mit HANNS-BRUNO KAMMERTÖNS in München
»Meine Aufgabe ist es, alle Volksstämme Bayerns zu vereinen.« Horst Seehofer, neuer Parteichef und Ministerpräsident Bayerns, auf dem CSU-Parteitag
»Damals hat es in Deutschland die Juden getroffen, heute sind es die Manager.« Hans-Werner Sinn, Präsident des ifo Instituts, zur Rolle der Banker als Sündenböcke in der Finanzkrise
»Ich habe das Schicksal der Juden nach 1933 in keiner Weise mit der heutigen Situation der Manager vergleichen wollen.« Hans-Werner Sinn in einer Entschuldigung zu seiner Aussage vom Vortag
»Ich verneige mich in Dankbarkeit und Anerkennung vor den Toten, die für unser Land im Einsatz für den Frieden gefallen sind.« Franz Josef Jung, Verteidigungsminister (CDU), bei der Trauerfeier für die bei einem Selbstmordattentat in Afghanistan getöteten Fallschirmjäger
»Ein Flughafen ist kein FKK-Strand, und Flugpassagiere sind keine Akteure einer Peepshow!«
Schneiderhan kann sich noch gut an das Jahr 1966 erinnern, als er zur Bundeswehr kam. In der Truppe, damals gerade zehn Jahre alt, herrschte im Umfeld der kriegsgedienten Vorgesetzten noch ein anderer Ton als heute. »Einige Jahre lang habe ich schon Zweifel gehabt, ob sich das Verständnis von offenen Streitkräften durchsetzen kann.« Die Zweifel in jener Zeit hielten ihn nicht nieder, »sie motivierten mich«. Schneiderhan blieb dabei. Seine Mutter, tief religiös, Schneidermeisterin mit eigener Werkstatt. Sein Vater, ein Verwaltungsangestellter, Soldat im Zweiten Weltkrieg. Er hat dem Sohn weder zu- noch abgeraten. Was er damals dachte angesichts der Berufswahl seines Sohnes, behielt er für sich. »Zu wenig geredet – viel geschwiegen«, dies sei typisch gewesen für die Generation seines Vaters, sagt Wolfgang Schneiderhan. So kam es, dass der Sohn Jahre später dem Vater gern gesagt hätte, dass er soeben Brigadekommandeur in Erfurt geworden war. »Der familiäre Kreis hätte sich so schließen lassen, denn er war nebenan in Rudolfstadt in Kriegsgefangenschaft gekommen.« Aber das war nicht mehr möglich, der Vater war verstorben. Schneiderhan erwähnt seinen Lehrer, einen Herrn Weber, Jahrgang 1920, Studiendirektor für Geschichte und Französisch in der Oberschwäbi-
Fotos: Herlinde Koelbl für DIE ZEIT
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Der Reformer
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habe die Bundeswehr lediglich ihre militärischen Übungen erklären müssen. »Es hat gekracht oder geraucht, aber es ist nichts passiert.« Heute sei »Komunikation mit fremden Kulturen unentbehrlich, mit den multinationalen Partnern – und auch mit Eltern, die ihren Sohn durch einen Bundeswehreinsatz verloren haben.«
Der Tod eines Kindes – Schneiderhan hat selbst eine solche Zäsur erlebt Wie findet man die richtigen Worte? Dafür gibt es keinen Standard. Wie sagt man einer Familie in Deutschland, dass der Tod eines Ehemannes oder Kindes in der afghanischen Ödnis nicht ganz und gar sinnlos war? Schneiderhan weicht der Frage nicht aus. Nicht bei den Trauerfeiern und auch nicht jetzt am Fuße des Monopterus, des kleinen Tempels im Englischen Garten. Er spricht in diesen Momenten davon, »dass die Eltern stolz sein können auf ihren Buben, dass er in dem fernen Land Deutschland verteidigt habe«. Vielleicht würde er noch hinzufügen, sagt der General, »dass der Bub seinen Eid erfüllt, er seinem Vaterland gedient hat«. Aber manchmal lässt Schneiderhan diesen Zusatz auch einfach weg. Fast beiläufig erwähnt der Generalinspekteur, dass er keine Trauerfeier in Erinnerung habe, kein Gespräch an einem Grab, bei dem die Angehörigen Vorwürfe gegen die Bundeswehr erhoben hätten. Keine dieser Fragen, warum habt ihr meinen Jungen nur dorthin geschickt. Dabei könnte er es durchaus verstehen. Schneiderhan selbst hat »eine ähnliche Zäsur« erlebt. Einer seiner Söhne war auf dem Balkan stationiert, dort im Sanitätsdienst eingesetzt. Wenn er vom Einsatz nach Hause kam, ging die Beziehung zu einer Freundin meist ganz schnell in die Brüche. Also fuhr er an den freien Wochenenden als Rettungssanitäter im Notarztwagen mit. Die Eltern hatten eine enge Beziehung zu dem Jungen, »seine Mutter vor allem, ich bin ja nicht so viel daheim«. Schließlich, vor ziemlich genau zwei Jahren, die Nachricht, dass er sich das Leben genommen hat. Schneiderhan ist stehengeblieben, für einige Augenblicke sagt niemand ein Wort. Dann sagt der General, dass er für das Geschehen keine Erklärung habe. Seine Frau, die Jugendrichterin war in Königstein im Taunus, hat wenig später ihren Dienst aufgegeben, auch der Enkel wegen. »Enkel sind eine große Hilfe«, sagt Schneiderhan. »Zwangsläufig beschäftigt man sich mit ihnen wieder mit der Zukunft, mit der Jugend.« Dann geht er voraus, quer über die Wiese hinweg. Seit 2002 ist Wolfgang Schneiderhan Generalinspekteur, so lange hat den Job noch keiner gemacht. Vor wenigen Wochen hat der Minister seinen Eintritt in den Ruhestand um ein weiteres Jahr verschoben, auf den Sommer 2010. Schneiderhan ist dann 64, 2010 hat er das für Offiziere geltende Pensionsalter um zwei Jahre überschritten. Sie wollen nicht von ihm lassen. Warum? Wer mit Wolfgang Schneiderhan ein paar Kilometer geht, bekommt das Gefühl, dass kaum jemand uneitler ist, kaum jemand loyaler. Und dann sorgt der General doch selbst für eine kleine Korrektur. Kurz bevor seine Wagenkolonne erreicht ist, die neben der Tierklinik in Münchens Veterinärstraße parkt, kommt er noch einmal auf Stauffenberg zurück. Also, dass ein Hollywood-Schönling wie Tom Cruise diesen Mann spiele, nun gut, aber dass man dem Filmteam erlaubte, im Bendlerblock zu drehen! Eingesehen hat er das nicht. Wer die Filmleute denn reingelassen habe? »Ich nicht«, sagt der General, »das war eine politische Entscheidung.« Dann gibt sein Fahrer Gas. a www.zeit.de/audio
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»Das ist nicht Ökonomie, das ist Zauberei.« François Hollande, Vorsitzender der Sozialistischen Partei Frankreichs, zum Plan von Präsident Nicolas Sarkozy, einen Staatsfonds zu gründen
»Das ist nicht das, was in unserer Zukunft liegt.« Barack Obama, Kandidat der Demokraten für die US-Präsidentschaftswahl, zu der Meldung eines Anschlagsplans
»Jede Firma, die zusammenkracht, zeigt, dass die Marktwirtschaft funktioniert.« Harald Schmidt, Fernsehmoderator, auf die Frage, ob die Zeit des Kapitalismus nun vorbei sei
ZEITSPIEGEL
Buch des Jahres Erstmals erscheint am 27. November in der zweiten Ausgabe des neuen Literaturmagazins die Jahresbestenliste der ZEIT-Leser. Wir laden Sie deshalb herzlich ein, der Redaktion zu sagen, welches der im Jahr 2008 erschienenen Bücher Sie besonders gefesselt oder begeistert hat. Das kann ein Sachbuch genauso wie ein Roman sein. Wir freuen uns auf Ihre Antwort: entweder als Postkarte an DIE ZEIT, Buch des Jahres, Speersort 1, 20095 Hamburg – oder als E-Mail an
[email protected]. Sie können Ihr Buch des Jahres auch im Internet unter http://www.zeit.de/buchdesjahres eingeben. Bitte nennen Sie jeweils nur Autor und Buchtitel und senden Sie uns Ihren Favoriten bis spätestens 10. November. Unter allen Einsendern werden zehn Ausgaben des fünfbändigen ZEIT-Literaturlexikons verlost. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
Berichtigung Der Hauptfeldwebel Mischa Meier, der am 27. August bei einem Sprengfallen-Attentat starb, saß nicht, wie in der vorvergangenen Woche berichtet (Pflicht, Mut und sehr viel Frust, ZEIT Nr. 43/08), auf dem Beifahrersitz eines Patrouillenfahrzeugs vom Typ Dingo 2, sondern in einem viel weniger geschützten Fahrzeug vom Typ Wolf.
NÄCHSTE WOCHE IN DER ZEIT
Mein 9. November 1989. Vor 19 Jahren fiel die Berliner Mauer. In einer autobiografischen Erzählung lässt der Schriftsteller Durs Grünbein, einer der profiliertesten Autoren seiner Generation, die Ereignisse jener Nacht Revue passieren, von Schabowskis Versprecher über den Sturm auf die Grenzübergänge bis zum Tanz auf dem Kurfürstendamm. FEUILLETON Durs Grünbein:
Foto: B. Hiss/ullstein
Stauffenberg, der Name zieht sich durch sein ganzes Leben
Deutscher Widerstand. Gelegentlich wird dabei »gejohlt und gelacht«. Gefällt ihm nicht. Ob er selbst je zu einer Gewissensentscheidung gezwungen war? Die Frage ist ihm unangenehm. Nein, nur nicht in die Nähe von Stauffenberg gerückt werden, das stehe ihm nicht zu. Schneiderhan hat das grüne Barett der Panzertruppe aufgesetzt und wegen der grauen Wolken über München die Hände tief in den Manteltaschen vergraben. Dann erwähnt er doch diesen »unglaublichen Druck« im Mai 2007. »Ein Teil jener afghanischen Streitkräfte, die wir damals ausgebildet hatten, sollte in den Süden des Landes verlegt werden, in den Kampfeinsatz. Unsere Ausbilder, 12 oder 13 Mann, sollten ihnen folgen.« Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, der verbreiteten Vermutung entgegenzutreten, bei den deutschen Soldaten handele es sich um bewaffnete Entwicklungshelfer, die gern Brunnen bauen. Schneiderhan entschied: »Unsere gehen da nicht mit!« Einmal mehr, so erinnert er sich, hieß es: »Die feigen Deutschen, selbst die eigenen Leute fühlten sich nicht wohl.« Auf einer Rasenfläche des Englischen Gartens haben Mitarbeiter der Stadtwerke schweres Gerät gegen das Herbstlaub aufgefahren. Der General schaut kurz hinüber, sein Blick fällt dabei auf einen seiner Bodyguards, der in gut hundert Metern Sein Onkel war der gleichnamige Entfernung die Wiese auf- und abgeht. AfghanisWiener Geigenvirtuose, sein Vater tan, immer wieder Afghanistan. war selbst Offizier. 1946 wird WolfNicht nur, wenn der erste Offigang Schneiderhan im oberschwäMÜNCHEN zier der Bundeswehr nach bischen Riedlingen/Donau geKabul oder nach Kundus boren. Nach dem Abitur beTierärztl. kommt, auch in Berlin ginnt er 1966 seinen Dienst Fakultät und in München ist bei der Bundeswehr als Geschwisterdas Thema schon vor Zeitsoldat. 1968 wird er SchollPlatz MonopTierihm da. zum Leutnant, 1974 zum kliniken teros Vete Zum Beispiel der Hauptmann befördert. r inärs U tr. Universität politische Streit um Von 1979 bis 1981 betreut er im Verteidigungsdie richtige Wortwahl, ministerium das militäder in diesen Tagen die rische Nachrichtenwesen. Runde macht. SchneiEnglischer derhan nennt es »den 1990 geht er als Stabsoffizier G a r t e n 100 m für Rüstungskontrolle nach Krieg um die Worte«. Was Brüssel ins Nato-Hauptquartier. ist mit den Bundeswehrsoldaten, die in Afghanistan zu 1992 folgt die Versetzung an die Schaden kommen? Verletzen sie sich Führungsakademie in Hamburg. 1997 kehrt er ins Verteidigungsminisin den Kämpfen, oder werden sie verwundet, komterium zurück und steigt nach vier men sie um, oder fallen sie? Ein bizarre Debatte, der Jahren zum Leiter des Planungsstabes Generalinspekteur mag die Erörterungen nicht mehr auf. 2002 ernennt ihn der damalige hören. Er sagt, ihn interessiere die Abwägung nicht, Verteidigungsminister Scharping zum ob ein Sprengstoffanschlag im klassischen Sinne eine Generalinspekteur. Schneiderhan soll Kampfhandlung sei. die Armee auf die wachsende Zahl Soldaten seien so gestrickt, geradeaus zu denvon Auslandseinsätzen vorbereiten. ken, Dinge nicht unnötig zu komplizieren. »Wenn Kurz nach seinem Antritt wird das es ihnen hilft, warum benennen wir es nicht?«, Amt aufgewertet: Der Generalinspekmeint Schneiderhan, aus dessen Stimme jetzt alle teur ist nicht länger nur Berater, sonschwäbische Gemütlichkeit gewichen ist. Kaum dern bekommt die Kommandogewalt merklich nickt der Adjutant an seiner Seite mit über die Auslandsmissionen. Die dem Kopf. »Warum nicht die soldatische Sprache Strukturreform von 2004 schafft die benutzen, wenn es den Kameraden hilft, Motivation zu finden? Warum nicht sagen, jemand ist Voraussetzungen für diese Einsätze. verwundet oder gefallen – wenn man sie mit dieSchneiderhan ist verheiratet und hat sen Worten heraushebt aus dem Kreis jener, die vier Kinder. sich mit ihrem Dienstfahrzeug bei einem Unfall in der Heimat verletzen?« Mit der Hand zeigt Schneiderhan Richtung Osten, wo er Schwabing vermutet, das Büro seiner Tochter. Sie ist Diplom-Psychologin, arbeitet in einem Unternehmen für Industrieberatung. Früher hat er sich schon gefragt, was sie in »einem solchen Laden« mache. Dann hat er es sich von ihr erklären lassen, wie das geht, große Messen vorzubereiten, an das richtige Logo zu denken, die passenden Farben und Bilder zu wählen. Auch die Streitkräfte sollten sich dem Ratschlag von Experten nicht entziehen, »Kommunikation ist das A und O«. Damals, zu Zeiten des Kalten Krieges,
schen Heimat. Weber war es, der ihn im Unterricht mit dem Namen Stauffenberg bekanntgemacht hat, der mit ihm »über die Grenzen des Gehorsams« gesprochen hat, »über Pflicht und Loyalität«. Ein Jahr vor seinem Tod habe ihm der Lehrer ein Paket mit seinen wichtigsten Büchern zugeschickt. Ihm, dem Soldaten, der nicht studiert hat. »Es hat mich geehrt und gerührt.« Stauffenberg, der Name zieht sich durch sein ganzes Leben. Zweimal hat er die Witwe von Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg getroffen, bei der goldenen Hochzeit eines Stauffenberg-Sohnes war er Gast. Vor allem aber, Schneiderhans Dienstzimmer befindet sich im Berliner Bendlerblock am Landwehrkanal. Nach dem gescheiterten Anschlag auf Hitler am 20. Juli 1944 wurden in der Nacht darauf im Hof des Bendlerblocks Stauffenberg und drei seiner Mitverschwörer erschossen. Wenn Schneiderhan morgens das Gebäude betritt, sieht er manchmal Schulklassen auf ihrem Weg in die Gedenkstätte
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ier also ist sie, jene Treppe der Münchner Universität, die Sophie Scholl am 18. Februar 1943 hinaufgestiegen ist. Oben, auf der Empore, verteilte die junge Studentin jene Flugblätter, die ihr nur vier Tage später, von Roland Freisler verurteilt, den Tod brachten. Viele Deutsche bezeichnen Sophie Scholl als Vorbild, bewundern sie für ihren Mut, auch Wolfgang Schneiderhan. Der ranghöchste deutsche Soldat ist nicht zum ersten Mal hier. Dem Generalinspekteur der Bundeswehr gefiel der Vorschlag, den gemeinsamen Spaziergang in München an der DenkStätte Weiße Rose zu beginnen. Feldjäger in Zivil hatten sich zuvor in der Universität umgesehen, hatten sich auf den Fluren kurz unter die Studenten gemischt und den Weg hinauf zur Empore abgeschritten. Weil sie nichts Verdächtiges fanden, ist der Generalinspekteur der Bundeswehr nun auf den historischen Stufen dieses Treppenhauses der Ludwig-Maximilians-Universität München leibhaftig unterwegs. Es ist ein kleiner Pulk, der da des Weges kommt. Zwei Bodyguards aus Berlin, zwei von der Bundeswehr in München, die in Bayern jeden Baum und jeden Strauch kennen, die Adjutanten, der »Sprecher Streitkräfte« und mittendrin, einen Kopf kleiner als alle anderen, der Generalinspekteur der Bundeswehr. Ein Mann, der die Medien gern meidet. Auf den Schulterklappen der grauen Uniformjacke prangen vier goldene Sterne, seine Begleiter machen ebenfalls nicht den Eindruck, als hätten sie soeben im Romanistik-Seminar gesessen. Trotzdem nehmen die Studenten kaum Notiz von den acht Männern, die da auf den Korridoren der Uni an ihnen vorbeiwehen. Auf einem Treppenabsatz bleibt Schneiderhan stehen, mit ihm stoppt der ganze Tross. Von sich aus kommt der General auf die besondere Atmosphäre dieses Ortes zu sprechen. Der Staatsbürger in Uniform sei nicht denkbar ohne jene, die »den Widerstand zu einer Traditionslinie deutscher Streitkräfte gemacht haben«. Mit dem Wissen um die Grenzen des Gehorsams habe eine neue Gedankenwelt in die Köpfe führender Soldaten Einzug halten können. Dankbarkeit sei angebracht, denn auch andere Kräfte, andere Überzeugungen hätten obsiegen können.
VIER STERNE. Wolfgang Schneiderhan im Englischen Garten in München
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Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, zum umstrittenen Einsatz von Nacktscannern an ausländischen Flughäfen
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Fotos: Peter Endig/dpa Picture-Alliance; Werner Bartsch (kl.)
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Was uns wirklich angeht – und was nicht Afghanistan, Balkan, Afrika: Die militärischen Interventionen des Westens sind fragwürdig
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nter den knapp 200 Staaten der Welt gibt es heute über 70 friedenserhaltende oder Frieden schaffende transnationale Operationen und andere Interventionen. Nur ein Teil davon beruht auf UN-Mandaten. Seit Anfang der 1990er Jahre hat vornehmlich der Westen immer öfter und immer stärker in den verschiedensten Weltgegenden interveniert – vom Balkan über Afrika bis nach Asien. Der Grund für diese Häufung war das Ende der Ost-West-Konfrontation: Die Sowjetunion als gefährlicher möglicher Gegner hatte sich selbst aufgelöst, infolgedessen fiel eine bisher sehr wichtige Hemmung gegenüber solchen Interventionen weg. Viele Interventionen wurden mit hohem moralischen Anspruch begründet: mit einer transnationalen Pflicht zum Schutz von Menschenleben und Menschenrechten. Es ist an der Zeit, sich damit gründlich kritisch auseinanderzusetzen. Einer der Gründe für meine Skepsis ist, dass ein Teil der Interventionen nicht allein aus humanitären, sondern auch aus politischen Gründen erfolgt ist. Ein politisches Motiv kann zwar humanitär oder völkerrechtlich bemäntelt sein; aber es bleibt Politik – und schnell können sich machtpolitische und auch imperiale Instinkte einmischen. Zum anderen erscheint es mir durchaus zweifelhaft, ob die Vielzahl der humanitären Interventionen im Ergebnis zu einer Vielzahl von Erfolgen geführt hat. Einige der eklatantesten Beispiele für Misserfolge hat man in Ostafrika erlebt: Ruanda, Burundi und Somalia. Ein dritter Aspekt ist, dass Interventionen, die moralisch gerechtfertigt oder sogar notwendig wären, gleichwohl unterbleiben, weil die Interessen einer Großmacht verletzt würden – oder weil sie zu viele Kräfte fordern würden. Man interveniert dort, wo man glaubt, auf nicht allzu viel Widerstand zu stoßen. Wo aber der Widerstand mit militärischer Gewalt gebrochen wird, leidet oft die unbeteiligte Zivilbevölkerung in hohem Maße; Irak, Afghanistan oder die Bomben auf die offene Stadt Belgrad sind Lehrbeispiele. Wo dagegen von vornherein harter Widerstand erwartet wird, dort unterlässt man lieber die Intervention. Insgesamt macht mir die Vielzahl der Interventionen den Eindruck eines weitgreifenden Opportunismus.
Wir sind dabei, die Kräfte der Bundeswehr zu überfordern Jede militärische Intervention begegnet dem fundamentalen Einwand, dass das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates ein Kern des Völkerrechts ist. Es wird immerhin seit 350 Jahren, seit dem Frieden von Münster und Osnabrück, von den meisten Regierungen der Welt und von den allermeisten Staatsmännern und Staatsphilosophen der Welt theoretisch anerkannt, seit 1945 ist es in der Charta der UN verankert. Es gibt allerdings Ausnahmefälle, in denen das Souveränitätsprinzip durchbrochen werden muss; Hitlers Vernichtung der polnischen Juden wäre ein solcher Fall gewesen. Aber die Ausnahme darf nicht zur Regel werden. Wir Deutschen haben angesichts unserer Geschichte im 20. Jahrhundert gute Gründe, mit eigener Beteiligung an militärischen Interventionen zurückhaltend zu sein.
VON HELMUT SCHMIDT
Grundsätzlich muss die Regel gelten, dass man nicht zu beteiligen (die andere war die Agenkeine Aufgaben übernehmen darf, für welche die da 2010). Die Entscheidung war völkerrechtlich eigenen Mittel nicht ausreichen können. Die eige- geboten, sie lag außerdem im deutschen Interesse. nen Mittel – das meint vornehmlich die Bundes- Die Rücksicht darauf, was unsere Verbündeten in wehr. Sie ist ausgebildet und ausgestattet für die Amerika, England oder Polen von uns erwarteten, Verteidigung Deutschlands gegen einen feind- musste dagegen zurücktreten. Man darf aus der lichen Angriff. Sie ist nicht darauf vorbereitet, ir- Nato nicht eine Art Oberregierung werden lassen. gendwo in Asien den Dorfrichter Adam zu spielen. Die Nato ist aber vornehmlich ein strategisches InDie englischen Militärs haben dergleichen in In- strument der Amerikaner geworden, nach 1991 dien und anderswo im viktorianischen Weltreich mehr als je zuvor. Seit 1823 ist die Monroe-Doktrin ein ehrwürgelernt – wir Deutschen nicht. Wir sind mühsam dabei, das für Afghanistan zu lernen, wir haben es diges Prinzip der Außenpolitik der Vereinigten in Bosnien und im Kosovo mühsam auf die Beine Staaten gewesen. Sie besagte zweierlei: einmal, dass gestellt. Insgesamt sind wir heute dabei, die Kräfte die Europäer von Nord- und Südamerika die Hände zu lassen hätten. Und zum anderen, dass die unserer Truppen zu überfordern. Bisher hat es über die deutschen Beteiligungen Amerikaner sich nicht um Europa kümmern würan militärischen Interventionen keine ausreichen- den. Die erste Hälfte der Monroe-Doktrin gilt noch heute: Die Amerikaner wolde öffentliche Debatte gegeben, len nicht, dass die Europäer, die insbesondere keine ParlamentsRussen, die Chinesen oder sonst debatte, die tief genug geschürft jemand auf dem amerikanischen hätte. Ich vermute, die Debatte Kontinent Einfluss nehmen. Die wird nachgeholt werden, möglizweite Hälfte aber ist ins Gegencherweise mit Ergebnissen, die für teil verkehrt worden. Die Verdie Regierung nicht erfreulich einigten Staaten beanspruchen sind. Die Bundeswehr ist aber mit Hilfe der Nato eine Fühdoch ein Parlamentsheer! Als wir rungsrolle in Europa. Und »Euro1955/56 das Grundgesetz gründHELMUT SCHMIDT: »Gute pa« definieren sie weit ausgreilich verändert haben, um die BunBeziehungen zu unseren fend. Die Idee, die Ukraine und deswehr voll einzubauen in die Nachbarn sind für uns Georgien in die Nato aufzunehStruktur unserer Demokratie, war Deutsche wichtiger als men, stammt aus den USA. Nach es das Parlament, das den Rahmen die Beteiligung an Streit den Reden einiger amerikanischer für die Armee geschaffen hat, nicht und an Konflikten am Zeitungen sind dafür menschenetwa die Regierung Adenauer. Es Kaukasus oder in Tibet« rechtliche Gesichtspunkte ausgeschah vielmehr gegen den Wilschlaggebend. Aber wenn man len Adenauers. Die Interventionen in Bosnien und im Kosovo, auch die Beteiligung einen »neokonservativen« Strategen wie Robert an der Intervention in Afghanistan, waren zwar Kagan liest, dann erkennt man die imperialen nicht von vornherein Parlamentsentscheidungen; Motive, die dahinterstehen. Es ist daran zu erinnern, dass die Nato, in deaber ohne Beschluss des Bundestages kann kein ren Rahmen wir uns am Einsatz in Afghanistan deutscher Soldat im Ausland eingesetzt werden. Bisweilen hört man, wir müssten uns aus Soli- beteiligen, ein Produkt des Nordatlantikvertrages darität im Nato-Bündnis an militärischen Inter- ist. Der Nordatlantikvertrag hat im Artikel 6 ganz ventionen beteiligen. Das Argument passt besser klare geografische Grenzen gezogen. Der Konflikt in die Nibelungensage als in die heutige Wirklich- zwischen Argentinien und England über die Falkkeit. Denn das nordatlantische Bündnis war und landinseln ging uns deshalb nicht an. Ein Gleiches ist ein Verteidigungsbündnis, nicht etwa ein Bünd- gilt heute für einen Konflikt zwischen Russland nis zur Umgestaltung der Welt. Solange es ein Ver- und Georgien. Der Balkan dagegen ist zwar ein teidigungsbündnis bleibt, ist es erwünscht, weil für Teil Europas, aber der Anlass für die seit 1998 aneinen Notfall notwendig. Aber daraus ein Instru- dauernde militärische Intervention des Westens ment zur Umgestaltung fremder Staaten zu ma- war nicht ein Angriff auf einen Bündnispartner, chen, daran sollten wir nicht mitwirken, auch sondern der blutige Zerfall des jugoslawischen wenn von einigen Politikern oder Schreibern der- Staates. Andererseits ist der Balkan immer schon gleichen als Ausdruck weltpolitischer Verantwor- – seit den Zeiten des römischen Kaisers Marcus tung dargestellt wird. Wo immer von weltpoliti- Aurelius – ein unruhiger, umkämpfter Teil Euroscher Verantwortung die Rede ist, dort muss man pas gewesen; es wäre verwunderlich, wenn dort morgen der ewige Frieden anbräche. Unsere Konprüfen, was die eigentlichen Motive sind. Zweifellos gibt es weltpolitische Verantwor- sequenz kann nur Zurückhaltung bei der Übertung. Das zeigt zum Beispiel die gegenwärtige Fi- nahme von Verpflichtungen sein. Zwar hat das nanzkrise. Wenn unsere Nachbarn und Partner westliche Eingreifen das Blutvergießen auf dem etwas von uns erwarten, dann müssen wir in jedem Balkan beendet, aber doch nur so lange, wie dort Falle deren Erwartungen sorgfältig prüfen; und so- immer noch fremde Interventionstruppen stehen, weit wir sie für richtig halten, müssen wir ver- darunter auch deutsche. In dem Augenblick, wo suchen, den Erwartungen entgegenzukommen. sie abgezogen würden, könnte man die Lage nicht Allerdings sehe ich keinen ausreichenden Grund mehr mit demselben Optimismus beurteilen. Es ist relativ leicht, militärisch zu intervenieren, dafür, warum wir dem Wunsch der amerikanischen Bündnisvormacht hätten entsprechen und uns am aber es ist keineswegs leicht, wieder abzuziehen, Irakkrieg beteiligen sollen. Es war eine der beiden ohne ein Chaos zu hinterlassen – das sieht man im richtigen großen Entscheidungen, die Bundes- Irak, im Kosovo und in Bosnien. Man wird es auch kanzler Schröder getroffen hat, sich am Irakkrieg in Afghanistan sehen. Niemand spricht heute da-
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Soldaten der Bundeswehr AUF PATROUILLE in Kundus, Afghanistan
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von, das Kosovo zu verlassen – aus guten Gründen; auch ich würde diese Konsequenz heute nicht ziehen wollen. Wenn man abziehen will, muss das sehr sorgfältig und langfristig so vorbereitet werden, dass danach geordnete Verhältnisse herrschen. Wenn hinterher Mord und Totschlag ausbrechen, war die Intervention falsch. Weil man das Eingeständnis scheut, bleibt man lieber. Im Falle Kosovo und Bosnien bleibt allerdings der schwerwiegende Mangel, dass die humanitär begründete Intervention völkerrechtlich ein Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen gewesen ist (und die deutsche Beteiligung war außerdem ein Verstoß gegen den Zwei-plus-Vier-Vertrag, die völkerrechtliche Grundlage für unsere Wiedervereinigung). Mit diesem Makel müssen alle Beteiligten leben. Die UN und ihr Sicherheitsrat können keinem Staat die Beteiligung an einer militärischen Intervention auferlegen; der Ministerrat des Nordatlantikvertrages oder der Generalsekretär der Nato könnten das erst recht nicht. Wohl aber durfte der UN-Sicherheitsrat 2001 die Intervention in Afghanistan legitimieren, weil dort offenkundig die Amerika angreifende und weltweit agierende terroristische al-Qaida ihre Basis hatte. Allerdings waren damals Art, Umfang und zeitliche Dauer der militärischen Intervention (und der Beteiligung daran) durchaus offen.
Am klügsten war Alexander der Große Tatsächlich hatte die amerikanische Führung nur eine unzureichende Vorstellung von den Umständen, die sie in Afghanistan zu erwarten hatte. Es war ihr nicht bewusst, dass im Norden des Landes die Berge 3000 und 4000 Meter hoch sind, mit tief eingeschnittenen Tälern. Es war ihr nicht bewusst, dass viele Völkerschaften und noch mehr Stämme seit vielen hundert Jahren dort zwar gelernt haben, einigermaßen miteinander auszukommen, dass aber das islamisch geprägte Afghanistan als Staat nie wirklich regierbar gewesen ist und dass deshalb vielfach äußere Mächte eingegriffen haben. Der klügste Interventionist ist Alexander der Große gewesen; er kam von Westen, dem heutigen Iran, ins Land, und ging anschließend über den Khyberpass im Osten wieder hinaus. Die Engländer haben sich in Afghanistan zweimal eine blutige Nase geholt, mit Zehntausenden toter englischer und indischer Soldaten; die Sowjets haben sich dort ebenfalls eine blutige Nase geholt. Heute wird dort mit einer Truppenmasse interveniert, die nur etwa ein Drittel der sowjetischen Besatzungsarmee ausmacht; aber die Sowjets haben damals den Kürzeren gezogen. Heute ist al-Qaida längst auf das Gebiet des gleichfalls islamischen Pakistan ausgewichen. Aber weil Pakistan fünf- oder sechsmal so viele Menschen hat wie Afghanistan und weil es eigene Atomwaffen und Raketen besitzt, denkt kein vernünftiger Mensch an eine Intervention dort. Wohl aber geht in Afghanistan der Kampf weiter – heute zumeist gegen die Taliban. Und die Zahl der Partisanen und Terroristen steigt. Nur in Ausnahmefällen und höchstens punktuell kann man Terroristen erfolgreich mit militärischen Mitteln bekämpfen. Der islamistische Terrorismus hat durch mancherlei westliche Politiken
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und durch Interventionen in mehreren islamischen Ländern der Welt Zulauf gefunden. Er kann mit militärischen Mitteln nicht wirksam beendet werden. Viel eher ist auf eine Austrocknung durch respektvollen und klugen Umgang mit den vielen islamisch geprägten Völkern und ihren Staaten zu hoffen. Unter allen gegenwärtigen weltpolitischen Sorgen ist für uns Europäer der seit langen Jahrzehnten anhaltende Konflikt zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn wichtiger als die Konflikte am Hindukusch und im Kaukasus oder über eine angeblich beabsichtigte atomare Rüstung Irans oder über eine weitere Ausdehnung des nordatlantischen Bündnisses. Denn wenn es zu einem allgemeinen clash of civilizations zwischen dem Westen und dem islamisch geprägten Teil der Welt käme, ausgelöst durch Terroristen oder durch Akte der beteiligten Regierungen, dann würden wir Europäer darunter um ein Vielfaches mehr zu leiden haben als die Menschen in New York, Dallas oder Kalifornien. Deshalb müssen wir beständig dagegen auftreten, wenn der großen Zahl muslimisch geprägter Völker und Staaten vom Westen aus mit Argwohn und Ablehnung begegnet wird. Was uns Deutsche aber vor allem anderen angeht, ist das Verhältnis zu unseren Nachbarn. Mit der Ausnahme Russlands und Chinas oder Brasiliens haben wir mehr unmittelbare Nachbarn als irgendein anderer Staat der Welt. Alle Kriege, welche wir Deutschen in den vergangenen Jahrhunderten geführt haben, haben wir gegen unsere Nachbarn geführt. Die zentrale Lage Deutschlands erlegt uns die Aufgabe guter Nachbarschaft in höherem Maße auf, als sie anderen Völkern auferlegt ist. Wenn wir auf einer Insel lebten wie die Engländer, brauchten wir kaum gute Nachbarschaft zu pflegen. Wenn wir auf einer Halbinsel lebten wie die Spanier, hätten wir nur zwei Nachbarn. Aber wir haben neun unmittelbare Nachbarn, darunter die für uns besonders wichtigen Franzosen und Polen; dazu kommen außerdem noch die etwas weiter entfernten Russen, Engländer, Italiener und Schweden. Hier liegt für uns Deutsche eine dauernde, unglaublich schwierige Aufgabe. Das Verhältnis zwischen den Franzosen und den Deutschen ist erstaunlich gut, aber wohl noch nicht endgültig gefestigt. Das Verhältnis zwischen den Niederländern und den Deutschen ist nicht ohne Probleme, auch das zwischen den Dänen und den Deutschen nicht. Das Verhältnis zwischen den Polen und den Deutschen ist nicht sehr gut, das Verhältnis zwischen den Tschechen und den Deutschen desgleichen. Wir werden auch am Ende dieses Jahrhunderts unmittelbare Nachbarn der Polen sein; sie werden weiter ihre polnische Sprache sprechen, ihre polnische Geschichtstradition, ihre polnische literarische Tradition pflegen, die Tschechen die ihren, wir Deutschen die unseren. Ich hoffe, dass wir gut miteinander auskommen. Gutnachbarliche Beziehungen zu unseren Nachbarn sind für uns Deutsche sehr viel wichtiger als die Beteiligung an Streit und Konflikten am Kaukasus, am Hindukusch oder in Tibet. Es gibt Probleme in der Welt, die für uns nicht lösbar sind. Das gilt für die Politik und für die Strategie. Die lösbaren Probleme soll man lösen, wenn man dazu fähig ist. Die unlösbaren Fragen müssen wir mit Gelassenheit auf sich beruhen lassen.
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30. Oktober 2008 DIE ZEIT Nr. 45
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MAIL AUS
Jerusalem VON:
[email protected] BETREFF: Technisch rein
Ein beliebtes Motiv in ausländischen Medien sind streng religiöse Juden mit einem Handy am Ohr. Am besten vor der KlagemauerKulisse. Dieser Hingucker soll wohl suggerieren, dass tiefe Frömmigkeit und drahtlose Kommunikation einander nicht ausschließen. Das ist ungefähr so, als wundere man sich darüber, dass in diesen Haushalten heute mit einer hypermodernen Waschmaschine gewaschen wird. Doch mit der im Hightechbereich so erfinderischen – und im Übrigen überwiegend säkularen – Gesellschaft hat das alles herzlich wenig zu tun. Richtig ist, dass die neuesten Generationen der tragbaren Telefone durchaus ein Problem für Strenggläubige darstellen. Die ultraorthodoxe Gemeinde in Mea Shearim hat den MP4 zum »unreinen Apparat« erklärt, weil darauf ja auch verbotene Filme gesehen werden könnten. Dafür haben die ebenfalls einst verpönten MP3-Geräte, mit denen sich allein Ton aufnehmen lässt, den Durchbruch geschafft. Der Besitz ist sogar zu einem Muss geworden. Vor dem kleinen Laden in Mea Shearim, wo man mittlerweile Thora-Vorlesungen gegen einen Aufpreis herunterladen kann, stehen nun die frommen Männer Schlange. Dazu zirkuliert ein – erlaubter – Videoclip im Internet: Ein ultraorthodoxer Rabbiner schickt sich zu einem Vortrag an. Schnell stapeln sich neben seinem Mikrofon die MP3-Geräte. Als der Rabbiner die Augen zum Publikum aufrichtet, merkt er, dass der Saal leer ist. Daraufhin nimmt er ungerührt sein eigenes MP3 aus der Tasche, drückt auf »play« und geht.
Achiltibuie VON:
[email protected] BETREFF: Geschichte eines Wortes
Gay Gordons ist ein beliebter schottischer Volkstanz. Er geht auf die Gordon Highlanders zurück, ein sehr maskulines Regiment, das mit besonderem Stolz auf eine Schlacht 1897 in dem afghanischen Bergland zurückblickt, dort, wo heute Osama bin Laden vermutet wird. Der Dudelsackspieler der Einheit spielte mit durchschossenen Beinen auf dem Hintern sitzend sein Instrument, bis der Sieg errungen war. Das Regiment wurde 1994 aufgelöst. Um die Zeit begann der Bedeutungswandel des Wortes gay. Zuvor bedeutete es draufgängerisch, fröhlich, bunt und nur umgangssprachlich auch schon mal schwul. Heute steht gay für schwul, Punkt. Die Schwulenlobby wollte das so, sie hat das Wort in einem sprachlichen Putsch annektiert. Wer gay sagt und fröhlich meint, wird heute kaum mehr verstanden. Nun vereinnahmten Londoner Gays auch die volkstümliche Tradition. Mitglieder des Schwulenclubs Gay Gordons treffen sich zweimal in der Woche zu Tanzstunden im trendigen Stadtteil Islington. Sie tragen mit Vorliebe Kilts. Tanzlehrer John Taylor, steht in einer Aufforderung zum Mitmachen, ermutige erfahrene Teilnehmer, Neulinge unter ihre Fittiche zu nehmen. Nach jedem Tanz werden Partner getauscht. Besonders wichtig: »Schuhe mit weichen Sohlen und Wasser mitbringen!« Mit schwulen Tänzern könnte sich ein Gay Gordon von altem Schrot und Korn wahrscheinlich noch abfinden. Aber mit weichen Sohlen und Wasser anstatt mit harthackigen Brogues und Whisky? Das geht entschieden zu weit.
HORST SEEHOFER mit Frau und Kindern auf der Tribüne des Landtags
Schuld und Schulden Fauchen, knurren, feilschen: CSU-Chef Horst Seehofer versucht einen Neuanfang mit alten Rezepten München er später einmal die Geschichte der CSU schreibt, wird an dieser Szene nicht vorbeikommen. Es war am vergangenen Donnerstag, als sich mehrere Hundert Mitarbeiter im Innenhof der Bayerischen Landesbank versammelten. Es dunkelte bereits. Angestellte in dunklen Anzügen und weißen Hemden waren aus ihren Büros gekommen, um ihrer Wut freien Lauf zu lassen. Der Wut auf die Vertreter des Freistaats, die ihre Bank im Verwaltungsrat kontrollieren sollten und die nun in ihren schwarzen Limousinen vorfuhren, um über den Vorstand der Bank zu richten. Und der Wut auf den neuen Ministerpräsidenten, der da noch gar nicht gewählt war, der aber bereits unmissverständlich den Rücktritt des Bankchefs gefordert hatte. Es war der Tag, an dem der Neuanfang, den sich die CSU vorgenommen hatte, in einem Desaster zu enden drohte. Wenn selbst die Mitarbeiter der landeseigenen Bank nicht mehr vor der Obrigkeit Halt machen, sondern Transparente hochhalten und Fäuste ballen – welche Ordnung gilt dann überhaupt noch im Freistaat? »Ein bisschen Räterepublik im 21. Jahrhundert« beobachtete die Süddeutsche Zeitung. Und falls sich Horst Seehofer noch Illusionen gemacht haben sollte, dann weiß er spätestens seit diesem Abend, auf welches Abenteuer er sich in München eingelassen hat. Der 23. Oktober 2008 war der Tag, an dem in Bayern alles, aber auch wirklich alles möglich schien. Nicht einmal fünf Wochen sind seit der Landtagswahl vergangen, bei der die CSU auf 43 Prozent stürzte. Seither erlebt die Partei die Gegenwart wie in einer Zeitmaschine. Veränderungen, die sonst Jahre dauern, ereignen sich im 24-StundenTakt. Am Donnerstag revoltierten die Banker. Am Freitag besiegelten CSU und FDP die erste Koalitionsregierung im Freistaat seit fast einem halben Jahrhundert. Am Samstag pfiff die CSU ihren alten Helden Stoiber aus. Am Montag hob Horst Seehofer vor dem Bayerischen Landtag seine rechte Hand zum Amtseid: »So wahr mir Gott helfe!« Von der Tribüne winkte ihm die bayerische FDPChefin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zu. Seehofers Frau Karin klatschte. Und an diesem Donnerstag wird der neue Ministerpräsident sein Kabinett vorstellen. Kein Wunder, dass vielen CSUlern ganz schwindlig wird und schwarz vor Augen. Ausgerechnet die Partei, die geerdet war wie keine zweite, erlebt eine Beschleunigung ohne Beispiel. Und niemand kann
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sagen, wie das enden wird: ob die Geschichte dieser Tage und Wochen einmal vom mühsamen Wiederaufstieg der XXL-Volkspartei handeln wird – oder doch von ihrem unaufhaltsamen Abstieg. Am vergangenen Freitag, die Verhandlungen mit der FDP waren gerade beendet, und der Machtkampf um die Landesbank war vorerst verloren, stand Horst Seehofer im Foyer der CSU-Zentrale und hielt einen Augenblick inne. Nein, von einem Aufbruch wollte er nicht sprechen. Erst einmal gehe es darum, die Partei »zu stabilisieren«. Dass es um die Geschäfte der Bayerischen Landesbank nicht gut steht, war seit Monaten bekannt. Aber wie tief das Kreditinstitut in die Finanzkrise verstrickt ist, wurde erst jetzt deutlich. Ausgerechnet die Bayern LB, die jeweils zur Hälfte dem Freistaat und den bayerischen Sparkassen gehört, musste als Erste Geld aus dem Rettungsfonds der Bundesregierung anfordern, 5,4 Milliarden Euro. Der Freistaat selbst schießt noch einmal 700 Millionen Euro zu, die Sparkassen weitere 300 Millionen. Ob mit diesen Summen tatsächlich alle Risiken, die die Bank eingegangen ist, abgedeckt werden können, vermag niemand zu sagen.
»Bitte lasst uns die Vergangenheit nicht kaputt machen!« Als sei die Erschütterung durch die Wahl nicht schon groß genug, trifft das Desaster der Landesbank die CSU doppelt. Es belastet die Zukunft und diskreditiert die Vergangenheit. Zwar verspricht die neue Landesregierung für die kommenden Jahre mehr Ganztagsschulen, mehr Lehrer und mehr Polizisten, doch ob sie dieses Versprechen auch einhalten kann, ist ungewiss: je größer das Defizit der Landesbank, desto weniger Polizisten und Lehrer. Außerdem wirft die aktuelle Entwicklung einen bösen Schatten auf die zurückliegenden Jahre. Seine ganze Politik hatte Edmund Stoiber einst darauf ausgerichtet, dass Bayern als erstes Bundesland einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen konnte. Statt Stolz erntete die CSU hierfür ungeahnte Proteste: Nicht zuletzt wegen der rigiden Sparpolitik verweigerten viele Wähler der Partei ihre Stimme. Nun sieht es so aus, als bestätigten die halsbrecherischen Geschäfte der Landesbank ihren Unmut. »Das Rennen nach einem ausgeglichenen Haushalt hat politisch ins Desaster geführt«, sagt einer aus der Parteiführung. »Wir beginnen politisch wieder bei null.«
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Der Mann, der für diese Vergangenheit verantwortlich ist, saß beim Parteitag der CSU am vergangenen Samstag in der ersten Reihe und traute seinen Ohren nicht. Pfiffe und Buhrufe gellten durch die Messehalle, als Edmund Stoiber begrüßt wurde. Sie kamen aus den Reihen der fränkischen Delegierten und galten vor allem dem Intriganten Stoiber, der allzu offensichtlich am Sturz seiner Nachfolger Huber und Beckstein mitgewirkt hatte. Nicht nur der niederbayerische Bezirksvorsitzende Manfred Weber erschrak. Flehentlich forderte er seine Parteifreunde im Plenum auf: »Bitte lasst uns die Vergangenheit nicht kaputt machen!« Horst Seehofer kündigte später an, er wolle sich zuvorderst um »die Integration aller Volksstämme« im Freistaat bemühen. Dabei standen ihm nicht Türken oder Kosovaren vor Augen, sondern Altbayern und Franken, die in der Messehalle sorgfältig voneinander getrennt saßen. Man konnte den Eindruck gewinnen, als handele es sich bei dieser jahrhundertealten Stammesfehde gegenwärtig um das größte gesellschaftliche Problem des Freistaats. Wie stabilisiert man nun eine Partei, die eine unsichere Zukunft vor sich hat und die sich selbst ihrer eigenen, bis gestern noch so ruhmreichen Vergangenheit nicht mehr sicher ist? Die Vertreter der Alphatier-Theorie in der CSU verweisen auf Horst Seehofer und dessen Auftritt auf dem Parteitag. Endlich, seufzen sie erleichtert, habe die CSU wieder »eine richtige Nummer eins«. Eine Nummer eins, die schnurren kann und fauchen, die der Basis schmeichelt und Berlin droht, die frei redet und so schwungvoll aus dem Koalitionsvertrag vorträgt, als handele es sich um ein pralles Stück Poesie, nicht um dürre Politprosa. Der Huber und der Beckstein, sagen die Vertreter der Alphatier-Theorie, die hätten das leider nicht gekonnt. Seehofer selbst hatte vor einiger Zeit einmal angemerkt, im Vergleich mit Angela Merkel sei er lediglich ein Betatier. Man musste das schon damals nicht ernst nehmen. Nun, da er Parteichef ist und sich auf Augenhöhe wähnt, sagt Seehofer der großen Schwester den Kampf an. Niemand solle sich täuschen, rief er in München: »Meine Kampfkraft wird sich auch auf Berlin erstrecken!« Ob Erbschaftsteuer oder Pendlerpauschale, die CSU bleibe »Hoffnungsträgerin für die bürgerlichen Menschen in ganz Deutschland«. Das Argument entbehrt nicht der Ironie: Ausgerechnet in dem Moment, in dem sich die bürgerlichen Wähler in Bayern von der CSU abwenden, preist Seehofer
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seine Partei als Retterin der Union für den Rest des Landes. Nun gibt es auch in der CSU kritische Köpfe, die nicht nur an Horst Seehofer zweifeln, sondern auch an seiner Interpretation der Alphatier-Theorie. Sie weisen darauf hin, dass ihnen die Sätze des neuen Parteivorsitzenden sehr bekannt vorkommen, weil sie sie schon so oft gehört haben – von Strauß und Stoiber und Seehofer selbst. Und sie fragen sich, ob es besonders klug ist, ausgerechnet jetzt in Richtung Berlin zu wettern, da man doch gleichzeitig auf die Finanzhilfe des Bundes angewiesen sei. Ob es überhaupt klug ist, wieder in die alte Rolle des polternden Gernegroß zurückzufallen, gerade so, als hätten sich die Umstände in München und in Berlin nicht dramatisch geändert. Nein, antworten die Zweifler, neue Töne oder neue Gedanken hätten sie in den vergangenen Wochen noch nicht von Seehofer gehört.
Seehofers Drohungen gegen Merkel spielen der SPD in die Hände Auch die CDU verfolgt das Treiben Seehofers skeptisch. Das Verhältnis zwischen den Unionsparteien ist ohnehin angespannt. Weil Merkel die Wiedereinführung der Pendlerpauschale abgelehnt hat, wirft die CSU der CDU mangelnde Unterstützung im Landtagswahlkampf vor. Seehofers Drohungen klingen da wie Rache. In jedem Fall spielen sie der SPD in die Hände, die mit dem Blick auf die kommende Bundestagswahl vor allem ein Ziel verfolgt: Merkel als führungsschwache Hausmeisterin einer zerstrittenen Union darzustellen. Horst Seehofer mag so weit noch nicht denken. Um die sieche CSU wieder aufzurichten, scheint ihm vorerst jedes Mittel recht zu sein. Wie tief die Wunden sind, die sich die CSU in den vergangenen Jahren selbst geschlagen hat, zeigte eine kleine Szene auf dem Parteitag. Günther Beckstein, der scheidende Ministerpräsident, stand auf der Bühne und sprach ein paar Abschiedsworte. Er wolle kein Vermächtnis formulieren, sagte er, aber die Messlatte für die CSU liege auch künftig bei 50 Prozent plus X. Dann fügte er giftig hinzu: »Es gab ja welche, die sie sogar auf 52 Prozent legen wollten.« Der Mann, der Beckstein derart unter Druck gesetzt hatte, erschien umgehend auf der Videoleinwand und lachte. Es war Horst Seehofer. i Weitere Berichte und Kommentare zur CSU und zu Bayern auf ZEIT ONLINE: www.zeit.de/bayernwahl
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»Unser Modell hat Zukunft« Angesichts der Finanzkrise reden alle von der Rückkehr der Politik. Der Fraktionsvorsitzende der Union sieht das anders: Die Politik war für Volker Kauder nie weg
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Herr Kauder, wann ist Ihnen klar geworden, dass im internationalen Finanzsystem Risiken dieser Größenordnung schlummern? VOLKER KAUDER: Ich habe schon vor einiger Zeit mit Bankern darüber gesprochen, ob in diesem System nicht nur große Blasen aufgepumpt werden, die irgendwann platzen. Auf Dauer ist es unrealistisch, aus Betrieben Renditen von bis zu 25 Prozent zu erzielen. Es wäre dennoch völlig falsch, jetzt die Finanzwirtschaft pauschal zu diskreditieren. Wir brauchen aber wieder mehr Maß und Mitte. Von denen, die im Finanzgeschäft tätig sind, erwarte ich mehr Respekt vor der einfachen Sparerin und dem einfachen Sparer, vor den normalen Menschen. ZEIT: Der Staat hilft den Banken mit Milliardensummen. Wie viel wird davon am Ende zurückfließen? KAUDER: Es bleibt beim Grundsatz: Keine Leistung ohne Gegenleistung. Deswegen werden wir allen Bankinstituten, die Leistungen in Anspruch nehmen, Gegenleistungen auferlegen. Eine Begrenzung der Managergehälter etwa. Es ist auch völlig klar, dass eine spätere Rückzahlung erfolgen muss. Wir gehen davon aus, dass es zu keinem oder nur zu einem geringen Ausfall kommen wird. Wir können also mit einem blauen Auge davonkommen. ZEIT: Sie haben im Bundestag gegen die These von der Rückkehr des Staates argumentiert. Was hat sich der Staat im Hinblick auf die Finanzkrise vorzuwerfen? KAUDER: In der sozialen Marktwirtschaft steht nicht der wirtschaftlich planende Staat im Mittelpunkt, sondern es kommt auf die Menschen als eigenverantwortliche Marktteilnehmer an. Die These von der »Rückkehr des Politischen« trifft im Übrigen deshalb nicht zu, weil das Politische als regulierendes Element immer da war. Richtig ist, dass wir nun sehr genau überlegen müssen: Was muss in Zukunft geschehen, damit solche Exzesse nicht mehr vorkommen können? Ein entscheidender Punkt wird sein: Alle Anreize, die zu einem kurzfristigen Erfolg für die eigene Person führen, aber nicht dem langfristigen Erfolg des Unternehmens dienen, müssen abgeschafft werden. ZEIT: Wenn das Politische, wie Sie sagen, immer da war, warum hat die Politik dann nicht rechtzeitig dafür gesorgt, dass die Finanzmärkte stärker reguliert wurden? KAUDER: Der Ausgangspunkt der Finanzkrise war, dass man in den USA weit über die Verhältnisse gelebt hat. Die Bundesregierung hat beim G-8-Gipfel in Heiligendamm versucht, weltweite Regeln einzuführen. Briten und Amerikaner haben das verhindert. Die Konsequenzen sehen wir jetzt. Allerdings haben wir nun, in Anbetracht der Finanzkrise, eine viel bessere Chance, internationale Regeln zu vereinbaren. Auch weil wir neue Verbündete haben, etwa China, wo auch Milliarden verloren wurden und wo man nun eine Absicherung für die Zukunft möchte. ZEIT: Ist bei der Neuregelung Europa entscheidend? KAUDER: Europas Stimme in der Welt wird mehr Gewicht bekommen. Ich war sehr zufrieden, dass wir ein DIE ZEIT:
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SELBSTKRITIK sieht anders aus. Volker Kauder über den Dächern von Berlin-Mitte
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gemeinsames Handlungskonzept entwickelt haben. Gleichzeitig darf diese Ausnahmesituation nicht dazu führen, dass Europa noch mehr Kompetenzen an sich zieht. Ich sehe mit Sorge, dass die Kommission jetzt glaubt, sie könne alles regeln. Hier dürfen die nationalen Parlamente ihre Kompetenzen nicht aus der Hand geben. Die Krise darf nicht dazu genutzt werden, die Demokratie in Europa zu verringern. ZEIT: Was halten Sie vom Vorschlag des französischen Präsidenten Sarkozy, zum Schutz vor ausländischen Staatsfonds Schlüsselindustrien zu verstaatlichen? KAUDER: Wir haben jüngst Vorsorge dafür getroffen, dass wichtige Industrien in unserem Land nicht ohne Weiteres von Staatsfonds übernommen werden können. Verstaatlichungen wären Panikreaktionen und schössen über das Ziel hinaus. In einer sozialen Marktwirtschaft wird grundsätzlich nicht verstaatlicht. ZEIT: Schon vor der Finanzkrise sank das Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft. Macht Ihnen das Angst? KAUDER: Wir müssen jetzt ganz klarmachen, was die Ursachen der Krise waren. Die Ursachen der Krise waren erstens eine falsche Politik in den USA und zweitens Exzesse von einigen wenigen. Demokratie und soziale Marktwirtschaft haben gerade in dieser Krise gezeigt, dass sie handlungsfähig sind. Sie bleiben auch für die Zukunft das richtige Modell. Die Zustimmung wird wieder steigen, wenn wir verhindern, dass sich die jüngsten Exzesse wiederholen können. ZEIT: Die soziale Marktwirtschaft ist auch dadurch unter Druck geraten, dass immer mehr Unternehmen rentable Arbeitsplätze ins Ausland verlagern. KAUDER: Deswegen müssen wir in den internationalen Verhandlungen Kernregeln der sozialen Marktwirtschaft durchsetzen. Eine heißt, dass nicht ausschließlich kurzfristige Rendite entscheidend ist, sondern dass auch eine austarierte Position zwischen den Interessen von Arbeitnehmern und dem notwendigen Gewinnstreben von Unternehmen vorhanden sein muss. ZEIT: Bislang galt in der Globalisierungsdebatte, dass wir uns international anzupassen haben, um wettbewerbsfähig zu werden. Die umgekehrte Position galt als Ausweis von Naivität. KAUDER: Es gibt im Leben Situationen, in denen nachher nichts mehr so ist, wie es vorher war. Das angelsächsische Finanzmodell wird nicht mehr dominierend sein. Die Briten werden schwerlich nachweisen können, dass ihr Modell richtig war, wenn sie jetzt alle Banken verstaatlichen müssen. ZEIT: Auch in Deutschland wurde lange Zeit der Rückzug des Staates propagiert. Was bleibt davon in der Krise? KAUDER: Das Ergebnis darf auf keinen Fall sein, dass wir jetzt dauerhaft mehr Staat bekommen. Das Ergebnis muss sein, dass der Staat Leitplanken erstellt und Regulierungen dort vornimmt, wo sie notwendig sind. Gerade die Situation der Landesbanken zeigt aber, dass der Staat nicht der bessere Banker ist. Deshalb: Der Staat muss sich wieder zurückziehen, wenn
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er seine Funktion als Nothelfer erfüllt hat. Er kann weder Wirtschaft noch Banken führen. ZEIT: Können Sie sich vorstellen, dass die soziale Marktwirtschaft auch in China eine Perspektive hat? KAUDER: Ja, ich bin überzeugt, die soziale Marktwirtschaft ist das beste Modell auch für Gesellschaftsformen, die sie bisher nicht praktizieren. Sie beruht auf individueller Eigenverantwortung, die gelernt und gelebt werden muss. Dies geht nicht über Nacht. Soziale Marktwirtschaft beruht auf der Anerkennung individueller Rechte und Werte. Es liegt in unserem Interesse, Peking klarzumachen, dass dazu auch gehört, geistiges Eigentum zu respektieren. ZEIT: Die Finanz- droht zu einer Weltwirtschaftskrise zu werden. Wie will die Koalition gegensteuern? KAUDER: Wir rechnen mit einem Wirtschaftswachstum von 0 bis maximal 0,5 Prozent. Wir können national Anreize geben, um die Wirtschaft zu beleben. Ich schlage vor, dass der Bund die Kfz-Steuer übernimmt und den Ländern die Ausfälle erstattet. Für Neuwagen, die die CO₂-Ziele erfüllen, sollten wir dann auf die Kfz-Steuer verzichten. Darüber hinaus können wir zusätzliche Anreize geben, beim Straßenbau und bei der Gebäudesanierung. Alle Maßnahmen, mit denen wir durch konkrete Investitionen Arbeit schaffen können, halte ich für richtig. ZEIT: Dafür müssten Sie allerdings das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts im Jahr 2011 aufgeben. KAUDER: Wir stehen jetzt besser da als vor vier Jahren und können deshalb handeln. Am Ziel, den Haushalt in Ordnung zu bringen und das »tägliche Leben« des Staates nicht auf Pump zu finanzieren, muss festgehalten werden. Deshalb sehe ich im Augenblick keinen Spielraum für Steuersenkungen. Mittelfristig ist es aber unser Ziel, die Bürger zu entlasten. ZEIT: Unter dem Druck der Krise hat die Koalition gehandelt. Wie lange hält der Wille zur Kooperation? KAUDER: Die Große Koalition hat sich als handlungsfähiger erwiesen, als viele gedacht haben. Aber eine Große Koalition ist immer eine Ausnahme. Wir brauchen eine starke Regierung und eine starke Opposition. Für das, was jetzt noch getan werden muss, ist eine Große Koalition nicht zwingend erforderlich. Für 2009 streben wir jedenfalls ein Bündnis mit der FDP an. ZEIT: Gilt denn noch der alte Grundsatz, dass von Krisen die Volksparteien profitieren? KAUDER: Wir erleben die größte Finanzkrise seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Die Menschen sind in höchstem Maße irritiert. Vor allem die ältere Generation macht sich Sorgen um ihre Geldanlagen. In dieser Situation ist mit Meinungsumfragen wenig anzufangen. Gefragt sind wirtschaftliche und politische Stabilität und Verlässlichkeit. Wenn wir diese Krise jetzt gut steuern, wird neues Vertrauen wachsen. Vor allem in die, die jetzt Verantwortung tragen. DIE FRAGEN STELLTEN PETER DAUSEND UND MATTHIAS GEIS
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Wozu Steuern zahlen, wenn man sein Geld ins Ausland schaffen kann? Jetzt droht Deutschland den benachbarten Steuerparadiesen mit Sanktionen. Ein Besuch in der Schweiz – und in einer ausgetrockneten deutschen Steueroase
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Dreizehn Höfe, fünfhundert Firmen Bis 2003 erhob Norderfriedrichskoog keine Gewerbesteuern. Dann wurde der Ort dazu gezwungen VON SINA CLORIUS Norderfriedrichskoog ürgersteige gibt es hier nicht, schon gar keine vergoldeten. Das Pflaster des schmalen Wirtschaftswegs namens Koogstraat, der Hauptstraße des 38-Einwohner-Ortes Norderfriedrichskoog, trägt die Spuren zahlreicher Ausbesserungsarbeiten. Auch sonst erinnert wenig an die großen Zeiten des Ortes. Noch vor wenigen Jahren war Norderfriedrichskoog berühmt oder, je nach Sichtweise, berüchtigt. Bis zum Jahr 2003 existierte der Ort als Oase für Gewerbesteuersparer, eine Art binnenländisches Liechtenstein. Ein örtlicher Gewerbesteuersatz von null Prozent lockte die größten deutschen Unternehmen hierher. Lufthansa, Unilever, Tchibo, ja sogar die Deutsche Bank sparten hier durch die Ansiedlung von Tochterfirmen Jahr für Jahr Gewerbesteuern in mutmaßlich sechsstelliger Höhe. Um das Jahr 2000 herum beherbergten die 13 Höfe, aus denen der winzige Ort besteht, bis zu 500 Betriebe. Briefkastenfirmen zu gründen genügte nicht; in den hastig ausgebauten Scheunen mussten echte Entscheidungen fallen. Damals ließen sich Manager in dunklen Limousinen über die Koogstraat chauffieren. »120 Leute arbeiteten damals hier«, berichtet Karin Hönicke, die seit 14 Jahren im Koog lebt. »Wenn die alle morgens um neun zu ihren Büros fuhren, da war hier Leben auf der Straße!« Vorbei. Jahre schon bevor Bundesfinanzminister Peer Steinbrück der Schweiz mit einer »schwarzen Liste« drohte, machte sein Amtsvorgänger Hans Eichel dem Treiben in Norderfriedrichskoog ein Ende. Im Jahr 2003 beschloss der Bundestag das »Steuervergünstigungsabbaugesetz«, dessen entscheidende Passage als »Lex Norderfriedrichskoog« bekannt wurde. Fortan mussten Tochterunternehmen auch in Niedrigsteuergemeinden denselben Gewerbesteuersatz wie ihre Mutterkonzerne entrichten. Ein Jahr später verpflichtete ein neues Gesetz die Kommunen, einen Gewerbesteuersatz
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von mindestens 200 Prozent auf den vom Finanzamt festgelegten Anteil des Betriebsgewinns zu erheben. Doch da hatten die großen Firmen Norderfriedrichskoog längst verlassen. Noch haben die Einheimischen den Verlust nicht verwunden. Sie sehen sich als Opfer eines Konflikts, den ihr Finanzausschussvorsitzender Hans Kremer als »reine Neiddebatte« bezeichnet. »Schließlich war das alles ganz legal, was die Firmen hier gemacht haben.« Und kam die Körperschaftssteuer der angesiedelten Unternehmen nicht der Landeskasse zugute? Im Fall von Unilever fließen die Steuern jetzt nach Mecklenburg-Vorpommern, dem neuen Standort der zum Konzern gehörenden Firma Bestfoods. In den Scheunen Norderfriedrichskoogs stehen nun viele Büros leer. Der Ort erhebt lediglich den Mindestsatz von 200 Prozent Gewerbesteuer, um die verbliebenen Firmen nicht auch noch zu vertreiben. Großstädte wie München oder Frankfurt nehmen 490 Prozent. »Damit sind wir immer noch eine Steueroase«, betont Hans Kremer. 274 Betriebe teilen offenbar diese Ansicht und sind laut Industrie- und Handelskammer in Norderfriedrichskoog registriert. Ein Drittel der Betriebe zahlt Gewerbesteuer – stolze 33 Millionen Euro sind es insgesamt. Bürgersteige werden trotzdem nicht gebaut, wozu auch? Kurt Kahlke vom Amt Eiderstedt rechnet vor, wo das Geld bleibt: eine Million für sein Amt, 22 Millionen für den Kreis Nordfriesland, acht Millionen für die Finanzausgleichsumlage, 16 Millionen für die Gewerbesteuerumlage des Landes. Die fehlenden 14 Millionen muss die Gemeinde aus ihren Ersparnissen aufbringen, weil das Land die Gewerbesteuerumlage pauschal so berechnet, als nähme jede Gemeinde den Durchschnittshebesatz von 310 Prozent. Kein Wunder, dass alle anderen 200-Prozent-Steueroasen in den neuen Bundesländern liegen, wo die Umlagen anders berechnet werden.
Für die meisten Norderfriedrichskooger sind solche Rechnereien so virtuell wie die Millionen, die einst die Lufthansa-Tochterfirmen hier bewegten, indem sie etwa Flugzeuge an den Mutterkonzern verleasten. Eine Gewerbesteuer hatte es nie gegeben, »Wozu? Wir hatten ja kein Gewerbe«, sagt Bürgermeister Jann Henning Dircks. Für ein längeres Gespräch hat er keine Zeit, weil er seinen Mais ernten muss. Als die ersten Firmengründer vor der Tür standen und Büros mieten wollten, war man erst erstaunt, dann erfreut. In den umliegenden Orten profitierten Hotels, Restaurants und der Schlachter, der die Schnittchen für Vorstandssitzungen lieferte. Der Gemeindekasse kam der neue Wohlstand in Ermangelung einer Gewerbesteuer zwar nicht zugute, aber hohe Ausgaben gab es ohnehin nicht: Zuschüsse zum Kindergarten, die Freiwillige Feuerwehr und den neuen Friedhofsweg im Nachbarort Uelvesbüll, neuer Asphalt für die Wirtschaftswege, selten werden mehr als 20 000 Euro im Jahr gebraucht. Gegen die erzwungene Gewerbesteuer wollten einige Norderfriedrichskooger klagen. Doch Kreis und Land waren vehement dagegen. An ihrer statt klagt nun die Gemeinde Beiersdorf-Freudenberg aus Brandenburg, wo ein findiger Berliner Steuerberater eine ehemalige Kaserne der Volkspolizei in ein blühendes Gewerbegebiet verwandeln will. Bis das Bundesverfassungsgericht über die Klage entschieden hat, erhebt Freudenberg weiterhin null Prozent Gewerbesteuer. Dass sich das Medieninteresse nun gen Osten verlagert hat, stört die Norderfriedrichskooger nicht. Keiner vermisst die Reporter und Fernsehteams, die sich in den Matsch zu knien pflegten, um Firmenschilder mit Kühen im Hintergrund aufzunehmen. In der ehemaligen Steueroase lebt man nach der Devise von Margret Dircks, die für mehrere kleine Firmen einen Büroservice anbietet: »Zufrieden sein mit dem, was wir haben.«
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Angst im Paradies Bern/Brüssel ie Einladung zum Verrat an der Finanzgemeinschaft Deutschland wird, das muss man dem noblen Berner Kreditinstitut lassen, mit ungeheuer viel Stil vorgetragen. Der Angestellte legt diskret ein Schaubild mit einer dreifarbigen Pyramide auf den Schaltertisch. In welcher »Liquiditätsstufe« man sich sehe, erkundigt er sich leise. Unter 100 000 Franken, bei bis zu 250 000 Franken oder bei über 500 000 Franken? Je nach Feld, auf dem der Zeigefinger landet, ruft der Empfangsmitarbeiter einen passenden Kundenberater in den oberen Geschossen an. »Sie haben einen deutschen Pass?«, fragt er auf dem Weg zum Fahrstuhl. Ja. »Sehr gut.« Wie viele deutsche Steuermilliarden jedes Jahr auf Nummernkonten in der Schweiz, Liechtenstein, Luxemburg oder Belgien verschwinden, weiß niemand. Was hingegen feststeht, sind zwei fantastische Zahlen. Die erste lautet 1873 Milliarden Euro. So viel Geld stellen die Regierungen der 15 Euro-Länder angesichts der Finanzkrise zur Rettung ihrer nationalen Banken in die Haushaltspläne ein. Die zweite lautet 2500 Milliarden Euro. So viel Geld verwahren allein die Banken in der Alpenrepublik für ihre zahlungskräftigen Kunden – anonym, verschwiegen, und garantiert außer Reichweite der deutschen Steuerkassen. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück will diese Steuerschlupflöcher jetzt endgültig stopfen. Die ganze Welt kratzt die letzten Steuerpenunzen zusammen, um Banken zu retten, und ein paar Kredithäuser glauben immer noch, sie dürften ungestört von Schwarzgeld profitieren? Gegenüber solchen Steuerfluchthelfern, sagte Steinbrück vergangene Woche auf einer internationalen Konferenz in Paris, müssten Deutschland und die Europäische Union künftig »nicht nur das Zuckerbrot benutzen, sondern auch die Peit-
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sche.« Die Schweiz, so der Minister, gehöre auf die »schwarze Liste« der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). In dem angegriffenen Land war die Aufregung groß; Flankenschutz erhielt Steinbrück dagegen von seinen französischen und britischen Amtskollegen. Tatsächlich liegen – jedenfalls nach OECDStandards – die dunkelsten Steuer-Gullylöcher des Planeten nicht in der Karibik oder Asien, sondern mitten in Europa. Im Jahr 2000 hat die OECD weltweit noch 40 sogenannte Steuerparadiese identifiziert, also Länder, die nicht einmal minimale Kontrolle über Geldbewegungen gewährleisten. Bis heute konnten fast alle von ihnen – darunter die Cayman Islands, die Bahamas oder Panama – zur Einhaltung gewisser Transparenzregeln überredet werden. Nur drei Länder stehen noch immer auf der Liste der »unkooperativen« Staaten: Andorra, Monaco und Liechtenstein. In ihnen fließt Kapital, das im Ursprungsland steuerpflichtig wäre, in die absolute Dunkelheit ab.
Nach Steinbrücks Kritik wurde der deutsche Botschafter einbestellt In der Schweiz, aber auch in den EU-Mitgliedsländern Österreich, Belgien und Luxemburg, ist derweil Wegschauen garantiert. Zwar ist auch in diesen Staaten Steuerbetrug ein Offizialdelikt, nicht aber die Steuerhinterziehung. Deutsche, die ihr Geld nach Zürich, Wien oder Antwerpen tragen, können deshalb sicher sein, dass die dortigen Behörden deutschen Finanzämtern bei der Suche nach Steuersündern in aller Regel keine Rechtshilfe leisten werden. Dass Steinbrück nun ausgerechnet der Schweiz Sanktionen androht, hat zum einen mit Rücksichtnahme auf die EU-Partner zu tun und mit einer wahlkämpfenden SPD, die den linken Rand einfangen muss. Zum anderen aber auch damit, dass
BÜCHER MACHEN POLITIK
Der Einflüsterer Ein Buch über Sarkozys Generalsekretär Claude Guéant stimmt Frankreich auf den nächsten Wahlkampf ein VON GERO VON RANDOW Wer ist die Nummer zwei in Frankreich? Der »Generalsekretär« im Élysée, Claude Guéant. Also nicht etwa der Premierminister, François Fillon. Denn das republikanische, das demokratische Frankreich ist zugleich ein (Wahl-)Königreich, sein vom Volk direkt bestimmter Präsident schart Räte um sich, mit denen er regiert, überdies einen informellen Dreier- sowie einen Siebener-Kreis favorisierter Minister, obwohl diese de jure dem Premierminister unterstellt sind. Der Präsident ist das Zentrum. Und wenn er es will, ist sein Generalsekretär die Nummer zwei im Staat. Doch merkwürdig, während über Super-Sarko bereits mehr als 160 Bücher erschienen sind, widmet sich nur ein einziges dem »Mann, der Sarkozy ins Ohr flüstert« – so lautet der Untertitel eines Taschenbuches, das soeben erschienen ist. Seit sechs Jahren folgt der introvertierte Beamte Claude Guéant dem extrovertierten Politiker wie ein Schatten, unauffällig, zuverlässig, ist irgendwann selbst Politiker geworden, aber nicht auf eigene Rechnung, sondern als Libero für seinen Chef. Guéants Gegner, zumal jene im Élysée, bezeichnen ihn als »unpolitisch«. Die Killervokabel zielt freilich an einem vorbei, der Politik vorzugsweise als Operation an der gesellschaftlichen Wirklichkeit versteht und Macht als bloße Voraussetzung dafür. Ausweislich seines Lebenslaufs geht Guéant die Lust am Postengerangel ab. Er ist die Ausgewogenheit in Person. Mann der Mitte. Hat Liberale und Linksliberale auf Sarkozys Seite gebracht, Spitzenbeamte umworben und gewonnen. Guéant korrigiert, wenn aus Ministerien dissonante Töne klingen, er fängt Vorstöße der Fronden im eigenen Lager ab. Und unter vier Augen weist er den Staatschef auf dessen Fehler hin. Das alles lässt sich dem Buch der beiden Journalisten Christan Duplan und Bernard Pellegrin ent-
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nehmen. Doch es sendet vor allem ein politisches Signal aus. In Frankreich machen Bücher Politik, die von Politikern gemacht werden – das (und nicht etwa, einen neuen Gedanken zu entwickeln) ist ihre wesentliche Aufgabe. Ein Claude Guéant betiteltes Buch, das seine Hauptperson lobpreist, wäre ohne eine Unbedenklichkeitserklärung des Präsidenten gewiss nicht erschienen. Darum kann es als Ankündigung eines beginnenden Kampfes verstanden werden – um die Präsidentschaft von 2012 an! Sarkozy, der in eine weitere Amtsperiode strebt, arbeitet an seinem zweiten Angebot und Aufgebot. François Fillon muss bereits im kommenden Jahr ersetzt werden; Premierminister nutzen sich schneller ab als Präsidenten. Nur kommen nicht viele Vertraute infrage, überdies ist Sarkozy klug genug, die wichtigsten Posten nicht mit Kumpel zu besetzen. Und da der PreChristian Duplant, Bernard Pellegrin: mierminister in der realen, Claude Guéant. der gelebten Verfassung L’homme qui murFrankreichs ohnehin der mure à l’oreille de Umsetzer präsidialer WünSarkozy. sche ist – warum dann nicht Éditions du Rogleich Guéant? »Kardinal« cher, Paris 2008; wird er genannt, aber zu 197 S., 19,– € Unrecht, denn er ist kein Richelieu oder Mazarin; diese verfolgten eine eigene Staatspolitik, und der König fungierte nur als Variable ihrer Kalküle. Guéant hingegen betreibt folgsam die Reformpolitik Sarkozys. Bleiben drei Fragen. Erstens: Warum diese Option jetzt schon öffentlich machen? Antwort: Besser rechtzeitig, bevor es andere tun. Zweitens: Warum diese Idealbesetzung des Postens im Élysée aufs Spiel setzen? Antwort: Weil Sarkozy keinen anderen überzeugenden Premier finden kann, sehr wohl aber geeignete Generalsekretäre. Drittens: Warum sollte Guéant vom Drahtzieher zum öffentlichen Knecht werden wollen? Weil sein Präsident es so will! Ja, wenn er es denn will. Alles nur Spekulationen. Was auch sonst? Kein Königshof, der nicht von ihnen umgeben wäre.
Fotos: Jurjen Drenth/Hollandse Hoogte/laif (li.); Claudia Hechtenberg/Caro
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30. Oktober 2008 DIE ZEIT Nr. 45
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JE HÖHER DIE BERGE, desto sicherer das Geld vor dem Zugriff des Finanzamts? Die Bilder aus der Schweiz, Luxemburg und Liechtenstein legen das nahe. Ganz links: Norderfriedrichskoog
Deutschlands Steuerzahler retten Banken – und Schweizer Banken fördern die Steuerhinterziehung? In der Finanzkrise wächst der Druck auf Europas Schwarzgeldidyllen VON JOCHEN BITTNER Luxemburg, Belgien und Liechtenstein erste Anzeichen von Reue zeigen. »Der Vorstellung, das gesamte Weltfinanzsystem müsse geändert werden, während in Luxemburg alles beim Alten bleibt«, sagte JeanClaude Juncker, Regierungschef des Großherzogtums, vergangene Woche im dortigen Parlament, »kann ich mich spontan nicht anschließen.« In der belgischen Volksvertretung beschäftigen sich die Abgeordneten unterdessen intensiv mit der Frage, ob nicht wenigstens die Effizienz ihrer Finanzverwaltung an OECD-Standards angepasst werden müsste; in dem Königreich werden Steuerdaten noch größtenteils per Hand verarbeitet. Und in Liechtenstein würden Banker und Treuhänder zunehmend nervös, berichtet der Chef des dortigen Bankenverbandes. »Wir wissen, dass wir unter Druck stehen«, sagt Michael Lauber. »Und wir wollen jetzt, genauso wie die Regierung und der Erbprinz, eine bessere Kooperation mit der EU. Den Kopf in den Sand stecken – das geht nicht mehr.« Das sieht die Schweizer Regierung anders. Sie wähnt sich von einer »Grossmacht Deutschland« (Neue Zürcher Zeitung) angegriffen und geht in Abwehrhaltung. »So behandelt man keinen Partnerstaat«, zürnte die schweizerische Außenministerin Micheline Calmy-Rey ob der Berliner Drohungen. Ihr Staatssekretär Michael Ambühl bestellte den deutschen Botschafter ins Berner Außenamt ein. Ambühl ist ein freundlicher und detailgenauer Mensch. Aus seinem in nüchternem Weiß gehalte-
nen Büro geht der Blick auf die schneebedeckten Alpengipfel. »Schatten«, sagt er, lägen seit einiger Zeit auf dem deutsch-schweizerischen Verhältnis. »Weder im Inhalt noch in der Form waren Herrn Steinbrücks Äußerungen angemessen«, findet er. »Die Schweiz ist keine Steueroase.« Immerhin habe sein Land 2005 die Zinsrichtlinie der EU unterschrieben. Danach muss die Schweiz (ebenso wie Österreich, Luxemburg, Belgien und die europäischen Kleinststaaten) alle Zinsgewinne, die fremdes Kapital abwirft, mit 20 Prozent versteuern und abführen. Diese Quote werde bis 2011 auf 35 Prozent steigen. »Schon 2007«, rechnet Ambühl vor, »haben wir für die EU 653 Millionen Schweizer Franken an Quellensteueraufkommen erhoben und davon 131 Millionen an Deutschland überwiesen. Das ist doch was.« Die Zinsrichtlinie der EU allerdings ist löchrig wie ein Emmentaler. Dividenden erfasst sie ebenso wenig wie das Vermögen juristischer Personen. Stiftungen (»Trusts«) können so leicht der Zahlungspflicht entkommen. »Die Banker in der Schweiz stricken ständig neue Finanzprodukte, um die Quellensteuer zu umgehen«, sagt der Deutschland-Chef von Transparency International, Caspar von Hauenschild. Und er fragt: »Warum gibt es bei Verkehrsdelikten grenzenlosen Informationsaustausch zwischen der Schweiz und Deutschland, nicht aber bei Steuerhinterziehung?« Doch da bleibt die Berner Regierung hart. »Das Bankengeheimnis«, sagt Staats-
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sekretär Ambühl, »steht nicht zur Disposition.« Fragt sich bloß, wie lange noch? Die EU arbeitet gerade an einer Neufassung der Zinsrichtlinie, um die verbliebenen Schlupflöcher zu stopfen. Schon im Dezember will die Brüsseler Kommission Vorschläge vorlegen. »Wir sind sicher bereit zum Dialog«, sagt Ambühl. »Aber«, fügt er mit Blick auf die deutschen Steuersätze hinzu, »wenn der deutsche Fiskus ein Problem mit seinen Einkünften hat, kann das natürlich auch andere Gründe haben.«
»Die Löcher im Bankgeheimnis werden immer größer«, sagt ein Insider Derlei Abwehrgefechte werden die Schweiz nicht davor bewahren, sich langfristig eine sehr grundlegende Frage zu stellen. Hat ihr Bankgeheimnis in einer Welt, die auch ihre Finanzregeln immer konzertierter globalisiert, noch eine Chance? Einige Schweizer Banker spüren den neuen Wind – und warnen. Das Bankenwesen könne auf Dauer seine Geschäftsmodelle nicht auf rechtliche Unsicherheiten bauen, ließ sich der Vizepräsident der Schweizer Nationalbank vernehmen. Der Anteil, den die Finanzwirtschaft zum Schweizer Bruttoinlandsprodukt beiträgt, liegt mit 22 Prozent zudem gefährlich hoch (in anderen westlichen Staaten beträgt er etwa fünf Prozent). Und was passiert, wenn Barack Obama der nächste US-Präsident wird, wie die Umfragen es nahe legen? »Er
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hat als Senator den ›Stop Tax Haven Abuse‹-Gesetzentwurf unterstützt«, gibt der außenpolitische Sprecher der schweizerischen Sozialdemokraten, Mario Fehr, zu bedenken. Den OECD-Bemühungen um mehr Regulierung könnte er neuen Schub verschaffen. Schon heute verlangen die USA, anders als die EU, die Übermittlung von Kontodaten aus der Schweiz. So überzogen und inakzeptabel der Sozialdemokrat Fehr die Äußerungen Steinbrücks auch findet, »die Schweiz muss sich schon im eigenen strategischen Interesse der Diskussion stellen. Schweizer Banken dürfen keine Steuerfluchtgelder annehmen.« Die Schweizer Besonderheit der Unterscheidung zwischen Steuerbetrug und Steuerhinterziehung finden immer mehr Insider unhaltbar. »Wir befinden uns mitten im Schweizer-Käse-Prozess«, sagt ein Berner Insider, der nicht genannt werden will. »Die Löcher im Bankgeheimnis werden immer größer – bis es vielleicht ganz verschwindet.« Unauffällig baut die eidgenössische Regierung schon kleine Brücken hinüber in den europäischen Wirtschafts- und Währungsraum. Seit März 2007 unterhält die Brüsseler Kommission mitten im Berner Regierungsviertel eine Vertretung. Und ihre sieben Mitarbeiter haben seitdem einiges zu verwalten. Zwanzig politisch-wirtschaftliche Abkommen hat die Helvetische Konföderation schon mit der EU abgeschlossen, nebst etwa hundert kleineren Verträgen, vom Forschungs- und Universitätswesen über den
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Umweltschutz bis zur Filmförderung. Aus dem Pool des EU-Rechts bedient sich die Schweiz nach Gusto. »Autonomer Nachvollzug«, heißt das vornehm im Regierungsjargon. Man könnte auch sagen: Europäisierung per Osmose. Der EU-Botschafter in Bern heißt Michael Reiterer; als Österreicher kann sich der erfahrene Diplomat in die Befindlichkeit kleinerer Staaten einfühlen. »Die Nerven liegen hier gerade etwas blank«, sagt er. Deshalb sei es wichtig, den Ton wieder »zivilisierter« zu gestalten, auf beiden Seiten. Eines schließlich, glaubt Reiterer, hätten die Schweizer aus der Finanzkrise gelernt: »Wenn man allein ist, ist man einsam.« In den nächsten Wochen erwartet er noch mehr Mitarbeiter in seinen Büros. Brüssel, lautet das Signal an die Eidgenossen, ist euer Bruder. Im oberen Stock des großen Berner Bankhauses empfiehlt der Kundenberater das steueroptimierte Portfolio »Germany Plus«. Es sei so gestaltet, dass der Steueranfall »praktisch null« betrage. Aber was, wenn die Rechtslage sich ändert, wenn der Druck der EU zunimmt? »Dann«, sagt der Berater, »finden wir sicher andere Möglichkeiten.« i Widerspruch? Schreiben Sie uns
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Fotos: picture-alliance/dpa (li.); Frank Darchinger/www.darchinger.com (re.)
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Amerikas Wahl
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Name: Paul Stawasz Beruf: Buchhalter
»GESUNDHEIT, FAMILIE, AUFRICHTIGE FREUNDE«
Name: Leonore Russo Beruf: Ex-Model, heute Rentnerin
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Das Haus an der 14. Straße wählt Politik, die wichtigste Nebensache der Welt: Wie die Bewohner eines Wohnblocks in New York das Finale des Duells zwischen Barack Obama und John McCain erleben
New York woodstars. Die zwölfjährige Abigail ist Little Miss Sunshine, er Tag, an dem der Hausmeister Walter Lopez sei- ihr Bruder Spencer spielte in mehreren Weihnachtsfilmen nen Glauben an die Republikaner verlor, war der mit. Und wenn die wieder mal im Kino zu sehen sind, dann 7. Oktober 2008. Der Grund war ein falscher Ton- wundert sich das ganze Haus, warum die Familie immer noch fall, weiter nichts. Der Hausmeister der Nummer in einer Zweizimmerwohnung wohnt. Politik ist hinter vielen Türen im Haus Nummer 333 Ne333 an der 14. Straße in Manhattan hatte seine Arbeit beendet und sich in seiner blauen Arbeitshose und dem weißen Hemd bensache. Unter normalen Umständen würde das keinen in sein weißes Ledersofa fallen lassen. Er schaltete den Fernse- überraschen, Politik ist für die wenigsten Menschen Haupther an, den Sportkanal. Zu CNN. Wechselte zu WNBC. Wie- sache. Aber in einem Jahr, in dem die amerikanische Wahl so der Sport. Er ging zum Computer, spielte ein bisschen, setzte omnipräsent zu sein scheint, in dem Obama Rekordsummen sich wieder vor den Fernseher. Was in den Wochen zuvor bei an Spenden gesammelt hat, in dem er 200 000 Menschen in ihm hängen geblieben war: dass John McCain keine halben Berlin, 100 000 Menschen in St. Louis auf die Straßen bringt, Sachen macht. McCain wollte so lange im Irak bleiben, bis da ist man doch ein wenig erstaunt. Kann es sein, dass das Haus ein funktionierendes System aufgebaut war. Das fand Walter von Wahlkampfreizen einfach überflutet ist, dass es einfach gut. Er schaltete wieder auf CNN. Dort begann gerade die die Augen zugemacht hat? Carrie McDonald öffnet die Tür. Sie schluckt den letzten zweite Präsidentschaftsdebatte, er hatte schon die erste nicht gesehen, er wechselte auf WNBC. Ebenfalls Debatte. Auf Fox Bissen Abendbrot herunter und bittet herein. Spielsachen liedasselbe. Walter ließ die Bilder und Worte der beiden Kan- gen auf dem Boden, ihr dreijähriger Sohn schläft schon, ihr didaten in sich einsickern. Dieser Obama klang sehr sicher. Mann surft müde im Netz. Es ist der Tag der letzten TV-DeMcCain dagegen schien irgendwie verärgert zu sein, er klang batte zwischen Obama und McCain. McCain will noch einbitter und störrisch. Was genau der Unterschied zwischen mal versuchen, den Vorsprung, den Obama in den Umfragen McCains und Obamas Wirtschaftsplänen war, das wurde Wal- hat, aufzuholen. In den Medien wird das Ereignis seit Tagen ter zwar nicht klar – aber Obama klang definitiv besser. Er fing mit großem Aufwand beworben. Die New York Times gibt sogar Leseanweisungen für die Debatte. Wenn McCain den an, den Jungen zu mögen. Walter ist 44, seine Eltern stammen aus Puerto Rico, er ver- Pastor Wright oder den ehemaligen Linksradikalen Bill Ayers dient pro Woche 1170 Dollar, davon gehen 411 Dollar Steuern noch einmal anspreche, dann könne man daraus den Grad ab. Er wohnt mietfrei, den Nissan Armada Pick up zahlt er mo- seiner Verzweiflung sehen, schreibt die Times. Carrie wird natlich mit 500 Dollar ab, der neue Flachbildschirm im Schlaf- sich die Debatte nicht angesehen. Seit Wochen ignoriert sie zimmer ist ebenfalls auf Kredit. Für das nächste Jahr hat er sich die Wahl. Sie findet diese »Amerika sucht den Superstar«vorgenommen zu sparen. Seit 2005 ist Walter der Hausmeister Wahl abstoßend. »Der entspannte Obama, der steife McCain der Nummer 333. Es ist ein altes Haus. 1963 gebaut, ist dies die – Herrgott, McCain war eben auch fünf Jahre in Kriegsgefan12. Wahl, die es erlebt. 1964 zogen die ersten Mieter in die genschaft«, sagt Carrie genervt. »Der kann wenigstens was insgesamt 206 staatlich alimentierten Wohnungen ein. Heut- aushalten.« Obama dagegen posiere für Illustrierte. zutage sind so gut wie alle Wohnungen verkauft. Amerika, New York, das Haus haben sich gewandelt. Haben früher hauptsäch- »Ist John McCain zu blöd lich Krankenschwestern und kleine Angestellte hier gewohnt, zum Googeln?«, fragt ein Junge kamen in den Achtzigern Künstler, Nutten und auch ein Drogendealer, der Komponist Philip Glass hat einmal hier gewohnt, Diese Überfütterung hat bei Carrie dazu geführt, dass sie gar mittlerweile sind es mehr Freiberufler, junge Banker und Stu- nicht mehr weiß, wen sie wählen soll. Eigentlich ist sie Demodenten, deren wohlhabende Eltern die Wohnung gekauft haben. kratin, schon allein um die Stimme ihres Mannes zu neutraliNur noch 40 Mieter gibt es heute. sieren. Er wählt McCain, weil er gegen Obamas Steuerpläne ist. Es ist die amerikanische Mittelklasse, die hier wohnt. Sie Aber Carrie ist sich nicht mehr sicher. Zurzeit hat sie auch keiist in den letzten Jahren unter Druck geraten: sinkende Im- ne Zeit, nachzudenken. Ihr Sohn ist leicht autistisch und braucht mobilienpreise, steigende Lebenshaltungskosten, Kreditsor- viel Aufmerksamkeit. Gerade hat sie einen neuen Job bei einer gen, eine drohende Rezession. Um diese Leute wurde der Versicherung angefangen; der Investmentfonds, für den ihr aufwändigste und teuerste Wahlkampf der Geschichte der Mann arbeitet, hat vier Milliarden Dollar verloren, wie lange Vereinigten Staaten geführt. Über 1,2 Milliarden Dollar wur- ist sein Job noch sicher? Sie wollten eigentlich ins Grüne ziehen, den bislang ausgegeben. Bohrt man sich nun wie ein Holz- aber keine Wohnung im Haus, die zum Verkauf steht, findet wurm in das Innere des Hauses, kann man einen ganz guten zurzeit einen Käufer. Bricht jetzt auch der Immobilienmarkt in Eindruck davon bekommen, was von diesem Wahlkampf in Manhattan ein? Politik hat neben all diesen Themen einfach der Nummer 333 angekommen ist. keinen Platz mehr. Von außen sieht das Haus aus wie ein riesiger rot-grauer »Obama hat zwar sein Herz am rechten Fleck, aber ob der Legostein, in den 18 Etagenfluren vergilbt der alte blaue Teppich, in Washington etwas gegen die ganzen Lobbyisten ausrichten die 13 durchbuchstabierten Wohnungstüren auf jedem Flur sind kann? Und McCain hat zwar die Erfahrung, aber ich war geverbeult und zerkratzt. Nur den Eingangsbereich hat man vor gen diesen Krieg.« Vor ein paar Wochen hat sie dann noch in ein paar Jahren renoviert. Dort sitzt auf einer Bank Maxine Spie- einem Wirtschaftsmagazin gelesen, dass die Programme beigel. Über einem gestreiften T-Shirt trägt sie ein weites Jeanshemd, der Kandidaten nur noch mehr Schulden erzeugen würden. auf das sie zwei Giraffen genäht hat. Maxine Spiegel ist 75 Jahre »Das war irgendwie enttäuschend zu lesen«, sagt sie und alt, 43 Jahre hat sie in der Nummer 333 verbracht, und noch nie gähnt. Sie muss jetzt wirklich ins Bett. Vielleicht ist diesem hat sie etwas anderes gewählt als die Demokraten. Ihr Vater war Haus einfach die Puste ausgegangen, in einem Wahlkampf, Schlachter, sie arbeitete 25 Jahre als Reisekauffrau bei der Flug- der sie nun schon seit fast zwei Jahren begleitet. Und man linie KLM. Die Demokraten waren die Partei der Arbeiter- und fragt sich, wie vielen in Amerika es eigentlich noch so geht. Am Tag nach der Debatte regnet es weiter schlechte NachMittelklasse, und so hat sie sich mit 21 in diese Partei gesetzt wie in ihr erstes Auto und ist nie wieder aufgestanden. Genauer hat richten von den Börsen. Die Umfragen sagen, Obama habe Politik sie nie interessiert: Kennedy ist so spurlos an ihr vorüber- gewonnen. Die Mehrzahl der Unentschiedenen habe sich auf gezogen wie die Bürgerrechtsbewegung. »Ich halte mich von seine Seite geschlagen. Vor dem Aufzug in der Lobby steht großen Aufläufen fern – solange es sich nicht um einen Schluss- jetzt der Junge aus 10D mit seiner Freundin. »Hast du das Neuste von Joe the Plumber gehört?«, fragt er und grinst. Joe, verkauf handelt«, sagt sie und lacht. Maxine Spiegel gehört zu der Generation, die das Haus und den Klempner, hatte McCain in der Debatte zu einer Art Amerika in den besten Jahren erlebt hat. Sie war zweimal in der Maskottchen seines Wahlkampfes gemacht, als angebliches Antarktis, einmal in der Arktis, in China, Iran, Europa, Südafri- Opfer von Obamas »sozialistischen« Steuerplänen. »Jetzt stellt ka, nächste Woche fliegt sie nach Barcelona zu einer zweiwöchi- sich raus, dass Joe, der Klempner, gar keine Klempnerlizenz gen Kreuzfahrt. 1988 ist sie mit 55 in den Frühruhestand gegangen und hat ihre gesamte Rente an der Börse investiert. Sie kann jetzt allein von den Dividenden ihrer Wertpapiere leben. Sie werden immer noch in gleicher Höhe ausgezahlt. Die Wahl sei wichtig, aber wenn sie ehrlich sei, dann sei ihr Kalender zu voll, um sich mehr damit zu beschäftigen. Gerade wartet sie auf ihre Freundin Gene, die beiden wollen zusammen in den Botanischen Garten fahren. Zu Obama und McCain ZU HAUSE IN NR. 333: William Glenn (links), Maxine Spiegel … etwas zu sagen, findet sie schwierig. Zu den Vizepräsidentschaftskandidaten fällt ihr mehr ein. Sie mag Joe Biden. Weil er reifer als Obama ist, sagt hat und er dem Staat auch noch eine ganze Stange Steuern sie, nicht dieses aufgesetzte Lachen von McCain hat und weil er schuldet«, sagt der Junge. Von den Briefkästen ruft einer: diese fürchterliche Tragödie durchgestanden hat, als seine erste »Der gehört ins Gefängnis, wenn er Steuern hinterzieht.« Die Frau und seine Tochter bei einem Autounfall starben. Wen sie Aufzugtüren gehen auf und verschlucken den Jungen und seine Freundin. Von innen hört man noch: »Ist McCain zu gar nicht mag, ist Sarah Palin. blöd zum Googeln?« Jetzt, wo die Wahl auf der Zielgeraden angekommen ist und Maxine mag Joe Biden, weil er die letzten Feindbilder mobilisiert werden, scheint sich im Haus im Leben etwas durchgestanden hat Galgenhumor breitzumachen. Für mehr reicht die AufmerkWalter, der Hausmeister, zieht die Tür seiner Wohnung zu. »Ich samkeit nicht mehr. Ephraim Katz, den bärtigen Neurobiologen mag Sarah Palin«, sagt er. Es ist Sonntag, und Walter kommt aus 9B, versetzt das in leichte Panik. Für viele im Mittleren Wesgerade vom Softballspielen wieder. »Als McCain die als Vize ten und in den wichtigen swing states ist Joe, der Klempner, vorstellte, da war ich ganz auf seiner Seite. Weil die kein Wa- keine Witzfigur. »Ich bin Joe«, skandieren sie auf McCain-Vershington-Insider ist und weil die irgendwie taff ist und nicht so anstaltungen. »Karl Rove, Bushs engster Berater, hat einmal aussieht, als würde die den alten Trampelpfaden in Washington gesagt, es ist nicht so schlimm, etwas Falsches zu sagen, man muss folgen. Ich finde die auch immer noch gut«, sagt er. Wenn Wal- es nur oft genug wiederholen, denn damit verleiht man ihm ter nicht Softball spielt, dann geht er sonntags mit seiner Frau in Legitimität«, sagt Katz. »Und irgendwann glaubt auch der kleidie Kirche. Er ist Katholik und hat für jemanden wie Palin, die ne Mann, dass Joe, der Klempner, Obamas Opfer ist, und plötzgegen Abtreibung ist, Verständnis. Er hat aber auch zwei Teenager lich wählt eine ganze Schicht gegen ihre eigenen Interessen. als Töchter und kann die andere Seite verstehen. Und Palins Welcher Klempner verdient 250 000 Dollar?« Das ist die EinAussagen zur Außenpolitik? »Ach so, ja, sie hat gesagt, dass sie kommensgrenze für Obamas Steuererhöhungen. Ephraim sitzt vor dem Kakteenwald, den seine Frau in ihwas von Außenpolitik versteht, weil sie Russland von Alaska aus sehen kann. Da hat sie eben nicht nachgedacht. Wie soll sie rer ansonsten mit Büchern tapezierten Wohnung angelegt damit auch Erfahrung haben? Die kriegt sie schon im Job.« Aber hat, trinkt Kaffee und redet. Dabei streicht er einen Punkt nach dem nächsten durch. Er hat sich eine Liste gemacht von jetzt wählt er ja Obama. Walter kennt so gut wie jeden im Haus, und mit vielen Dingen, die ihn an Amerika stören. Das Fehlen eines parhält er immer mal wieder ein Schwätzchen. Über Politik wird lamentarischen Systems. Das Streichen von Forschungsgelnie geredet. Eher schon darüber, wie viel die beiden Breslin- dern. Die Privatisierung der nationalen Sicherheit. Die PrivaKinder wieder verdient haben. Denn die sind richtige Holly- tisierung des Gesundheitswesens. Vor über 30 Jahren ist er
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Amerikas Wahl
30. Oktober 2008 DIE ZEIT Nr. 45
Die US-Präsidentschaftswahl am 4. November könnte eine historische Zäsur bedeuten. Was treibt die Menschen kurz vor der Wahl um (Seite 8)? Woher kommt Barack Obamas Stärke selbst im traditionell konservativen Virginia (Seite 10)? Wie reagiert die Eliteuniversität Harvard auf die politische Situation (Seite 11)? Porträts von Florian Jaennicke zeigen, was sich New Yorker für ihr Land wünschen
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VON KERSTIN KOHLENBERG
aus Israel in die USA gekommen, weil er nach einem Jahr im Kibbuz, in dem er schuftete und doch nicht mehr bekam als die anderen, plötzlich an die Idee des Wettbewerbs glaubte. Die USA haben ihn dann die Grenzen des Wettbewerbes gelehrt. »Warum darf ein Gesundheitsunternehmen an die Börse?«, fragt er. »Ist der Interessenkonflikt zwischen einem Aktionär und einem Kranken nicht unmoralisch und sogar illegal?« Keiner der Kandidaten habe das bislang angesprochen. Am 4. November wird er wahrscheinlich dennoch Obama wählen. »Der ist das kleinere von zwei Übeln.« Es ist noch dunkel, als der Zeitungsausträger in die Nummer 333 kommt. Um halb fünf ist Manhattan noch ganz ruhig, der Verkehr auf der 14. Straße besteht aus ein paar gelben Taxis, die die Letzten von gestern nach Hause bringen. Auch in Nummer 333 brennt noch kein Licht. Der Zeitungsausträger drückt den Fahrstuhlknopf und nimmt einen Stapel Zei-
der Stirn ein gelber Käfer, grünliche Reptilienhaut auf der Nase, die von blauen Lilien begrenzt wird und in rote Flammen auf den Wangen übergeht. Um den Hals schlängeln sich zwei Leguane. William Edward Glenn ist im Gesicht, an den Ohren und am Hals flächendeckend tätowiert. Nur um die Augen ist ein kleiner Kreis frei, eingerahmt von einer dicken Hornbrille. Als er die Hand einladend ausstreckt, begleiten sie Nashörner, Antilopen und Elefanten. Glenn ist am ganzen Körper tätowiert. »Daf hab if mir nach meiner Pemfionierung maffen laffen«, sagt er. »Einen Moment, if lege gerade mal meine Pfähne ein, dann verftehen wie mich gleich beffer.« Glenn ist 83 Jahre alt. Er mag keinen der beiden Kandidaten, trotzdem wird auch er Obama wählen. Glenn sorgt sich um die Grundrechte. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass drei der neun Richter am Obersten Gericht in den nächsten vier Jahren ausscheiden werden, alle drei liberal. Die neuen ernennt der Präsident mit Zustimmung des Senats auf Lebenszeit. Glenn will nicht, dass es weiter in Richtung Staatsallmacht geht wie unter Bush. Er war lange Manager bei American Express und hat später für Citicorp Softwareprogramme geschrieben. Jetzt komponiert er Musik auf dem Computer, macht mit seiner neuen Digitalkamera wacklige Bilder von seiner spärlich eingerichteten Wohnung und hat es sich zum Sport gemacht, mit so wenig Geld … UND IHRE NACHBARN Ephraim Katz (links) und Walter Lopez wie möglich auszukommen. Momentan ist er runter auf 18 Dollar die Woche. tungen auf den Arm. Obama spricht sich gerade für einen Für den Kaffee rührt er jetzt Milch aus Trockenflocken, Waskompromisslosen Umgang mit Iran aus, und McCain kann ser und etwas Öl aus einer Großküchenkonserve an. »Ich bin sich überraschenderweise vorstellen, Iran unter bestimmten während der großen Depression aufgewachsen, ich weiß, wie Bedingungen die Anreicherung von Uran zu erlauben. Der man spart. – Milch?« So langsam werden die Tage kürzer in New York, und je Zeitungslieferant fährt mit dem Aufzug bis in den 17. Stock. Im obersten 18. Stock hat schon lange keiner mehr ein Abo. nachdem welcher Umfrage man glaubt, liegt Barack Obama Dann arbeitet er sich Stockwerk für Stockwerk wieder hinab. mit einem großen oder weniger großen Vorsprung vor John Als er unten angekommen ist, hat er 18 New York Times und McCain. Walter, der Hausmeister, ist in seiner Entscheidung sechs Wall Street Journal verteilt. Bei 206 Wohnungen. So we- für Obama sicherer geworden, seit Colin Powell, der schwarze Exgeneral, Republikaner und frühere Außenminister, sich nige Zeitungen waren es noch nie. Auch William Edward Glenn liest keine Zeitung. Er wohnt für den Demokraten ausgesprochen hat. Walter tritt vor dem im 16. Stock, hinter den anderen Türen hört man Paare streiten, Haus auf die Straße. Er atmet einmal tief durch. Ein junger Techno, Sportfernsehen und viel Hundegebell. Vor 16C kommt Bettler auf der anderen Straßenseite guckt ihm zu. Auf seiman bei sanfter klassischer Musik zum Stehen. Klopfen, Schlur- nem Pappschild steht: »I am like Obama, I want change.« Dafen, dann öffnet sich die Tür. Im Rahmen erscheint ein Gesicht, neben ein Plastikbecher – change heißt nicht nur »Wechsel« das einem so unvorbereitet gänzlich die Sprache verschlägt. Auf und »Wandel«, sondern auch »Wechselgeld«.
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Fotos: Ashkan Sahihi für DIE ZEIT (kleine Bilder)/wwww.ashkansahihi.com
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Foto: Florian Jaenicke/laif (alle 32 Portraits aus dieser Reihe zu sehen unter: www.florianjaenicke.de)
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Name: Vadim Newquist Beruf: Produzent
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Die Bekehrten Seit 44 Jahren wählt Virginia republikanisch. Reise in einen Staat, der jetzt die Seiten wechselt VON MARTIN KLINGST Hampton Roads, Virginia enn der Wahlforscher und Politologe Larry Sabato auf seine bunten Schautafeln blickt, dann kann er es kaum fassen: Der Südstaat, der seit 44 Jahren keinen demokratischen Präsidentschaftskandidaten gewählt hat, kippt. Noch vor zwei Monaten strahlte Virginia fast überall im leuchtenden Rot der Republikaner. Jetzt färbt sich die Landkarte dort, wo besonders viele Wähler wohnen, demokratenblau: dunkel im nördlichen Speckgürtel rund um die Hauptstadt Washington, vorsichtig hell im Südosten, im Wahlbezirk Hampton Roads rund um den größten Marinestützpunkt der Welt. In Virginia, wo Sabato lehrt, siegte vor vier Jahren noch George W. Bush mit neun Prozent Vorsprung, nun liegt nach den Umfragen Barack Obama vorn. Wird der Staat, der sich noch in den siebziger Jahren gegen gemeinsamen Schulunterricht für schwarze und weiße Kinder wehrte, einen Schwarzen zum Präsidenten wählen? »Wenn Hampton Roads für Obama stimmt, dann tut dies auch Virginia – und wenn sich Virginia das traut, dann tut es die große Mehrheit Amerikas«, sagt Sabato. »Der Weg ins Weiße Haus führt mitten durch Hampton Roads!«, rief kürzlich Sarah Palin. Sie und John McCain fliegen jetzt mehrmals in der Woche ein, um zu retten, was noch zu retten ist. Was ist geschehen, was hat die Verhältnisse nur so verkehrt? Anwalt David Flynn und Häusermakler Bill Gibbs leben beide in Hampton Roads. Sie sind weiß, haben mit Immobiliengeschäften gutes Geld verdient und leiden nun unter dem Super-GAU an der Wall Street. Solange sie nicht über Politik reden, sind der schmächtige Flynn und der korpulente Gibbs die dicksten Freunde. Beide bezeichnen sich als »typische« Bewohner Virginias. David gehört zu den sogenannten Neueinwohnern. Er stammt ursprünglich aus Massachusetts und ist wie viele Amerikaner wegen der Sonne, der Strände und des Wirtschaftsaufschwungs hierher gezogen. Die Regierungsbehörden im nahen Washington, die Hightechindustrie und mehr als ein Dutzend Militäreinrichtungen haben Virginia einen Boom beschert, seit 2000 ist die Bevölkerung um neun Prozent gewachsen. Doch nun hat die Immobilienkrise David dazu gezwungen, zehn seiner 16 Kanzleiangestellten zu entlassen, sein Jahresgehalt von rund 250 000 Dollar schrumpfte um zwei Drittel. David Flynn, der sich zur politischen Mitte und zum Lager der typischen Wechselwähler zählt, hat sich entschieden: Er wird Barack Obama seine Stimme geben, weil er den Demokraten am ehesten zutraut, der Wirtschaft wieder auf die Beine zu helfen. »In der Not hat die Regierung die Pflicht, den Markt zu retten«, sagt er. Häusermakler Bill Gibbs hingegen gehört zum Urgestein Virginias. Er stammt von Captain John Smith ab, dem legendären englischen Seeoffizier und Frauenheld, der 1607 in Virginia die erste offizielle Siedlung gründete und angeblich eine Affäre mit der Häuptlingstochter Pocahontas unterhielt. Bills Geschäfte laufen etwas besser als die seines Freundes. »Das kommt, weil du an solide Armeeoffiziere verkaufst«, frotzelt David. Bill hat sich ebenfalls entschieden: Er wird John McCain wählen, weil er wie sein Vater schon immer für die Republikaner gestimmt hat. Es gefällt ihm, wenn McCain und Palin staatliche Eingriffe in die Vermögensverteilungen als »Sozialismus« verdammen.
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»OBAMA. EIN MANN, DER DENKT UND UNS LEHRT, UNSERE FÄHIGKEITEN ZU ENTWICKELN«
Name: Sandra Michael Beruf: Rentnerin
Bill schweigt, wenn sein Kumpel schimpft, Bush habe alles versaut Bei einem Glas Bier gesteht der 49-jährige Bill Gibbs allerdings ein, dass nicht viel fehlt, um auch aus ihm einen Wechselwähler zu machen. Seine Mutter ist bereits aus der Familientradition ausgeschert und votiert des Öfteren für die Demokraten. Wenn Freund David schimpft, dass George W. Bush »alles versaut« habe, der Irakkrieg eine riesige Dummheit und Amerika »auf den Hund gekommen« sei, dann nickt auch Bill stumm. Neulich, auf einer Veranstaltung mit McCain, hat er sich zum ersten Mal gefragt: »Wer hat sich mehr verändert, die Republikaner oder ich?« Weit über zehntausend Leute waren gekommen, aber nur vier oder fünf waren schwarz. »Weiß, weiß, so weit ich sehen konnte«, sagt Bill. Das gefiel ihm nicht, »das ist nicht Amerika«. Doch am kommenden Dienstag will er den
Republikanern noch einmal die Treue halten. Wie zum Trotz hat er sich zum Kneipenbummel mit David ein knallrotes T-Shirt angezogen. Die alte Südstaatenbastion wankt, Obama und die Demokraten liegen laut Umfragen auch in North Carolina und in Florida knapp vorn, in Georgia nur leicht zurück. Verkehrte Welt: Einst wählte der Süden ausnahmslos die Demokraten, denn die waren für Sklavenhaltung und, als die nicht mehr zu retten war, für Rassentrennung. Republikanische Sklavereigegner brauchten hier erst gar nicht anzutreten. Doch unter dem Einfluss nördlicher Großstädte wurden die Demokraten immer linker – und die Republikaner im Gegenzug immer rechter. In den sechziger Jahren gelang es Richard Nixon, den Demokraten den Süden zu entreißen. Nun ändern sich die Vorzeichen wieder, vor allem in Virginia. Zweimal hintereinander wurden hier moderate Demokraten zu Gouverneuren gewählt, und zwei moderate Demokraten werden den Staat nach dem 4. November im USSenat vertreten.
»Hey, sag dem Kerl, dass wir diesmal den Nigger wählen!«, rief einer Kaum einer hat den Gezeitenwechsel aus größerer Nähe beobachtet als Paul Fraim, der Bürgermeister von Norfolk. Die Stadt hat eine Viertelmillion Einwohner und eine 400-jährige Geschichte, sie liegt in Hampton Roads und wird seit vierzehn Jahren von Fraim regiert. Von seinem rundum verglasten Amtszimmer im zehnten Stockwerk der City Hall aus hat der weiße Anwalt sein Reich fest im Blick. Unten dümpeln graue Kriegsschiffe im weltgrößten Marinehafen und schleppen Lotsenboote voll beladene Containerschiffe zu ihren Liegeplätzen. »Es war nicht schwer für einen Demokraten, Bürgermeister von Norfolk zu werden«, sagt Fraim. Jeder zweite Einwohner ist schwarz, die Stadt beherbergt drei Universitäten – und eben den Hafen mit vielen Arbeitern. Aber dass sich der Bezirk Hampton Roads mit Hunderttausenden Soldaten und Armeeveteranen, mit in der Wolle gefärbten Südstaatlern und konservativen Evangelikalen jemals auch nur leicht hellblau färben könnte, das hätte er bei seinem Amtsantritt nicht für möglich gehalten. Fraim erinnert sich noch gut an den Aufruhr, als Präsidentschaftskandidat John McCain im Vorwahlkampf 2000 zwei reaktionäre religiöse Führer, die in Virginia eigene Universitäten betreiben, »Agenten der Intoleranz« nannte. Er hatte daraufhin nicht mehr die Spur einer Chance. Seit Mitte der neunziger Jahre hatte Fraim die größten Veränderungen kommen sehen. Zuerst erwachten die Schwarzen aus ihrer Lethargie und begriffen, dass sie Macht haben. Dann wanderten über die Jahre massenhaft weiße Leute wie Anwalt David Lynn aus dem liberalen Norden ein und mischten Virginia auf, ihnen folgten Lateinamerikaner und Asiaten. Schließlich begehrten die Frauen auf. Die Mütter der Bill Gibbs, sagt Meinungsforscher Sabato, hätten ein feineres Gespür als ihre harten Südstaatenmänner für die Notwendigkeit sozialer und kultureller Veränderung. Neulich war Michelle Obama in Norfolk und sprach mit Soldatenfrauen über ihre Alltagssorgen, wenn die Männer in den Krieg ziehen müssen und daheim das Geld nicht reicht. Sie versprach Hilfe und erntete Riesenbeifall. Ihre Gespräche mit den Soldatenfrauen sind inzwischen ein Markenzeichen der Obama-Kampagne. Auch deshalb, sagt Sabato, habe in den Umfragen von Hampton Roads Barack Obama zum Kriegshelden John McCain aufgeschlossen. »Veteranen und Soldaten wählen republikanisch, aber dank ihrer Frauen nicht mehr als ein einheitlicher Block.« In einer Kneipe in Virginia Beach schütteln sich Wechselwähler David Flynn und Beinahewechselwähler Bill Gibbs vor Lachen, als ihnen die Geschichte eines republikanischen Wahlhelfers erzählt wird, dem neulich an einer Haustür, bevor er überhaupt Luft holen konnte, aus der Küche zugerufen wurde: »Hey, sag dem Kerl, dass wir diesmal den Nigger wählen!« Der Südstaat Virginia hat schon mehrmals Geschichte geschrieben: Er schuf die erste Siedlung der Neuen Welt und stellte mit George Washington den ersten Präsidenten. Er wählte vor neun Jahren den ersten schwarzen Gouverneur Amerikas. Er könnte am nächsten Dienstag dem ersten schwarzen Präsidenten die entscheidenden Stimmen verleihen.
Vorteil Obama Umfrageergebnisse der vergangenen Woche 54 52 50 48
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McCain ZEIT-GRAFIK
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Amerikas Hirn unter Schock Cambridge/Massachusetts eit zwei Jahren schon ist Klaus Scharioth deutscher Botschafter in den USA. Aber die letzten Wochen in Washington haben ihm noch einmal ein völlig neues Amerikagefühl beschert. Elf Tage vor der Wahl soll er an der Kennedy School of Government in Harvard vor künftigen Diplomaten, Managern und Politikern erläutern, welche Weltprobleme den neuen Präsidenten erwarten. Als die Einladung ausgesprochen wurde, war das nicht mehr als ein Routinetermin. Inzwischen aber hat sich vieles gedreht: »Noch vor vier Wochen«, so Scharioth, »reagierten die Amerikaner auf den Begriff ›Regulierung‹, als hätte ich ein schmutziges Wort benutzt. Doch jetzt hat Washington selbst die Welt zu einem Gipfel eingeladen, bei dem es um die Regulierung der globalen Finanzmärkte gehen soll. Still und heimlich sind jetzt viele heilige Kühe geschlachtet worden.« Der Karrierediplomat Scharioth, der als Staatssekretär im Auswärtigen Amt mit Schröder und Fischer für das Nein zum Irakkrieg verantwortlich war, ist alles andere als ein Rechthaber – aber er kann es sich nicht verkneifen, von einer »ermutigenden Lernkurve der letzten Wochen« zu sprechen. Das bezieht sich vor allem darauf, dass der US-Finanzminister Henry Paulson mit seinem Rettungspaket dem europäischen Krisenmanagement gefolgt ist. Damit nicht genug: In Harvard erntet Scharioth auch keinen Widerspruch, wenn er nun eine neue Weltfinanzarchitektur, Klimaschutz und Energiewende zu den obersten Prioritäten des kommenden Präsidenten erklärt – und dafür Irak, Iran, Afghanistan, den islamistischen Terrorismus und den Nahostkonflikt fast wie Nebensachen behandelt. Daran hatte sich vormals der kleine transatlantische Unterschied festgemacht: Hier die softe europäische Venus, da der strenge amerikanische Mars. Bestimmt jetzt etwa Venus die Agenda? »Multilateralismus« jedenfalls ist auf einmal keine europäische Marotte mehr, sondern eine schlichte Notwendigkeit der neuen weltpolitischen Situation. Wie der Botschafter müssen sich viele Europäer dieser Tage daran gewöhnen, dass sie neuerdings in Amerika fast schon mit Demut behandelt werden. Auch hier in Harvard – weiß Gott ein unwahrscheinlicher Ort für intellektuelle Bescheidenheit. Amerikas älteste, wohlhabendste und renommierteste Hochschule ist stolz auf ihren Einfluss. Harvard sieht sich als Amerikas Hirn – im selbstbewussten Rückblick auf 372 Jahre, die sieben Präsidenten und mehr als 40 Nobelpreisträger hervorgebracht haben. Für Politik und Wirtschaft der Vereinigten Staaten ist Harvard der größte Thinktank; noch immer bringt er die brillantesten Experten hervor. Aber etwas ist anders hier, in diesen fiebrigen Wochen zwischen dem Finanzdesaster, das Amerikas Rolle in der Welt gefährdet, und einer Wahl, die möglicherweise einen historischen Machtwechsel bringt. Ein manisch-depressiver Hauch haftet dieser Tage den Diskussionen in Harvard an: Das Selbstbild schillert zwischen einem demokratisch revitalisierten Amerika, das sich durch die Wahl eines Schwarzen zum Präsidenten über das dunkelste Kapitel seiner Geschichte erheben könnte, und einem global blamierten Amerika, dessen Scheck geplatzt ist, weil es über seine Mittel hinaus gelebt hat und nun auch noch den Globus mit in den Abgrund reißt.
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»Wie macht ihr das eigentlich in Deutschland?«, fragen Professoren Die Selbstsicherheit der intellektuellen Elite ist für den Moment jedenfalls angeschlagen wie lange nicht mehr. Die produktive Kehrseite davon ist eine neue Offenheit, auch gegenüber Europa. Und es sind gerade die zuvor oftmals verhöhnten Seiten an Europa, die jetzt interessieren: ein risikoscheues Rentensystem, das Bausparermodell, eine regulierte Bankenwelt, Umweltschutzrichtlinien. Wer hätte das gedacht: das Konzept Wüstenrot und der EUMultilateralismus sind plötzlich sexy. Professor Jay Light, der Dekan der Harvard Business School, hätte sich kaum träumen lassen, ein solches Bekenntnis vor Tausenden Studenten abzugeben: »Auch mein Haus wurde immer wertvoller in den letzten Jahren. Ich hielt das für eine Folge meiner Brillanz als Immobilieninvestor. Spät habe ich erkannt, dass 15 Millionen Hauskäufer sich
ebenfalls für brillante Investoren hielten.« Dieses Mea Culpa sprach der Professor nicht im Stillen, sondern im prachtvollen Sanders Theatre, dem repräsentativen Vortragsraum der Universität. Harvards Rektorin Drew Faust hatte die prominentesten Ökonomen ihrer Uni aufs Podium gebeten, um die Krise zu erklären. Seit der Zeit des Vietnamkriegs, erinnern sich ältere Kollegen, habe es eine solche Debatte nicht mehr gegeben. Auch Kenneth Rogoff, Harvards Spezialist für Geldpolitik und ein Berater John McCains, sah sich dort zu einer Bescheidenheitsgeste genötigt: »Dass keine einzige unabhängige Investmentbank übrig bleiben würde, hätte ich mir nie vorstellen können«, gibt er zu. Er sei letztens von einem Studenten gefragt worden, so Rogoff, »ob man sich nun etwa – da es an Wall Street ja etwas eng geworden sei – nach einem ›echten Job‹ umsehen solle.«
»Wir Amerikaner müssen unseren guten Ruf wiedererlangen.« Die anwesenden Studenten lachten zwar darüber. Doch in Wahrheit hat den exklusiven Klub der Harvard Business School längst die nackte Angst ergriffen angesichts der Aussicht, dass die großen Investmentbanken nicht mehr Schlange stehen werden, um die Absolventen abzuwerben. Wer es an die Harvard Business School geschafft hat, möchte später einmal am großen Rad mitdrehen – als Spitzenmanager oder Wirtschaftspolitiker im Dienst des freien Markts. Und nun das: Es könnte sein, dass die nächsten Abschlussjahrgänge gewissermaßen als Dissidenten in eine Welt entlassen werden, die den Staat wieder lieben gelernt hat und Regulierung für die Rettung hält. Die Studenten haben im Zeichen der Krise begonnen, sich von den privaten Spitzenunis ab- und den kostenlosen staatlichen Hochschulen zuzuwenden. Harvard hat vor der Krise ein Stiftungsvermögen von fast 38 Milliarden Dollar gehabt – und als weltweiter Ranglistenführer muss es sich zwar noch keine Sorgen um den Andrang machen. Doch die Kreditkrise hat es vor allem für Begabte aus unteren Schichten schwieriger gemacht, die fast 50 000 Dollar aufzubringen, die ein Jahr Harvard kostet. College-Darlehen sind immer schwerer zu bekommen. Die Universität wird also selbst mehr Geld für Stipendien ausgeben müssen und entsprechend weniger für Forschung und Lehre übrig behalten. Wer dieser Tage mit amerikanischen Kollegen beim Lunch sitzt, merkt schnell, dass nicht nur die Armen einer ungewissen Zukunft entgegensehen. Mancher hat in diesen Wochen den Auszug der betrieblichen Alterversorgung erhalten und dabei feststellen müssen, dass in der aktiengestützten Pensionsplanung hässliche Lücken klaffen – bei dem einen sind es 30 000 Dollar, beim älteren Kollegen gar 100 000 Dollar. »Wie macht ihr das eigentlich in Deutschland?«, wird nun mit echtem Interesse gefragt. Von der Altersplanung bis zur Geopolitik ist es in diesen Tagen nur ein kleiner Schritt: Es ist, als hätte das ganze Land mit der Krise einen ernüchternden Kontoauszug über seinen Stand in der Welt zugestellt bekommen. Das Gefühl, dass Amerikas Reputation auf einem Tiefpunkt ist, schlägt in Harvard besonders hart durch, weil der Campus eine Begegnungsstätte für die internationale Elite ist. Unterschwellig bestimmt eine bange Frage alle Debatten über die Weltpolitik: Wie hoch wird der Preis sein, den Amerika – und der gesamte Westen – für diese Krise noch bezahlen muss? Wie weit wird der geopolitische Machtverlust reichen? Mancher Fremde spürt den Wandel schon im Campus-Alltag: Die chinesische Journalistin Haili Cao hat in diesem Jahr eines der renommierten Nieman Fellowships für Journalisten inne. Sie hält es für ausgemacht, dass China die Krise des amerikanischen Finanzkapitalismus als Bestätigung des eigenen Weges sehen und größeren Einfluss auf der Weltbühne fordern wird. Für sie selbst macht sich das schon ganz ohne ihr Zutun bemerkbar: Seit Beginn der Krise kommt Haili wesentlich seltener unter Druck, sich für die Demokratiedefizite ihres Landes und für seine Tibetpolitik zu rechtfertigen. Man blickt anders auf China, seit mit dem Finanzdesaster klar geworden ist, wie weit Pekings Einfluss auf seinen Schuldner Washington geht. Das macht Hailis Alltag angenehmer, irritiert sie aber auch, denn die Reporterin ist selbst eine scharfe Kritikerin ihrer Regierung.
Nun, da die Finanzkrise Amerikas Ruf auch ökonomisch ruiniert, bekommen die wütenden alten Männer, die seit Jahren zunehmend ungeduldig der Selbstzerstörung des amerikanischen Einflusses in der Welt zugesehen haben, Rückenfind. Professor Joseph Nye, ehemaliger Dekan der Kennedy School und Erfinder des Konzepts der »sanften Macht« (soft power), plädiert bei seinen öffentlichen Auftritten geradezu flehentlich: »Wir Amerikaner müssen unseren guten Ruf wiedererlangen.« Nye arbeitet als Berater für Obama. Aber der Wunsch nach neuer moralischer Glaubwürdigkeit Amerikas ist überparteilich. Der langjährige demokratische Senator Sam Nunn hat zwei republikanische Außenminister – Henry Kissinger und George Shultz – für eine globale Abrüstungsinitiative gewonnen. Nunn glaubt, Amerika könne nur glaubhaft für einen atomwaffenfreien Iran eintreten, wenn es sich selbst wieder der Abrüstung verschreibe. Nicht nur die studentischen Zuhörer der Kennedy School stimmten enthusiastisch zu, sondern auch der Ehrengast – der fragile 92-jährige Robert McNamara, der als Verteidigungsminister Kennedys und Johnsons einst den nuklearen Erstschlag propagiert und den Vietnamkrieg eskaliert hatte. Die Krise führt in Cambridge zu einer Atmosphäre, in der Schmerzhaftes über Amerikas Lage geradezu mutwillig ausgesprochen wird. So hoch sind die Erwartungen hier, dass sich daraus eine besondere Form der Skepsis ergibt: Die Angst vor der Enttäuschung steigt mit jeder guten Nachricht für Obama. Was wird nur aus Amerika, wenn am Ende doch McCain gewinnt?
Fotos: Florian Jaenicke/laif
Die Elite-Universität Harvard zwischen Finanzdesaster und Obama-Hoffnung: Die Intellektuellen wenden sich Europa zu VON JÖRG LAU
»ERLEUCHTE MICH«
Name: Julia Royter Beruf: Stuntfrau, Schauspielerin, Tänzerin
i Aktuelle Berichte und Kommentare zur US-Wahl auf ZEIT ONLINE: www.zeit.de/us-wahl
Siehe auch Wirtschaft, Seite 32
So wählt Amerika Demokratische Küsten, republikanisches Herzland klarer Vorsprung für Obama
WA MT
geringer Vorsprung
WI
SD
unentschieden
klarer Vorsprung
VT
MN
OR ID
geringer Vorsprung für McCain
ME ND NY MI
WY NE
NV UT
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PA
IA IL
KS
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MODERNER PRANGER Der Terrorverdacht machte nicht nur in Hamburger Blättern Schlagzeilen
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er Zeuge hatte eine wichtige Mitteilung zu machen. So wichtig, dass sie den größten Terroralarm in der Geschichte der Hamburger Polizei auslöste. Er berichtete von drei Männern, die sich an der Bushaltestelle Holstenstraße unterhielten. Muslimisch hätten sie ausgesehen, sagte der Zeuge. Einer habe einen Rucksack getragen und ein anderer beschwörend auf Arabisch gesagt: »Egal, was morgen passiert, wir werden Helden vor Allah sein.« Mehr als 1500 Polizisten schwärmten daraufhin an einem Augustabend 2005 aus, um die drei Männer zu finden. Die Beamten hatten die Bilder aus London vor Augen. Drei Wochen zuvor hatten »Rucksackbomber« dort 52 Menschen getötet, als sie sich morgens in der U-Bahn in die Luft sprengten. Und jetzt Hamburg? Die Polizisten in der Hansestadt durchsuchten Bahnhöfe, Züge und Busse, sie errichteten Straßensperren und kontrollierten Autos überall in der Stadt, mit Maschinenpistolen im Anschlag. Jeden, der verdächtig erschien, zwangen die Beamten zur Durchsuchung auf den Boden. Der Innensenator ließ Bilder der gesuchten Männer aus der Überwachungskamera eines Linienbusses an die Medien geben. Der Erste Bürgermeister forderte die Hamburger auf, »wachsam« zu sein und »Hinweise zu geben«. Die Zeitungen schrieben von Terror-Angst in Hamburg. Anderthalb Tage nach dem Hinweis des Zeugen wurden die »Verdächtigen« gefunden und verhört. Der »Verdacht« fiel in sich zusammen wie ein misslungenes Soufflé. Die Ermittler fanden bekennende Muslime. Aber nicht den geringsten Hinweis auf Islamisten, die einen Anschlag planten. »Es könnte sein, dass sich jemand einen schlechten Scherz erlaubt hat«, erklärte der Innensenator. Der damals 21 Jahre alte Timur lebt gut drei Jahre danach immer noch in der Unterkunft in Hamburg, in der er am Morgen nach jenem Augustabend fassungslos auf den Fernseher starrte. Er verstand nicht viel von den TV-Nachrichten. Aber er sah die Fotos: sein Bild, das Bild von Ilias und von Achmed, seinen Freunden. Minuten später wurde er vor der Unterkunft zu Boden gerissen, vier Polizisten setzten sich auf ihn und legten ihm Handschellen an. Ein schlechter Scherz, das dachte damals auch Timur. Die Schlagzeile Terror-Angst, in den Zeitungen zentimeterhoch gedruckt, daneben ein Foto eines »Verdächtigen« – das ist die moderne Variante des Prangers. Opferrechte, Unschuldsvermutung, so etwas scheint beinah zwangsläufig ausgeblendet in einer Welt der Nachrichtendienste und geheimen Ermittlungen, der unsicheren Quellen und Drohszenarien. Staatsschützer versuchen alles, um präventiv einen Anschlag zu verhindern. Sie setzen viel daran, jeden, der sich verdächtig macht, vorher zu erkennen und aus dem Verkehr zu ziehen. Alles durchaus legitim. Doch Zweifel bleiben bisweilen auf der Strecke. Und unschuldig Verdächti-
ge auch. Für die Hamburger Polizei ist der falsche Verdacht des August 2005 längst zu den Akten gelegt. Timur und seine Freunde dagegen kämpfen bis heute mit den Folgen ihrer Festnahme. Die Unterkunft des jungen Tschetschenen im Hamburger Westen gleicht einer Absteige. Timur lebt mit Dutzenden anderer Ausländer in einem Klinkerflachbau. Zwischen den Baracken, die der Stadt gehören, stehen zwei Eichen. Ein zerfetzter Schirm hängt im Baum, eine Parkbank steht auf dem Rasen, davor ein verrosteter Schwenkgrill. Ihre Matratzen haben die Bewohner in den engen, kaum möblierten Zimmern auf Paletten gelegt. Viele übernachten in
Drei Männer im Bus Unter Verdacht: Noch immer leben drei junge Tschetschenen in Angst, die im August 2005 in Hamburg zu Unrecht als Terrorverdächtige verhaftet wurden VON CHRISTIAN DENSO Schlafsäcken. Von draußen ist das Rauschen der Autobahn zu hören. Wer hier, zwischen A7, dem Wald und einer Kleingartenkolonie untergebracht ist, den möchte Hamburg nicht vorzeigen. Sein Zimmer ist das vorläufige Ende einer Flucht aus dem Nordkaukasus. Als 14-Jähriger hatte Timur zu Hause im Tschetschenienkrieg Landsleuten geholfen. Nachbarn, erzählt er, hätten ihn an die Russen verraten. In einem Lager verhörten und schlugen die Besatzer ihn. Timur gelang die Flucht. Über viele Umwege kam er im Juni 2004 nach Deutschland. Er beantragte Asyl und konnte bleiben. Nun, glaubte er, dürfe er sich sicher fühlen. Erst in Deutschland hatte Timur den gleichaltrigen Ilias und den 25-jährigen Achmed kennengelernt, einige Monate vor jenen Augusttagen. Sie waren auf dem Heimweg vom Schwimmen, davor hatten sie einer Bekannten im Garten geholfen. Sie standen an der Bushaltestelle am S-Bahnhof Holstenstraße und unterhielten sich. Auf Russisch, wie
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sie sagen. Den Mann, der die fatale Fahndung auslöste, bemerkten sie nicht. Der Rucksack, in dem die Polizei eine tödliche Bombe wähnte, war gefüllt mit Badehandtüchern und Shampoo, mit Gurken, Zwiebeln und Tomaten aus Eigenanbau. Damals reichte die Beobachtung des Zeugen der Polizei, das Verfahren mit dem Aktenzeichen LKA 86/9K/0699195/2005 in Gang zu setzen. »Ein bisschen Ernstfall gibt es nicht«, verteidigte sich später der damalige Innensenator Udo Nagel (parteilos). Doch so weit, wie es kam, hätte es nie kommen müssen, wären der Polizei nicht schwere Fehler unterlaufen. Dass der entscheidende Zeuge gar kein Arabisch spricht, bemerkten die eifrigen Ermittler erst, als sie längst öffentlich nach den Männern fahndeten. Erst dann wurde die einzige Islam-Expertin des Staatsschutzes konsultiert, die krank im Bett lag. Als sie den Zeugen befragte, tauchten erhebliche Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit auf – nur eine von mehreren Pannen. Der Zeuge hatte sein Erlebnis zuerst einem Polizisten auf der Straße erzählt und war weggeschickt worden. Er meldete sich in der Nacht darauf aber wieder über 110 bei der Einsatzzentrale, und nun fuhren Beamte zu ihm. Der Staatsschutzkommissar vom Nachtdienst allerdings schrieb bloß einen Bericht – und machte Feierabend. Erst am nächsten Morgen kam der Apparat in Bewegung. In der Morgenlage im Polizeipräsidium wurde die Sache als hochbrisant eingeschätzt. Weil »nicht sicher auszuschließen sei, dass ein terroristischer Hintergrund vorläge«, müsse man die Lage »ernst nehmen«, hieß es. Staatsschützer schwärmten aus. Abends wurden die Bilder von Timur, Ilias und Achmed an die Medien gegeben. Fast jede Zeitung, jeder TV-Sender zeigte sie. Die Polizisten, noch unter dem Eindruck der Bomben von London, hielten es für ihre Pflicht, der Sache auf den Grund zu gehen, bis heute. »Uns wären mit einigem Recht bohrende Fragen gestellt worden, wenn wir damals nichts gemacht hätten und es zu einem Anschlag gekommen wäre«, sagt Reinhard Chedor, Leiter des Landeskriminalamts (LKA). »Wir hatten eine sehr genaue Beschreibung des Vorfalls und der Beteiligten, dazu weitere Verdachtsmomente. Zum Beispiel stiegen die Verdächtigen später aus einer S-Bahn so aus, dass es für uns konspirativ erschien.« Als Konsequenz des Einsatzes wurden einige Polizisten versetzt. Zudem ließ das LKA eine Art Checkliste erarbeiten, vier Seiten lang, für künftige Fahndungen. Doch in Zeiten des Terrors, sagen intern auch hochrangige Ermittler, gelte weiter der Grundsatz: Je schwerwiegender die drohende Gefahr, desto weniger konkret muss der Verdacht sein. Drei Anwälte kümmern sich um den Fall von Timur und seinen Freunden. Für Dieter Magsam, Babette Tondorf und Jens Niedrig geht es vor al-
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lem um die Hysterie, die der Verdacht auslöste. »In der Zeit nach dem 11. September wurden viele Individualrechte auf dem Altar der Sicherheit geopfert«, meint Magsam. »Im konkreten Fall ist mir unbegreiflich, warum Experten, auch aus anderen Behörden, erst nach Beginn der Öffentlichkeitsfahndung einbezogen wurden. Man hätte unsere Mandanten nicht per Foto in den Medien suchen müssen«, sagt Timurs Verteidiger Jens Niedrig. Bislang sind die drei Tschetschenen noch weit davon entfernt, Schadenersatz zu bekommen. Derzeit versuchen ihre Anwälte vor dem Oberverwaltungsgericht Hamburg feststellen zu lassen, dass der Polizeieinsatz rechtswidrig war. Timur und seine Freunde haben es schwer, den Überblick über die juristischen Prozeduren zu behalten. »Ich will kein Geld. Mir geht es um meine Ehre«, sagt Timur. Ilias meint: »Wir haben nicht gedacht, dass in Deutschland so etwas möglich ist, so eine Diffamierung.« Für den falschen Verdacht hat sich die Hamburger Polizei bislang nicht entschuldigt.
»Manchmal sitzen wir abends zusammen und weinen wie Mädchen« Wer Timur, Ilias und Achmed heute begegnet, trifft auf drei schüchterne, unsicher wirkende junge Männer. Sie kleiden sich unauffällig, in Jeans und Pullover, sie tragen Lederimitat-Jacken und die dunklen Haare kurz. Zu einem Gespräch sind sie erst nach langem Bitten bereit, aber nur ohne Fotos. Manche Fragen werden ausweichend beantwortet. Das liegt nicht an ihrem schlechten Deutsch. Öffentlich aufzutreten ist nicht ihre Sache. Vor allem, wenn es dabei um Gefühle geht. Sie fühlten sich einmal als tapfere Widerstandskämpfer gegen die russischen Besatzer. Jetzt blicken sie beim Erzählen am Gegenüber vorbei auf den Teppich der Kanzlei, in der wir uns treffen. Sie sind bis auf Timur, der immerhin eine befristete Aufenthaltserlaubnis besitzt, anerkannte Asylbewerber mit Bleiberecht in Deutschland. Sie haben keine Jobs, nur Gelegenheitsarbeiten. Sie waren vor jenem Mittwochabend nicht viel mehr als lose Bekannte. Jetzt sind sie notgedrungen beste Freunde, mit viel Zeit und wenig Perspektiven. Wenn man den Dreien glauben kann, und wenig spricht dagegen, leben sie in einer Parallelwelt. Zu Deutschen haben sie keine Kontakte. Das Stigma »Terrorist« sorgt noch immer dafür, dass auch tschetschenische Landsleute Abstand halten. Sie wollten, so Timur, nichts mehr mit ihnen zu tun haben – wegen des Verdachts, der auch auf sie fallen könnte. Und nicht nur sie. Achmed erzählt, dass er vor einem Jahr eine Monatskarte in Hamburg kaufen wollte, als plötzlich eine Frau aus der Schlange vor dem Schalter auf ihn zutrat und zischte: »Ich habe
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Sie wiedererkannt.« Nur eine Verrückte? Timur berichtet, dass sich in der S-Bahn immer noch Fahrgäste wegsetzen würden, wenn er das Abteil betritt. Bloße Einbildung? Als Ilias einen Freund in Bremen in Untersuchungshaft besuchen wollte, nahmen ihn Justizvollzugsbeamte fest, kaum dass er die Haftanstalt betreten hatte. Erst nach einem stundenlangen Verhör durfte er gehen. Achmed spricht für die drei jungen Männer, wenn er sagt: »Nach außen ist alles normal. Aber innerlich bin ich immer angespannt.« Nach dem Verlust der Heimat hätten sie ein zweites Mal den Boden unter den Füßen verloren: »Wir leben nur von einem Tag zum nächsten.« Ilias, Timur und Achmed werden wahrscheinlich nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren können, ohne Verhaftung oder Folter zu riskieren. Sie galten auch für Russland als Terrorverdächtige, womöglich bis heute. In Tschetschenien hatten 2005 russische Ermittler die Familien aufgesucht. Über das Bundeskriminalamt war in Moskau um Amtshilfe, um Informationen gebeten worden. Nachts besuchten Maskierte deshalb Timurs Mutter, berichtet er. Sie hätten sie bedroht, ihr gesagt, der Sohn sei ein Terrorist. Der Schmuck und ihr Adressbuch hätten nach dem Besuch gefehlt. Timur sagt, er traue sich in Hamburg nicht einmal auf das russische Konsulat, um einen neuen Pass zu beantragen. Weil er nicht wisse, ob sie ihn wieder gehen lassen würden. Niemand, so Timur, werde ihnen helfen, sollten sie gegen ihren Willen in die Heimat ausgeliefert werden. »Wir haben uns abgesprochen: Sollten wir zurück nach Tschetschenien gebracht werden, wollen wir nicht lebend in die Hände der Russen fallen«, sagt auch Achmed. Seine Stimme ist in dem Konferenzraum der Anwaltskanzlei kaum zu hören, wenn er sagt: »Wir leben wie in einem Gefängnis.« Er schäme sich, als »stolzer Tschetschene«, so etwas auszusprechen, »aber ich habe Angst«. Manchmal, übersetzt der Dolmetscher, würden die jungen Männer abends zusammensitzen und »weinen wie Mädchen«. Zwölf Stunden nach seiner Festnahme fuhren Polizisten Timur ins Polizeipräsidium. Im Keller musste der 21-Jährige sich auf einen Stuhl setzen, ein Beamter machte Fotos von ihm. Ein zweiter nahm Fingerabdrücke und eine Speichelprobe. Kurz nach Mitternacht wurde Timur entlassen. Um 2.09 Uhr am 27. August 2005 gab die Hamburger Polizei eine Pressemitteilung heraus, die nur aus zwei Sätzen bestand: »Bei den drei Männern im Alter von 21, 21 und 25 Jahren, die von der Polizei vorläufig festgenommen werden konnten, handelt es sich eindeutig um die Personen, die auf den Lichtbildern aus der Videoüberwachung abgebildet waren. Die Beamten der Abteilung Staatsschutz können aufgrund der Ermittlungsergebnisse die Gefahr eines terroristischen Anschlages durch diese Personen ausschließen.« a www.zeit.de/audio
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»Buberlpartie« Ist es politisch bedeutsam, ob der verunglückte Rechtspopulist Jörg Haider homosexuell war? VON ROBERT MISIK
Foto: Philipp Horak/Anzenberger
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s war ein, ja, etwas ungewohnter Stefan Petzner, den die Österreicher am vergangenen Dienstag bei der konstituierenden Sitzung des Nationalrats in Wien erleben durften. Hier ein Scherzchen mit einem Abgeordneten-Kollegen, da ein Getuschel im Führungskreis der Parlamentarier des Bündnisses Zukunft Österreich (BZÖ). Ansonsten: locker und gefasst, ohne besondere Auffälligkeiten. Ein 27-jähriger JungAbgeordneter eben, der sich von durchschnittlichen anderen Jung-Abgeordneten allenfalls durch diesen gewissen, betont coolen Habitus unterschied, der jenen eigen ist, die wissen, dass viele Augen auf sie gerichtet sind. Denn Stefan Petzner ist in Österreich heute das, was man eine Celebrity nennt. Vor drei Wochen war das noch anders. Als rechte Hand des sprunghaften Parteiführers Jörg Haider hatte er im BZÖ Gewicht, er bekleidete auch formal das Amt des Parteisekretärs, aber außerhalb Kärntens kannte kaum jemand sein Gesicht. Das änderte sich schlagartig am Morgen jenes 11. Oktobers 2008, als Haider sich mit mindestens 142 km/h und 1,8 Promille Alkohol im Blut totfuhr. Tränenüberströmt, mit versagender Stimme, bestätigte Petzner den Tod des Kärntner Landeshauptmanns. Bei einer Pressekonferenz am Abend weinte Petzner bitterlich. In ORF-Interviews beklagte er den Verlust seines »Lebensmenschen«. Dann, als erster Höhepunkt, ein Gespräch mit krone.tv, dem Online-Portal der auflagenstärksten Boulevardzeitung: Petzner schildert eine Beziehung, die weit über eine Freundschaft hinausgegangen sei. »Immer Sorgen«, habe er sich gemacht, der Jörg, »wegen dem Altersunterschied«, erzählt Petzner. Im Radiosender Ö3 spart Petzner schließlich wenig aus: »Er hat oft zu mir gesagt: ›Du bist mein Lebensmensch‹. Er und ich wissen, was damit gemeint ist – und das soll auch zwischen uns bleiben.« Er habe Haider auf »eigene Weise geliebt«. Nur die Frage, ob er und Haider ein Liebespaar gewesen seien, beantwortete Petzner nicht – vielleicht deshalb, weil sie ihm nicht gestellt wurde. Aber für die Zuhörer konnte kein Zweifel bestehen: Da redet jemand über seine große Liebe. Die österreichische Medienöffentlichkeit stürzte Petzner damit in ein Dilemma. Einerseits war Haider Ehemann und Familienvater. Seine Partnerschaft mit Claudia Haider, die er vor 32 Jahren heiratete, wird als harmonisch geschildert. Andererseits waren Haiders »homoerotische Neigungen« – auch so eine Hilfsvokabel – seit zwanzig Jahren das, was salopp ein »offenes Geheimnis« genannt wird, was freilich auch heißt: Jeder hatte irgendwas gehört, niemand wusste etwas Genaueres. »Es ist schon fast eine der klassischen Stadtlegenden. Der Freund eines guten Bekannten eines
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PARTEIFREUNDE Jörg Haider und Stefan Petzner während eines Interviews
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Cousins soll mit Jörg Haider Sex oder zumindest einen Kontakt gehabt haben, der dorthin hätte führen sollen«, formulierte die Wiener Presse vergangenen Dezember. Damit war das Leitmedium des österreichischen Konservativismus eines der wenigen Medien, das überhaupt ein Wort über dieses Thema verlor. Denn man hatte in der Branche die informelle Übereinkunft getroffen, dass Haiders Sexualleben seine Privatangelegenheit und daher von keinem öffentlichen Interesse sei. Daran hätte man sich aus Pietätsgründen wohl auch nach seinem Tode noch gern gehalten, Petzners ostentative öffentliche Trauer machte die Sache aber zunehmend unmöglich. Hinzu kommt, dass sich in Haiders letzten Lebensstunden ein Beziehungsdrama abspielte: Haider und Petzner hatten am Abend eine Party in Velden offenkundig streitend verlassen, der Landeshauptmann war dann in das Lokal Zum Stadtkrämer gefahren, Klagenfurts bekannteste Schwulenkneipe. Dort besoff sich Haider, der ansonsten als maßvoller Trinker bekannt war, mit einem bisher unbekannten jungen Mann, bevor er in den Tod raste. Ist all dies auf irgendeine Weise von öffentlichem Interesse? Klar, das ganze Land interessiert sich dafür, und jeder will gern mehr wissen, aber das ist wohl kein Maßstab. Wenn jede Privatheit dem Privaten entrissen werden dürfte, sofern sich nur genügend Leute dafür interessieren, wäre kaum jemand vor Nachstellungen geschützt. Freilich steht Haiders Todesfahrt im Vollsuff in engem Zusammenhang mit seinem Privatleben, und es ist wohl kaum zu argumentieren, dass über die Umstände des Ablebens dieses Politikers nicht berichtet werden sollte. Vor allem aber war Haider als rechter, aggressiver, polarisierender, aber auch charismatischer Politiker die Zentralfigur der österreichischen Politik der neunziger Jahre. Dazu konnte Haider, der die Freiheitliche Partei (FPÖ) 1986 als kleine Vier-Prozent-Partei übernommen hatte, nur dank seines persönlichen Magnetismus werden. Wie immer man diese Anziehungskraft beschreiben will, es gab da immer ein »Etwas«, das Haider von normalen Politikern unterschied. Wenn man so will: ein Geheimnis. Haiders Spiel mit erotischen Gesten, auch seine sexuelle Uneindeutigkeit waren Teil der Faszination, die zeitweilig von ihm ausging. Er führte immer mehrere Existenzen, und das Chamäleonhafte war ihm zur zweiten Natur geworden: halb Beau, halb Faschist. Er war der Politiker in der Ära der Spaßgesellschaft, der durch Diskos tingelte und vom Bungee-Seil sprang, der gleichzeitig den nationalen Heimatverteidiger gab. Mal warf er sich in die rustikale Kärntnertracht, dann trug er wieder rosa Hemden zum dottergelben Anzug. Er war eine verletzliche Diva, man at-
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testierte ihm »maßlose Selbstüberschätzung« bei gleichzeitig »extrem hoher Kränkbarkeit«. Er war ein Gambler, dem man immer auch ansah, dass er ein Spiel trieb. Kurzum: Er war einer mit Macken, einer, der sich nie allein in politischen Kategorien beschreiben ließ. Wie tickt Haider?, mit dieser Frage schlug sich eine ganze Journalistengeneration herum. Für das Verständnis eines solchen Politikers ist seine sexuelle Orientierung zwar nicht die Hauptsache, aber auch nicht bedeutungslos. Thomas Mann wird man als Schriftsteller auch nur unzureichend begreifen, wenn man nichts über die qualvollen Seiten seiner Sexualität weiß. Hinzu kommt: In der Führungscrew von Haiders Partei – erst der FPÖ, später des BZÖ – herrschte ein männerbündlerischer Geist, der der verdrucksten Homoerotik traditioneller rechtsradikaler Parteien ähnelte und sich zugleich signifikant von ihr unterschied. Haider scharte junge Männer in ihren frühen Zwanzigern um sich, die er in höchste Ämter hievte – seit Jahren hat sich dafür der Begriff »Buberlpartie« eingebürgert. Man konnte nie so recht unterscheiden, ob man es nun mit einer Partei oder mit einer Bande von Halbstarken zu tun hatte, die sich in ihren rabiaten Gesten gegenseitig übertreffen wollten, nach Dienstschluss aber dem anything goes frönten. Diese Männer waren emotional von Haider stark abhängig, sie wurden von ihm immer wieder auch verstoßen. Dass er sich zu gutaussehenden, männlichen Twens hingezogen fühlte, hat Haider übrigens nie zu verbergen gesucht. »Verblüffend unverkrampft«, sei er in dieser Hinsicht gewesen, berichtet das Nachrichtenmagazin profil in seiner jüngsten Ausgabe: »Bei einem Interviewtermin interessierte er sich mehr für die Meinung des jungen Fotoassistenten als für die Fragen der Redakteure.« Einmal haben seine engsten Mitarbeiter Haider sogar gebeten, etwas vorsichtiger zu sein. Im Klagenfurter Stadtkrämer jedenfalls waren Haider und Petzner häufig gesehene Gäste, und dass die beiden ein Paar seien, nahm jeder für selbstverständlich. Es ist eine der Pointen der Geschichte, dass Haider zu Lebzeiten stets über dieses Thema schwieg, zweieinhalb Wochen nach seinem Tod aber alle Welt davon ausgeht, seine Homosexualität sei ein gesichertes Faktum. Freilich, wie genau sich Haiders Privatleben gestaltete – wir wissen es nicht. Vielleicht hielt er Fassaden krampfhaft aufrecht, vielleicht spielte er auch fröhlich mit seinen Identitäten, wie er das zeitlebens auch mit seinen Provokationen tat. Warum die Antwort auf diese Fragen interessant ist? Weil Haider stets seinen Charakter in politischen Stil verwandelte.
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MEINUNG
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ZEITGEIST
HEUTE: 24.10.2008
Das Böse und das Öl Billige Rohstoffe machen die Diktatoren zahm, meint JOSEF JOFFE
Foto: Mathias Bothor/photoselection
JOSEF JOFFE ist Herausgeber der ZEIT
schwinden, werden Putin/Medwedjew nicht mehr ganz so arrogant gegenüber dem Westen auftreten. Überraschung: Gerade hat Moskau erklärt, es werde in den UN kein Veto gegen die Verlängerung des US-Truppenmandats im Irak einlegen. Die Moral von der Geschicht? Selbst in der schlimmsten Krise seit 1929 ist der demokratische Kapitalismus stärker als seine Feinde. Oder gerade in der Krise, weil sein wahrer Reichtum nicht auf Aktienpreisen und schon gar nicht auf Bodenschätzen beruht, sondern auf »Software«: Demokratie, Freiheit, Kreativität und, ja, Kapital. Wo würde denn Frau Merkel sonst die 500 Milliarden für ihren Rettungsfonds hernehmen?
Solidarität Rotfrontkämpfer sehen anders aus. Auch wenn manch gescheiterter Spekulant sich jetzt vor der Weltrevolution fürchtet und als verfolgte Unschuld gebärdet (»Wir armen Neureichen haben die Börse doch selbst nicht mehr verstanden!«), scheint die Gefahr einer linken Massenerhebung wenig akut. Im Gegenteil. Die potenziellen Revolutionäre solidarisieren sich mit ihren Oberen. »Eine Bank, ein Team« lautete der Schlachtruf der Friedfertigen von der BayernLB, die Ende vergangener Woche für den Vorstandsvorsitzenden Michael Kemmer demonstrierten. Sklavenmoral hätte Nietzsche das genannt. Falsches Bewusstsein, hätte Ludwig Marcuse gewettert. Man könnte die Antidemo aber auch als Kundgebung mitmenschlicher Vernunft sehen, als Zeichen gegen die instrumentelle Gewalt nach zwei Jahrhunderten blutig entgleister Revolutionen. EF
Foto: Timm Schamberger/ddp
Der iranische Präsident Ahmadineschad verkündet das »Ende des Kapitalismus« und erntet dafür Kopfnicken im kapitalistischen Kommentariat. Sein Chef Chamenei wittert schon den Kollaps der »westlichen liberalen Demokratie«. Tatsächlich aber zeigt die alte Dame zusammen mit ihrem Bruder, dem Kapitalismus, wieder ungeahnte Kraft, derweil gerade die Feinde der offenen Gesellschaft – Iran, Venezuela, Russland – einer Existenzkrise entgegentorkeln. Die Kraft des modernen Kapitalismus fließt aus unendlich vielen Quellen, vom kleinen Krämer bis zum großen Google, von der Bildung (Know-how) bis zur Börse (Kapitalbeschaffung). Die Macht des antiwestlichen Trios aber beruht auf dem Energiepreis; es ist eine »Achse des Bö(l)sen«. Und Öl lag in dieser Woche bei 60 Dollar, im Juli waren es 147. Der russische Finanzminister meinte im September, der Staatshaushalt rutsche bei einem Preis von 70 Dollar ins Minus. In Iran und Venezuela begann die Staatskrise schon bei 95 Dollar; da ging’s an die Sozialprogramme, die Chávez und Ahmadineschad an der Macht halten. 80 Prozent (!) des iranischen Budgets kommen aus der Energie; zwölf Prozent des BIPs gehen in Subventionen für Benzin und Brot. (Bei uns wären das 300 Milliarden Euro.) Mit Öl finanziert Chávez die Hälfte des Staates. Als die Sowjetunion 1991 zusammenbrach, lag der Ölpreis bei 20 Dollar (nominal). Als Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz von 2007 praktisch den zweiten Kalten Krieg erklärte, waren es 64 Dollar. Im Juli hatte Öl seinen historischen Höchstpreis erreicht; im August fiel Russland in Georgien ein. Eine krude Korrelation – und doch: Die Expansion kommt mit dem Energiepreis daher. Und umgekehrt: Hugo Chávez kann Nicaragua die versprochene Ölraffinerie (vier Milliarden Dollar) nun leider noch nicht liefern. Für Venezuela und Iran wird es eng bei der Alimentierung ihrer revolutionären Klientel – von Kuba bis Bolivien, von Hamas bis Hisbollah. Auf jeden Fall halten die beiden H-Gruppen derzeit Ruhe in Nahost. Plötzlich flötet Chávez, an McCain und Obama gerichtet: »Wir müssen miteinander reden, weil wir einander brauchen.« Das revolutionäre Bolivien will auch mit dem »Imperium« plaudern. Die Russen? Sie haben gern den Gashahn in Richtung Westen zugedreht, um das »nahe Ausland« gefügig zu machen; bei 60-Dollar-Öl wird das zu teuer. Wenn der Aktienmarkt um 76 Prozent seit Jahresbeginn fällt, weil die Ausländer ver-
BERLINER BÜHNE
Jeder stirbt für sich allein Statt über Patientenverfügungen zu streiten, sollte die Politik für eine würdige Altenpflege sorgen VON MICHAEL NAUMANN Jedes Jahr sterben in Deutschland über 810 000 Menschen eines natürlichen Todes, fast die Hälfte von ihnen in Krankenhäusern. Hinter der begütigenden Wortfassade »natürlich« verbirgt sich aber allzu oft der statistisch nicht erfasste Skandal des würdelosen, nicht selten dementen Dahinsiechens in Pflegeheimen mit überfordertem, unterbezahltem Personal, es verbirgt sich der Skandal eines sinnlos verlängerten Lebens im Krankenhaus, der Quälerei künstlicher Ernährung komatöser Patienten, der Skandal immer noch rückständiger Palliativmedizin und der Ärger lähmender Rechtsunsicherheit für Angehörige, Ärzte und Pfleger. Wer einen sterbenden, bewusstlosen Patienten gegen seinen Willen mit Medikamenten am Leben hält, kann wegen Körperverletzung verklagt werden; wer ihn vom Beatmungsgerät ohne Einwilligung oder Zustimmung der Verwandten »abschaltet«, dem droht Schlimmeres. Nach mehr als vierjähriger Debatte will der Bundestag noch im November deutsche Ordnung für das absolut unordentlichste Ereignis im Leben jedes Menschen herstellen: erste gesetzliche Leitlinien für eine richtige Art des Sterbens. Gerichtlich unanfechtbare Patientenverfügungen sollen dafür sorgen, dass jeder Bürger, so er denn will, in einem testamentarisch-schriftlichen Akt der Selbstbestimmung im Voraus festlegen kann, allfällige Krankenhausbehandlungen im Ernstfall auszusetzen, falls er selbst nicht mehr dazu in der Lage ist, weil er nicht mehr kommunizieren kann. Die Vorhersage ist nicht gewagt: Vor uns liegt ein wahrscheinlich vergebliches Bemü-
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hen der Abgeordneten; denn mindestens zwei Anträge stehen in Konkurrenz zur Abstimmung. Und keiner wird nach einer möglichen Annahme das moralische Dilemma der Ärzte am Sterbebett lösen können: Folgt ein Arzt dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten, verstößt er unter Umständen gegen sein eigenes Berufsethos. Zwar gibt es Patientenverfügungen schon längst (und in vielen europäischen Staaten) – aber die mit ihnen verknüpften Rechtsunsicherheiten haben höchstrichterliche Bestätigung gefunden: Sollte ein Krankheitsfall nicht unabweisbar in den Tod führen, so lautete zum Beispiel ein Urteil des Bundesgerichtshofs, dann darf ein Betreuer keineswegs »passive Sterbehilfe« leisten; das wäre strafbar. Aber was bedeutet »unabweisbar«? Im Land der unzählbaren Verordnungen, der Vorschriften, Verbote und Gesetze existiert also einmal mehr staatlicher »Regelungsbedarf«. Was einst Sache, Pflicht und bisweilen auch Liebe der Kirchen und Familien war, gerät so in die Obhut des Gesetzgebers. Es handelt sich gleichwohl um eine ziemlich gespenstische Debatte. Denn das Ideal eines Todes in Würde (die berechtigte Hoffnung auf Schmerzlosigkeit ist neueren Datums) hat sich mit dem längst ruinierten Zusammenhalt der Familien für die meisten Deutschen verflüchtigt. Wer stirbt, fügt sich inzwischen in den arbeitsteiligen Prozess der Moderne ein; das heißt, er stirbt vor allem allein und allzu oft auch ungetröstet. Gestorben wird immer öfter in den privatisierten Krankenhäusern und Pflegeheimen klammer Kommunen. In den Bilanzen der Krankenversiche-
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rungen gleitet der greise und teure Kassenpatient als Kann-weg-Faktor einer negativen Deckungsbeitragsrechnung ins Jenseits. Um es klar zu sagen: Auch sein Sterben soll sich für die gewinnorientierten Krankenhausbetreiber in Zukunft lohnen; denn nicht nur die Gesundheit ist zur Ware geworden, sondern auch der Tod. Ohne es zu wollen, finden sich die Bundestagsabgeordneten (die diesmal keinem Fraktionszwang unterliegen) in einer Art Kulturkampf wieder, in dem die historischen Schlachten der Aufklärung wiederholt werden: hier das jüdisch-christliche Prinzip der Lebensheiligkeit und der frommen Hinnahme eines gottgewollten Schicksals, dort das Freiheitsprinzip der Selbstbestimmung bis in den Tod hinein, das (keineswegs selbstverständliche) Recht auf Selbstmord inklusive. Doch die Politiker wären gut beraten, noch einmal Abstand zu nehmen von einer Gesetzesdebatte, deren Ausgang zweifelhaft ist und neue Unsicherheiten bei Ärzten und Patienten nach sich zöge. So gravierend die Skandale in einzelnen Fällen in den Krankenhäusern auch sein mögen, noch schlimmer sind die an Verwahrlosung grenzenden Zustände in deutschen Pflegeheimen. Statt konjunkturfördernde Wärmedämmung im nationalen Häuserbau mit Milliarden auszustatten, sollten die Parlamentarier daher überlegen, ob es nicht besser wäre, die deutschen Altersheime und Hospize endlich in die Lage zu versetzen, menschen- und alterswürdiger zu arbeiten als bisher. Bei allem Respekt vor dem würdigen Tod, das würdige Leben ist allemal wichtiger.
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Let It Bleed Das Lied zum Crash: Was man in Zeiten der Weltfinanzkrise hören sollte Harald Schmidt, der gelangweilte Entertainer auf Musical-Abwegen, schrumpft in Stuttgart derzeit Shakespeares Hamlet auf Hello Dolly-Größe. Paul Potts, der arienschmetternde Underdog, singt sich gerade auf seiner Welttournee vom Tenor der Herzen in jenen Handyverkäufer zurück, der er war, bevor ihn die globale Sozialkitschindustrie zu einem pausbäckigen Placebo Domingo der Trinksporthallen aufplusterte. Und wir fragen uns angesichts all des musikalischen und sonstigen Elends: Was hören wir eigentlich zur Weltfinanzkrise? Was rockt besser zu Pleitebanken und Börsencrash: Einstürzende Neubauten oder Smashing Pumpkins? Beim Durchwühlen unserer Schallplattensammlung – ja, so etwas besitzen wir derivatefreien Festgeldanleger noch – findet sich für jeden etwas: Für gebeutelte Aktienbesitzer Let It bleed von den Rolling Stones und Killing Me Softly von den Fugees, für die entlassenen Spekulanten der Lehman Brothers Boys Don’t Cry von The Cure, für die Lehman-Brüder selbst Naked der Talking Heads, für die entsetzte Weltöffentlichkeit A Bigger Bang (nochmals Stones). Wer die Stimmungslage der Investmentbanker nachempfinden will, sollte sich entweder Appetite for Destruction von Guns N’ Roses anhören oder Weird Scenes Inside the Goldmine von den Doors (The End ist auch darauf ). Oder schlicht War von U2. Wer sich hingegen noch einmal spontan empören möchte, dem empfehlen wir Crime of the Century von Supertramp. Wir selbst legen jetzt auch Supertramp auf. Aber jene Platte, mit der wir uns noch jede Zeit schöngehört haben: Crisis? What Crisis? PETER DAUSEND
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WIDERSPRUCH
DAMALS: 16.08.1980
Der große Kater Nein, der Markt kann es eben doch nicht besser VON OLE SCHLEY
Solidarność
Fotos [M]: Jean Gaumy/Magnum/Agentur Focus; intertopics (u.)
Klassenkampf sieht anders aus. Als heldenhafte Überwindung der herrschenden Produktionsverhältnisse hatte Karl Marx sich die letzte Etappe auf dem Weg in den Kommunismus vorgestellt. Doch die Arbeiter der Danziger Leninwerft widerlegten den Histomat, indem sie den Sozialismus bestreikten. Im August 1980 rebellierte die fortschrittliche Klasse, wie man sie nannte, gegen den Fortschritt, weil er allzu miese Arbeitsbedingungen und viel zu viele Maulkorberlasse mit sich brachte. Lech Wałęsa gründete die Gewerkschaft Solidarność, und der Gedanke der Solidarität wurde aus dem Kontext des Marxismus befreit. Solidarität beruhe auf der Erkenntnis, dass den eigenen Interessen am besten gedient sei, wenn auch alle anderen zu ihrem Recht kämen, hat in den 1980ern ein Bundespräsident gesagt. Leider wollten die Börsianer nicht auf ihn hören. EF
Falscher Feind
Die Gelassenheitsmaschine Warum Obama eine großer Präsident werden könnte
VON DAVID BROOKS
Seit zwei Jahren beobachten wir nun Barack Anscheinend werden wir von unserer Umwelt Obama im Wahlkampf, und in all der Zeit hat er geformt, doch Obama, der Gast, scheint die unin der Öffentlichkeit nie die Selbstkontrolle ver- terschiedlichsten Situationen zu durchleben, loren. In Lärm und Kampf, trotz Erschöpfung ohne sich allzu sehr davon berühren zu lassen. In und Krise zeigte er nicht ein einziges Mal Zorn, den vergangenen beiden Jahren wurde er von der Angst, Unruhe, Bitterkeit, Tränen, Aufregung, Öffentlichkeit verehrt wie kaum jemand vor Selbstmitleid oder impulsive Ausbrüche. ihm, er jedoch ließ sich davon nicht beeindruManche Präsidentschaftskandidaten lassen sich cken, und im Lauf des Wahlkampfs legte er sogar gerade durch das antreiben, was ihnen fehlt. Bei viel von seinem rhetorischen Pathos ab. Bill Clinton versuchte im Wahlkampf, sein Lyndon B. Johnson war es Respekt, bei Bill Clinton Bewunderung. Diese Politiker versuchen, den Man- Publikum zu verführen. Obama dagegen wirbt gel auszugleichen. Sobald sie im Amt sind, müssen weniger, als dass er umworben wird. Er scheint sie lernen, sich in den Griff zu bekommen. Wie die Liebe seiner Zuhörer nicht zu brauchen. Aber werden sie es schaffen, die Dämonen, die Selbst- sie brauchen seine Liebe. Sie hungern nach seiner zweifel und Sehnsüchte zu kontrollieren, aus denen Zuneigung, während er ruhig, verständnisvoll, didaktisch bleibt. ihr Ehrgeiz sich gespeist hat? Roosevelts heiteres Naturell und Reagans leAndere Kandidaten dagegen motiviert eine Eigenschaft, die von manchen Psychologen als bensfrohes Auftreten gehen ihm ab, stattdessen »Selbstwirksamkeit« bezeichnet wird, die ruhi- ist er analytisch. Deshalb perlte der Versuch, ihm ge Gewissheit, dass sie alle Anforderungen be- eine Verbindung mit dem radikal linken Theowältigen können, mit denen sie in Zukunft retiker William Ayers nachzuweisen, völlig an konfrontiert werden mögen. Solche Kandida- ihm ab. Obama mag vorurteilslos sein, aber er ist ten – Franklin D. Roosevelt etwa oder Ronald nie stürmisch. Seine Familie ist bürgerlich. GeReagan – trägt das Verlangen nach oben, die fühlsmäßig vermeidet er die revolutionäre Geste ihnen gegebenen Fähigkeiten zu entfalten und zugunsten des Sechs-Punkte-Plans. Das war noch nicht so deutlich in den Tagen, einzusetzen. Sie machen Karriere mit einer unerschütterlichen Gelassenheit, die ihre Kritiker als Obama von der »brennenden Dringlichkeit nicht erklären können und die ihre Gegner des Wandels« sprach, doch heute ist es klar. Und ohne Weiteres lässt sich ein Szenario entwerfen, wütend macht. Obama vereinigt in sich die Biografie der ers- in dem er ein großer Präsident sein könnte. Weten mit der Persönlichkeit der zweiten Gruppe. der selbstzerstörerische Dämonen noch Disziplinlosigkeit würden ihn verfolEr wuchs ohne Vater auf, seine gen. In seiner coolen Art würde Mutter zog häufig um. »Schon er die Wirklichkeit ungefiltert vor langer Zeit lernte ich, meiner wahrnehmen. Er könnte, wie er Kindheit zu misstrauen«, schreibt es bereits angefangen hat, einige er in seiner Autobiografie Dreams der klügsten Köpfe um sich from My Father (deutsch: Ein scharen und ihnen freie Hand amerikanischer Traum). Man lassen, da intellektuelle Unsikönnte erwarten, dass ein unter cherheit ihm fremd ist. Trotz solchen Bedingungen aufseiner Jugend kann man sich gut gewachsener Politiker sich mit vorstellen, wie er im Kabinett ungestillten seelischen Bedürf- DAVID BROOKS ist eine anspruchsvolle, nuancenreinissen und verborgenen Wun- ständiger Kolumnist der »New York Times« und che Diskussion über ein langfrisden herumzuschlagen hat. Obama hat nie etwas Der- Autor des Buches »Bobos tiges Problem leitet. Natürlich kann man sich artiges erkennen lassen. Statt- in Paradise« auch ein Szenario denken, in dessen zeigt er jeden Tag das gleiche ungetrübte Selbstvertrauen. Zumindest dem er keine Insel der Vernunft in einem Ozean in der Öffentlichkeit lässt nichts auf einen in- des Aufruhrs bildet, sondern einfach nur eine Inneren Aufruhr schließen. Dabei zeigt er nicht sel. Frisch gekürte Präsidenten müssen immer so sehr Willenskraft oder Selbstdisziplin als wieder mit Erstaunen erleben, wie wenig ihre vielmehr ein strukturiertes Unbewusstes. Anweisungen befolgt werden, wie sehr passiv-agDurch irgendeine tiefreichende kognitive Ver- gressives Verhalten ihren Vorhaben zuwiderläuft. arbeitung hat er sich Strategien der AusgegliEs wäre ebenfalls möglich, dass Obama ein Bechenheit erarbeitet und ist so zu einer Gelas- obachter, nicht ein Anführer wird. Vielleicht wird senheitsmaschine geworden. er sich eher zurückhalten, statt sich leidenschaftlich Als der Fernsehmoderator Bob Schieffer ihm in für seine Ziele einzusetzen. Es könnte sein, dass der letzten TV-Debatte mit John McCain vor zwei wichtige Abgeordnete sich von seiner intellektuellen Wochen mit direkten Fragen zusetzte, trat Obama Überlegenheit abgestoßen fühlen und lieber ihre gleichsam einen Schritt zurück und entwarf ein eigenen Wege gehen. Nicht ausgeschlossen ist es größeres Bild. Auf McCains Angriffe – darunter auch, dass er sich in Feinheiten verliert und damit sogar die Behauptung, lebensfähige Föten lasse man passiv und ineffizient wird, dass fehlende Leidennach der Abtreibung einfach sterben – reagierte er schaft zu fehlendem Mut führt, dass Obamas Grömit einem Lächeln, in dem sich Erheiterung über ße zu Obamas Abstieg wird. Wir können spekulieren, wie die Geschichte dieses politische Spiel ausdrückte. Auf jede Herausforderung nahm er sich instinktiv zurück und wech- ausgeht. Doch in den letzten beiden Jahren hat Obama sich im Umgang mit den Wählern einselte in die Beobachterperspektive. Während der ganzen Debatte wirkte er ausglei- deutig gut gehalten. Er ist alles andere als ein mochend und gesammelt. Während der erfahrene discher Star, sondern souverän, selbstbeherrscht McCain vor Anspannung wütend mit den Augen und vielleicht sogar ein bisschen langweilig. rollte, ließ Obama nicht einmal unbewusste Signale der Nervosität erkennen. Es gab bei ihm nicht den AUS DEM ENGLISCHEN ÜBERSETZT VON kleinsten Hinweis auf unkontrollierte Gefühle. ELISABETH THIELICKE
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Die Union vergeigt ihre Kampagne gegen linken Antisemitismus Gibt es einen linken Antisemitismus? Und ob. Es existiert ein diffuser westdeutscher Antisemitismus, in dem antikapitalistische Affekte und bornierte Israelkritik zusammenschießen; es gab den staatssozialistischen, bisweilen tödlichen Antisemitismus in der Sowjetunion, in Polen. Und es gab eine dezidiert antiisraelische Politik in der DDR; Ost-Berlin nahm nach dem Krieg zwar ein paar prominente jüdische Exilanten auf, um sich kulturell mit ihnen zu schmücken, sprach sich sonst aber von jeder historischen Verantwortung für den Holocaust großzügig selbst frei. Darf man über diesen linken Antisemitismus streiten, wie es einige Unions-Bundestagsabge-
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ordnete jetzt, anderthalb Wochen vor dem 70. Jahrestag der Reichspogromnacht vom 9. November 1938, fordern, um die Linkspartei als »antizionistisch« und »antiisraelisch« bloßzustellen? Selbstverständlich. Aber wer derlei versucht, darf sich nicht wundern, wenn er genau das Gegenteil erreicht. Die Linke überfallartig von einer lang vorbereiteten Erklärung aller Bundestagsfraktionen wider den Antisemitismus ausschließen zu wollen, kann nur als parteipolitisches Manöver verstanden werden. Oder als Ablenkung vom braunen Pack. Jede Debatte über den Antisemitismus von links jedenfalls wird so zuverlässig verhindert. WFG
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Es scheint den »bekennenden Neoliberalen« dieser Tage auszuzeichnen, dass eine Prise Opportunismus zum Handwerk gehört. Anders ist nicht zu erklären, was der ZEITLeser Benedikt Langer in seiner Replik NeoNeoliberal (ZEIT Nr. 44/08) auf Susanne Gaschkes Artikel Die Neunmalklugen (ZEIT Nr. 43/08) postuliert. Dass der Staat in dieser Finanzkrise der eigentliche Verursacher gewesen sein soll, weil er billiges Geld zur Verfügung stellte – was im Übrigen nicht originär »der Staat« tut, sondern unabhängige Notenbanken koordinieren –, ist eine reichlich verwegene Behauptung, wenn man bedenkt, dass ebendies, die Bereitstellung billigen Geldes, stets eine Forderung der Vertreter des Marktes war. Zudem sollte ein vorgeblich derart gut funktionierender Markt solche Unstimmigkeiten selbst zu lösen imstande sein. Langer führt ferner die Liquiditätsengpässe am Kapitalmarkt und die wechselseitige Weigerung der Banken, sich im sogenannten Interbankenhandel Kredite zu geben, als Beleg für einen funktionierenden Markt an. Doch ein wirklich effizientes System hätte die Blase nicht nur erkannt respektive verhindert, bevor es zu spät gewesen wäre – ein solches System hätte auch nach dem Platzen der Blase aus eigener Kraft einen Zusammenbruch vermieden, ohne auf milliardenschwere Kapitalspritzen des vormals so verachteten Staates angewiesen zu sein. Dass ein Sozialstaat der Umverteilung bedarf, um sein Überleben zu sichern, dürfte für einen Banker mittlerweile ein bekanntes Prinzip sein, folgt doch auf jeden Boom, insbesondere in Amerika, der große Kater, wo mit vorübergehender Umverteilung (vom Staat und somit dem Steuerzahler) das wirtschaftliche Überleben der betreffenden Unternehmen garantiert wird. Was diesmal bleibt, ist hoffentlich ein Abschied vom Laisser-faire und eine Ernüchterung – im Übrigen auch im Bezug auf den Haushalt, dessen defizitäre Lage die Rettungen der Banken schwerlich verbessert haben dürfte. Ole Schley ist Schüler und ZEIT-Leser in Hamburg Jede Woche erscheint an dieser Stelle ein »Widerspruch« gegen einen Artikel aus dem politischen Ressort der ZEIT, verfasst von einem Redakteur, einem Politiker – oder einem ZEIT-Leser. Wer widersprechen will, schickt seine Replik (maximal 2000 Zeichen) an
[email protected] Die Redaktion behält sich Auswahl und Kürzungen vor
SCHWARZ
16 Inh/Ö
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IN DER ZEIT
NR.
30 China 10 000 Fabriken müssen
POLITIK 2
3
Ein Spaziergang mit Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan VON H.-B. KAMMERTÖNS a
Bundeswehr
Die Fragwürdigkeit militärischer Interventionen
Afghanistan
Foto: Nicole Sturz für DIE ZEIT
4
CSU
6
Köpfe der ZEIT:
8
Gespräch mit Volker Kauder über Konjunkturprogramme
Kohle
Chef der Helios-Kliniken?
Obama oder McCain – Erkundungen in einem New Yorker Mietshaus
WISSEN
Falscher Verdacht
Peter van Gestel »Wintereis« VON FRANZ LETTNER
LUCHS
Prager Frühling
Wissenschaftsstiftung gegründet werden VON JAN-MARTIN WIARDA
REISEN
Mit dem »Polonator« soll das Erbgut von 100 000 Freiwilligen enträtselt werden Genetik
71
Kilimandscharo
40 Ein Gespräch mit dem
73 Paris Im Norden öffnet ein
Humangenetiker André Reis über den Sinn genetischer Tests Archäologie
ungewöhnliches Kulturzentrum VON KARIN FINKENZELLER
Luthers Müll
74 Finanzkrise Wie wir künftig
45 Psychologie Der wahre Kern von
Metaphern
Verbesserungen bei der Palliativmedizin sind wichtiger als Patientenverfügungen
Ganzkörperscanner verletzen das Schamgefühl VON HARRO ALBRECHT
Sterben
15 USA Warum Obama eine großer
Präsident werden kann Der Markt kann doch nicht alles allein regeln VON OLE SCHLEY
Wie der Sieg der Germanen über die Römer vor 2000 Jahren die deutsche Geschichte bis heute bestimmt
Varusschlacht
Leistungen zu Hause nichts wert sind VON JAN-MARTIN WIARDA 78 Rentenchaos Gehen Wissenschaft-
film gemacht – zum Beispiel »Krabat«? VON MARICKE FRICK
ler ins Ausland, riskieren sie ihre Ansprüche VON KILIAN KIRCHGESSNER
a »Die Abenteuer des starken Wanja« VON OTTFRIED PREUSSLER
79 Osteuropa Hier zu studieren
lohnt sich
81 Stipendien Europäische Abschlüsse
55 Finanzkrise
82 Problem Dreifächerstudium
Warum der Kapitalismus zwanghaft mit Juden assoziiert wird
83
22 Wochenschau Madonna geht, was VON HENNING HOFF
a
WIRTSCHAFT
56 Deutschlands Weg zur Revolution
Der Staat besinnt sich auf die Armen Die Spekulation verwirrt alle VON DIETMAR LAMPARTER
VW-Aktie
24 Staatshilfe Der verschmähte
VON PETER KÜMMEL UND DIETMAR DATH
102 Zweiter Weltkrieg Anders als noch
heute gern behauptet, wurde der verbrecherische Kommissarbefehl der Wehrmacht überall an der Ostfront befolgt. So erschossen deutsche Soldaten 1941/42 Tausende sowjetische Politoffiziere direkt nach der Gefangennahme
58 Diskothek
VON ELISABETH NIEJAHR
Hörbuch Else Lasker-Schüler: »Die Wupper« VON WILHELM TRAPP
Rafik Schami/ Günter Baby Sommer: »Abbara«
Hörbuch/Jazz
Rettungsring
59 Pop Der Siegeszug der Weltmusik
Die Unternehmen hängen am Tropf der Banken –warum?
60 Kunst Edward Hopper und die
VON FELIX RÖMER
VON THOMAS GROSS
Kredite
VON RÜDIGER JUNGBLUTH
RUBRIKEN
zeitgenössische Kunst in Wien VON THOMAS ASSHEUER
Foto: A.T. Schaefer
25 Weltwirtschaftskrise Jetzt trifft es
die Industrie
VON GÖTZ HAMANN UND
MARK SCHIERITZ
2
61 Kino »Willkommen bei den
Sch’tis«
Nr. 45 DIE ZEIT
Rettungspakete Interview mit einem ehemaligen Reagan-Berater
29 Altersvorsorge Mehr in Aktien,
42
fordert Bernd Raffelhüschen Elterngeld
LITERATUR VON EBERHARD FALCKE
Fernsehen Elke
Heidenreichs
Abgang
Erste Bilanz
S.16
www.zeit.de/us-wahl
a Stimmt’s? Erforscht und erfunden
Die so a gekennzeichneten Artikel finden Sie als Audiodatei im »Premiumbereich« von ZEIT.de unter www.zeit.de/audio
veränderte 61
Wörterbericht/Das Letzte/Was mache ich hier?/Impressum a
62 LESERBRIEFE
VON CHRISTOF SIEMES
SCHWARZ
Barack Obama oder John McCain. Am Dienstag, dem 4. November, wird in den Vereinigten Staaten ein neuer Präsident gewählt. ZEIT ONLINE ist live dabei, via Liveticker, Blog, Video und Twitter. Dazu alle Wahlergebnisse aus den Bundesstaaten sowie Analysen und Kommentare unserer Korrespondenten
Worte der Woche
58 Die Platte, die mein Leben
63 Roman Denis Johnson »Ein
gerader Rauch«
AMERIKA WÄHLT
35 Macher und Märkte
VON PASCALE HUGUES
26 Finanzkrise Die neuen Gefahren
Diese Zeit, so rufen manche, braucht einen Umsturz. In der Kunst wird er probehalber schon vollzogen. Wir berichten vom Aufstand im Hamburger Schauspielhaus und beleuchten Deutschlands Weg zur Revolution FEUILLETON S. 55/56
Opernstudium
ZEITLÄUFTE
Gogh – die Großausstellungen des Herbstes VON HANNO RAUTERBERG
Gerechtigkeit
Zu Besuch an der Bayerischen Theaterakademie a
VON GEORG ETSCHEIT
Umsturz auf Probe
57 Kunst Picasso, Kandinsky, van
Auf geht’s! Revolution!
VON MARC HASSE
studiert, hat es besser
FEUILLETON
VON JENS JESSEN
VON TILLMANN BENDIKOWSKI
a
Isseys Odyssee: Mit sieben verlor er seine Eltern durch die Bombe auf Hiroshima – seitdem beschäftigt sich Issey Miyake nur noch mit schönen Dingen. Porträt des Modedesigners
80 Pro & Contra Wer auf Bachelor
DOSSIER
23
Krisengewinnlerin: Heike Faller über ihr Jahr unter Spekulanten
77 Auslandssemester Wenn die
Bildungsgipfel ihre Chance vertan
48
Germany’s First Topmodel: Veruschka oder wie eine Frau ihren Körper in ein Kunstobjekt verwandelt
SPEZIAL BACHELOR & MASTER
46 Bildung Die Politik hat beim
Widerspruch
VON COSIMA SCHMITT
CHANCEN
47 KinderZEIT Wie wird ein Kino-
VON DAVID BROOKS
wird aus London?
reisen
VON JOCHEN PAULUS
Religion Großbritanniens Atheisten in der Offensive
VON MICHAEL NAUMANN
Afrika Mit Rovos Rail über den Kontinent VON MICHAEL ALLMAIER
a
72 Bergsteigen Ein Guide vom
VON ULRICH BAHNSEN UND JENS UEHLECKE
a
VON ULRICH GREINER
Vom Stapel; Gedicht; Büchertisch
39 Hochschule In Berlin soll eine
Zeitgeist VON JOSEF JOFFE
Berliner Bühne
30. Oktober 2008
70 Kaleidoskop Franz Kafka und der
41
14 Meinung
45
Heinz Janisch/Aljoscha Blau (Ill.) »Das Kopftuch meiner Großmutter«
VON JONAS VIERING
US-Wahlkampf
VON ROBERT MISIK
17
Pin »Die Geschichte vom kleinen Loch« VON KARL-HEINZ BEHR
VON CHRISTIAN TENBROCK
Bernard Pellegrin, Christian Duplan, »Claude Guéant«
13 Österreich Der Kult um Haider
VON KAI MICHEL
67 Kinder- und Jugendbuch Isabel
VON HARALD CHRIST
38 Was bewegt... Francesco de Meo,
11 Harvard blickt in der Krise nach
Der Müll des Reformators
Buch im Gespräch Friedrich Merz »Mehr Kapitalismus wagen« VON CHRISTOPH BERTRAM
36 Energie-Serie Die Renaissance der
Bundesstaat die Demokraten führen VON MARTIN KLINGST
Abb.: Evangelischer Kirchenfunk Niedersachsen
»Gott regiert Amerika«
VON STEFAN MAUER
von uns verlangt
10 Warum in einem konservativen
CHRISTIAN DENSOS LESEEMPFEHLUNG: Mit Rovos Rail durch Afrika. Ein Reisebericht von Michael Allmaier SEITE 71
66 Politisches Buch Matthias Rüb
Aus politischen Zeitschriften
Warum Norderfriedrichskoog wieder Gewerbesteuer erhebt
VON JÖRG LAU
VON INSA WILKE
Jahre vor allem für ihren Berater 35 Wirtschaftspolitik Was die Krise
Terrorismus
träger Josef Winkler
VON HEIKE BUCHTER
Der Streit um das Bankgeheimnis VON JOCHEN BITTNER Steueroasen
a
65 Ehrung Georg-Büchner-Preis-
schaftspläne Obamas und McCains
VON KERSTIN KOHLENBERG
12
a Dillingen Warum zwei Russen hier investieren
optimistisch ist
Finanzkrise
Europa
»Der Cembalospieler« VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
32 Silicon Valley Wo Amerika noch
Bücher machen Politik
ist in Bonn aufgewachsen und hat in Konstanz, Berlin und Paris studiert: Geschichte, Politik, Jura. Die »Berliner Morgenpost« schickte ihn als Lokalreporter für Neukölln an die journalistische Front und dann zwei Jahre auf die SpringerJournalistenschule. Beim »Hamburger Abendblatt« wurde er Polizeireporter. Zusammen mit einer Kollegin gewann er den Wächterpreis der Tagespresse: Sie hatten die skandalöse Entmündigung einer alten Frau und deren Enteignung durch den Staat aufgedeckt. Seit Januar dieses Jahres ist Christian Denso Politik-Redakteur bei uns. In dieser Ausgabe berichtet er über das traurige Schicksal dreier Tschetschenen, die 2005 Opfer des Terroristenjagdfiebers geworden waren. Seite 12.
64 Roman Petra Morsbach
VON GEORG BLUME
34 Riestern Anleger sparen die ersten
VON SINA CLORIUS
CHRISTIAN DENSO, 37 JAHRE,
31
Der schwierige Neuanfang
VON MATTHIAS KRUPA
5
schließen
33 US-Wahlprogramme Die Wirt-
VON HELMUT SCHMIDT
Vieles, was wir über Martin Luther zu wissen glauben, ist falsch. Archäologen haben sich durch die Abfälle der Familie Luther gewühlt und fanden heraus: Er stammte ganz und gar nicht, wie er behauptete, aus armen Verhältnissen WISSEN S. 41
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Foto: Arthur Evans
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ANZEIGEN IN DIESER AUSGABE Link-Tipps (Seite 20), Spielpläne (Seite 44) Museen und Galerien (Seite 68), Bildungsangebote und Stellenmarkt (Seite 80)
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DIE ZEIT
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DOSSIER
Titelgeschichte
Kein Ereignis der älteren Geschichte ist so im historischen Bewusstsein der Deutschen verankert wie die Varusschlacht im Teutoburger Wald im Jahre 9 nach Christus. Doch wie war es wirklich? Was ist Wahrheit, was Legende? Wenn im nächsten Jahr an das Datum in zahllosen Büchern, Filmen und Ausstellungen erinnert wird, dann geht es auch um diese Fragen
A
n diesen Tagen soll es fürchterlich geregnet haben. Angeblich. Vielleicht war das aber auch nur eine wohlfeile Ausrede. Denn die brauchte das mächtige Rom nach der Katastrophe im fernen Germanien, die wir heute als Varusschlacht bezeichnen: Eine imposante Armee von drei Legionen mit über 15 000 Kämpfern war in den letzten Septembertagen des Jahres 9 nach Christus in einen Hinterhalt gelockt und in mehreren zermürbenden Schlachten vernichtend geschlagen worden. Hinterlist und Verrat hätten die tapferen römischen Legionäre das Leben gekostet, hieß es bald. Und dann noch der starke Regen: Die völlig durchnässten Soldaten hätten weder Ausrüstung noch Waffen richtig nutzen können, auf den aufgeweichten unbefestigten Wegen Germaniens den Halt unter den Füßen verloren und seien so leichte Opfer der Germanen geworden. Was damals wirklich geschah, darüber geben die antiken Quellen zwar nur spärlich Auskunft. Zumindest aber das angeblich schlechte Wetter dürfte für den Untergang der römischen Legionen nicht verantwortlich gewesen sein – ausschlaggebend war das taktische Geschick des Gegners, der die geografischen Gegebenheiten Germaniens nutzte. Entscheidender war ohnehin die Nachwirkung der Schlacht: Mit ihr betrat Hermann der Cherusker (der eigentlich Arminius hieß) die Bühne der deutschen Geschichte – und sollte sie bis heute nicht wieder verlassen. Aus dem Gefecht im Teutoburger Wald als Sieger hervorgegangen, wurde Arminius später als »Retter Germaniens« und schließlich sogar als »Befreier Deutschlands« gefeiert. Er avancierte seit Beginn der Neuzeit zu Everybody’s Darling der deutschen Nationalgeschichte.
Nr. 45 DIE ZEIT
30. Oktober 2008 DIE ZEIT Nr. 45
Jetzt rüstet sich Deutschland für die 2000-jährige Wiederkehr der Varusschlacht. Das Jubiläum bietet eine gute Gelegenheit, diesen Helden als nationale Konstruktionsleistung zu verstehen: Wann immer es um die Einheit und um die Freiheit ging, bemühten die Deutschen ihren »Hermann«. Allerdings schufen sie einen historischen Scheinriesen: Je weiter die historische Tat entfernt war, desto imposanter wurde der Held. Dass die antiken Quellen wenig über den Cherusker hergeben, störte diesen Prozess der Verherrlichung nicht. Es erleichterte ihn vielmehr.
Die Römer tappen in eine Falle, ohne Absicherung marschieren sie los Der historische Arminius war zunächst einmal ein junger Mann aus gutem Haus, der vermutlich im Jahr 16 vor Christus geboren wurde. Mit Talent und etwas Glück gelang ihm eine beeindruckende militärische und politische Karriere innerhalb seines Stammes, der Cherusker. Dieser war einer jener zahlreichen germanischen Stämme, die vor 2000 Jahren in Mitteleuropa siedelten. Sie bildeten entgegen weitverbreiteter Vorstellung allerdings alles andere als ein »Germanien einig Vaterland«: Stammesinterne wie -übergreifende Konflikte waren an der Tagesordnung. Politisch uneins waren sich die Stammesführer vor allem bei der Frage, wie sie es mit den Römern halten sollten, die seit der Besetzung ganz Galliens durch Julius Cäsar zwischen 58 und 51 vor Christus nun am Rhein standen und ihre Herrschaft auch in dieser Region beanspruchten. Arminius hatte sich entschieden: für die Römer. Ebenso wie sein Bruder besaß er das römische Bür-
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gerrecht, einige Biografen vermuten sogar einen längeren Aufenthalt und entsprechende Ausbildung in Rom. Sicher ist hingegen, dass Arminius als Führer einer militärischen Einheit die Legionen des Imperiums unterstützte. Die Cherusker stellten ebenso wie andere Völker dem römischen Heer eigene Truppen, sogenannte Auxiliareinheiten, zur Verfügung. Arminius befehligte eine solche Einheit, vermutlich war er sogar selbst schon einmal mit den Legionen Roms in den Krieg gezogen. Das Bild, das sich die Römer von ihren germanischen Gefolgsleuten (aber auch von ihren germanischen Feinden) machten, war maßgeblich von Julius Cäsar geprägt, der diese Stämme in seinem Gallischen Krieg ausführlich beschrieben hatte. Diese Darstellung war auch maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Fremdbezeichnung »Germanen« ihren Siegeszug antrat. Denn als solche bezeichneten sich die Chauken oder Friesen, die Semnonen, Cherusker oder Markomannen selbst keineswegs. Sie bildeten auch nicht jene kulturelle und ethnische Einheit, die damit suggeriert wurde. Für das römische Imperium waren und blieben die germanischen Stämme trotz vereinzelter Kooperation in erster Linie ein Sicherheitsproblem für Gallien. Diese Provinz wollten sie vor den »Barbaren« schützen, denn nichts anderes waren ihnen diese Germanen. Alles, was aus römischer Sicht zu einem halbwegs zivilisierten Leben gehörte, war nicht vorhanden. Es gab keine urbane Lebensweise, keine Schriftkultur und auch keine kultivierte Landwirtschaft, die so wunderbare Dinge wie Wein oder Oliven hervorbringen konnte (dass die Germanen sehr wohl Pflanzenbau betrieben, fiel dabei nicht ins Gewicht). Ein furchtbares Land! Der Ge-
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schichtsschreiber Tacitus notierte, Germanien mache »mit seinen Wäldern einen schaurigen, mit seinen Sümpfen einen widerwärtigen Eindruck«. Ohne Frage: Germanien ähnelte nicht einer ordentlich erschlossenen römischen Provinz. Aber ein undurchdringlicher Urwald aus Wäldern und Sümpfen war es nun auch wieder nicht. Es gab durchaus ein dichtes Netz dörflicher Siedlungen, durchzogen von Wegen. Für die germanischen Stämme war diese Infrastruktur absolut ausreichend. Das Problem der Römer war es, dass die Wege Germaniens einfach nicht dafür gemacht waren, um darauf mit Tausenden von Legionären zügig von einem Ort zum anderen zu marschieren. Aber diese Feldzüge wurden aus der Sicht Roms immer häufiger nötig, besonders seit im Jahr 1 nach Christus ein großflächiger Aufstand germanischer Stämme gegen den römischen Herrschaftsanspruch im Gebiet des heutigen Norddeutschlands ausbrach. Tiberius, dem römischen Oberbefehlshaber am Rhein, gelang es mit gewaltigen Feldzügen, die Stämme zwischen Rhein, Ems und Lippe zu unterwerfen. 6 nach Christus schien Rom die germanischen Stämme weitgehend wieder unter Kontrolle zu haben. Doch noch im selben Jahr musste Tiberius mit seinen Legionen zum Stamm der Pannonier südlich der Donau aufbrechen, der sich gegen die römische Herrschaft erhoben hatte. Was Tiberius nicht ahnte: Diese Aufgabe sollte drei Jahre in Anspruch nehmen und den Militärapparat der Römer aufs Äußerste herausfordern. Kaiser Augustus musste einen Nachfolger für den abwesenden Tiberius bestimmen und besann Fortsetzung auf Seite 18
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30. Oktober 2008 DIE ZEIT Nr. 45
alle Abbildungen aus: Rainer Wiegels »Die Varusschlacht. Wendepunkt der Geschichte?», courtesy Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2007 (S. 22, 30, 31); links oben: ©AKG
RÖMISCHE FUNDSTÜCKE: Eiserne Platten eines Schienenpanzers, eiserne Schuhnägel einer Sandale, Axt eines Legionärs (von oben)
Im Jubiläumsjahr EISERNE MASKE eines römischen Reiters, gefunden 1990 in Kalkriese
Mythos einer Schlacht Fortsetzung von Seite 17 sich in diesem Moment auf einen alten Kämpen: Quinctilius Varus. Mit 55 Jahren war er schon ein reiferer Mann, den seine Karriere unter anderem als Statthalter nach Syrien verschlagen hatte. In dieser unruhigen Provinz hatte er gleichermaßen diplomatisches Geschick wie militärische Rücksichtslosigkeit unter Beweis gestellt. Dass dieser Varus bis heute einen eher zweifelhaften Ruf genießt, ist vor allem das Ergebnis einer gezielten Diffamierungskampagne: Erst einige Jahre nach der Varusschlacht (und seinem Tod) wurde ihm angesichts aktueller innenpolitischer Streitigkeiten in Rom nachträglich persönliches Versagen vorgeworfen, das zu der Katastrophe im Jahr 9 nach Christus geführt habe. Die zu diesem Zeitpunkt entstandene Vorstellung von Varus als einem überforderten und eigentlich ungeeigneten Oberbefehlshaber ging in die römische Geschichtsschreibung ein und fand noch in der Neuzeit Anhänger. Der große Althistoriker Theodor Mommsen nannte ihn »von trägem Körper und stumpfem Geist und ohne jede militärische Begabung und Erfahrung«. Mit Verlaub: Niemand kann annehmen, dass Kaiser Augustus die Sicherung der so wichtigen Rheingrenze ausgerechnet einem solchen politischen und militärischen Leichtgewicht anvertraut hätte. Als Varus sein Amt antrat, herrschte in Germanien eine trügerische Ruhe. Eine lückenlose Unterwerfung der Stämme gab es nicht, dauerhafte juristische Abhängigkeiten von Rom in einem heutigen Sinne waren nicht zustande gekommen. Ob Germanien zu diesem Zeitpunkt eine regelrechte römische Provinz war, ist umstritten. Sicher ist hingegen, dass es östlich des Rheins eine römische Herrschaft gegeben hat. Und um den Anspruch auf diese Herrschaft zu demonstrieren, musste auch der neue Statthalter Varus Präsenz im Landesinneren zeigen: Dort sprach er (römisches) Recht, trieb die auferlegten Abgaben ein und griff vermittelnd in Stammeskonflikte ein. All das machte Rom und Varus allerdings nicht eben beliebt: Weder waren die Prinzipien des römischen
Rechts den meisten Germanen einsichtig, noch hatten sie ihre Freude an den Steuern für Rom. Bei Arminius, jenem jungen ehrgeizigen Cherusker aus einer der führenden Familien seines Stammes, der bislang mit den Römern kooperierte, kamen als Motiv für den Aufstand und die Schlacht im Jahr 9 nach Christus »innenpolitische« Gründe hinzu: Eine von ihm erfolgreich angeführte Rebellion konnte ihm angesichts der permanenten Rivalität mit anderen germanischen Adligen einen Vorteil verschaffen. Die Ursache für die Varusschlacht war damit wohl eine Mischung aus prinzipieller Ablehnung der römischen Herrschaft und innercheruskischem Herrschaftskampf. Arminius gelang es in den Sommermonaten 9 nach Christus, unterschiedliche germanische Stämme auf ein gemeinsames und zeitgleiches Vorgehen gegen die Römer einzuschwören, was ein hohes Maß an Kommunikation und Koordination voraussetzte. Diese Leistung des knapp 25-Jährigen ist umso höher einzuschätzen, als er zu diesem Zeitpunkt gar nicht an der Spitze seines Stammes gestanden haben dürfte. Aber auch wenn Arminius andere Stämme für sein Vorhaben gewann: Von einem »Volksaufstand« aller germanischen Stämme – wie es die deutsche Nachwelt später so gerne sah – kann nicht die Rede sein. Die Römer tappten vermutlich in eine geschickt gestellte Falle: Als sie sich im September noch im Gebiet der Weser befanden und sich auf den Weg zu ihrem Winterquartier an den Rhein machen wollten, ereilte sie die Nachricht von einem germanischen Aufstand. Wir wissen nicht, was die Germanen Varus damals für eine Geschichte auftischten. Aber sicher ist, dass der Statthalter daraufhin von seiner ursprünglichen Route abwich, womit ein wichtiger Punkt des germanischen Plans bereits aufging. Denn den Aufstand gab es nicht – die Römer sollten lediglich in einen Hinterhalt gelockt werden. Angeblich wurde Varus gewarnt. Das behauptete jedenfalls später Segestes, der Schwiegervater von Arminius. Er selbst habe dem römischen Oberbefehlshaber von dem Plan erzählt, aber Varus habe seine Warnung einfach nicht ernst ge-
Nr. 45 DIE ZEIT
REKONSTRUKTION: So wurde die Maske zum Helm getragen
Nächstes Jahr setzen drei Museen aus Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen auf Kooperation: In Haltern am See, Kalkriese und Detmold wird von Mai an die Ausstellung Imperium – Konflikt – Mythos mit drei unterschiedlichen Schwerpunkten gezeigt. Die Gemeinschaftsleistung soll nach dem Willen der Initiatoren das »welthistorische Ereignis wieder ins Zentrum des bundesweiten und europäischen Bewusstseins« rücken. Gleich vier hochrangige Politiker haben die drei Museen für die Schirmherrschaft gewonnen: Bundeskanzlerin Angela Merkel, Hans-Gert Pöttering als Präsident des Europäischen Parlaments sowie die Ministerpräsidenten Christian Wulff und Jürgen Rüttgers. Das Römermuseum Haltern widmet sich dem römischen Imperium auf dem Höhepunkt seiner Macht, zeigt Kunst, Kultur und Propaganda zur Zeit Kaiser Augustus’. Mit den Auseinandersetzungen zwischen Römern und Germanen beschäftigt sich das Museum in Kalkriese und präsentiert zugleich den aktuellen Forschungsstand der archäologischen Ausgrabungen seit 1989. Das Lippische Landesmuseum Detmold geht in seiner Ausstellung der Frage nach, welche Auswirkung die Varusschlacht auf die deutsche und europäische Geschichte hatte und wie Arminius zu einer der wichtigsten Symbolfiguren der Deutschen avancierte. Weitere Informationen unter www.imperium-konfliktmythos.de. T.B.
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nommen. Diese Geschichte kann man glauben, muss man aber nicht: Dass es sich so abgespielt habe, wissen die römischen Geschichtsschreiber nämlich nur von Segestes selbst. Und der rückte mit diesem wichtigen Detail erst Jahre nach der Schlacht heraus, als alle anderen Zeugen längst tot waren und er sich mit dieser »Warnung« als getreuer Vasall bei den Römern einschmeicheln konnte. Was tatsächlich in den Tagen vor der Schlacht geschah, lässt sich nur ungefähr rekonstruieren. Viele Historiker haben sich der Vorstellung angeschlossen, dass der Aufstand im Kern so etwas wie eine Militärrevolte war: Arminius habe Varus – der ihm nach wie vor vertraute – nicht nur in die gewünschte Richtung gelockt, sondern sich dann im rechten Moment mit seiner germanischen Auxiliareinheit vom Zug der Legionen abgesetzt. In der näheren Umgebung habe er seine Mannen dann mit den dort wartenden Kriegern vereint und den Angriff auf die Legionen gewagt. Die Römer setzten sich zumindest ohne besondere Absicherung gegen einen Angriff in Bewegung: schwerfällig wegen des mitgeführten Trosses, in einer Marschordnung, die nicht auf die Sorge vor einem baldigen Waffengang schließen ließ. Es war ein beeindruckender Zug. Hier marschierten rund 15 000 römische Legionäre gemeinsam mit zahlreichen nichtrömischen Hilfstruppen, private Sklaven zogen ebenso mit wie Frauen und Kinder. Über 20 000 Menschen dürften unterwegs gewesen sein – samt Ochsenkarren und Pferdewagen für die schweren Lasten. Auf einer ordentlichen Römerstraße wäre diese Menschenmenge zügig vorangekommen; gut trainierte Legionäre legten zwischen 20 und 25 Kilometer am Tag zurück. Auf den »Wegen« Germaniens war das Marschieren ungleich mühseliger. Der Untergrund war über weite Strecken unbefestigt, zuweilen voller Hindernisse – aber vor allem in der Breite begrenzt: Selbst die größeren Verbindungswege ließen es vermutlich nicht zu, dass mehr als vier Legionäre nebeneinander marschieren konnten. Der Zug der Römer zog sich deshalb gewaltig in die Länge: Über mindestens 15 Kilometer erstreckte sich die Kolonne der Marschierenden. Wie ein riesiger Lindwurm wanden sich die drei Legionen durch Germanien. Ein Zuschauer
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am Wegesrand hätte fast einen ganzen Tag lang die Vorbeimarschierenden bewundern können. Doch die Germanen schauten dem Zug keineswegs einfach staunend zu. Sie hatten vor allem Augen für dessen militärische Verwundbarkeit. Die römischen Legionen entfalteten ihre gefürchtete Wirkung vor allem aufgrund ihrer geordneten Kampfformation. Von einer solchen war dieser Zug durch Germanien allerdings weit entfernt: Er war langsam, unterbrochen von Wagen und an den Flanken wohl unzureichend geschützt – das perfekte Ziel für einen überraschenden Angriff. »Zuerst schossen sie nur aus der Ferne«, berichtete später der Geschichtsschreiber Cassius Dio, »dann aber, als niemand sich wehrte und viele verwundet wurden, rückten sie näher an den Gegner heran.« Es waren wohl regelrechte Guerillaattacken: Germanische Krieger griffen aus dem Hinterhalt an, oft im Schutz des dichten Waldes – und zogen sich rasch wieder zurück, um die Legionäre an anderer Stelle erneut zu attackieren.
Waffen, Münzen, Ausrüstung – die Germanen fleddern die Leichen Verheerend waren die Angriffe für die Marschformation: Der Zug der Legionäre riss auf. Wenn einige von ihnen stehen blieben, um sich zu verteidigen, verloren sie rasch den Anschluss an die Vorderleute. Nachfolgende wiederum gerieten ins Stocken, Wagen und Menschen blockierten immer wieder den Weg. Zu selten dürfte es den Römern gelungen sein, sich zu einer geordneten Verteidigungsgruppe aufzustellen. Stattdessen wurden sie oft in Nahkämpfe verwickelt und erlitten dabei empfindliche Verluste. Nach einem Tag vieler Angriffe gelang es den drei Legionen gleichwohl, sich wieder zu vereinen. Die vielgerühmte Disziplin der römischen Armee funktionierte noch – ihre Soldaten hoben ein ordnungsgemäßes Lager aus, geschützt durch Graben, Wall und Schanzpfähle. Für die Nacht hatten die Legionäre ihre Ruhe – ein Angriff auf ein so geschütztes Lager würden die Germanen nicht unternehmen. Selbst wer als Legionär bei den Attacken des Tages Schaden genommen hatte, konnte in diesen Abendstunden mit Hilfe rechnen: Das
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DIE ZEIT
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DOSSIER
30. Oktober 2008 DIE ZEIT Nr. 45
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ZEIT-GRAFIK/QUELLE: NATIONAL GEOGRAPHIK
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Abb.: Aquarell von Peter Connolly, 1935; ©AKG (li.); aus: A. Wiecorek/P.Perin (Hrsg.) »Das Gold der Barbarenfürsten«, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2001 (re.)
Basilia (Basel)
römische Lazarettwesen war für die damalige Zeit vorbildlich, und die römische Armee kannte bereits Sanitäter, die eine Erstversorgung Verwundeter übernahmen. Wer allerdings in einer Kampfpause nicht versorgt oder in Sicherheit gebracht werden konnte, wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit vom Feind niedergemacht. Mitleid mit dem Gegner – und hier taten sich Römer und »Barbaren« nichts – war eher die Ausnahme als die Regel. Archäologische Funde zeigen, dass auch mehr oder weniger Wehrlose bei antiken Schlachten gezielt erschlagen wurden. Wenn die Legionen unter den Angriffen der Germanen weiterzogen, ließen sie also im Wesentlichen Tote zurück. Sie ehrenvoll beizusetzen, fehlte den Römern die Zeit – und die Gegner machten sich diese Mühe nicht. Sie waren zudem vollauf damit beschäftigt, alles Brauchbare zu plündern: Waffen, Münzen, Ausrüstungsgegenstände – sogar die Kleidung der Legionäre war begehrt, weshalb die toten Römer bis auf die Haut ausgezogen wurden. Die Schlachtstätten waren nach dem Geschehen regelrecht »aufgeräumt« – was übrigens die heutige Suche der Archäologen zusätzlich erschwert. Nach den Geschehnissen des ersten Tages konnte Quinctilius Varus nicht mehr zurück: Er entschied, am nächsten Morgen ohne Richtungsänderung weiterzuziehen. Der Weg zurück durch das eben erst unter Verlusten passierte schwierige Gelände erschien ihm als schlechteste Option – vielleicht aber war dies der schwerwiegendste Fehler des Feldherrn, der nicht ahnen konnte, was noch vor ihm lag. Für den Weitermarsch trennten sich die Römer von Ballast, um so schneller und ungehinderter voranzukommen. Es sollte ihnen nicht viel helfen: Wieder griffen die Germanen in kleineren Gruppen an, nutzten stets die Geländeverhältnisse aus – und fügten den Legionen in der Summe große Verluste zu. Am Ende des zweiten Tages war erkennbar, dass die römischen Einheiten entscheidend geschwächt waren: In dieser Nacht reichte es nur noch für ein überstürzt angelegtes Lager.
weitgehend außerhalb des römischen Herrschaftsgebietes lag, hatte zwar auch mit den Erfahrungen der Varusschlacht zu tun – der ausschlaggebende Grund dafür waren sie nicht. Auch eine Einheit der unter Arminius siegreichen Stämme entwickelte sich nicht: Der Cherusker wurde zwischen 19 und 21 nach Christus bei stammesinternen Streitigkeiten von Verwandten ermordet. Rom hatte verständlicherweise wenig Interesse daran, der Varusschlacht einen besonderen Rang im Gedächtnis des Imperiums einzuräumen – und auf germanischer Seite fehlte es an einer Schriftkultur, mittels deren die Geschichte vom Sieg hätte konserviert werden können. So ging die Erinnerung an das Ereignis bei den beteiligten Völkern fast verloren. Poetischer ausgedrückt: Das Wissen um die Schlacht verfiel in eine Art Dornröschenschlaf. Nach fast anderthalb Jahrtausenden war es dann allerdings kein schöner Prinz, der gezielt eine Schönheit aus dem Schlaf küsste, sondern ein gestrenger Gelehrter, der bei seiner harten Arbeit mehr oder weniger zufällig über die Schlummernde stolperte: Ulrich von Hutten stieß 1515 bei einem Studienaufenthalt in Rom auch auf die ersten Bücher der Annalen von Tacitus, die erst einige Jahre zuvor wiederentdeckt worden waren. Darin war von einem heldenhaften Arminius die Rede, der einst das Römische Reich in der Blüte seiner Macht besiegt
habe; »unstreitig war er der Befreier Germaniens«, behauptete dieser Tacitus. Dem Humanisten war ein Schatz in die Hände gefallen: Die positive Schilderung von Arminius aus römischer Sicht war ein gutes Argument gegen die demonstrative Geringschätzung der »Deutschen«. Italienische Humanisten und römische Kurie übten sich ja genüsslich in der Vorstellung, nördlich der Alpen lebten noch immer hauptsächlich Barbaren. Da wollten Ulrich von Hutten und andere mit einer eigenen ruhmreichen Geschichte kontern – und so modellierte Hutten den ersten deutschen Helden: In seinem 1529 posthum veröffentlichten Dialog Arminius präsentierte er einen edlen Freiheitskämpfer, der stets nur daran dachte, wie er »dem Vaterland bei sich bietender Gelegenheit helfen könnte«.
Mehr als 200 Schauspiele und Opern entstehen um den Helden Arminius Das war der Auftakt zu einer Erfolgsgeschichte: Als Befreier Germaniens (die unhistorische Gleichsetzung von Germanen und Deutschen setzte sich rasch durch) erschien Arminius nun als nationale Lichtgestalt gegen jedwede äußere Bedrohung. Bei Hutten war es der antirömische Impuls: Die »Befreiungstat« des Cheruskers war Vorbild für die Befreiung vom römischen Papst (das erklärt, warum
Arminius bis ins 20. Jahrhundert hinein in erster Linie ein protestantischer Held blieb). Und auch Martin Luther hatte den Cherusker »von hertzen lib« – aus dem reformatorischen Milieu stammte zugleich der neue, unhistorische Name für den Helden: Hermann. Die Germanenbegeisterung im 18. Jahrhundert griff die Idealisierung von Arminius auf und brachte den nationalen Helden auch auf die Bühne: Mehr als 200 Schauspiele und Opern entstanden zwischen 1750 und 1850, in denen es vor allem um Hermann, aber beispielsweise auch um seine getreue Gemahlin Thusnelda ging (die einst schimpflich verraten und den Römern als Geisel ausgeliefert worden war). Im Vordergrund stand vor allem die Rehabilitierung der Germanen – sie sollten nicht länger als rückständig oder gar barbarisch erscheinen. Tatsächlich hätten sie sehr wohl Sinn für Theater oder Baukunst besessen, erklärte beispielsweise Justus Möser. Mehr noch: Bei der Kleidung, so behauptete der Osnabrücker Gelehrte, hätten sie sogar einen besseren Geschmack als die so viel gelobten Römer bewiesen. Auch andere beteiligten sich an den Lobeshymnen auf »Hermann den Befreier«. Friedrich Gottlieb Klopstock oder – mit der größten Wirkung – Heinrich von Kleist. Als Dramatiker der Befreiungskriege stellte er den historischen Arminius mitten hinein in den aktuellen Kampf gegen Napoleon. Die Beteilig-
Anderthalb Jahrtausende gerät die Varusschlacht in Vergessenheit Am dritten Tag der Schlacht liefen die Legionäre in ihr endgültiges Verderben. Vermutlich wie in einem Defilee zogen sie an den Germanen vorbei, die bereits auf sie warteten und nun auch eigens angelegte Wälle für ihre Angriffe nutzten. Die Reste der Legionen wurden schließlich – vermutlich im Verlauf des vierten Schlachttages – eingekesselt und vernichtet. Diesen letzten Akt der Varusschlacht können wir uns gar nicht schrecklich genug ausmalen. Tote und Verwundete bedeckten förmlich das Gelände, die Kämpfe Mann gegen Mann wurden auf engstem Raum ausgetragen. Der römische Oberbefehlshaber stürzte sich schließlich angesichts der ausweglosen Lage ins Schwert. Sein Haupt ließ der siegreiche Arminius abtrennen und dem Führer eines anderen Germanenstammes schicken – als makabren Wink, sein bisheriges Zögern aufzugeben und sich dem Kampf gegen Rom anzuschließen. Rom hatte eine Schlacht verloren. Augustus schickte erneut den erfahrenen Tiberius an den Rhein, der ebenso wie einige Zeit später sein Nachfolger Germanicus massive Feldzüge gegen die Germanen führte. Doch auch für Rom waren dies verlustreiche Kämpfe – und vor allem deshalb entschied schließlich Tiberius (inzwischen Nachfolger von Kaiser Augustus) im Jahr 16 nach Christus, sich auf das eigentliche Motiv der römischen Germanienpolitik zu konzentrieren: die Sicherung des Rheins zum Schutz Galliens. Dass sich die Römer jetzt an den Rhein zurückzogen und Germanien fortan
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ten seines Dramas waren leicht zu entschlüsseln: Gegen die Römer (die Franzosen) erhoben sich die Cherusker (Preußen) gemeinsam mit den Sueben (Österreichern), während die uneinigen Germanenfürsten früherer Zeiten von den Rheinbundstaaten der Gegenwart gegeben wurden. Bei der um sich greifenden Begeisterung für »Hermann den Cherusker« und die Lust an nationalen Denkmälern im 19. Jahrhundert war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, wann dem »Befreier« ein eigenes Monument gesetzt würde. Es entstand bekanntlich bei Detmold auf den Höhen des Teutoburger Waldes. Der Koloss – vom Sandsteinsockel bis zur Spitze des in den lippischen Himmel ragenden Bronzeschwertes über 50 Meter hoch – wurde 1875 eingeweiht, fast noch rechtzeitig zum Sieges- und Einheitstaumel des neuen Kaiserreichs. »Hermann« war jetzt ein willkommenes Symbol für den Sieg über den verhassten Erbfeind. Dabei hatten sich die Freunde des Hermannsdenkmals mit dem Bau schwergetan – Karl Marx spottete schon: »Das Zeug wird ebenso langsam fertig wie Deutschland.« Bereits 1838 war mit den Ausschachtungsarbeiten begonnen worden, vorangetrieben von dem fränkischen Baumeister Ernst von Bandel. Der Eigenbrötler, seit jungen Jahren besessen von dieser Idee, musste Jahrzehnte für Fortsetzung auf Seite 21
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Fotos: Raimund Müller/Imago; Ernst von Bandel bei der Arbeit, fotografiert von D.H.Teuffen, o.J./©interfoto
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DAS HERMANNSDENKMAL bei Detmold im Teutoburger Wald wurde 1875 eingeweiht
Mythos einer Schlacht Fortsetzung von Seite 19 »sein« Hermannsdenkmal kämpfen. Streitereien mit örtlichen Honoratioren und der allgegenwärtige Geldmangel ließen die Arbeiten immer wieder stocken. Der Arminius-Mythos fungierte nach außen zunächst einmal als Drohgebärde – nach innen war er ein probates Mittel zur Ausgrenzung innenpolitischer Gegner. Das galt etwa für die Katholiken: Die Enthüllung des Hermannsdenkmals fiel mitten in die Zeit des Kulturkampfs zwischen Staat und katholischer Kirche – und Arminius feierte als historischer Kämpfer gegen Rom protestantische Urständ. »Gott sei es geklagt«, rief der lippische Generalsuperintendent bei der Einweihung entrüstet aus, »dass es noch Deutsche gibt, denen die Herrlichkeit des Deutschen Reiches ein Dorn im Auge ist.« Wo und wann immer fortan ein selbst definierter Feind der deutschen Sache auftauchte – und für die notorisch unsichere Nation war die Welt ja voller neidischer Feinde –, sah man in ihm einen neuen Varus. Diese »Varusse« konnten Franzosen sein, Juden, Katholiken oder Sozialisten – das Zeug zum »Varus« hatte jeder, der nicht in den Mainstream der Zeit passte. Dass dieser nationale Streiter auch im Ersten Weltkrieg und der Weimarer Republik seine Rolle spielte, kann da nicht überraschen. »Noch nie ward Deutschland überwunden, wenn es einig war«, rief Wilhelm II. 1914 dem in Wirklichkeit gar nicht so begeisterten deutschen Volk zu – und bemühte ebenjenen Mythos von der Einheit, der auch den Arminius-Kult groß gemacht hat. Hermann und mit ihm Heinrich von Kleists Hermannsschlacht erfuhren neue Beliebtheit: Nach einer ANZEIGE
Aufführung in Berlin wurden im Herbst 1914 von der Bühne herab Siegesmeldungen von der Front verlesen – das Schlachtfeld der Varusschlacht ging eine eigentümliche Symbiose mit den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs ein. Mit der Kriegsniederlage war die Zeit des Arminius-Mythos keineswegs vorbei: In der vergifteten Atmosphäre nach 1918 stand Hermann getreulich im Lager der Republikfeinde. Problemlos assistierte er etwa bei der Verbreitung der Dolchstoßlegende. Für viele Rechte wusste schließlich niemand besser als der Cherusker, was es heißt, im Felde unbesiegt zu sein, aber daheim unter dem Dolche der »Meuchelmörder« zu sterben. Und dass am Hermannsdenkmal gegen das »Diktat von Versailles« gewettert und mit einer neuen Varusschlacht gedroht wurde, versteht sich da von selbst. »Die Aufgabe, die sich Armin stellte«, behauptete dort etwa der Vorsitzende des Deutschen Sängerbundes 1924, »ist heute auch die unsrige.« Angesichts solcher Äußerungen war es für die Nationalsozialisten nicht schwer, »Hermann« in ihre Reihen aufzunehmen. NS-Ideologe Alfred Ro-
senberg erweiterte den Arminius-Mythos um rassistisches Denken und zählte alte wie neue »Feinde« der Deutschen auf, die sich »in den Leib Germaniens eingefilzt« hätten. Und in den Geschichtsbüchern lasen die Schüler nach 1933, dass Arminius dereinst »die Reinheit des deutschen Blutes« gerettet habe. Der Wunsch vor allem lokaler Streiter rund um das Detmolder Hermannsdenkmal, Arminius zum zentralen Heroen der neuen nationalsozialistischen Zeit zu erheben, ging indes nicht in Erfüllung. Für zentrale NS-Kundgebungen war die Waldlichtung um das Denkmal zu klein (und vermutlich viel zu abgelegen), und nicht zuletzt seit Bestehen der Achse Rom–Berlin musste man außenpolitisch auch auf Benito Mussolini Rücksicht nehmen: Als dieser 1936 zu einem Staatsbesuch anreiste, kam aus der Reichskanzlei die Anweisung, das Hermannsdenkmal aus dem offiziellen Besuchsprogramm auszusparen. Nach 1945 schien Arminius als deutscher Geschichtsmythos nachhaltig beschädigt zu sein, sinnbildlich dafür stand das von Alliierten beschossene und beschädigte Hermannsdenkmal. Doch der nationale Held erfuhr eine überraschend schnelle Wiedergeburt: »Auferstanden aus Ruinen« hieß es für ihn nämlich in der jungen DDR. Arminius passte hervorragend zum realsozialistischen Blick in die Geschichte und ihre Gesetze. Vor allem, wenn es für die offizielle DDR-Geschichtsschreibung um »die Rolle der germanischen Stammesverbände bei der revolutionären Überwindung der Sklavenhaltergesellschaft« ging. Unterstützung fand man bei den sozialistischen Klassikern. Für Friedrich Engels war Arminius »ein großer Staatsmann und bedeutender Feldherr« gewesen, während sich um den Statthalter Varus ein »Schwarm von Sachwaltern und Ferkelstechern« versammelt hätte, »reine Gurgelschneider«, die nur die »Aussaugung des Landes« im Sinn gehabt hätten. Und das alte Germanien erschien in seiner ökonomischen Verfassung geradezu vorbildlich: Grund und Boden seien vor allem Gemeineigentum gewesen, und jeder Germane hätte in seiner Freiheit nur dort seine Grenzen gefunden, wo er auf einen gleichberechtigten Partner getroffen sei – es existierte nach Engels eben »ein freies Ding, wo Genossen den Genossen richten«. Wenn also die Germanen, so gesehen, »Genossen« waren und sich über »urkommunistische Eigentumsverhältnisse« freuen durften, war Arminius zwangsläufig der rechte politische Kämpfer für Ost-Berlin. Als 1957 Kleists Hermannsschlacht im Rahmen der Deutschen Festspiele des Harzer Bergtheaters auf die Bühne kam, gab das Begleitheft den Besuchern die politisch korrekte Erklärung. »Rom: das ist uns Amerika«, hieß es da, und die von Rom aufgestachelten und verfeindeten Stämme Germaniens seien »die deutschen Arbeiter in West und Ost«. Gegen so viel lustvolle politische Inanspruchnahme hatte Westdeutschland kaum etwas zu bieten. Abgesehen von nationaltümelnden Feiern der FDP am Hermannsdenkmal, zu denen seit 1954 im Gedenken an den 17. Juni 1953 zu kernigen Sprüchen vom Vorsitzenden Thomas Dehler und lodernden Fackeln im Schatten des Teutoburger Waldes Zehntausende den Weg zu Hermann fanden (und die Rückgabe der Ostgebiete forderten), blieb es um den Helden früherer Tage still. Auch Claus Peymanns aufsehenerregende Inszenierung von Kleists Hermannsschlacht am Bochumer Schauspielhaus 1982 änderte daran wenig. Als die Mauer fiel, trafen west- und ostdeutsche Arminius-Traditionen aufeinander, doch erwuchs daraus keine Neuinterpretation des alten Mythos. Vielmehr vollzog sich in geschichtspolitischer Perspektive so etwas wie ein An-
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DER BILDHAUER Ernst von Bandel neben dem Bronzekopf seines Hermannsdenkmals
schluss: Die Ostdeutschen legten den ideologischen Ballast weitgehend ab, der in der DDR über Jahrzehnte mit Arminius und seiner Freiheitstat gegen den fremden Bedrücker aufgebaut worden war. Und das Hermannsdenkmal blieb, was es schon in der alten Bundesrepublik gewesen war: eine Touristenattraktion.
Nach wie vor tobt der Streit um den wahren Ort der Schlacht Die Geschichte um den Arminius-Mythos hätte damit beendet sein können, wäre es nicht einem Offizier der britischen Armee im Osnabrücker Land 1987 gelungen, Relikte einer römisch-germanischen Schlacht aus dem torfigen Boden zu ziehen. Als Archäologen weitere Überreste fanden, sah sich die Öffentlichkeit zu Beginn der 1990er Jahre mit einer längst vergessenen Frage konfrontiert: Wo fand die Varusschlacht wirklich statt? Seit Jahrhunderten hatte diese Suche seltsame Blüten getrieben; Wissenschaftler und Provinzforscher stritten sich um die Wette, Dorflehrer fanden immer wieder Beweise für den wahren Ort des Geschehens, und Dichter trieben längst ihren wohlfeilen Spott mit den Suchenden. Theodor Mommsen
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stöhnte über die »deutschen Localforscher«, die nichts anderes zu tun hätten, als »mit den beliebten patriotisch-topographischen Zänkereien die kleinen und großen Klatschblätter zu füllen«. Doch es war Theodor Mommsen selbst, der in der erneut ausbrechenden Debatte als Zeuge aufgerufen wurde. Schließlich hatte er aufgrund zahlreicher Münzfunde bereits 1885 das Fleckchen Kalkriese nördlich von Osnabrück zum wahrscheinlichsten Ort der Varusschlacht erklärt. Und dort fand man nun mehr und mehr Indizien für einen gewaltigen Waffengang. Seither haben – wie zu seligen Mommsen-Zeiten – die »patriotisch-topographischen Zänkereien« wieder Konjunktur. Dass Kalkriese derzeit bei der Debatte um die Örtlichkeit die Nase vorn hat, ist dabei eigentlich nur die zweitwichtigste Erkenntnis. Die wichtigste ist: Dort entstand ein Forschungsstandort, der die Erschließung eines antiken Schlachtfeldes und die Vermittlung dieses Wissens ermöglicht. Das zählt. Wenn trotzdem die Zänkereien weitergehen, hat das auch etwas Gutes: Solange alte und neue Anhänger von Arminius ihre Energie mit ihren Gefechten um den richtigen Ort vergeuden, bleibt uns zumindest erspart, dass sie »Hermann den Befreier« wieder für aktuelle politische Fragen reanimieren.
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2009 feiert Deutschland gleich mehrere nationale Jubiläen: die Varusschlacht, die Gründung der Bundesrepublik (und der DDR) sowie den Fall der Mauer. Einigkeit und Recht und Freiheit werden die alles beherrschenden Themen sein. Da bietet sich die Figur des Arminius-Hermann als geschichtspolitische Spaßbremse an: Die mit ihm transportierte Forderung nach deutscher Freiheit war immer auch eine aggressive Geste gegen äußere Feinde. Und der mit ihm verknüpfte Appell an die Einigkeit oft eine unerbittliche Kampfansage an »Abweichler«. Wer Arminius heute wieder hochleben lässt, sollte dies bedenken. Der Held, der so vielen Herren diente, hat keine saubere Weste.
Der Autor ist Historiker und lebt in Hamburg. Mehr zum Thema in seinem Buch Der Tag, an dem Deutschland entstand, das in der nächsten Woche im C. Bertelsmann Verlag erscheint (272 S., 19,95 €)
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WOCHENSCHAU
Der Martin der Woche So vernagelt ist er gar nicht: Werbefilmheld Luther
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Auch der Auftritt eines Reformators gehört hin und wieder reformiert. Am 31. Oktober 1517 hatte dem in die Öffentlichkeit strebenden Prediger Martin Luther noch ein zeitgemäßes Nageln genügt: 95 Thesen an die Tür der
Schlosskirche zu Wittenberg, und schon gab es eine Riesenaufregung. 491 Jahre später ist auf der Welt aber sowieso grad die Hölle los von Finanzkrise bis Ballack gegen Löw, und wer hätte da einen Sinn für die Feinheiten der
christlichen Rechtfertigungslehre? Das hat sich die Evangelische Kirche in Deutschland gesagt und ihren Stammvater ganz neu inszeniert: als schnoddrigen Werbefilmhelden, vom Typus her eine Mischung aus der Loriot-
schen Gesichtslähmung, der Einsteinschen Nobelpreisträgerzunge und der Schmidtschen Schnauze. Doll! Aber kaum ist das raus, macht der alte Martin auch so Schlagzeilen: Hat er bei der Mülltrennung versagt? (Wissen, S. 41)
Tausche Sylt gegen Tahiti Ein Niedersachse hat dieser Tage mit dem Bau eines Sandmuseums begonnen – obwohl es ihm an Kies fehlt VON BURKHARD STRASSMANN
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Was wird aus London? Madonna hat genug von ihrer Ehe hier, David Beckham zieht lieber nach Mailand, und dann reden jetzt auch noch alle über Paris VON HENNING HOFF
IHR ABGANG gibt der Presse Stoff: Madonna
Fotos [M]: REX FEATURES LTD./action press (li.); Evangelischer Kirchenfunk Niedersachsen (o.); Ralf Hermann/Deutsches Sandmuseum (re.)
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as Timing der »Queen of Pop« hätte nicht schlechter sein können. Globale Finanzkrise und nationale Rezession werfen Schatten auf London, die Immobilienpreise taumeln, Aktienkurse stürzen, Entlassungen drohen. »London Falling«, schreibt das amerikanische Magazin Time. Ausgerechnet jetzt lassen sich der Weltstar Madonna und ihr ungleich unbekannterer Filmregisseur Guy Ritchie scheiden. Dass sich Englands allmählich verglühender Fußballstern David Beckham von Los Angeles lieber nach Mailand als in die alte Heimat ausleihen lässt, wird da nur am Rande notiert. Die Auflösung der glamourösen angloamerikanischen Ehe nach fast acht Jahren ist für die britische Hauptstadt von trüber Symbolik. Als sich Madonna 1998 bei einem von Sting gegebenen Dinner in den zehn Jahre jüngeren Jungen aus gutem Hause verliebte, war London auf dem Weg nach oben. Der neue Labour-Premierminister Tony Blair schlürfte mit den Britpoppern von Oasis in seinem Amtssitz Champagner, und das Land erfand sich als »Cool Britannia« neu. London hängte erst Frankfurt und Paris und dann New York als globale Finanzmetropole ab. Buchhaltungsfirmen und Anwaltskanzleien eingerechnet, erwirtschaftete die City, Londons Finanzdistrikt, zuletzt 15 Prozent des britischen Bruttosozialprodukts. Während des langen Booms erarbeitete sich London seinen Ruf als vitale Weltstadt – wieder cutting edge zu sein, ganz vorn auch in Mode, Musik und Medien. Guy Ritchie, der damals mit seiner ersten Verbrecherfarce aus dem heruntergekommenen East End auf sich aufmerksam machte, war Teil dieser Anglomania. Lock, Stock and Two Smoking Barrels hieß der Film, auf Deutsch Bube, Dame, König, Gras. Einen besseren hat er bis heute nicht gedreht. Madonna stieg darauf ein. Das Paar heiratete im Dezember 2000 auf Skibo Castle in Schottland, kaufte gleich ein paar Domizile in London und Ashcombe House in der
Grafschaft Wiltshire, einst Landsitz des englischen Society-Fotografen Cecil Beaton. Madonna trug Tweedkostüme und Schottenröcke, ritt im Morgengrauen aus und sprenkelte ihre Interviews mit Londoner Cockney-Slang. Im Herbst des Jahres 2008 interessiert sich Madonna angeblich wieder mehr für US-Baseball-Stars und trägt so zu Londons Depression bei. Verzweifelt suchen die Medien nach positiven Zeichen. Das Boulevardblatt Daily Mirror zitierte vergangene Woche eine Madonna-nahe Quelle, wonach der Star schon der Kinder wegen die Stadt nicht sofort mit Sack und Pack verlassen könne. »London hat Madonna in ihren Bann geschlagen. Das lässt sich nicht so leicht abschütteln.« Allerdings hatte es auch erst geheißen, Ritchie wolle nichts von dem auf 300 Millionen Dollar geschätzten Vermögen seiner Nochgattin. Inzwischen scheint die Trennung doch komplizierter zu werden.
In der Rangliste toller Weltstädte fehlt London zum zweiten Mal Wie lange wird es das Material Girl in einer Stadt aushalten, die sich mäßigen muss? Die Affluenzia, das Wohlstandsvirus, scheint überstanden. Der durchschnittliche Brite hat – relativ zum Einkommen – heute mehr Schulden als ein durchschnittlicher Amerikaner. Die Sunday Times gibt ihren Leserinnen bereits »50 Ratschläge«, wie man als eine Recessionista durch die Misere kommt. Die Kolumnistin India Knight, deren Einkaufsfibel The Shops: How, Why, and Where to Shop vor fünf Jahren ein Bestseller war, wirft sich mit dem Thrift Book, dem »Buch der Sparsamkeit«, ins maue Weihnachtsgeschäft. Zu allem Überfluss gewinnt Paris an Prestige. Das in London beheimatete Magazin Monocle von Tyler Brûlé, das einmal im Jahr Weltstädte nach Lebensqualität sortiert, nahm die britische Hauptstadt im Sommer schon zum zweiten Mal
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gar nicht erst auf. Stattdessen feierte die Lifestyle-Fibel das aufstrebende Paris. »London wirkt in manchem müde und erschöpft«, sagt der Monocle-Chefredakteur Andrew Tuck, »Paris macht es clever und besinnt sich auf seine alten Tugenden. Es schützt kleine Geschäfte, während in London fast jeder Laden zu einer Kette gehört. Und Paris stellt 20 000 Fahrräder zur öffentlichen Nutzung bereit – diese Velib-Initiative ist modern und vorausschauend. So etwas soll auch in London eingeführt werden, aber man fürchtet schon, dass die Räder dann verschwinden oder in der Themse landen.« Simon Anholt dagegen, der sich als Regierungsberater mit dem Ansehen von Staaten und Städten beschäftigt, sieht noch nichts verloren. »Eine Rezession wird die Meinung derer, die London für ein vibrierendes Zentrum des modernen Kapitalismus halten, nicht ändern«, sagt er, der unter anderem den City Brand Index herausgibt, in dem London zuletzt hinter Sydney, aber vor Paris lag. »London hat seinen Ruf über 20 Jahre hinweg aufgebaut, und es würde mindestens zehn dauern, ihn wieder einzubüßen. Reputationen verändern sich sehr langsam.« Die Scheidung Madonnas sei nicht unbedingt eine schlechte Nachricht. »Das erinnert Leser daran, dass London eine Stadt ist, in der internationale Stars gern ausgehen.« Tina Brown, die 1979 als 25-jährige Chefredakteurin das angestaubte Londoner Gesellschaftsmagazin The Tatler wiedererweckte, bevor sie Spitzenjobs bei Vanity Fair und dem New Yorker innehatte, glaubt ebenfalls nicht an den Niedergang. »Die Scheidung wird keine Auswirkungen auf Londons Celebrity-Kultur haben«, sagt Brown, »die Stadt blüht auf, wenn es um Sensationsmache geht, und ein Scheidungsprozess gäbe den Boulevardblättern und Magazinen jede Menge Futter. Und solange die Beckhams zusammenbleiben, behält Großbritannien ja ein königliches Prominentenpaar.«
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Begehrte Sande – gibt es also einen Sandmarkt? er Ralf Hermanns Reich betritt, lernt als Erstes den Plural. 25 000 Sande besitzt Nein, sagt Hermann. Sandsammler sind anders als der Sammler aus dem niedersächsischen Uhren-, Oldtimer- oder Fayencensammler. Denn Cramme, das macht ihm so schnell keiner nach, Sand ist zwar etwas wert, kostet aber nichts. Unter und jetzt will er das erste wirklich ernst zu nehmen- Arenophilen sei es eine Frage der Ehre, dass Sand de Sandmuseum der Welt errichten, das Deutsche nicht verkauft werden dürfe, nur getauscht. Eins Sandmuseum. Im Sommer 2009 soll es öffnen. zu eins. Eine Tüte Sylt gegen eine Tüte Tahiti. Seit 1985 gibt es deutsche Sandtauschtreffen. NeuerLetzte Woche war Baubeginn. Wenn sich Ralf Hermann, 44 Jahre alt, Stadt- dings werden, seit Sand in Mode kommt, Tütchen archivar in Salzgitter, für etwas interessiert, dann bei eBay eingestellt, das Kilo zu 30 Euro. »Fürchrichtig. Einst fing er in der Kalahari Schlangen terlich!«, sagt Ralf Hermann. Dem Sandmuseum fehlt Kies. Wen hat Herund importierte sie nach Deutschland. Damit sie sich hier wohlfühlen, ließ er zentnerweise Wüsten- mann nicht alles angebettelt. Industrielle, die mit sand nachkommen. Irgendwann schaute er sich Sand zu tun haben – Sandpapierhersteller zum Beispiel. Alles besteht doch aus Sand: Glas, Comden Sand genauer an. So ging das alles los. Genau anschauen heißt: unterm Mikroskop. puterchips, Brustvergrößerungsmasse, Häuser, Da tun sich wirklich Welten auf. Denn alles, was Straßen, Zahnpasta. Sand ist Kultur-Stoff, die Baeinmal Fels war oder Stein oder Kristallklumpen, sis von Wirtschaft und Wohlstand, womöglich irdas wird eines Tages zu Sand zerrieben, Korngröße gendwann sogar Energielieferant. Neben Sand0,063 bis 2 Millimeter. Sand heißt Achatsand, Sa- uhren, Sandmann und Sandbildern soll all das phirsand, Granatsand, Goldsand. Sogar Diamant- auch im Museum vorkommen. Da könnte doch die Industrie mal etwas springen sand hat der Archivar im Keller lassen. Tut sie aber nicht. Darum liegen. In Döschen, katalogisiert baut Hermann jetzt sein Wohnund beschriftet. haus um. Das Dachgeschoss wird Seine geologisch-mineralische Museum. Der Garten zum SandPerspektive teilt Hermann nur mit park. Mit einer geleimten und beein paar Hundert Sandenthusiasstreuten Bank, der Sandbank. ten in Europa. Dieser Aspekt alDie Konkurrenz schläft nicht. lein würde ein Museum nicht Das japanische Sandmuseum in rechtfertigen. Die meisten »ArenoNima betrachtet zwar nur den philen« – von lateinisch arena, Teilaspekt »Singender Sand«, also Sand – begeistern sich für rote Sand, der Musik macht, wenn Wüstensande, schwarze KanarenWind über ihn streicht. In Rumäsande oder weiße pudrige Südseenien existiert ein kleines Museum, sande. Kreta hat rosafarbene Sanddas sich »erstes offizielles Sandstrände, da kommt der Elafonisimuseum der Welt« nennt, am sand her. Populär ist auch Sand, Rande der Sahara Olteniei, einer der aus winzigen Muscheln oder Kleinwüste in der Walachei. Es Foraminiferen besteht, schalentrawird unter Sammlern allerdings genden Einzellern. Manche sehen nicht sehr ernst genommen. Und wie Sterne aus, dann spricht man das dänische Flugsandmuseum von Sternensand. Wer sich den wurde von einer Wanderdüne verunter der Lupe anschaut, wird schlungen. Doch in North Haven, starr vor Staunen. Connecticut, USA, plant man ein Fast alle Sammler sind Urlau- SANDE verwehen gern. ber, die ihre Funde in Filmdosen Im Museum scheitert das International Sand Museum, dahinter steht immerhin die Interoder Bierflaschen heimschleppen. an strenger Käfighaltung national Collectors Society, die Sand ist ihnen eigentlich kein miThe Sand Paper herausbringt. neralogisches Phänomen mehr, Was noch drückt: In Hermanns Keller biegen sondern ein Erinnerungsträger. Ein mit Geschichten aufgeladenes Geriesel, das die Geheimnisse ei- sich die Regale. Freunde, Bekannte, Unbekannte nes Ortes enthält. Solche persönlichen Proben be- bringen Sand aus dem Urlaub mit. Alte Sammler sitzt Ralf Hermann auch. Einmal stand er am vererben ihm ihre Schätze. Seit Jahren kommt der Rand des Vulkans Pico und schaufelte vulka- Sandarchivar mit dem Archivieren kaum noch nischen Sand in eine Tüte. Da schmolzen plötzlich nach. Manche Raritäten drohen in seinem Keller seine Stiefel. 70 Kilogramm Sand habe er später zu sedimentieren, unter ihnen der gesuchte grüne am Flughafen auf die Waage gewuchtet – das war Sand, den er selber an geheimgehaltener Stätte auf Zypern entdeckte. reichlich Übergepäck. Aber was geschieht mit Sand, der nicht fotograBegehrt ist auch Material von geschichtsträchtigen Plätzen. Hermann besitzt Sand aus den Nazi- fiert, katalogisiert, gerahmt und beleuchtet wird, bunkern der Wolfsschanze, Sand von der Baustelle der nicht aus der Masse herausgehoben und bedes Olympiastadions in Sydney, Sand aus dem wundert wird? Allzu leicht fällt er in seinen UrAtommüll-Endlager Schacht Konrad. Den New zustand zurück. Rote Körnchen aus einem kleinen Yorker Bürgermeister hatte er um Sand von geplatzten Beutel auf dem Boden des MuseumsGround Zero gebeten, aber keine Antwort erhal- kellers zeugen davon. Um die halbe Welt gereist. Jetzt knirschen sie unter den Füßen. ten. Auch fehlt ihm noch Sand aus dem Vatikan.
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Völlig losgelöst
Foto: Hechtenberg/Caro
Die Volten der VW-Aktie haben mit der Konzernleistung nichts zu tun
DRINNEN UND DRAUSSEN – Fußballplatz in einer Siedlung in Berlin-Marzahn
Ringen um Gerechtigkeit
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o also sieht ein Krisengewinnler aus: Backenbart, Ruhrpottdialekt, lautes Lachen und ein Job als Geschäftsführer eines Sozialverbandes. Ulrich Schneider ist in diesen Tagen einer der erfolgreichsten Lobbyisten des Landes – ein Interessenvertreter für die Armen, als deren Anwalt sich der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband versteht. So ungewöhnlich wie Schneiders Bart ist die Offenheit, mit der er über seine Arbeit spricht. »Man braucht immer eine Zahl«, sagt er. »Das ist wichtig für die Medien.« Außerdem braucht man Menschen. Der nordrhein-westfälische CDU-Sozialminister Karl-Josef Laumann hat ihm geraten, vor allem über Kinderarmut zu sprechen: »Damit erreichst du am meisten, nicht nur bei meiner Partei.« Das sei wahr, sagt Schneider. Seit er das mache, hörten mehr Menschen hin. Dann kommt es noch auf den richtigen Zeitpunkt an. Der richtige Zeitpunkt ist jetzt. Seit die Bundesregierung ein Milliardenpaket für die Rettung angeschlagener Banken auf den Weg brachte, ist Schneider gefragt wie nie. Ständig soll er in Talkshows und Interviews erklären, ob der Kapitalismus gerade versage und ob es ungerecht sei, wenn der Staat den Banken helfe. »Ich brauche nur ›500 Milliarden‹ sagen«, erzählt Schneider. »500 Milliarden für Banken, aber nur 211 Euro Sozialgeld pro Monat für Kinder von Langzeitarbeitslosen? Wenn ich das kritisiere, traut sich keiner, mir zu widersprechen.« Eigentlich gelten Krisenzeiten als Jahre des Sparens und Maßhaltens – doch diesmal könnte das anders sein. Die Finanzkrise hat alle gestärkt, die sich mehr Staat und auch einen stärkeren Sozialstaat wünschen. Und sie bietet der Regierung die Chance, im Wahljahr auf eine populäre Verteilungspolitik zu setzen – und das angesichts der schwächelnden Konjunktur auch noch als ökonomisch geboten darzustellen. Die Finanzkrise habe eine »enthemmende Wirkung« auf die Politik, sagt der hannoversche Finanzwissenschaftler Stefan Homburg: »Jetzt darf jeder alles fordern.« Noch konkurrieren in der Öffentlichkeit zwei Haltungen, die beide in sich schlüssig sind, einander aber doch gegenseitig ausschließen. Beispiel Mindestlohn: Während Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt behauptet, angesichts der bevorstehenden Rezession könne sich das Land solche Gesetze nicht mehr leisten, sagt SPD-Arbeitsminister Olaf Scholz scheinbar das Gegenteil. Die Krise habe »den moralischen Durchbruch für die Mindestlohn-Debatte« gebracht. Und für staatliche Sozialpolitik erst recht: »Die Banker, die jetzt das Milliardenpaket der Regierung in Anspruch nehmen, können sich schlecht darüber beschweren, dass der Staat auch für andere Geld ausgibt.« Wie ändert sich die Stimmung im Land, wenn der Staat den kaum vorstellbaren Betrag von 480 Milliarden Euro für
angeschlagene Banken bereitstellt – ein Vielfaches dessen, was jährlich für Sozialhilfe, Kindergeld und Pflegeheime zur Verfügung steht? Das sei genug Geld, um jedem Hartz-IV-Empfänger Deutschlands 73 844,33 Euro auszuzahlen, rechnete die tageszeitung vor – oder die Zahlungen für sämtliche Rentner im Land zwei Jahre lang zu verdoppeln, wie die Süddeutsche ermittelte. Selbst wenn nur fünf Prozent des angebotenen Betrages tatsächlich flössen, wäre das noch doppelt so viel wie der komplette Bildungsetat der Bundesregierung.
Berlin streitet: Milliarden für die Banker – und was bekommen die Armen im Land? VON ELISABETH NIEJAHR
»Wieder einmal werden die Verluste sozialisiert« Was folgt daraus, wenn auf diese Weise in der Finanzmarktkrise »wieder einmal Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert« werden, wie IG-Metall-Chef Berthold Huber vergangene Woche in Berlin anprangerte? Wird dadurch, so fragt die SPD-Präsidentschaftskandidatin Gesine Schwan auf der gleichen Veranstaltung, »das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen verletzt«? Rund 350 Gewerkschaftsfunktionäre applaudierten vergangenen Mittwoch heftig bei diesen Worten. Die SPD-Politikerin hatte eine Tagung der gewerkschaftseigenen Otto-Brenner-Stiftung besucht, und die Zuhörer forderten anschließend einen »Generalstreik«, weil das Rettungspaket der Regierung die soziale Balance verletze. Andere wollten gar eine »Verstaatlichung von Schlüsselindustrien«, wie sie der französische Präsident Nikolas Sarkozy in seinem Land angehen wolle. Sarkozy habe offenbar das Programm der IG Metall gelesen, spottete Gewerkschaftschef Huber. Und erklärte, die Finanzkrise ändere nichts an der aktuellen Lohnforderung der IG Metall von acht Prozent, im Gegenteil: »Es kann nicht sein, dass die Banker mit Staatsgeld gerettet werden und die Beschäftigten für die Finanzkrise gleich zweimal zahlen müssen – als Steuerzahler und durch Lohnverzicht.« Ende dieser Woche werden die Unterhändler von Gewerkschaft und Arbeitgebern in Baden-Württemberg vermutlich ergebnislos auseinandergehen, schon in der kommenden Woche wird die IG Metall zu Warnstreiks aufrufen. Die Krise hat eine Einigung für beide Seiten erschwert. Bei den großen Autokonzernen stehen nach glanzvollen Monaten die Bänder still – eigentlich kein Zeitpunkt für große Lohnsteigerungen. Einerseits. Andererseits haben Zehntausende von Metallarbeitern zuletzt so viele Zusatzschichten wie seit Jahren nicht mehr gefahren – und gleichwohl erlebt, dass die Umsatzrenditen ihrer Arbeitgeber viel schneller stiegen als die Löhne. Deshalb wird die Metall-Tarifrunde zu einem von drei Tests für das veränderte soziale Klima im Land. Test zwei ist das Konjunkturpa-
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Wenig Geld Die Entwicklung des von der Bundesregierung festgelegten Existenzminimums (in Euro pro Jahr)
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ket, das vom Kabinett in der übernächsten Woche beschlossen werden soll. Test drei könnte die Vorstellung des Existenzminimumsberichtes sein, auf den Soziallobbyisten wie Schneider genau schauen werden. Die wichtigste Nachricht steht in dem Entwurf, den das Finanzministerium am Mittwoch dieser Woche an die anderen Fachressorts verschickte: Familien müssen von 2009 an etwas weniger Steuern zahlen als bisher geplant. Der gesetzlich festgelegte Grundfreibetrag für Kinder fällt höher aus als erwartet und liegt bei 6024 statt 6000 Euro – und das nicht erst 2010, sondern schon 2009. Damit werden sich Sozialverbände und Verteilungspolitiker allerdings nicht zufriedengeben. Denn Hartz-IV-Empfänger profitieren vom höheren Kindergeld nicht, es wird ihnen gleich wieder von der Unterstützung abgezogen. Wie viel ein Mensch, vor allem ein Kind aus armer Familie, in Deutschland zum Leben braucht – dieses Thema wird die Bundesregierung auch im Wahljahr begleiten. Selbst der zuständige Minister Scholz ist nicht glücklich mit dem Prozedere, in dem alle fünf Jahre der Bedarf von Hartz-IV-Empfängern und ihren Kindern ermittelt wird. Nur hält er wenig davon, das Verfahren angesichts der Finanzmarktkrise auf die Schnelle zu erneuern. Insgesamt entsteht eine merkwürdige Situation: Trotz aller Krisennachrichten wird es vielen Deutschen zunächst eher besser als schlechter gehen. Das gilt vor allem für jenen Teil der Bevölkerung, der keine Geldanlagen hat. Wer nichts zum Sparen übrig hat, hat in einer Finanzkrise eben auch wenig zu verlieren. Schließlich hat die Bundesregierung nicht nur das Kindergeld, sondern unter anderem auch das Wohngeld erhöht. Sie hat die Laufzeit des Arbeitslosengeldes verlängert und das sogenannte Schulstarterpaket beschlossen, das Hartz-IV-Kindern zum Schulbeginn 100 Euro extra beschert. Und sie hat gerade eine Verordnung für die höchste Rentensteigerung seit über zwanzig Jahren auf den Weg gebracht. Im Grunde gab es schon vor der Finanzkrise in Deutschland ein staatliches Konjunkturprogramm. Man nennt es bloß nicht so. Zusätzlich haben viele Beschäftigte von erheblichen Lohnsteigerungen profitiert. Und dann sind da noch die Arbeitsmarktzahlen: Ausgerechnet in dieser Woche verkündet die Bundesagentur für Arbeit die niedrigste Arbeitslosigkeit seit 17 Jahren. Was Minister Scholz nicht so laut sagt: Es hängt maßgeblich an ihm, wie die Jobstatistik in den kommenden zwei Jahren aussehen wird. Das liegt daran, dass der Arbeitsminister über wenig beachtete Arbeitsmarktinstrumente verfügt, mit denen sich die Statistik mühelos schönen ließe. Scholz kann die Bezugszeit des Kurzarbeitergeldes verlängern, verstärkt Qualifizierungsmaßnahmen anbieten, mehr Geld
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für überbetriebliche Ausbildungsplätze bewilligen und den Kreis der Berechtigten für den sogenannten Kommunal-Kombi ausweiten. Der ist ein Nachfolger der vielfach kritisierten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Die nutzte einst schon Helmut Kohl während seiner Kanzlerschaft, um im Wahlkampf für bessere Zahlen am Arbeitsmarkt zu sorgen. Nun haben Scholz und sein Vorgänger Franz Müntefering in aller Stille solche Beschäftigungsinstrumente wieder aufleben lassen. Um sie auszuweiten, braucht der Minister noch nicht einmal die Zustimmung des Kabinetts, geschweige denn eine Abstimmung im Parlament. Eine Verordnung des Ministeriums reicht. Und vermutlich würden viele Ökonomen solche Maßnahmen sogar sinnvoll finden: Aktive Arbeitsmarktpolitik gilt als bewährtes Mittel der antizyklischen Konjunkturpolitik.
Der Arbeitsminister kann die Lohnnebenkosten erhöhen Damit genug Geld für staatliche Jobangebote da ist, wird die Regierung im November zwei widersprüchliche Beschlüsse fassen: Der Arbeitslosenbeitrag wird per Verordnung von 3,3 auf 2,8 Prozent der Bruttolöhne gesenkt. Gleichzeitig beschließt das Kabinett per Gesetz die Absenkung auf drei Prozent. Die Folge: Der Beitragssatz von 2,8 Prozent gilt, Scholz kann ihn aber schnell erhöhen, falls das Geld sonst nicht reicht. Ähnlich versuchen auch andere Minister anhand des Konjunkturpakets durchzusetzen, was sie immer schon für richtig hielten. Die Gesundheitsministerin etwa wünscht sich, dass die Krankenkassenbeiträge schon 2009 statt 2010 von der Steuer abgesetzt werden können. Dann fiele die Kritik an den absehbaren Beitragssteigerungen und Schmidts Gesundheitsfonds vielleicht leiser aus – und außerdem wechselten wohl weniger Menschen zu privaten Krankenversicherern. So ist die Krise zwar auf den ersten Blick die Stunde der großen Gesten und der großen Gerechtigkeitsdebatte. Doch vieles geschieht in Deutschland jetzt im Kleinen. Die Krise ist hierzulande auch die Stunde der Trickser. Ulrich Schneider hat sich vorgenommen, ein Buch darüber zu schreiben, nach welchen Regeln Verteilungspolitik in Deutschland funktioniert. Das Kapitel darüber, wie die Regierung vor Kurzem den Armutsbericht für ihre ohnehin geplanten Vorhaben instrumentalisierte, ist fertig. Viel mehr schafft der Mann mit dem Backenbart momentan nicht. Bald beginnt die Vorweihnachtszeit. Das sind besonders wichtige Wochen für die Lobbyisten der Armen. Sogar ohne Finanzkrise. a www.zeit.de/audio
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VW-Konzernchef Martin Winterkorn ist ein kompetenter Automanager, laut Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch haben die Wolfsburger sogar den weltbesten Vorstand in der Branche. Bislang ist der VW-Konzern von der heraufziehenden Absatzkrise weniger betroffen als die meisten seiner Konkurrenten – noch. Aber ist die VW-Gruppe deshalb so wertvoll wie ein halbes Dutzend der größten Dax-Konzerne zusammen? Zehn- bis 15-mal so viel wert wie Daimler? Sind Kurssprünge von 150 Prozent an einem Tag irgendwie mit Veränderungen der Einschätzung der Unternehmensleistung verbunden? Ein mehrfaches Nein. Die Experten sind sich einig: Die Kurssprünge der VWStammaktien haben nichts mit der realen Unternehmensentwicklung zu tun. Es handelt sich um reine Zockerei. Die Exzesse sind das Resultat von Spekulationsgeschäften rund um die laufende Mehrheitsübernahme bei der Volkswagen AG durch die Porsche SE. Letztere hatte am Sonntag bekannt gegeben, bereits 42,6 Prozent der VW-Stammaktien zu besitzen und sich mit speziellen Optionen den Zugriff auf weitere 31,5 Prozent gesichert zu haben. Da das Land Niedersachsen an seinen knapp 21 Prozent bei VW festhält, sind allenfalls noch gut fünf Prozent der Aktien frei für spekulative Geschäfte. Dieser extrem enge Markt trägt zu den bislang bei einem Dax-Wert nicht gesehenen Ausschlägen bei. Finanzstrategien wie Leerverkäufe mit geliehenen Aktien, so die Erklärung, spielen hierbei eine entscheidende Rolle. Das sind Methoden, deren bisweilen fatale Wirkungen sich schon in der Bankenkrise gezeigt haben. Angeblich wollte Porsche mit seiner Transparenzinitiative vom vergangenen Sonntag für mehr Ruhe in der Aufregung um die VW-Aktie sorgen. Das Gegenteil ist eingetreten. Porsche wird nun von manchen unterstellt, bei dieser erneuten Spekulationsrunde selbst wieder groß zu verdienen. Schließlich haben die Zuffenhausener Finanzkünstler um Porsche-Vizechef Holger Härter schon früher beim Erwerb von VW-Aktien quasi als Nebeneffekt Milliarden abkassiert. Porsche weist alle Manipulationsvorwürfe von sich – schuld seien diejenigen, die mit riesigen Wetten auf fallende VW-Kurse gesetzt hätten. Hedgefonds etwa. Eines ist klar: Als Indikator für den Zustand oder gar die Zukunftsaussichten von Volkswagen taugt der Börsenwert in diesen Tagen nicht mehr. Irgendwann muss die Blase platzen. Dass die – nicht stimmberechtigten – VW-Vorzugsaktien bei einem Wert um die 50 Euro dümpeln, während die Stammaktie innerhalb weniger Tage zwischen gut 200 und über 1000 Euro hin- und herschießt, spricht für sich. Und dass Daimler derweil an der Börse mit weniger als dem Zweifachen seiner Barreserven bewertet wird, spricht ebenfalls für die herrschende Irrationalität. Wenn sich die Politiker daranmachen, die Finanzwelt und ihr Instrumentarium neu zu regulieren, sollten sie sich auch diese Exzesse genau anschauen. Am Ende wird es einige große Verlierer geben. Und selbst für die gewieften Porsche-Strategen ist es noch nicht ausgemacht, dass sie stets auf der Gewinnerseite stehen werden. DIETMAR H. LAMPARTER
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Körpereinsatz Mobiltelefonierer sind oft umtriebige Wesen. Die Knopf-im-Ohr-Fraktion steht für den Betrachter im Verdacht, Selbstgespräche zu führen. Dauertippende BlackberryBesitzer rennen blindlings gegen Straßenhindernisse. Und Multitasking-Spezialisten, die gleichzeitig telefonieren, Rad fahren und vom Brötchen abbeißen, wirken wie lebende Plädoyers für die Entschleunigung. Das Handy der Zukunft wird aber wohl noch körperbetonter. Microsoft hat kürzlich einen Prototypen vorgestellt, der mit Infrarotsensoren Fingerbewegungen in einem Radius von zehn Zentimetern neben dem Gerät registriert. Künftig kann der Benutzer also mit Luftakrobatik durchs Hauptmenü klicken und scrollen. Endlich wird wildes Herumfuchteln beim Telefonieren funktional. Handybesitzer werden dann vielleicht die besseren Luftgitarristen. Möglich, dass sogar ein eigener Mobilfunktanz entsteht. Ähnlich dem durch das Internet bekannt gewordenen Jumpstyle, bei dem Jugendliche mit Twist, Sidekick und Backflip durch Diskotheken und Supermärkte hüpfen. Inspirieren könnten uns auch die Mittelmeeranrainer, die die körperunterstützte Kommunikation par excellence beherrschen. Problematisch wird es erst, wenn die hochsensiblen Handys bei ihrem gestenreichen Fluchen den Geist aufgeben. KERSTIN BUND
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Wirtschaftskrise: Die Banken
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30. Oktober 2008 DIE ZEIT Nr. 45
Löcher im Schirm
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an könnte sich die Rettungszentrale für das deutsche Finanzsystem durchaus spektakulär vorstellen. Immerhin hat sie knapp 500 Milliarden Euro für die deutschen Banken zu vergeben. Doch das Hauptquartier des Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung (Soffin) hat den Charme eines Einwohnermeldeamts: zwei Stockwerke in einem schmucklosen Gebäude in der Frankfurter Taunusanlage. Ein Klingelschild aus Metall, 21 Mitarbeiter. Seit Montag dieser Woche residiert hier Günther Merl, der Soffin-Chef, und wartet auf Kundschaft. Anträge könnten »jederzeit eingereicht werden«, man werde sie »so schnell wie möglich bearbeiten«. Bislang haben sich allerdings nur drei Landesbanken gemeldet – sehr zum Ärger der Politik, die den Fonds in einer beispiellosen legislativen Offensive innerhalb einer Woche ins Leben rief und mit Geld ausstattete. Josef Ackermann, der Chef der Deutschen Bank, hat das Staatsgeld sogar halb öffentlich abgewiesen – und nicht einmal die Postbank, an der der Bund über seinen Anteil an der Deutschen Post beteiligt ist, mag das Paket in Anspruch nehmen. Stattdessen ließ sich das Institut diese Woche vom Mutterkonzern Deutsche Post mit einer Milliarde stützen. Einiges spricht allerdings dafür, dass es schon bald geschäftiger zugehen wird in der Taunusanlage. Die Banken meiden die Staatsmittel bislang vor allem aus zwei Gründen: Sie fürchten, dass ihnen die Beteiligung an der Rettungsaktion von Kunden und Investoren als Zeichen der Schwäche ausgelegt wird. Und sie wollen die Auflagen vermeiden, die der Staat an die Vergabe von Hilfszahlungen knüpft. Es gibt Obergrenzen für Gehälter, die Behörden können – bei den Landesbanken ist dies ausdrücklich vorgesehen – Fusionen erzwingen und die Kreditvergabe beeinflussen. Ferner müssen die teilnehmenden Banken laut Gesetz »insbesondere die Versorgung kleinerer und mittlerer Unternehmen mit Krediten« gewährleisten. Die Not der Landesbanken ist so groß, dass sie die Bedingungen akzeptieren, außerdem sind sie teilweise ohnehin schon in Staatshand. Ansonsten aber erweist sich die Kombination von strengen Auflagen und Freiwilligkeit als problematisch. Es ist zwar höchst unwahrscheinlich, dass ein Bankchef die Pleite seines Instituts riskiert, nur um nicht unter den staatlichen Schirm zu müssen. Doch besteht die Möglichkeit, dass einige Banken stattdessen die Kredite an Unternehmen und Verbraucher kürzen. »Banken mit zu geringem Eigenkapital können zwischen einer Kapitalerhöhung und einer Reduktion des Geschäftsvolumens abwägen. Sind die Bedingungen für Ersteres zu schlecht, entscheiden sie sich für Letzteres«, sagt Karsten Junius, Volkswirt bei der Deka-Bank. Der Regierung wäre es dann zwar gelungen, den
VON MARK SCHIERITZ
Zusammenbruch von Finanzinstituten zu verhindern, doch die Konjunktur würde weiter leiden. In Berlin und Frankfurt am Main wird deshalb darüber diskutiert, bei der Anwendung des Gesetzes die Auflagen so weit wie möglich abzumildern, um den Banken die Teilnahme zu erleichtern. So gibt es bei der Gehaltsobergrenze von 500 000 Euro für beteiligte Banker im Gesetz Interpretationsspielraum. Ein höherer Verdienst gilt demnach nur »grundsätzlich« als unangemessen – Ausnahmen eingeschlossen. Die Entscheidung liegt beim SoffinLenkungsausschuss unter Vorsitz von Finanzstaatssekretär Axel Nawrath. Das mit Vertretern aus den Berliner Ministerien und einem Länderrepräsentanten besetzte Gremium ist die Machtzentrale der neuen Institution. Die Schwierigkeit eines solchen Vorgehens: Wenn die Vorschriften zu stark gelockert werden, nehmen die Banken zwar das Geld eher an – aber es ist nicht garantiert, dass sie es auch tatsächlich für die Kreditvergabe einsetzen. In den USA, wo der
viele Banken in den USA, Großbritannien und Frankreich inzwischen mit enormen Kapitalreserven ausgestattet. Die US-Großbank Morgan Stanley etwa verfügt über eine Kernkapitalquote – das Verhältnis von Eigenkapital zu Risikopositionen – von 18 Prozent, bei der Commerzbank sind es 7,4 Prozent, selbst die Deutsche Bank fällt international mit zehn Prozent inzwischen zurück. Die kapitalstarken ausländischen Banken können bei Investoren und Kunden punkten – und nicht wenige Frankfurter Finanzmanager fürchten, dass sie ohne zusätzliches Kapital im Rennen um Kunden ins Hintertreffen geraten. »Der Druck vom Markt wird größer. Früher galt eine Kernkapitalquote von neun Prozent als üppig. Inzwischen sind zehn Prozent die Untergrenze«, sagt Lutz Raettig, Aufsichtsratschef von Morgan Stanley in Deutschland. Als die Regierung in Paris den französischen Großbanken eine Kapitalspritze verpasste, stiegen deren Aktienkurse. Wenn deutsche Banken nun als vergleichsweise unsicher gelten, könnte das zum Beispiel zur Folge haben, dass sie mehr bezahlen müssen, wenn sie sich am Kapitalmarkt finanzieren wollen. hat seine Großbanken zum Teil schon gezwungen, Vielleicht wird schon bald die Bank stigmatisiert, die kein die staatliche Hilfe anzunehmen. Dadurch Staatsgeld hat. Fest steht: Je länhaben sie nun deutlich mehr Eigenkapital als die ger die Krise anhält, desto drindeutsche Konkurrenz gender brauchen die Institute das Staatsgeld. Viele Banken verbrennen nach wie vor Kapital, EinFinanzminister zwar die Banken zur Teilnahme an nahmen fallen aus, und Wertpapiere in den Portfodem Rettungsprogramm gedrängt, daran aber kaum lios müssen abgeschrieben werden, weil an den Bedingungen geknüpft hat, gibt es erste Klagen da- Börsen die Kurse sinken oder Schuldner – darunter rüber, dass die Banken die Staatsmittel für ihre Ex- neuerdings auch Staaten – ihre Kredite nicht mehr pansionspläne verwenden. zurückzahlen. Die Postbank, die diese Woche ihre Eine andere Möglichkeit wäre es, den Banken Zahlen für das dritte Quartal veröffentlichte, hat in das Kapital aufzuzwingen und sie zugleich Auf- neun Monaten 1,7 Milliarden Euro Eigenkapital lagen zu unterwerfen. So funktioniert zum Bei- verloren. Wenn die anderen Institute demnächst ihre spiel der Rettungsschirm in Großbritannien. Daten vorlegen, werden sie ebenfalls Löcher in den Dort müssen sich Institute, deren Eigenkapital zu Bilanzen offenbaren müssen. Andreas Weese, Bankniedrig ist und die sich nicht am Markt mit fri- analyst bei Unicredit, rechnet damit, dass die Deutschem Geld versorgen können, in Staatshand be- sche Bank einen Verlust von einer halben Milliarde geben. Die Regierung kann auf die Dividenden- Euro ausweisen könnte. politik, die Managervergütung und die KreditverDie Commerzbank hat bereits mitgeteilt, sie gabe Einfluss nehmen. Das Problem dabei: Mög- prüfe das Angebot des Staates, auch die Dresdner licherweise mischt sich der Staat in Unternehmen Bank gilt als Kandidatin für den Rettungsschirm. ein, die auch ohne Staatshilfe ausgekommen wä- In den Aufsichtsbehörden rechnen einige Experten ren. Diesen Weg will Finanzminister Peer Stein- sogar schon damit, dass der Fonds noch einmal aufbrück nicht gehen – er appelliert an die »Eigen- gestockt werden muss – und sich am Ende weite verantwortung« der deutschen Banker. Teile des deutschen Finanzsystems in Staatshand Sehr wahrscheinlich werden am Ende eher die befinden. Vielleicht muss sich Günther Merl bald umfangreichen Staatsgarantien in anderen Ländern nach einem deutlich größeren Büro umsehen. in Kombination mit den Marktkräften dafür sorgen, dass weitere deutsche Institute bei Günther Merl i Weitere Informationen auf ZEIT ONLINE: www.zeit.de/finanzkrise klingeln. Denn dank der öffentlichen Hilfen sind
Das Ausland
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Foto (Ausschnitt): Bernd Weißbrod/Picture-Alliance/dpa
Vielleicht wird bald die Bank stigmatisiert, die kein Staatsgeld nimmt
2100 große Mercedes kann Daimler in Sindelfingen fertigen …
Alles nur gepumpt Die Unternehmen hängen am Tropf der Banken, weil der Staat das Schuldenmachen begünstigt. Es ginge auch anders VON RÜDIGER JUNGBLUTH
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ir tun es nicht für die Banken. Wir tun es für die Unternehmen. Sie brauchen Kredite, um zu überleben, um zu wachsen. Ihretwegen müssen wir die Banken retten, müssen wir sie mit neuem Kapital ausstatten und Garantien geben. Wir müssen die Landesbanken am Leben halten, die KfW mit Steuermitteln aufpumpen und würden am liebsten auch die Deutsche Bank subventionieren – nur damit unsere Unternehmen keinen Schaden nehmen. So klingt die Berliner Melodie in diesen Wochen. Die Stabilisierung der Banken ist nach Meinung fast aller Experten ohne Alternative. Aber ist die Gefahr für die reale Wirtschaft damit wirklich gebannt? Und: Was hilft Unternehmen wirklich? Wie können sie unabhängiger von Banken werden? Das Gespenst, das in Deutschland gegenwärtig umgeht, heißt Kreditklemme. Wenn die Welt nun kollektiv den Preis für die Kreditexzesse der Vergangenheit zahlt, kann das gar nicht anders gehen, als dass neue Kredite knapper werden. Die Banken wollen und sollen ja wieder schärfer prüfen, und sie werden sich das Risiko mit höheren Zinsen bezahlen lassen. Es wird noch viele Abschreibungen geben, und dadurch verkleinert sich der Spielraum für neue Darlehen drastisch. Eine Wertkorrektur in der Bankbilanz um eine Million zieht leicht Kreditkürzungen von zehn Millionen nach sich. Den deutschen Unternehmern stehen harte Zeiten bevor. Denn ob sie jung oder alt sind – sie brauchen das Geld. In der Finanzkrise wird auf erschreckende Weise offenbar, wie sehr die deutsche Wirtschaft auf Schuldenbasis arbeitet. Die Unternehmen operieren mit einem Minimum an eigenem Geld. Bei Mittelständlern sind im Schnitt nur 15 Prozent der Mittel Eigenkapital. Der Rest ist geliehen. Rund 29 Prozent der Firmen wursteln laut einer Sparkassenstudie komplett ohne eigene Mittel, sie sind völlig abhängig von Kreditgebern. Die Banken lassen sich darauf ein, weil sie Sicherheiten aus dem privaten Vermögen der Unternehmer haben. Die Inhaber stehen für den Kredit mit Häusern und Lebensversicherungen gerade. Der Befund ist eindeutig: Die angeblich so solide deutsche Wirtschaft produziert in hohem Maße auf Pump – viel stärker als in fast allen anderen Industrieländern. Wo liegen die Gründe? Haben die Unternehmen in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten wirklich so schlecht verdient, dass sie kein Geld beiseite legen konnten und nun für jede Maschine, die sie anschaffen wollen, erst mal einen Antrag bei der Bank stellen müssen? Das wäre ein echtes Wirtschaftswunder. Tatsächlich verhält es sich anders. In Wahrheit liegt es vor allem an den Steuergesetzen, dass viele Unternehmen finanziell so wackelig dastehen. Der deutsche Staat besteuert Eigenkapital deutlich höher als Fremdkapital. Firmen können ihre Kreditzinsen von der Steuer absetzen, aber sie können das von ihnen genutzte Eigenkapital dort nicht geltend machen. Also ist es für sie günstiger, wenn sie möglichst viel geliehenes und möglichst wenig eigenes Geld einsetzen. Mit seinen Gesetzen gibt der Staat den Unternehmen einen Anreiz, ihr Geschäft auf Schulden zu gründen. Dadurch kommt es dann zu dem, was der Würzburger Ökonom Ekkehard Wenger den »Affentanz um die Eigenkapitalrendite« nennt. Selten hat eine Finanzkennziffer eine solche Beachtung gefunden, selten hat sie bei verbreiteter Unkenntnis so viel Empörung ausgelöst. Im Zentrum der Kritik steht Josef Ackermann, der für die Deutsche Bank auf eine Eigenkapitalrendite von 25 Prozent zielte. Die Zahl ist in der Krise zu einer Chiffre für die Gier geworden. In Wahrheit ist sie aber viel mehr eine Maßzahl für Waghalsigkeit. Denn was bedeutet Eigenkapitalrendite? Berechnet wird sie, indem man den Gewinn durch das vorhandene Eigenkapital teilt und das Ganze mit hundert multipliziert. Ein Beispiel: Ein Unternehmen, das eine Million Euro Kapital einsetzt, um 100 000 Euro Gewinn zu erwirtschaften, kommt auf eine Rendite von zehn Prozent. Will es künftig 25 Prozent Rendite erzielen, muss es ei-
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nen Gewinn von 250 000 Euro erwirtschaften. Um das hinzukriegen, könnte es seine Kosten vermindern oder die Preise erhöhen. Es geht aber auch anders. Das Unternehmen kann sein Geschäft weiter so machen wie bisher, nur in größerem Stil und dabei mehr Geld einsetzen. Es pumpt sich zu seiner Million von der Bank neun weitere. Dann hat es zehn Millionen, mit denen es wirtschaften kann. Mit denen muss es insgesamt nur eine bescheidene Rendite von 2,5 Prozent erzielen, um die angestrebten 250 000 Euro zu verdienen. Auf das Eigenkapital gerechnet, ergibt sich dabei eine Rendite von stattlichen 25 Prozent. Die ist allerdings nur deshalb so anormal hoch, weil der Anteil des Eigenkapitals am Gesamtkapital so gering ist. Das Unternehmen hat seinen eigenen, kleinen Geldeinsatz durch eine hohe Kreditaufnahme »gehebelt«, wie die Fachleute das nennen.
»Früher lag das Eigenkapital bei 60 Prozent, heute liegt’s in Liechtenstein« Das Ganze funktioniert nur, wenn das Unternehmen für die Kredite etwas weniger Zinsen zahlen muss, als es im eigentlichen Geschäft verdient. Solange Geld billig zu borgen ist, kann fast jedes Unternehmen die Eigenkapitalrendite dadurch in die Höhe treiben, dass es mit höheren Schulden arbeitet. Das ist aber riskant. Sobald die Zinsen ein wenig ansteigen, kippt das Kartenhaus. In einer Welt, in der sich Banken und Betriebe jede gewünschte Menge Geld günstig leihen können, lässt sich die Eigenkapitalrendite ins Unendliche steigern. Aber diese Welt geht gerade unter. Viele produzierende Unternehmen drohen dabei mit in den Abgrund gerissen zu werden. Wenn die Regierung die Realwirtschaft wirklich stärken wollte, könnte sie auf einen Vorschlag zurückgreifen, der seit Jahren auf dem Tisch liegt. Aufbauend auf einer Idee seines Kollegen Wenger hat der Heidelberger Ökonom Manfred Rose gemeinsam mit den Experten des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung das Konzept einer zinsbereinigten Gewinnsteuer ausgearbeitet. Das Eigenkapital wird darin steuerlich so behandelt, als müsse das Unternehmen dafür an einen fremden Geldgeber Zinsen zahlen. Nur der Teil der Gewinne, der über eine marktübliche Verzinsung hinausgeht, wird der Steuer unterworfen. Für üblich halten die Ökonomen einen Satz, der sich aus dem Leitzins und einem dreiprozentigen Aufschlag ergibt, das wären derzeit 6,75 Prozent. Unternehmen hätten in einem solchen System einen Anreiz und eine Möglichkeit, mehr Eigenkapital als bisher zu bilden. Sie würden dadurch krisenfester und auch unabhängiger von den Banken. Geldanlagen in Betrieben, die Arbeitsplätze schaffen, wären wieder attraktiver als solche im Ausland. Der Ökonom Erich Staudt hat die Misere einmal auf den Punkt gebracht: »Lag das Eigenkapital im Mittelstand früher bei 60 Prozent, so liegt es heute in der Schweiz und Luxemburg.« Die Abgeltungsteuer wird das Problem von 2009 an noch verschärfen. Seit Jahren bekunden alle Parteien, die Ausstattung der Unternehmen mit Eigenkapital müsse verbessert werden. Beschlossen hat die Große Koalition dann aber ein Gesetz, das das Gegenteil bewirken wird. Auf Zinsen werden bald nur noch 25 Prozent Steuern (plus Soli) fällig. Spitzenverdiener mit Zinseinkünften stellen sich viel besser als bisher. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als würden Dividenden genauso besteuert wie Zinsen, denn auch bei ihnen nimmt sich der Fiskus ein Viertel. Aber solche Ausschüttungen werden vorher schon im Unternehmen stark besteuert. Unterm Strich, so hat Wenger errechnet, ergibt sich eine Differenz von fast 20 Prozentpunkten zulasten der Dividenden. Demnächst werde es für Betriebe und ihre Geldgeber noch vorteilhafter sein, mit Fremdkapital zu arbeiten, kritisiert auch Wolfgang Wiegard aus dem Sachverständigenrat der Bundesregierung. Er ist der Steuerexperte unter den Fünf Wirtschaftsweisen. Aber man hörte in Berlin bislang nicht auf ihn.
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Wirtschaftskrise: Der Abschwung
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Absturz Entwicklung des Ifo-Geschäftsklimaindex* 120 1. Jan. 2000 = 100, saisonbereinigt *für verarbeitendes Gewerbe, Bauhauptgewerbe, und den Groß- und Einzelhandel
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Stand: 27.10. 2008
... SOFERN sich Käufer dafür finden
»Es kommen keine Aufträge mehr« Mit voller Wucht erreicht die Krise Deutschland. Noch erhalten die Konzerne Kredit – doch die Kundschaft bleibt aus
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s war Sommer, da wollte die Lufthansa noch Jobs schaffen. Die Fluglinie warb. Lockte. Ließ ihre Personalabteilung dichten: »Wollen Sie an die Spitze aufsteigen?« Übers Jahr verteilt, hätten 4000 neue Arbeitsplätze entstehen sollen. Doch davon ist nicht mehr viel zu sehen. Inzwischen sucht die Lufthansa über ihre Karriereseiten im Internet in erster Linie Lehrlinge und Praktikanten. Gerade vier Wochen ist es her, dass BMW in Paris die überarbeitete 3er-Limousine vorstellte. Es war der Auftakt zur großen BMW-Show auf der wichtigsten Automesse des Jahres. BMW-Chef Norbert Reithofer ließ das Auto einfach für sich wirken – so wie es der Besitzer eines vielfach preisgekrönten Zuchtbullen tun würde –, erwähnte ein paar technische Fortschritte und schloss mit den Worten, die 3er-Limousine sei eben das »meistverkaufte Premiumauto der Welt«. Ist das wirklich erst vier Wochen her? Seit Montag stehen die Bänder im Leipziger BMW-Werk für vier Tage still. Gebaut wird dort auch die 3er-Limousine – das bisher meistverkaufte Premiumauto. So endet das deutsche Sommermärchen.
Der Welt fehlt Nachfrage im Wert von rund 2000 Milliarden Dollar »Wir waren ganz oben«, sagt Kai Carstensen, Konjunkturexperte des Münchner ifo Instituts. Carstensen ist für den monatlich erhobenen Geschäftsklimaindex verantwortlich, der die Lage und die Erwartungen der Unternehmen abbildet, und er sagt, seit der Wiedervereinigung sei die Stimmung nie besser gewesen als im vergangenen Sommer. Umso heftiger ist jetzt der Absturz. Und er ist anders als frühere. »Oft sind Rezessionen schmerz-
volle, aber nötige Korrekturen von Exzessen der Vergangenheit. In Deutschland gibt es keine Exzesse. Diese Rezession ist nur das Ergebnis externer Einflüsse«, sagt Holger Schmieding, Europa-Chefvolkswirt der Bank of America. Deutschland wird von einer weltweiten ökonomischen Dürre erfasst. Wirtschaftswissenschaftler nennen so etwas deleveraging, zu Deutsch: Die Wirtschaft baut übermäßige Schulden ab. Wurde die Weltwirtschaft noch vor wenigen Monaten mit Geld überschwemmt, trocknet sie jetzt zusehends aus. Um ihren jahrelangen Boom zu finanzieren, haben sich Länder wie die USA, Großbritannien, Spanien oder Irland zunehmend verschuldet, die amerikanischen Konsumenten zum Beispiel sparten zuletzt praktisch gar nichts mehr. Wie Wasser durch Kanäle auf die Felder fließt, um sie zu bewässern, so strömte das geliehene Geld durch die Adern des globalen Finanzsystems, erreichte alle Kontinente und verhalf der Weltwirtschaft zu einer einzigartigen Blüte. Deutsche Autos wurden damit gekauft und chinesisches Spielzeug, Straßen in Ungarn gebaut und Häuser in Estland, Öl aus Saudi-Arabien wurde importiert und Kupfer aus dem Kongo. Die Welt erlebte eine der längsten wirtschaftlichen Aufschwungphasen ihrer Geschichte. Nun erlebt sie, wie die Schuldenlast reduziert wird – weil sie für viele Menschen, Unternehmen und Staaten untragbar geworden ist. Konsumenten kaufen weniger Autos und Spielzeug, Firmen führen weniger Öl und Kupfer ein. Nach Berechnungen von Jeffrey Sachs, einem bekannten Wirtschaftsprofessor an der Columbia-Universität, fehlt der Welt allein dadurch Nachfrage im Wert von rund 2000 Milliarden Dollar. Gefährlich ist diese Korrektur aber vor allem, weil sie außer Kontrolle zu geraten droht. Denn eine wachsende Zahl von
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Unternehmen und Verbrauchern können ihre Kredite dadurch gar nicht mehr abtragen. Diese Zahlungsausfälle reißen Löcher in die Bilanzen der Banken, und um diese Löcher zu stopfen, verkaufen die Finanzinstitute Aktien und Anleihen, holen Kapital aus den Schwellenländern zurück und kappen Kredite für Betriebe, Hedgefonds und Privatleute. Diese Entwicklung verstärkt sich wiederum selbst – momentan auf dramatische Weise.
Mehr als 300 000 Jobs könnten nächstes Jahr wegfallen Je mehr Wertpapiere auf den Markt kommen, desto stärker sinkt ihr Kurs; je mehr Kredite gestrichen werden, desto langsamer läuft die Wirtschaft; je mehr Kapital aus den Schwellenländern abgezogen wird, desto größer die Gefahr, dass deren Währungen abstürzen und der Staatsbankrott droht. Längst würden viele Aktien, Währungen oder Anleihen »unter ihrem eigentlichen Wert« gehandelt, würden auch stabile Länder und Unternehmen in den Abwärtsstrudel geraten, sagt der Wirtschaftsnobelpreisträger Michael Spence. Ungarn und die Ukraine werden nur noch durch Notkredite des Internationalen Währungsfonds finanziell am Leben gehalten. Seit Mitte September trifft diese Entwicklung auch die deutsche Volkswirtschaft mit voller Wucht. Eine ganze Reihe von Unternehmern in der Metallbranche erleidet, was Theodor Tutmann, der Geschäftsführer des Wirtschaftsverbands Stahl- und Metallverarbeitung, »praktisch einen Abriss der Auftragseingänge« nennt. Ein bayerischer Mittelständler, der Präzisionsdrehteile für die Automobilindustrie herstellt, bestätigt: »Innerhalb von zwei Wochen kamen keine Aufträge mehr, bereits getätigte wurden zurückgezogen.«
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VON GÖTZ HAMANN UND MARK SCHIERITZ
Unterdessen rast der Aktienindex Dax seit Tagen in steilen Kurven abwärts und hat seit seinem Höchststand im vergangenen Jahr beinahe die Hälfte seines Werts verloren. Nur die fast aberwitzigen Spekulationen mit VW-Aktien verhindern tiefere Stände. Die Deutsche Bank sagt für 2009 einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 1,5 Prozent voraus. Wenn es schlimm kommt, so haben die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute ausgerechnet, dann fallen im kommenden Jahr 337 000 Jobs weg. Doch warum war die deutsche Wirtschaft erst so robust – und ist nun so schnell so schwach? Deutschland ist als »Exportweltmeister« in den vergangenen Jahren zu einem immer besseren Indikator für die Weltkonjunktur geworden. Während das Bruttoinlandsprodukt in den vergangenen zehn Jahren um 15 Prozent zunahm, verdoppelte sich der Export und wurde jedes Jahr wichtiger für den hiesigen Wohlstand. Der private heimische Konsum dagegen, das zweite Standbein einer Volkswirtschaft, ging selbst in den Boomjahren zurück. »Deutschland ist sehr abhängig von den Weltmärkten«, sagt Wirtschaftsforscher Carstensen. Deshalb lief es für die deutsche Wirtschaft so lange noch gut, wie nur wenige Länder in einen Abschwung gerieten. Als zu Jahresbeginn in den Vereinigten Staaten die Konjunktur ihre Kraft verlor, konnten die Deutschen ihren Spurt fast ungehindert fortsetzen – Osteuropa, Russland und Asien sei Dank. Die Auftragsbücher füllten sich weiter. Die Steuereinnahmen sprudelten nur so. Die Arbeitslosigkeit fiel und fiel. Noch im ersten Halbjahr wuchs das Bruttoinlandsprodukt merklich. In einigen Branchen wurden bereits die Fachkräfte
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knapp, und so kam der Aufschwung endlich auch bei den Durchschnittsverdienern an: Nach jahrelanger Flaute legten die Löhne zu, und es erschien nicht einmal völlig abwegig, wenn die IG Metall ein Lohnplus von acht Prozent forderte. Der jüngste Absturz im ifo-Index drückt nun aus, dass es nicht nur hier und da, sondern in praktisch allen wichtigen Exportmärkten abwärtsgeht. Die Folgen füllen die Nachrichtenspalten der Wirtschaftsblätter: Daimler verordnet seinen Werken eine vorweihnachtliche Zwangspause, bei Continental werden die Winterferien verlängert, bei Heidelberger Druckmaschinen wird ein Sparprogramm aufgelegt. Wenn es der Politik nicht gelingt, die Märkte zu beruhigen, dann droht sich die Dürre noch weiter auszubreiten – und den Unternehmen in Deutschland selbst die Kapitalzufuhr abzuschneiden. Dank satter Gewinne in den vergangenen Jahren stehen viele Firmen zwar gut da. Daimler etwa hat zehn Milliarden Euro in der Kasse und kann sein laufendes Geschäft mühelos allein finanzieren. Andere Unternehmen mit guter Bonität bekommen bisher in der Regel Geld von ihrer Bank. Zudem profitiert der hiesige Mittelstand noch davon, dass sich die Sparkassen nicht an der großen Zockerei beteiligt haben und deshalb über volle Kassen verfügen. Trotzdem berichten erste Unternehmer davon, dass sich Banken mit Krediten zurückhalten. Unbeschadet übersteht all das niemand. Auch nicht die Branchenbesten. Die Lufthansa kündigte am Dienstag an, das Ergebnis werde rund 250 Millionen Euro niedriger ausfallen als noch im Sommer versprochen. Einige Monate lang können viele Unternehmen diesen Abrutsch aushalten. Länger nicht.
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Wirtschaftskrise: Die Finanzmärkte
30. Oktober 2008 DIE ZEIT Nr. 45
Foto [M]: Kiyoshi Ota/gettyimages
Nr. 45
Schwankende Giganten Die Verwalter der zehn größten Hedgefonds der USA (Einlagen in Milliarden Dollar)
48,1
JPMorgan Bridgewater Associates
43,5 37,1
D.E. Shaw Group
34,9
Paulson & Co. Och-Ziff Capital Management
33,3
Farallon Capital Management
33,0
Renaissance Technologies
29,0
Barclays Global Investors
27,0
Goldman Sachs Asset Management
26,9
Harbinger Capital Partners ZEIT-GRAFIK/Quelle: absolute return
24,0 Stand: Juli 2008
Das Grauen auf der Tafel: In Tokyo beobachtet ein Japaner den Verfall des Aktienindex NIKKEI zu Beginn dieser Woche
Die nächsten Fallen 1
Viele Hedgefonds stehen vor dem Aus
»Sehen Sie sich doch die riesigen Kursbewegungen an den Aktienmärkten an. Das ist nicht der private Anleger, der da verkauft«, sagt Stephan Illenberger, Deutschlandchef des größten europäischen Finanzinvestors Axa Private Equity. Nein, hinter den tiefen Preisstürzen mancher Aktien schienen in den vergangenen Wochen andere, größere Mächte zu stecken. Um sechs, acht oder zehn Prozent brachen manche Börsen ein, Tag für Tag. Und Illenberger spricht aus, was viele am Finanzmarkt denken: »Bei den Hedgefonds herrscht Ausverkauf – jetzt, just in diesen Tagen.« Viele stießen all ihre Anlagen ab, Aktien vor allem, aber auch große Kreditpakete, die sie im Boom von Banken erworben hatten. »Zu Abschlägen von 15, 20, ja gar 40 Prozent!«, sagt Illenberger. Hedgefonds – in ihnen sahen viele Beobachter schon lange die größte Gefahr für das Weltfinanzsystem. In den vergangenen Jahren passierte nichts Schlimmes. Jetzt aber rücken sie wieder in den Blick. »Die Instabilität des Weltfinanzsystems in den jüngsten Wochen war so groß wie seit Menschengedenken nicht«, schrieb die Bank of England am Dienstag. Und ein Risiko seien die Hedgefonds. Viele spekulieren nicht nur mit dem Geld ihrer Investoren an den Börsen, sondern mit einem Vielfachen dieser Summe, ausgeliehen von Banken. Im Finanzmarktboom der vergangenen Jahre sollen auf einen Dollar Eigenkapital gelegentlich schon mal 30 Dollar Fremdkapital gekommen sein – gängig sei in der Branche allerdings, heißt es, ein Verhältnis von eins zu fünf. Wenn den Hedgefonds jedoch der Kredit ausgeht, wenn sie freiwillig oder auf Druck der Banken ihre Kredite zurückzahlen müssen, stoßen sie Anlagen ab – jede Menge. Angefangen hat dieser Prozess bereits Ende 2007, jetzt jedoch spitzt er sich zu. Er habe »noch nie so viel Panik im Markt gesehen« – so wird Kenneth Griffin zitiert, Gründer des viele Milliarden Dollar schweren US-Hedgefonds Citadel. Er beraumte am vergangenen Freitag kurzfristig eine Telefonkonferenz an, um Gerüchten zu widersprechen, sein Haus sei in Schieflage. Mehr als 30 Prozent soll Citadel dieses Jahr im Minus liegen. Damit stünde er schlechter da als die Branche. Allein im dritten
Quartal haben die weltweit rund 10 000 Hedgefonds 210 Milliarden Dollar, rund zehn Prozent, an Wert verloren – das berichtet der Informationsdienst Hedge Fund Research (HFR). Der Trend dürfte sich im Oktober weiter verschärft haben. 2008 könnte für Hedgefonds »das bisher schlimmste Jahr« werden, fürchtet HFR-Chef Kenneth Heinz. Zurzeit müssen Hedgefonds aus zwei Gründen schnell Wertpapiere verkaufen. Viele wollen angesichts der schwankenden, unsicheren Märkte lieber Bares oder Geldmarktpapiere halten. Andere müssen ihre Investoren auszahlen. Zahlreiche Anleger fordern ihr Geld zurück. Meist dauert das Monate, doch das Geld müssen die Hedgefonds erst beschaffen. Es geht um viele Milliarden Dollar und einen Prozess, der sich selbst verstärkt: Je schneller die Kurse fallen, desto mehr Anleger kriegen Angst; je mehr Anleger ihr Geld zurückwollen, desto mehr müssen die Fonds verkaufen, die Kurse fallen weiter. Einige Fonds sollen bereits Beschränkungen erlassen haben, ob und wie viel Geld ihre Investoren zurückfordern können. Die Gefahr, die wirklich von Hedgefonds ausgeht, ist schwer einzuschätzen. Das liegt daran, dass ihre Arbeit intransparent und kaum beaufsichtigt ist. Aktien, Währungskurse, Rohstoffe, Arbitrage bei Anleihen – Hedgefonds investieren in vielen Dingen. Laut HFR unterstehen der Branche derzeit rund 1700 Milliarden Dollar – eine Summe, die beeindruckend ist, jedoch im Vergleich zur Kapitalisierung aller Börsen weltweit bescheiden: Bloß die 30 größten deutschen Unternehmen sind rund 500 Milliarden Euro wert. Zudem sind Hedgefonds nicht die einzigen, die Wertpapiere verkaufen müssen. Riesige Pensionsfonds wie Calpers aus Kalifornien handeln genauso. »Alle großen Fondsanbieter prügeln derzeit ihre Aktien raus«, ist in Frankfurt zu hören. »Jeder rennt im Moment zur Tür. Und die Tür ist relativ eng.« Schon kursieren zahllose drastische Prognosen: Hunderte, nein Tausende Hedgefonds stünden vor dem Kollaps, mancher glaubt, in sechs bis zwölf Monaten nur noch die Hälfte der Hedgefonds zu sehen. Sicher ist: »Der Markt steht vor einer gewaltigen Bereinigung«, sagt Klaus-Wilhelm Hornberg von der Privatbank Sal. Oppenheim. Für viele seien die Kredite nun zu teuer, das Geld sei zu rar, die Möglichkeit, Risiken zu streuen, zu gering geworden. Treffen wird es wohl vor allem kleine Hedgefonds unter 100 Mil-
lionen Dollar, die mehr als die Hälfte der Branche ausmachen. Überleben, so die Prognosen, werden die großen Fonds. Jene mit einer kritischen Masse, mit nachvollziehbaren Strategien, transparenten Geschäftsmodellen, nachweisbarem Erfolg und gutem Risikomanagement. Ihre Gebühren werden sinken, ebenso ihre Renditen: Selbst optimistische Szenarien rechnen mit künftig nur noch 10 bis 15 Prozent – weit weniger als in den Boomjahren. ARNE STORN
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Etlichen Ländern droht ein Währungskollaps
Der IWF ist wieder da, und das ist ein schlechtes Zeichen. Denn diese Washingtoner Einrichtung – der Internationale Währungsfonds – wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, um in Notfällen einzuspringen. Würde ein Land zum Opfer von Verwerfungen am Finanzmarkt und deswegen vorübergehend zahlungsunfähig werden, so sollte ihm die Staatengemeinschaft mit Krediten helfen. Der IWF sollte diese Hilfe koordinieren. Wie unmodern!, hieß es dazu oft in den vergangenen Jahren. Politiker und Experten bezweifelten, dass der IWF überhaupt noch eine Rolle habe: Schließlich lief die Weltkonjunktur rund, und die Finanzlage vieler Länder schien sich zu verbessern. Etliche von ihnen, darunter China, Brasilien oder Russland, hatten sogar gewaltige Devisenreserven angehäuft und verliehen ihrerseits Geld an andere. Doch in den vergangenen Wochen hat sich die Lage radikal geändert. Die Finanzkrise erreicht die ganze Welt, die Furcht vor zahlungsunfähigen Nationen und unkontrollierten Währungsabstürzen geht wieder um. Island – keineswegs ein Schwellenland – bekam nach dem Kollaps seiner verschuldeten Banken gerade eine IWF-Hilfszusage über zwei Milliarden Dollar. Am Wochenende stellte der IWF auch ein 16,5-Milliarden-DollarStützungsabkommen für die Ukraine in Aussicht; Hilfen werden ebenso für Ungarn vorbereitet, und Weissrussland und Pakistan verhandeln über Kredite. Der IWF wird überwältigt von der plötzlichen gewaltigen Nachfrage und überlegt nun, die Kreditvergabe unbürokratischer zu gestalten.
Der Welt, sagt der ehemalige IWF-Chefökonom Ken Rogoff, könnte nun »eine ganze Welle von Kreditausfällen in Schwellenländern« blühen. Etliche Länder, darunter Argentinien, Russland, Polen und Ungarn, erlebten in den vergangenen Wochen eine Kapitalflucht. Der Wert dort ausgegebener Aktien, Unternehmens- und Staatsanleihen fiel rapide und auch der Wert ihrer Währungen. Immer teurer wurde es für die Schwellenländer, sich am Kapitalmarkt Geld zu beschaffen: Mitte 2007 noch waren Staatsanleihen aus Schwellenländern im Schnitt nur 1,5 Prozentpunkte teurer als solche aus den USA. Jetzt sind es mehr als acht Prozentpunkte, hat die Bank JPMorgan Chase & Co. ausgerechnet. Wie aber konnte sich die Finanzlage in den Schwellenländern so rapide verschlechtern? Nur zum Teil hat das mit der tatsächlichen wirtschaftlichen Lage zu tun. Staaten wie Brasilien hängen stark vom Export verschiedener Rohstoffe ab, bei Russland sind es Gas und Öl, und Korea führt vor allem Industriegüter aus. Also leiden diese Länder, weil die wirtschaftliche Verlangsamung die ganze Welt erreicht hat und die Nachfrage nach ihren Exportgütern schwächt. Schwellenländer wie Kasachstan, Ungarn oder Lettland sind hoch verschuldet und schon deshalb gefährdet. Wieder andere wie Argentinien betreiben eine derart unbeständige Wirtschaftspolitik, dass Investoren sich kaum noch hineinwagen: Übers Wochenende wurden Regierungspläne bekannt, die private Altersvorsorge zu beschlagnahmen. Doch teilweise hat die Lage mit den wirtschaftspolitischen Entscheidungen der Länder gar nichts zu tun. An den Finanzmärkten herrscht Panik, so oder so. Da gehört es zu den Standardreflexen, Geld in die Heimat zurückzuholen – nach Europa oder in die USA. Das geht schneller denn je. »In den vergangenen Jahren ist eine Fülle neuer Finanzinstrumente auf den Markt gekommen, die sehr schnell Geld in die Schwellenländer geschleust haben«, sagt die Finanzexpertin Stephany Griffith-Jones von der Universität Columbia in New York. »Das Geld kann aber auch schnell wieder abgezogen werden.« Dass die Anleger jetzt vielfach zurück in reiche Länder streben, hat auch damit zu tun, dass etliche Regierungen neuerdings Staatsgarantien aufs Ersparte abgeben. Doch wehe, Schwellenländer tun so etwas oder beginnen etwa mit Verstaatlichungsprogrammen
à la USA oder Deutschland! Bei ihnen gelte das eher als ein schlechtes Zeichen, argumentiert der HarvardÖkonom Dani Rodrik und hält das für einen Ausdruck von Doppelmoral. »In Schwellenländern würde es die Flucht wahrscheinlich noch anheizen«, sagt er. Also ist auf Dauer Hilfe von außen nötig – so viel Hilfe, dass dem IWF die Mittel auszugehen drohen. Er hat schätzungsweise 209 Milliarden Dollar zur Verfügung, um Schwellenländern zu helfen. Zum Vergleich: Nach einem Bericht des Wall Street Journal haben allein im Oktober Russland, Mexiko, Brasilien und Indien zusammen 75 Milliarden Euro aus ihren eigenen Reserven aufgewendet, weil sie ihre Währungen stützen mussten. »Der IWF ist zu klein«, sagt Währungsexperte Brad Setser vom Council on Foreign Relations in New York. Er kann allerdings zusätzliche Mittel von Notenbanken und einzelnen Regierungen anfordern. Viele von ihnen, etwa die Europäische Zentralbank, beteiligen sich jedoch auch außerhalb des IWF schon lange an Rettungsmaßnahmen rund um die Finanzkrise. So erhielt Dänemark jetzt in einem Tauschgeschäft 12 Milliarden Euro, um die Versorgung des Landes mit der Gemeinschaftswährung sicherzustellen. Drohende Zusammenbrüche in fremden Ländern – das ist keineswegs nur ein Problem für diese Volkswirtschaften. Im Gegenteil: Eine Welle von Zahlungsausfällen würde insbesondere die europäischen Banken treffen. Die Europäer – vor allem Österreich, Deutschland, Spanien und Schweden – haben aufstrebenden Volkswirtschaften viel Geld geliehen. Nach Daten der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich hatten deutsche Banken Ende Juni gegenüber Schwellenländern Forderungen von 442 Milliarden Dollar. Das entspricht etwa 13 Prozent des hiesigen Bruttoinlandsprodukts. In den USA sind es nur 4 Prozent, in Japan 5 Prozent. Island schuldet den deutschen Banken 21 Milliarden Dollar, allein zwei Milliarden davon der BayernLB. Und besonders aktiv sind die heimischen Institute in Osteuropa. Der Pleitekandidat Ungarn etwa schuldet deutschen Banken 37 Milliarden Dollar, Polen schuldet ihnen 50 Milliarden Dollar und Russland 46 Milliarden Dollar. Ein Grund für so viel Auslandsengagement ist, dass die Banken deutsche Unternehmen bei ihren Geschäften dort unterstüt-
»Reagan wäre unzufrieden« DIE ZEIT: Professor Feldstein, Sie haben schon Ronald Reagan beraten. Was hätte Ihr früherer Chef dazu gesagt, dass die Wall Street jetzt quasi in staatlicher Hand ist? MARTIN FELDSTEIN: Er wäre sicher unzufrieden. ZEIT: Und was sagen Sie? FELDSTEIN: Es ist nicht sehr hilfreich, wenn sich der Staat an den Banken beteiligt. ZEIT: Nicht hilfreich? Man wollte den Zusammenbruch des Finanzsektors verhindern! FELDSTEIN: Dazu hätte es aber nicht diese Maßnahmen gebraucht. Man hätte zum Beispiel ganz einfach die Eigenkapitalvorschriften für die Banken lockern können – dann hätten die ihre Geschäfte mit weniger Kapital weiterhin betreiben können. ZEIT: Heißt das, Sie sind mit den Rettungsaktionen von Finanzminister Henry Paulson und Notenbankchef Ben Bernanke auch nicht glücklich? FELDSTEIN: Ich geben ihnen keine guten Noten. Sie haben zu spät reagiert und teilweise die falschen Dinge getan. Wir wissen doch spätestens seit Mitte 2006, dass die Immobilienpreise irgendwann sinken würden. Das sind doch alles kluge Leute in den Banken und in den Aufsichtsbehörden. Sie hätten sich rechtzeitig an einen Tisch setzen und nachdenken müssen. ZEIT: Hat diese Krise die Ideologie der Deregulierung blamiert?
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Nein, ich glaube, dass die Marktwirtschaft im Allgemeinen gut funktioniert … ZEIT: … im Augenblick aber nicht sonderlich gut. Stecken die USA in einer Rezession? FELDSTEIN: Meine persönliche Meinung ist: Ja. Diese Rezession wird zudem länger dauern und mehr Zerstörung anrichten als jede andere der Nachkriegszeit. ZEIT: Warum ist es diesmal schlimmer als bei den Abschwüngen in der jüngeren Vergangenheit? FELDSTEIN: Traditionell kommt es zu einem Abschwung, wenn die Federal Reserve die Zinsen anhebt, um einer Überhitzung der Wirtschaft zu verhindern. Wenn sie dann in der Krise die Zinsen wieder senkt, erholt sich die Konjunktur. Diesmal ist es aber anders: Die Störungen in den Kreditmärkten verhindern, dass der Impuls niedriger Zinsen auf die Wirtschaft übertragen werden kann. Außerdem reagiert der Immobilienmarkt nicht auf Zinssenkungen, hier hat sich eine Blase entwickelt, die jetzt platzt. ZEIT: Die Notenbank ist also machtlos. Wer muss stattdessen eingreifen? FELDSTEIN: Die Wurzel des Problems ist der Immobilienmarkt. Es ist normal, dass die Hauspreise sinken, wir hatten ja eine Blase. Aber jetzt droht eine regelrechte Abwärtsspirale. Die Menschen können ihre Kredite nicht zurückzahlen, es kommt FELDSTEIN:
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Wirtschaftskrise: Die Finanzmärkte
Foto [M]: Mauritius
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Wechselkurse unter Druck So viele US-Dollar bekommt man noch für diese Währungen Russischer Rubel
Argentinischer Peso
0,042
0,330
0,040
0,320
0,038
0,310
0,036
0,300 Aug. Sept. Okt.
Aug. Sept. Okt.
Ungarischer Forint
0,0065
Indische Rupie
0,0230
0,0220 0,0055 0,0210
0,0045
0,0200 Aug. Sept. Okt.
Aug.
ZEIT-GRAFIK/Quelle: Thompson Datastream
Sept. Okt.
Stand: 28.10. 2008
Passanten vor der BÖRSE IN BUDAPEST. Das Land Ungarn schuldet deutschen Banken rund 37 Milliarden Dollar
Das Geldwesen ist noch lange nicht gerettet. Eine Übersicht über die größten Gefahren, die Banken, Anlegern und der Weltwirtschaft jetzt drohen
zen. Auch müssen die Institute Geld im Ausland anlegen, weil die Deutschen so viel sparen und vergleichsweise wenig im eigenen Land investieren. THOMAS FISCHERMANN UND MARK SCHIERITZ
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Spekulanten bringen das Weltwährungssystem durcheinander
In den vergangenen Jahren haben viele Spekulanten ein ausgefuchstes, weltweites Spiel getrieben: den sogenannten Carry-Trade. Sie liehen sich Geld in Japan, wo die Zinsen im internationalen Vergleich besonders niedrig waren, und investierten es in Hochzinsländern. Die Differenz strichen sie ein. Es gibt nur extrem grobe Schätzungen, nach denen weltweit Käufe von Aktien, Anleihen und anderen Finanzinstrumenten im Wert von 200 bis 1000 Milliarden Dollar durch in Japan geliehenes Kapital finanziert wurden. Eine Spekulation in so großem Stil, dass die japanische Währung ganz schön aus der Balance kam. Sie verlor in den vergangenen vier Jahren stetig an Wert: Die Spekulanten verkauften ja Yen und tauschten sie gegen amerikanische Dollar, ungarische Forint oder südafrikanische Rand. Je mehr Geld aus Japan abgezogen wurde, desto stärker fiel der Yen – und desto lukrativer wurden damit die Tauschgeschäfte. Im Frühjahr 2007 war er so schwach, dass die Finanzminister und Notenbankchefs der führenden Industrienationen (G 7) Alarm schlugen. Am Montag warnten die G 7 wieder – diesmal aber vor einer zu starken Aufwertung des Yen. Was ist geschehen? Die Angst vor einem Kollaps in den Schwellenländern hat viele Investoren veranlasst, ihr Geld dort abzuziehen und es in sichere Währungen wie Yen, Dollar, Euro oder Schweizer Franken zu transferieren. Überdies brauchen einige Hedgefonds und Banken dringend Geld, um Löcher in ihren Bilanzen zu stopfen. Wieder haben die Spekulanten das Sagen. Die Auflösung ihrer Geschäfte bestimmt die Kursentwicklung des Yen, nicht die wirtschaftlichen Grundlagen in Japan und der Welt. Die rasche Aufwertung belastet aber sehr wohl auch die reale Wirtschaft, die Welt der Fabriken, Jobs und Supermärkte. Schließlich ist Japan stark
vom Export abhängig – und der schnell erstarkte Yen macht japanische Produkte im Ausland plötzlich viel teurer. Also könnte die japanische Wirtschaft jetzt selbst in eine Wirtschaftskrise stürzen, statt als Konjunkturlokomotive bei der Krisenrettung mitzuhelfen. Und die Zeit des billiges Geldes aus Japan ist ebenfalls vorbei. MARK SCHIERITZ
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Bald könnten auch Kreditversicherungen platzen
Eine besonders gefährliche Blase am Weltfinanzmarkt ist bisher noch gar nicht geplatzt: die der Kreditderivate, auf Englisch Credit Default Swaps genannt, abgekürzt CDS. Sie waren jahrelang der am schnellsten wachsende Bereich des Finanzmarktes. Und ursprünglich sollten sie den Finanzmarkt nicht gefährlicher, sondern sicherer machen: CDS sind nämlich eine Art Versicherung für Wertpapiere. Man konnte sich damit beispielsweise gegen den Ausfall einer Anleihe versichern. Die Probleme begannen damit, dass der Versicherungsanbieter im Gegensatz etwa zu Haftpflicht- oder Feuerschutzversicherungen keine Reserven für den Schadensfall bilden musste. Man konnte CDS also ohne Kapitaleinsatz ausgeben, und man konnte damit spekulieren. Bald wurden sie auch von Marktteilnehmern gekauft, die gar keine Anleihen besaßen, also gar nichts versichern wollten. Es ging nur ums Zocken. Seit ihrer Erfindung Ende der neunziger Jahre schwoll das Volumen ausstehender CDS auf 55 000 Milliarden Dollar an. Was aber wird, wenn jetzt massenhaft Anleihen platzen und die Versicherer eigentlich zahlen müssen? Wer wie viel an wen bezahlen muss, weiß niemand. CDS werden in hoher Zahl von internationalen Versicherern ausgegeben und erreichen damit auch diesen Teil des Finanzmarkts. Die Branche ist völlig unreguliert. Den bisher größten Stresstest, die Insolvenz von Lehman Brothers, haben die CDS-Anbieter überstanden, aber es kommen noch weitere. Demnächst sind die CDS-Zahlungen für die untergegangenen isländischen Banken und die größte US-Sparkasse Washington Mutual dran. HEIKE BUCHTER
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Amerikas Verbraucher stecken in der Schuldenfalle
Noch eine Finanzmarktkrise bahnt sich in den Vereinigten Staaten an: Die Ausfälle bei den Kreditkarten steigen, seit Monaten schon. Im zweiten Quartal dieses Jahres mussten amerikanische Geschäftsbanken 5,74 Prozent aller ausstehenden Kreditkartenschulden abschreiben. Das summierte sich auf etwa 50 Milliarden Dollar, die die Banken wahrscheinlich nicht wiedersehen. Für 2009 erwarten Marktbeobachter sogar eine Ausfallquote von mehr als 10 Prozent. Diese Ausfälle können zwar nicht die Dimension der Hypothekenkrise erreichen – insgesamt stehen Kreditkarteninhaber in den Vereinigten Staaten mit rund 1000 Milliarden Dollar in der Kreide, während Hausbesitzer rund 10 000 Milliarden Dollar an offenen Krediten ausstehen haben. Doch die Kreditkartenausfälle treffen bereits geschwächte Banken. Zudem galten Kreditkarten als ein Geschäftsfeld, mit dem Banken zuletzt noch gutes Geld verdienen konnten: Das Firmenkundengeschäft liegt längst brach, mit Baudarlehen lässt sich auf absehbare Zeit kein Geschäft mehr machen, und den Aktienbrokern ist zuletzt die Kundschaft weggelaufen. Die Kreditkartenfirmen stecken zurzeit gleich doppelt in der Klemme. Die Kredite, die sie an ihre Kartenkunden vergeben, müssen sie ja auch wieder am Finanzmarkt refinanzieren, und das ist zuletzt deutlich teurer geworden. In der Bankenwelt vergibt niemand mehr bereitwillig Kredite, und wenn doch, dann nur zu hohen Kosten. Den Banken wird nichts anderes übrig bleiben, als weniger Kreditkarten auszugeben und ihre Kredite vorsichtiger zu gewähren. Das wird zur Folge haben, dass die US-Bürger weniger häufig die Karte zücken. Und hier wird die Kreditkartenkrise ihre gravierendsten Folgen haben: Die amerikanische Konjunktur blieb ja jahrelang nur deshalb in Fahrt, weil die amerikanischen Konsumenten bereitwillig weiter einkauften und hohe Schuldenstände auf ihren Karten tolerierten. Wenn sie damit jetzt aufhören, treiben sie Amerikas Wirtschaft noch tiefer in die Rezession. HEIKE BUCHTER
Der US-Ökonom Martin Feldstein kritisiert die Teilverstaatlichung der Banken – und empfiehlt ein Ausgabenprogramm zur Stützung der Konjunktur
Foto: Vincent van den Hoogen/laif
zu Zwangsversteigerungen, und die Preise fallen noch weiter. Das belastet wiederum die Banken. Hier muss etwas passieren. ZEIT: Was denn? FELDSTEIN: Wir können und müssen diesen Abwärtskreislauf stoppen – indem der Staat eingreift. Um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, reicht das aber nicht aus. Wir brauchen zusätzlich ein massives Konjunkturprogramm.
MARTIN FELDSTEIN lehrt in Harvard Ökonomie und hat früher Ronald Reagan beraten ZEIT: Wie viel Geld muss man dafür in die öffentliche Hand nehmen? FELDSTEIN: Die Präsidentschaftskandidaten sprechen über Programme in Höhe von etwa 60 Milliarden Dollar. Das ist nicht genug. Im Übrigen kommt es nicht nur auf die Summe an, sondern auch auf die Art, wie das Geld ausgegeben wird. ZEIT: Was schlagen Sie vor? FELDSTEIN: Klar ist: Steuererleichterungen wirken nicht. Das haben wir bei der letzten Entlastungs-
runde im Sommer gesehen. Die Bürger bekamen zwar mehr Geld in die Tasche, aber über 80 Prozent der Mittel wurden gespart oder zur Schuldentilgung verwendet. Dieses Geld hat die Wirtschaft nicht stimuliert. Wir müssen also sicherstellen, dass das Geld schnell ausgegeben wird. Am besten über öffentliche Ausgabenprogramme. ZEIT: Wir hören in Deutschland immer, dass derlei Programme nicht funktionieren. Jetzt spricht sich ausgerechnet der ehemalige Reagan-Berater Martin Feldstein dafür aus? FELDSTEIN: Das Problem in der Vergangenheit war, dass es sehr lange dauerte, solche Maßnahmen zu organisieren. Sie wirkten daher oft erst, als die Krise schon wieder vorbei war. Wenn man jetzt investiert, dann innerhalb der nächsten zwölf Monate – und in Projekte, die ohne Staatshilfen nicht ausgeführt würden. ZEIT: Hat uns nicht die amerikanische Politik des billigen Geldes und der immer neuen Konjunkturpakete den Schlamassel erst beschert? So entstand eine Blase nach der anderen. FELDSTEIN: Richtig ist: Wir zahlen den Preis für eine exzessive Verschuldung. Nichtstun ist aber keine Alternative, dazu ist die Lage zu ernst. ZEIT: Ist Alan Greenspan schuld an der Misere? FELDSTEIN: Die Federal Reserve hat die Zinsen zu lange zu niedrig gehalten. Das hat dazu beigetra-
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gen, dass sich am Immobilienmarkt eine Blase gebildet hat. Es geht aber nicht nur um die Zinspolitik. Die Fed – und die anderen Aufsichtsbehörden – hätte diese Blase durch regulatorische Eingriffe bekämpfen, die Kreditvergabe bremsen können. Und es gibt auch noch andere Schuldige: die Investmentbanken mit ihrer hohen Verschuldung, die Rating-Agenturen. ZEIT: Greenspans Nachfolger Bernanke sieht die Schuld auch bei den asiatischen Schwellenländern, die ihre enormen Devisenreserven in den USA angelegt haben. Auch so kam billiges Geld nach Amerika und drückte die Zinsen. FELDSTEIN: Diesen Effekt gibt es, aber wir können nicht den Chinesen die Verantwortung in die Schuhe schieben. Unsere Zinsen waren niedrig, weil die Federal Reserve es so wollte. ZEIT: Wenn diese Krise überwunden ist, müssen sich die USA auf eine längere Flaute einstellen? Bis die Exzesse korrigiert sind? FELDSTEIN: Ich bin da optimistisch. Für die längerfristigen Wirtschaftsaussichten sind vor allem das Bevölkerungswachstum und die Produktivität entscheidend. Ich glaube, dass die Wirtschaft nach wie vor hochdynamisch ist, dass also die Produktivität weiter deutlich zulegen wird. DAS GESPRÄCH FÜHRTE MARK SCHIERITZ
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»Jetzt ist die Rente sicher« DIE ZEIT: Kein Ökonom hat die gesetzliche Rentenversicherung so hart kritisiert wie Sie. Sie wollten bei der Altersvorsorge stärker auf Kapitalerträge setzen. Jetzt ist Finanzkrise. Gut, dass die Politik Ihrem Rat nicht gefolgt ist, oder? BERND RAFFELHÜSCHEN: Der Ratschlag aus der Wissenschaft war nie: Lasst uns bei der Altersvorsorge allein auf Aktien vertrauen. Vor zehn Jahren beruhte die Alterssicherung im Land zu etwa 80 Prozent auf dem gesetzlichen Umlagesystem. Nur 20 Prozent der Alterseinkommen stammten aus Kapitalerträgen. Wie andere Ökonomen auch wollte ich ein Mischungsverhältnis, das langfristig eher bei 40 zu 60 liegt. Darauf steuern wir nach den vergangenen Rentenreformen auch zu. ZEIT: Und darüber freuen Sie sich immer noch? RAFFELHÜSCHEN: Unbedingt. Das Umlagesystem ist robust gegenüber Finanzmarktkrisen, aber anfällig für demografische Veränderungen. Bei Kapitalerträgen ist es umgekehrt. Um uns vor beiden Risiken zu schützen, müssen wir beide Systeme kombinieren. ZEIT: Alterssicherung nach US-Vorbild, eine Mischung aus privatem Sparen, betrieblichen Pensionsfonds und Staatshilfen für Bedürftige, finden Sie also nicht erstrebenswert? RAFFELHÜSCHEN: Nein, es ist gut, dass wir in Deutschland nicht von einem Zustand der Überregulierung in einen Zustand der Deregulierung gewechselt sind. Das ist das US-Modell – erst viel zu viele Vorschriften, dann viel zu wenige. Heute vergisst man leicht, wie reguliert die Finanzmärkte in den USA früher waren. Deutschland schreibt dagegen genau vor, wie hoch zum Beispiel der Aktienanteil bei der Riester-Rente sein darf.
Diese Vorschrift wollten Sie doch lockern. Es leuchtet mir in der Tat nicht ein, dass Lebensversicherungen das Geld ihrer Kunden großenteils in Staatspapieren investieren. Die sind nämlich langfristig auch anfällig für demografische Probleme. Ihre Entwicklung hängt ab vom Steuerzahler der Zukunft. ZEIT: Was genau soll sich ändern? RAFFELHÜSCHEN: Bei der Riester-Vorsorge darf der Aktienanteil maximal 30 Prozent sein. Doch die Versicherungen sind zurückhaltender, als sie sein müssten. Tatsächlich liegt die Refinanzierung über Aktien momentan im Schnitt bei etwa 7 Prozent. Deshalb habe ich immer zu den Versicherern gesagt: Der Aktienanteil bei euren Produkten ist zu niedrig. Und dabei bleibe ich. ZEIT: Die Rürup-Rente funktioniert anders: Wer vorsorgt, vermindert in der Gegenwart seine Steuerlast und muss dafür im Alter Abgaben auf seine Kapitalerträge zahlen. Für solche Anlagen hat der Gesetzgeber wenig Vorschriften gemacht. RAFFELHÜSCHEN: Das ist wahr. Die Riester-Rente ist gemacht für den kleinen Mann, die RürupRente für Gutverdienende, die nicht nur den Lebensstandard sichern wollen. Einem selbstständigen Geringverdiener würde ich nicht zur RürupRente raten. Zu riskant. ZEIT: Rürup-Rente klingt aber nach einer sicheren Sache. Macht die Regierung, was sie den Banken vorwirft – berät sie mangelhaft? RAFFELHÜSCHEN: Natürlich haben auch RürupSparer falsche Investitionsentscheidungen getroffen. Natürlich sind auch einige von ihnen falsch beraten worden. Aber ist der Staat schuld? Das sollten die Deutschen aus der Finanzmarktkrise lernen: Es ist nicht schlecht, mit Aktien oder ZEIT:
RAFFELHÜSCHEN:
Fonds vorzusorgen. Es ist schlecht, ausschließlich darauf zu setzen. ZEIT: Denken Sie selbst über Altersvorsorge und Finanzmärkte genauso wie vor der Krise? RAFFELHÜSCHEN: Natürlich habe auch ich dazugelernt. Aber da geht es um Details. Ansonsten finde ich die aktuelle Aufregung übertrieben. Die Medien sollten sich fragen, ob sie momentan nicht eine Massenpanik vorantreiben. ZEIT: Was haben Sie gelernt? RAFFELHÜSCHEN: Wir haben unterschätzt, was Vertrauen für eine Geldwirtschaft bedeutet. Seitdem wir Menschen Muscheln benutzen, um uns gegenseitig zu bezahlen, gehört Vertrauen zum Wirtschaften. Wir haben in Deutschland sehr auf das Vertrauen der Anleger geschaut, aber zu wenig auf das wechselseitige Vertrauen im Bankensektor. Nun muss sich etwa bei den Rating-Agenturen etwas ändern. Die haben bei faulen Krediten signalisiert: Alles in Ordnung. ZEIT: Wie lässt sich das verhindern? RAFFELHÜSCHEN: Beim Rating brauchen wir mehr Staat: eine öffentliche Instanz, die objektiv Auskunft gibt. ZEIT: Soll der Staat nur als Regulierer oder auch als Eigentümer stärker werden?
Dem Staat gehört in Deutschland die Hälfte des Bankensektors. Bei der Kundenzahl liegen die Sparkassen sogar vor den Privatbanken. Das hat nicht geholfen. Also: Nein. ZEIT: Was lehrt das für die Zukunft? RAFFELHÜSCHEN: Ach, es ist jedenfalls unredlich, mit dem Finger auf ein paar Vorstände zu zeigen. Wichtiger scheint mir, zu schauen, wie Politiker ihre Ämter in den Aufsichtsgremien öffentlicher Banken wahrnehmen. ZEIT: Auch Oskar Lafontaine sitzt beispielsweise im Verwaltungsrat der KfW. RAFFELHÜSCHEN: Lafontaine kann wenigstens eine Bilanz lesen, was allerdings im konkreten Fall die Dinge auch nicht besser gemacht hat. Aber damit haben andere Politiker in diesen Gremien bereits Schwierigkeiten. ZEIT: Also: Keine Politiker mehr in die Banken-Aufsichtsräte? RAFFELHÜSCHEN: Nur solche, die genug von der Sache verstehen. ZEIT: Erwarten Sie, dass die gesetzliche Rentenversicherung durch die Krise Ansehen gewinnt? Und ehrlich: Ärgert Sie das? RAFFELHÜSCHEN: Das ärgert mich überhaupt nicht. Wir alle können stolz auf ein Rentensystem sein, das mehr als hundert Jahre funktioniert hat. Ich wollte zusätzlich die Kapitaldeckung stärken. Das ist geschehen. Und deshalb ist unsere Rente jetzt wirklich sicher. RAFFELHÜSCHEN:
DIE FRAGEN STELLTE ELISABETH NIEJAHR
Die Heimprämie Die Einführung des Elterngeldes war eine der überraschendsten Reformen der Großen Koalition. Nun liegt eine erste Bilanz vor VON ELISABETH NIEJAHR
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s ist nicht ungewöhnlich, dass Parteien vor geld beziehen, bekommen weniger als 500 Euro der Wahl Geld für Sozialleistungen verspre- vom Staat. Nicht einmal jede zwanzigste erhält chen, die nachher doch nicht eingeführt mehr als 1500 Euro im Monat. Bei den Männen ist das allerdings anders. Die werden. Zu den Überraschungen von Angela Merkels ersten Regierungswochen gehörte die Tatsache, sogenannten Vätermonate sind also für den Staat dass das Gegenteil geschah: Eine der weitreichends- teurer: Jeder fünfte Mann bekommt zwischen ten Reformen der Großen Koalition, die Einfüh- 1500 und 1800 Euro. Dafür wird das Geld meisrung des einkommensabhängigen Elterngeldes und tens nur zwei Monate gezahlt. Das gängigste insbesondere die Förderung von sogenannten Vä- Partnerarrangement lautet: Sie bleibt die ersten termonaten, kam ohne jedes Wahlgetrommel. zwölf Monate beim Kind, er die folgenden zwei Bleiben beide Elternteile nach der Geburt eines Monate. Aber immerhin jeder dritte ElterngeldKindes beim Nachwuchs, zahlt der Staat mehr, so Vater verabschiedet sich für mehr als zwei Monate, jeder sechste sogar für die Höchstdauer von das Prinzip. Dass sie sich dermaßen in die Lebensplanung zwölf Monaten. Das Familienministerium hat für die Unterder Familien einmischt, hätten viele Experten einer unionsgeführten Regierung nicht zugetraut. suchung auch erfragen lassen, warum sich Väter Für das Elterngeld warb nur die SPD, nicht die gegen Elterngeld-Monate entscheiden. Ergebnis: Union im Wahlkampf. Die Vätermonate hatte Nur jeder fünfte findet, dass sich besser die Frau um das Kind kümmern keine der Volksparteien im sollte. 68 Prozent behaupProgramm. Nun steht beiten, dass sie ihre Arbeitszeit des im Gesetz – und noch aus beruflichen oder finanimmer haben sich nicht ziellen Gründen nicht veralle Unionswähler an die kürzen könnten. Die ReIdee gewöhnt. Auch desfinanziert durch das gierungsstudie gibt aber halb hat FamilienministeElterngeld, haben im natürlich keine Auskunft rin von der Leyen eine ersdarüber, wie häufig diese te, bislang unveröffentlichJahr 2007 mehr als Antwort stimmt. te Bilanz des Elterngeldes 100 000 Männer Das gilt auch für die erstellen lassen. Aussagen der Unternehmer Abgesehen von einem beantragt. Fast jedes in einer Umfrage, die in erwartbar positiven Gedie Untersuchung einfloss. samturteil kommt der Besechste Neugeborene Einige davon klingen einricht zu einigen bemerkenshat also einen Vater, fach zu schön, um wahr zu werten Ergebnissen. So sorsein. So erklären 71 Proge das Elterngeld dafür, dass der zumindest zeitweise zent aller befragten Chefs, Mütter im Jahr nach der zu Hause bleibt dass »man als Arbeitgeber Geburt eines Kindes länger eine Mitverantwortung daund häufiger zu Hause bliefür hat, den eigenen Beben. So ein Befund könnte schäftigten die Entscheiden unionsinternen Streit über die richtige Familienpolitik verändern. dung für Kinder zu erleichtern«. Sollten die Unternehmen also gar nichts dazu Schließlich war das Elterngeld bisher gerade von der CSU vor allem deshalb kritisiert worden, beigetragen haben, dass die Geburtenrate in weil es Frauen vernachlässige, die sich ausschließ- Deutschland immer noch im internationalen lich um ihre Familie kümmern wollen. Gerade Vergleich sehr niedrig ist – und viele Eltern es konservativen Politikern behagte die Vorstellung schwierig finden, Job und Elternschaft zu vereinnicht, ihre Regierung trage dazu bei, dass Mütter baren? So ganz traut offenbar selbst Familienministerin Ursula von der Leyen den freundlikleine Kinder wegen ihres Jobs allein ließen. Doch offensichtlich gibt es eine ganze Menge chen Erklärungen nicht. Anfang der Woche kriFrauen, die ohne die neue staatliche Leistung tisierte sie »die Hürden in den Köpfen vieler schon nach sechs oder zehn Monaten in den Job Personalchefs«. Ohnehin ist interessant, was nicht im offizielzurückgekehrt wären, so aber beschließen, den maximal geförderten Zeitraum auszuschöpfen. len Elterngeld-Bericht beschrieben wird – etwa »Das Elterngeld bietet Familien den finanziellen die Probleme vieler Freiberufler. Und ungeklärt Rückhalt, um im ersten Jahr nicht arbeiten zu bleibt leider auch, warum ausgerechnet im konmüssen«, heißt es in dem Bericht. Zumindest in servativen Bayern das Interesse der Männer an den ersten Monaten bringt die neue Geldleistung den staatlich subventionierten Vätermonaten am Mutter und Kind also näher zusammen, statt sie größten ist. Eine mögliche Erklärung ist die besonders gute Arbeitsmarktlage: Wo die Jobs als zu trennen. Die Untersuchung widerlegt auch die gängige sicher gelten, trauen sich die Mitarbeiter mehr. Behauptung, das Elterngeld sei in erster Linie ein Wenn das so ist, erklärt es auch, warum die TeilInstrument für gut verdienende Akademikerin- zeitväter längst noch nicht bei allen Chefs wohlnen. Mehr als die Hälfte aller Frauen, die Eltern- gelitten sind.
Vätermonate,
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BERND RAFFELHÜSCHEN lehrt Finanzwissenschaften an der Universität Freiburg
Bernd Raffelhüschen war der größte Streiter für private Altersvorsorge. Und heute? Ein Gespräch
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Hoffnung aus dem Hinterland In China schließen 10 000 Fabriken, weil die Amerikaner keine Fahrräder, Spielzeuge und Textilien mehr kaufen. In ihrer Not entdeckt die KP neue Konsumenten: Die Chinesen
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echs Jahre lang, bis 2001, war Xu Kuangdi Bürgermeister von Shanghai. Wer damals als ausländischer Staatsgast China besuchte, dem zeigte ein strahlender Xu die neue, imposante Skyline seiner Stadt. Xu war Chinas unvergesslicher Fremdenführer. Heute ist er Präsident des chinesischen Industrieverbandes – und hat das öffentliche Lächeln verlernt. Mit düsterem Blick steht er an diesem Montag vor einem riesigen Lilien- und Chrysanthemenbouquet im Großen Ballsaal des Beijing-Hotels am Tiananmen-Platz in Peking und eröffnet das Weltforum der Industrieverbände. Xu spricht von der »Instabilität der Weltwirtschaft«, warnt vor den Folgen der internationalen Finanzkrise, »die sich erst noch zeigen werden«. Nun müsse die »Welt als Ganzes« reagieren, sagt Xu. Ausdrücklich bezieht er China in die Krise mit ein – und hat allen Grund dazu. Die Börse in Hongkong erlebt derzeit ihre größte Baisse seit der Asienkrise im Jahr 1997. Noch beunruhigender sind für Xu die Nachrichten aus seinen Branchenverbänden: Nur noch zwei Prozent Wachstum meldet die chinesische Stahlindustrie für das Gesamtjahr 2008 – nach Jahren zweistelliger Wachstumsraten. Auch das rasante Wachstum der chinesischen Autoindustrie ist jäh gebremst: Für 2009 erwartet die Branche bei den Verkäufen gerade noch Nullwachstum. Kohleproduktion und Stromverbrauch gehen ebenfalls zurück. »Ich habe die Schärfe der Krise so nicht erwartet«, räumt Xu ein.
zimmerwohnung im ersten Stock eines neuen Apartmenthauses in der südchinesischen Küstenmetropole Shenzhen nahe Hongkong. In diesem Oktober sanken ihre Monatslöhne um 40 Prozent, statt umgerechnet 500 Euro verdienen Zhang und seine Kollegen jetzt nur noch 300 Euro. Der Grund: Zhangs Firma Chuangyi produziert für den amerikanischen Markt. Dort ist die Nachfrage für Spielzeug eingebrochen. Im Oktober gab es für Zhangs Fabrik bisher keine neuen Aufträge. »Ich habe Angst, wir alle haben Angst, wir reden auch darüber«, sagt Zhang. Seine Chefs haben angekündigt, dass noch bis Jahresende 2,5 Millionen Arbeiter in der Region um Shenzhen ihren Job verlieren werden. Er spart deshalb, so viel er kann. Er geht am Wochenende nicht mehr in den Park, wo er früher immer Geld für Getränke und Essen ausgegeben hat. »Man muss sich irgendwie durchschlagen, wenn das Schlimmste kommt«, sagt Zhang, und es hört sich an, als rechne er genau damit. Die gleiche Rechnung macht auch Zhou Qiren auf. Nur Angst hat er dabei nicht. Der Spitzenökonom am China-Zentrum für Wirtschaftsforschung in Peking glaubt an die Überlebenskünste der Durchschnittsbürger. »Die Leute werden jetzt harte Zeiten erleben, in den nächsten sechs Monaten wird die Arbeitslosigkeit hochschnellen, aber jeder Wanderarbeiter hat ein paar Tausend Yuan gespart und wird die Krise irgendwie überbrücken«, sagt Zhou. Für die Zeit danach, die seiner Auffassung nach schon Mitte 2009 beginnen könne, sieht er Chancen auf Besserung. Zhou redet die Probleme nicht klein. Chinas Wirtschaft sei bedroht, sagt er, weil Export- und Importgeschäfte 60 Prozent des Bruttosozialproduktes umfassten. Nun würde die Nachfrage im Westen infolge der Finanzkrise sinken, und das chinesische Exportwachstum habe bereits in den ersten acht Monaten des Jahres um acht Prozent nachgelassen. »Ich war im Oktober in Südchina. Überall schließen Fahrrad-, Textil- und Spielzeugfabriken«, berichtet Zhou. Doch die Schuld dafür gibt der Ökonom nicht allein den jüngsten Krisenentwicklungen: Die chinesischen Unternehmen hätten es sich in den letzten Jahren bequem gemacht, sagt Zhou. Sie hätten mit einem festen Wechselkurs zum Dollar rechnen können und sich deshalb ausschließlich auf das Exportgeschäft konzentriert. Sie hätten überinvestiert und würden jetzt überproduzieren. Deshalb stehe man nun vor einer neuen Herausforderung: »Wir haben die Wahl: Entweder wir machen weiter nur Export, Export, Export und richten uns auf eine lange Rezession ein, oder wir schaffen ein neues Gleichgewicht zwischen Export- und Binnenwirtschaft«, sagt Zhou. In diesem neuen Zwang zur Verlagerung von Investitionen und Produktion auf den Binnenmarkt erkennt Zhou Chinas Chance. Er applaudiert jenen Unternehmern, die schon heute ihre Fabriken von den teureren Küstenstandorten für den Export weiter westlich in billigere Hinterlandprovinzen wie Anhui, Hubei oder Sichuan verlegen, um wieder, wie vor der Marktöffnung vor 15 Jahren, stärker für den Binnenmarkt zu produzieren. Dort, in Metropolen wie Wuhan und Chongching, wachse die Wirtschaft auch dann noch um 20 Prozent, wenn im nächsten Jahr das Gesamtwachstum wie erwartet auf acht Prozent zurückfalle. »In Ländern wie Deutschland ist alles schon perfekt, jede Dorfstraße ist asphaltiert, jedes Haus geheizt«, sagt Zhou. In China sei das anders. Man müsse nur Peking verlassen, schon sei die Nachfrage nach besserer Infrastruktur und neuen Wohnungen überall greifbar. Der Staat müsse nur etwas nachhelfen, sagt Zhou und fordert deshalb eine neue Pekinger Investitionspolitik, die Straßen- und Wohnungsbau fördere. Ebenso wichtig für die Ankurbelung der Binnenkonjunktur sei die gerade verabschiedete Landreform, die es den chinesischen Bauern leichter
Immerhin hängen noch Stellenanzeigen an der Wand: Ein WANDERARBEITER in Nanjing auf Arbeitssuche – der Markt wurde eigens für die Billiglöhner geschaffen
mache, ihr im Prinzip unverkäufliches Land über Pacht- und Leasingverträge für die Urbanisierung zur Verfügung zu stellen. Damit könne eines der größten Hindernisse für die Entwicklung des Binnenmarktes beseitigt werden, sagt Zhou. Sollte die Regierung außerdem seine Vorschläge für den Wohnungs- und Straßenbau erhören, sieht der Ökonom Chinas Wirtschaft bereits in einem Jahr wieder auf einem nachhaltigen Wachstumspfad. Tatsächlich steuert Peking bereits kräftig um. Bis vor drei Monaten sorgte sich die Regierung noch maßgeblich um zu starke Preissteigerungen und ein zu schnelles Wachstum. Inzwischen ist die Inflation von acht Prozent im Februar auf nur noch vier Prozent und das bis zum Sommer noch zweistellige Wachstum auf neun Prozent gefallen. Die chinesische Zentralbank senkte daraufhin Anfang des Monats im Einklang mit anderen Zentralbanken die Zinsen. Anschließend gab Peking einen neuen Eisenbahnplan bekannt, der einen schnelleren Ausbau des Schienennetzes von 2000 auf etwa 5000 Kilometer vorsieht. Die Zentralregierung nannte außerdem 18 Lokalregierungen, die in diesen Tagen neue Programme für den Wohnungsbau auflegen. Jing Ulrich, Chefökonomin für China bei der US-Investmentbank JPMorgan, zweifelt nicht an der Wirksamkeit des Regierungsprogramms. »Trotz der Wahrscheinlichkeit einer globalen Rezession besitzt Chinas Führung die Fähigkeit und Entschlossenheit, seine Wirtschaft neu zu starten«, sagt sie. Solche Prognosen aber lassen die Erwartungen an China weltweit in den Himmel schießen. Der renommierte Ökonom Jesper Koll, Chef der Beratungsfirma Tantallon Research in Tokyo, sieht China in einer einzigartigen Position in der Weltwirtschaft. »Es muss Vertrauen in neues Wachstum her, sonst ist es bald kein Blödsinn mehr, von einer Depression zu sprechen«, sagt Koll. Nur China könne derzeit dieses Vertrauen erzeugen.
»Ein Nichtschwimmer kann anderen nicht das Leben retten« Dafür aber hört man von den Verantwortlichen in Peking relativ wenig. Die eigene Sache gut zu machen sei der größte Beitrag Chinas, hat Parteiund Staatschef Hu Jintao die Welt wissen lassen. Die Chinesen würden sich hinter den Europäern verstecken, hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Asien-Europa-Gipfel in Peking am vergangenen Wochenende den Eindruck. Da bemühte sie sich um chinesische Unterstützung für eine Reform der internationalen Finanzaufsicht. Ökonom Zhou Qiren gibt der Kanzlerin recht: »China muss jetzt aktiver sein als früher.« Immerhin geht Zhou jetzt davon aus, dass mit Wen Jiabao der Regierungschef am Mitte November in Washington geplanten Weltfinanzgipfel teilnehmen wird. Als Merkel in Peking fragte, wer China in Washington vertrete, erhielt sie keine Antwort. Doch das Zögern der KP-Spitze ist auch verständlich. Zu groß ist die Gefahr, der Verlockung von Arroganz und Überheblichkeit nachzugeben. Xu Kuangdi tut im Großen Ballsaal des Beijing-Hotels genau das, wenn er darüber scherzt, dass China vielleicht den amerikanischen Kapitalismus retten könne. Sein Vize beim Industrieverband, Wang Qinping, spricht eine ganz andere Sprache: »Von wegen Hilfe leisten! China ist dazu nicht in der Lage. Ein Nichtschwimmer kann anderen nicht das Leben retten«, sagt Wang. Schon seien 10 000 chinesische Fabriken pleitegegangen. Auch würden Chinas Devisenreserven von 1,9 Billionen Dollar maßlos überschätzt. »Das Geld gibt es nur in den Büchern, und die Reserven sind durch Fehlinvestitionen in den USA stark geschrumpft«, sagt Wang. Er glaubt, dass die Finanzkrise ein Weltereignis von historischer Tragweite ist. »Die Karten werden neu gemischt«, sagt er, »aber bestimmt nicht von China.«
Neue Zeiten, neue Probleme
ZEIT-GRAFIK/Quelle: Financial Times Deutschland
Doch das ist nur die offizielle Interpretation der Dinge. Später am Abend im Großen Ballsaal kommt Xu mit westlichen Unternehmern ins Gespräch und erzählt ihnen einen neuen Witz: Vor 60 Jahren, mit der Bauernrevolution von 1948/49, hätten die Chinesen den Kapitalismus abgeschafft, um China stark zu machen. Vor 30 Jahren, mit den Marktreformen von 1978, hätten die Chinesen den Kapitalismus wieder eingeführt, um China stark zu machen. Und heute, in der Finanzkrise 2008, würden die Chinesen den Kapitalismus in den USA retten, um China stark zu machen. Mit seinem Hohn verrät Xu, dass die Pekinger Verantwortlichen durchaus heimlich frohlocken. Selbst wenn sie die Gefahren des Augenblicks sehen, glauben sie, dass China am Ende als Sieger aus der Krise hervorgeht. Doch wehe ihnen, wenn sie es laut sagen würden! Viele Millionen Chinesen, die jetzt um ihren Arbeitsplatz fürchten oder ihn schon verloren haben, wären empört. Einer von ihnen ist Zhang Zhikun. Der 32-Jährige arbeitet in einer Spielzeugfabrik. Gemeinsam mit zwei Kollegen lebt er in einer Zwei-
Foto: Wu Hong/EPA/Picture-Alliance/dpa
Es gibt Applaus für die Unternehmen, die sich für den Binnenmarkt rüsten
VON GEORG BLUME
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Das statistische Amt der Volksrepublik hatte Anfang der Woche eine stolze Nachricht zu verkünden: »Chinas Anteil an der weltweiten Wirtschaftsleistung hat zum Ende des Jahres 2007 sechs Prozent ausgemacht.« Als die wirtschaftliche Öffnung des Landes vor 30 Jahren begann, waren es gerade mal 1,8 Prozent gewesen. Das starke Wirtschaftswachstum hat auch den Durchschnittslohn stark nach oben getrieben. Während er vor 30 Jahren bei 190 US-Dollar per annum lag, sind es aktuell 2360 Dollar. Das Wachstum der jüngeren Vergangenheit mit stets zweistelligen Raten war allerdings selbst der Führung zu rasant. Bis vor einem Jahr beschäftigten sich die Ökonomen des Landes daher mit der Frage, wie eine Überhitzung der Wirtschaft zu vermeiden sei. Das Problem zumindest ist fürs Erste geklärt: Für dieses und nächstes Jahr erwarten sie ein deutlich abgeschwächtes Wachstum von neun Prozent. Volkswirte fordern von der Regierung nun, die inländische Nachfrage anzukurbeln, um China weniger abhängig vom ausländischen Exportgeschäft zu machen. AMA
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Chinas Bruttoinlandsprodukt Veränderung zum Vorjahr in Prozent 11,1
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DIE BEIDEN SERGEJS im Goldenen Saal der ehemaligen Universität: Sergej Korotonoschkin (links) und Sergej Artamonow
Zwei Russen in Dillingen Warum ein bayerisches Donaustädtchen Investoren aus Schwellenländern lockt
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atürlich kennt auch Oberbürgermeister Franz Kunz die Zeitungsberichte. Über den Hunger der Oligarchen auf deutsche Unternehmen. Über die Shoppingtouren neureicher Russen am deutschen Immobilienmarkt. Er kennt auch den viel zitierten Ausspruch von Russlands Premierminister Wladimir Putin: »Wir kommen nicht mit Kalaschnikows und Panzern, wir kommen mit unserem Geld.« An einem Sonnentag im Mai kamen die Russen in seine Heimatstadt Dillingen an der Donau. Kunz war gerade vier Tage als Oberbürgermeister im Amt. Reiche russische Bauunternehmer hätten das Gasthaus zum Zoll gekauft, berichtete man ihm beim Aushändigen des Bauantrags. Das bayerische Traditionslokal im alten Zollamtsgebäude, 1843 unter Ludwig I. erbaut, idyllisch am Ufer der Donau gelegen, war nach mehrmaligem Pächterwechsel heruntergewirtschaftet. Die russischen Investoren nun, hörte Kunz, planten dort aufwendige Renovierungsarbeiten und wollten später noch mehr investieren, eine Summe im zweistelligen Millionenbereich. »Mein Gott, was für Dimensionen«, schoss es dem 35-jährigen CSU-Mann durch den Kopf. »Mir wurde ganz flau!« Vor seinem inneren Auge sah er schon die prächtigen Renaissance- und Barockbauten der Altstadt in die Hände der Russenmafia fallen. »Warum gerade Dillingen?«, fragte er sich. Hier, wo einst Sebastian Kneipp im Donauwasser die Hydrotherapie entwickelte, wo das Werk von Bosch-Siemens Haushaltsgeräte der einzige große Industriebetrieb ist, wo es nicht einmal einen Autobahnanschluss gibt?
Artamonow will fünf hochwertige Hotels kaufen Die russischen Investoren heißen beide Sergej. Sie sitzen gut gelaunt im Münchner Englischen Garten und wollen mit der Antwort nicht so recht heraus. »Ich bin es gewohnt, mit Gewinnmargen von bis zu 120 Prozent zu kalkulieren. Hier erwarte ich nicht mehr als acht«, sagt der eine Sergej, Sergej Alexandrowitsch Artamonow. »Sie finden es seltsam, dass ich trotzdem in Deutschland investiere? Denken Sie darüber nach, so schwer ist die Antwort nicht zu finden!« Sie reden breites Moskauer Russisch, stoßen klirrend mit Rotwein an, genießen Ente mit Knödeln. Sie wundern sich über »diese Deutschen«, die über das Döner- und Pizzaessen ihre schmackhafte Traditionsküche vergessen hätten. Im Englischen Garten sitzen sie heute zu viert: die beiden Sergejs, ein russischer Geschäftspartner und ihr Immobilienmakler und Projektentwickler. Roman Tesluk, Spätaussiedler aus Dillingen, 23 Jahre jung, baut Wohnungen und vermittelt russischen Investoren Liegenschaften in Deutschland. Zusammen mit seinem Vater hat er vor zwei Jahren die Immobilienunternehmen HBTe M&AProject GmbH und HBTe Real Estate GmbH gegründet. Sie haben Büros in München, Salzburg und Moskau. Als ihn die anderen am Tisch das »Herz ihres Deutschlandgeschäfts« nennen, winkt Roman ab. »Wohl eher die Leber …«, scherzt er und nippt nach den feucht-fröhlichen Verhandlungen des Vorabends an seinem Mineralwasser. Dann nimmt er am Handy eine Geschäftsanfrage aus Russland entgegen. Jemand möchte ein Schlösschen kaufen. Hübsch soll es sein, und in Bayern soll es liegen. Sergej Alexandrowitsch Artamonow redet weniger als die anderen, doch hinter den getönten Brillengläsern folgen seine Augen dem Geschehen aufmerksam. Dann und wann zuckt ein Lächeln über sein Gesicht, das so viel heißt wie: Gut, das
Geschäft geht in Ordnung. Gerade hat der 45Jährige beim Notar auch noch einen Kaufvertrag über ein Viersternehotel am Tegernsee abgeschlossen. Der Kaufvertrag für ein Hotel am Bodensee steht kurz vor dem Abschluss, ein Restaurantbetrieb ist auch gekauft. Investitionspläne hat Artamonow nicht nur für Deutschland, sondern auch für Österreich. Fünf hochwertige Hotels will er kaufen, zunächst, und daraus eine Kette machen. Dazu gegebenenfalls einen Münchner Nachtklub nach Moskauer Vorbild gründen, der exklusiver als alles werden soll, was die bayerische Metropole bis dato gesehen hat. Städtereisen anbieten für wohlhabende und kulturinteressierte Touristen aus Russland – Baden-Baden, Bodensee, GarmischPartenkirchen, Tegernsee, Salzburg. Und natürlich Dillingen. Schließlich ist das der Sitz seiner deutschen Red Project Group GmbH. Der andere Sergej, Sergej Iwanowitsch Korotonoschkin, spannt gerade nach einem wichtigen morgendlichen Termin aus, einem Finanzierungsgespräch bei einer deutschen Großbank. Geschwungene Lippen, grau melierte Locken, bauchiges Lachen. Als der 50-Jährige seinen Schlips löst, sieht man auf der behaarten Brust ein silbernes russisch-orthodoxes Kreuzchen baumeln. Sergej Korotonoschkin ist Inhaber der MGK Rosprojekt GmbH, ebenfalls ansässig in Dillingen. Eigentlich schwebt ihm jedoch ein russischdeutsches Investitionsprojekt ganz anderer Größenordnung vor: ein Gewerbegebiet im sibirischen Omsk. 180 000 Quadratmeter, entworfen von deutschen Architekten, als Sitz für deutsche Handelsunternehmen, Hotelketten, Freizeitanbieter. Investitionssumme: 150 Millionen Euro. Das Grundstück gehört ihm schon, die Bebauung soll beginnen, sobald die Finanzmärkte wieder Möglichkeiten für gute Geschäftsideen bieten. Sergej und Sergej sind zwei Mittelständler, die die Druckwelle der explodierenden Moskauer Wohnungspreise aus kleinen Verhältnissen in die Oberschicht katapultiert hat. Sie haben große Deutschlandpläne, aber bisher nur geringe Landeskenntnisse. In den Untiefen des russischen Immobilienmarktes bewegen sie sich wie die Fische im Wasser, im Ausland aber macht schon die fremde Sprache sie stumm. Warum also ausgerechnet Dillingen? Diversifizierung – so lautet ein Teil der Antwort. Die vergangenen Monate der Finanzkrise haben gezeigt, dass es Russland und andere Schwellenländer besonders hart getroffen hat. Darum haben sich Sergej und Dillingen Sergej im Ausland nach Investitionsmöglichkeiten umgeschaut, in Paris und London waren sie schon, dort sei BAYERN das Geschäftsklima den Russen gegenüber aber »snobistisch«. Da haben sie etwas Bodenständiges gesucht, es hat sie nach Dillingen verschlagen. Hier fanden sie in dem Spätaussiedler Roman Tesluk einen Ansprechpartner voller Tatendrang, wie sie selbst. Als Roman ihnen von diesem kleinen, von Gott vergessenen Gasthaus am Ufer der Donau erzählte, da zögerte Sergej Iwanowitsch nicht. »Dawaj, wir beleben es wieder!« Das ist kein Jahr her. Heute dient ihm das Gasthaus zum Zoll als stilvolles Basislager für seine Expeditionen in den deutschen Immobilienmarkt. Von hier aus betreibt er Feldforschung an den Konsumgewohnheiten und am Geschäftsgebaren der Einheimischen. Eine Zwei-Millionen-Euro-Investition »als Spielzeug, zum Üben«, sagt er. »Weil es ein so hübscher Ort ist, in einem bayerischen Märchenstädtchen. Für die Familie. Für die Seele.« Die Seele – dieses Wort fällt mehrmals an diesem Geschäftstag. Meistens meint Sergej Iwanowitsch nicht die russische, sondern die deutsche. Er sucht den deutschen Unternehmergeist, der hinter dem Qualitätssiegel »Made in Germany« steht und der bei
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den Russen als Inbegriff von solidem Geschäftssinn und technischem Know-how gilt. Doch jetzt wundert er sich, wie schwerfällig die Verhandlungen laufen, vor allem im Vergleich zum dynamischen Russland. Während die Geschäftsideen bei ihm nur so sprudeln – von Mitternachtsbällen auf Donauluxusdampfern bis hin zum Handel mit deutschen Recyclinganlagen, die die Russen vom Problem ihres überquellenden Mülls erlösen –, scheint es ihm, als hätten die Unternehmer hierzulande jeglichen Sinn fürs stilvolle Investieren verloren. »Was ist nur mit den Deutschen los?«, fragt Sergej Iwanowitsch in die Runde. »Bloß nichts Neues machen, bloß nichts riskieren! Lieber 1500 Euro im Monat und nicht nachdenken müssen!«
»Hier hat niemand das Gefühl, in Luft zu investieren« Auf solche Fragen hat Roman Antworten. Er weiß, dass Deutsche und Russen vom Temperament her so grundverschieden sind wie die Gegebenheiten auf ihren Immobilienmärkten. Von Deutschland weiß er, wie schwierig es ist, aus einer schwachen Nachfragelage Rendite zu ziehen, wie erdrückend Nebenkosten sein können, wie viele Sicherheiten ein Bankkredit erfordert. In Russland dagegen ist kleinkariertes Sicherheitsdenken verpönt als Sand im Getriebe eines Marktes, der beherzte Investitionsentscheidungen belohnt. In dem Riesenreich besteht gewaltiger Investitionsbedarf in fast allen Branchen. Kein russischer Geschäftsmann mit Gespür für die Wucht des allumfassenden Nachholbedarfs hat in den vergangenen Jahren über Investitionen nachgedacht, die nicht eine Gewinnmarge von 30 Prozent versprechen. Doch schneller Geschäftserfolg hat viele Feinde. Bankencrash, Börsensturz, Behördenwillkür – die vergangenen Wochen waren ein Crashkurs in den Gefahren, die einem Unternehmer in Russland drohen. Glücklich, wer sein Kapital rechtzeitig diversifiziert und im Ausland in Sicherheit gebracht hat. Dorthin, wo die Wirtschaft konservativ ist, die Immobilienpreise stabil sind, das Know-how verlässlich und die Gemeinschaft zugänglich ist. Wie zum Beispiel nach Dillingen. »Hier muss niemand das Gefühl haben, in Luft zu investieren. Hier bekommt man für sein Kapital zum Beispiel ein kleines Gasthaus an der Donau«, sagt Roman. Jetzt zückt er sein Handy und ruft eine Bekannte an. Anina ist ausgebildete Office-Hausdame und begeisterte Russlandreisende. Die junge Hotelangestellte ist hübsch, verhandlungsstark, entscheidungsfreudig – über Sergej Alexandrowitschs Gesicht zuckt ein Lächeln. Sie sind sich schnell einig, dass sie ihren Job in einem Münchner Nobelhotel kündigt. Sie wird das neue Viersternehotel am Tegernsee leiten. Einige Tage später, im Gasthaus zum Zoll. In dem schlichten, lichtdurchfluteten Speisesaal sitzt der Saunaklub der Dillinger Senioren bei bayerischer Kartoffelsuppe und Roastbeef. Wer sich noch aus seiner Jugend an das Lokal erinnert, der wundert sich über die Sorgfalt des neuen Eigentümers aus Russland bei der Wiederherstellung des Ursprungszustands: die Außenfassade, der Treppenaufgang, der dreifache Parkettboden – geplant und ausgeführt von ortsansässigen Architekten und Handwerkern. Über die Pläne, neben dem Gasthaus ein großes Hotel für neureiche Russen zu bauen, staunen sie. »Irgendwie müssen die ihr Geld ja sauber machen – wischiwaschi! Da müss’ ma schon sehen, was uns da jetzt die Donau raufkommt!«, meint einer. Sein Nachbar argumentiert: »Ah geh, 2,20 für a Weizen, des is’ in Ordnung. Na sdorowje!« a www.zeit.de/audio
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Morgen in Amerika Es gibt ihn noch: Den amerikanischen Optimismus. Zum Beispiel im Silicon Valley. Was hält man dort von den Präsidentschaftskandidaten? VON HEIKE BUCHTER
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uf der Tanzfläche des Temple drängen sich normalerweise glitzernde Partygirls und sonnenbebrillte Hip-Hop-Fans. Doch an diesem Montagabend ist alles anders: Die Gäste in dem angesagten Nachtclub von San Francisco wirken wie Kongressteilnehmer beim abschließenden Umtrunk. Eingeladen hat CT4O, eine Gruppe von Führungskräften in der Umwelttechnologie. Die Abkürzung steht für Clean Tech & Green Business Leaders for Obama. Auf den Videoleinwänden zwischen Buddhafiguren verkündet der demokratische Präsidentschaftskandidat eine Botschaft der Erneuerung. Die Leute von CT4O haben Geld für seinen Wahlkampf gesammelt. 1,5 Millionen Dollar bislang. Dabei ist sie erst vor knapp vier Monaten gegründet worden. Im Silicon Valley, dem Innovationszentrum südlich von San Francisco, ist man noch spendabel. Man glaubt an die Zukunft. Man verkörpert das junge, das vorwärtsgewandte Amerika, das sich den Optimismus nicht verderben lässt. Während die drohende Rezession die Stimmung im ganzen Land eintrübt, geht vom Valley Hoffnung aus. Man setzt jetzt auf Umwelttechnologie. Und viele setzen auf Barack Obama. Im Temple-Club nippen die Mittdreißiger aus Silicon Valley gepflegt am Biowein und naschen garantiert tierproduktefreie Veganer-Häppchen. Dann tritt Tracy Chapman auf. Als die Sängerin ihren Hit Talking ’bout a revolution anstimmt, kommt Bewegung in die Analysten, Produktentwickler, Finanziers, Berater und PR-Vertreter, es wird gejubelt und gewippt und gesungen.
Eine Revolution ist schon einmal von Silicon Val- den endgültigen Abstieg der Supermacht USA beley ausgegangen. Sie bescherte der Welt den Mikro- schwören, keimt in Kalifornien schon wieder neue chip, den PC und das Internet. Jetzt ist ein neuer Hoffnung. Das New York Times Magazine widmetechnologischer Umschwung in der Mache, hoffen te der »New New Economy« vor drei Wochen die zumindest die Leute von CT4O: Milliarden fließen Titelgeschichte. Der Kandidat Obama hat dem zurzeit in die Entwicklung erneuerbarer Energien, in Bereich 150 Milliarden Dollar an Fördermitteln Wasserrecycling und treibstoffproduzierende Algen. versprochen – bezahlt durch die Versteigerung von Trotz der Finanzkrise haben Investoren im Valley Emissionsrechten. Auch deshalb gehen für Steve Westly die grüne allein im vergangenen Quartal über eine Milliarde Erneuerung und die Wahl Obamas Dollar neu angelegt, und über 40 kommenden Dienstag Hand in Prozent davon flossen in die alternaHand. »Die Welt erwartet von uns tiven Energieunternehmen. Das beden Wandel«, sagt der 51-Jährige. richtet Brian Fan von der Cleantech »Jetzt müssen wir zeigen, dass wir Group, die sich auf die Beratung in das draufhaben.« Westly ist RisikoSachen Umwelt-Start-ups spezialifinanzierer – Venture-Capitalist, im siert hat. Abkürzungsjargon von Silicon ValDer Sektor wächst mit einer Rate ley ein VC. Er sucht unter den von über 50 Prozent pro Jahr. »Auch Ideen angehender Unternehmer wenn der Ölpreis aktuell zurückdiejenigen aus, die später satte Gegeht, der fundamentale Trend weist STEVE WESTLY winne abwerfen werden, und verlangfristig nach oben«, sagt Fan. vergibt Startkapital an sorgt sie mit Startkapital. Die bes»Das macht erneuerbare Energien neue Unternehmen ten Chancen, glaubt Westly, biete interessant.« Noch vor vier Jahren derzeit die Umwelttechnologie. steckten Risikokapitalgeber nur rund 700 Millionen Dollar in alternative Energien, 2008 Cleantech – saubere Technologien – ist das neue Zauberwort. womöglich über vier Milliarden Dollar. Warum der neue Präsident dabei eine SchlüsBescheiden sind die erklärten Ziele der Investoren nicht: Sie wollen die Welt vor der Klimakata- selrolle spielt? »Es gibt eine Flut von Umweltgesetstrophe retten, die US-Wirtschaft erneuern und zen und Vorschriften, nicht nur hier, sondern ganz nebenbei viel Geld für sich selbst abschöpfen. überall auf der Welt bis hin zu Indien und China.« Während an der Wall Street ein Rekordverlust den Deswegen sei es wichtig, dass Obama ins Weiße nächsten jagt, die Detroiter Autobauer mit der Haus komme, meint Westly. »McCain hat doch Pleite ringen, die Arbeitslosenzahlen alarmierend nur eine Antwort, und die lautet ›drill, Baby, drill‹!« steigen und Meinungsmacher im In- und Ausland Westly und seine Investoren haben ihr Engage-
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ment breit gestreut. Ein Unternehmen tüftelt an Hewlett und Dave Packard ihren ersten Transistor Software, durch die Computer 25 Prozent an zusammenbastelten. Die Hewlett-Packard-GrünStrom sparen können. »Wenn Sie das hochrech- dung gilt als Initialzündung für das Silicon Valley: nen, ist das eine ganz große Sache!«, begeistert sich Die folgende Welle der Start-ups lockte Investoder Investor. Ein anderes Unternehmen aus seinem renkapital gegen eine Beteiligung am Erfolg. Die Portfolio experimentiert mit Biomasse, um Flug- enge Verzahnung aus Forschung, wirtschaftlicher zeugbenzin zu erzeugen. Auch an dem schlag- Anwendung und Kapital erwies sich als Innovazeilenträchtigen Elektro-Sportflitzer Tesla hat sich tions- und Geldmaschine. Bis heute ist die Gegend die Heimat vieler Technologieunternehmen, deren Westlys Gruppe beteiligt. Produkte die globale Wirtschaft Westlys Büro liegt in einem flanachhaltig verändert haben: Intel, chen Gebäudekomplex, der eher Apple, Cisco, Yahoo, Ebay und zuwie eine Feriensiedlung aussieht, letzt Google. inmitten von Pinien, OleanderbüEigentlich wollte der Ventureschen, Eichen und kalifornischen Capitalist Josh Green 1999 dem Redwoodbäumen. Wer zum VCGanzen den Rücken kehren. »Es Adel Silicon Valleys gehören will, ging am Ende nur noch darum, lässt sich an der eleganten Sand die Clicks auf irgendwelchen WebHill Road zwischen Menlo Park seiten zu zählen. Wir haben keine und Palo Alto nieder. So grün und wirklichen neuen Werte geschaferholsam ist es hier, dass die Eich- GUNTER ZIEGENBALG fen!« Green ist, angefangen mit hörnchen zur Plage geworden sind. ist ein Experte der Halbleiterrevolution bis hin Auf den Parkplätzen stehen neue für Solarmodule zur Biotechnologie, auf allen Modelle von Mercedes, Porsche Wellen mitgeritten. Auch wenn und BMW dicht nebeneinander, daneben die verspachtelten Toyotas und älteren er einräumt, dass bei Cleantech wieder die typiVW-Modelle der studentischen Nachwuchskräfte. schen Begleiterscheinungen einer Modewelle zu Während des Internetbooms der neunziger Jahre beobachten sind, glaubt er an eine grundlegende waren die Mieten an der Sand Hill Road höher als Veränderung der Wirtschaft durch die Technoan der Wall Street. Die klassische Bankerkluft aber logien, an denen in Silicon Valley derzeit getüfist bei den Finanziers der grünen Zukunft verpönt. telt wird. »Wir bringen die zweite industrielle Wer dazugehört, trägt Hemden mit offenem Kra- Revolution!« Er bestreitet, dass es den Akteuren nur ums gen und Bundfaltenhosen. Nur wenige Kilometer südlich steht die inzwi- Geldscheffeln gehe. »Das ist wie im medizinischen schen denkmalgeschützte Garage, in der William Bereich: Am Anfang steht eine Idee, die dem Pa-
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Fotos [M]: PAN AMERICA/Jupiterimages( o.); Kathy Hutchins/Picture-Alliance/dpa (r.u.) ; Peter Endig/Picture-Alliance/ZB
FIRMENGEBÄUDE in San José im Silicon Valley
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Foto: The NewYorkTimes/Redux/laif
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Schock zum Schluss
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tienten helfen soll, erst später kommt die Über- Hundert Millionen Dollar.« Der Branchenveteran geht deshalb davon aus, dass die vielverlegung, wie man daran verdienen kann.« Skeptiker verweisen darauf, dass sich mit Um- sprechendsten Anbieter von Ölkonzernen und welttechnologie längst nicht so schnell Geld ver- Versorgern aufgekauft werden – ähnlich wie die dienen lasse wie seinerzeit mit dem Internet. »Bei innovativen Biotechnologieunternehmen von den Cleantech sind in der Regel hohe Anfangsinves- Pharmagiganten geschluckt werden. Umso wichtiger sind für die Investoren Gatitionen nötig, die Entwicklung neuer Produkte hat mit den Grundlagen der Physik und Chemie rantien, dass der Staat den Anschub mitfinanziert zu tun – und ist entsprechend komplex und zeit- – wie von Obama großzügig versprochen. Im aufwendig«, sagt der Unternehmer Dan Squiller. kürzlich verabschiedeten Rettungspaket für die »Das ist nicht wie bei einer neuen Software oder Kapitalmärkte verpackte der US-Kongress eine Internetanwendung, wo ein paar clevere Jungs Steuerförderung für erneuerbare Energien in für 30 Millionen Dollar eine Menge machen Höhe von 17 Milliarden Dollar. Das soll 440 000 können.« Seine eigene Firma, Powergenix, arbei- Jobs schaffen und über die nächsten acht Jahre tet an einer neuen Generation von Batterien auf die Investments in dem Bereich auf 325 MilliarNickel-Zink-Basis, die nach Jahrzehnten jetzt den Dollar anschwellen lassen, rechnete die Unternehmensberatung Navigant hoch. Die Nachzur Marktreife kommen. Für den Durchbruch von Elektroautos etwa richt war gerade über die Ticker gegangen, da zählen effizientere Speichermöglichkeiten zu den begannen die Unternehmen im Silicon Valley Schlüsseltechnologien. Auch bei der Reichweite bereits, neue Mitarbeiter einzustellen. Doch nicht alle sind begeistert von der neuen von Solar- und Windenergie spielen Batterien eine Rolle – sie speichern die erzeugte Energie Nähe zu Washington. Thurman John Rodgers ist und geben sie bei Windstille wieder ab. Doch der Vorstandschef von Cypress Semiconductor; der seit ihrer Erfindung vor über 150 Jahren haben Halbleiterhersteller hat vor Kurzem SunPower aussich die Batterien kaum verändert. »Fortschritt gegliedert, einen der führenden Hersteller von Sobei Batterien bewegt sich im Gletschertempo«, laranlagen. Rodgers, über dessen Schreibtisch der sagt Squiller. Für die Geldgeber im Silicon Valley Spruch »Sei realistisch – verlange das Unmögliche« eine quälende Vorstellung. hängt, hält Obamas Programm für »sozialistisch«. An die Grenzen stößt das klassische Ge- »Wenn der Markt neue Technologien verlangt, ist schäftsmodell der VCs auch, wenn es um größere es völlig unwichtig, wer Präsident ist – private InAnlagen geht. Zu den aufwendigsten Projekten vestoren werden die Innovation finanzieren«, sagt gehören Solaranlagen – ein Bereich für den die er. Silicon Valleys Stärke sei es immer gewesen, die Startkapitalgeber die höchsten Erwartungen he- Regierung möglichst aus dem Geschäft zu halten. gen. Signet Solar, Hersteller von Solarmodulen, Weil der Staat so heftig eingreife und die Gewinne sitzt nur wenige Kilometer von abschöpfe, sei die Innovation in der Sand Hill Road entfernt. GeEuropa erdrückt worden. Auch rade hat das Unternehmen ein Carly Fiorina, einst Chefin bei neues Werk in Mochau bei DresHewlett-Packard und eine der proden in Betrieb genommen. Gunminentesten Wahlkämpferinnen ter Ziegenbalg, seit 1995 im Silifür John McCain, warnte kürzlich, con Valley, ist Geschäftsführer Subventionen verzerrten den Wettder deutschen Tochter. bewerb der Ideen. Signets Solarmodule in DünnDie Mittdreißiger mit ihren schichttechnologie – dabei werDesignerjeans und den eckigen den die Solarzellen quasi auf ei- TJ RODGERS Designerbrillen, die in ihrem ner Art Film gedruckt – sind die findet Barack Obamas Szeneclub der Musikerin Tracy größten der Welt. Gedacht sind Programm »sozialistisch« Chapman zujubeln, sehen das ansie nicht für Eigenheimbesitzer, ders. Sie kämpfen für Barack Obadie vor allem in Deutschland, ma – und hoffen auf Subventionen dem bisher größten Solar-Absatzmarkt, die wich- für ihre grünen Projekte, mit denen sie die Welt und tigsten Abnehmer darstellen. »Die Zukunft liegt die US-Wirtschaft retten wollen. Nur in einem sind in riesigen Kraftwerksanlagen«, sagt Ziegenbalg. sich die Anhänger von McCain und Obama einig: Nur in dieser Dimension könne in den Indus- wenn es eine grüne Revolution geben wird, dann trienationen aus Sonnenenergie mehr als nur hier im Silicon Valley. eine ideologisch gewünschte Konkurrenz für die herkömmliche Stromerzeugung werden. »Bei die- i Weitere Informationen auf ZEIT ONLINE: www.zeit.de/us-wahl sen Investitionen reden wir schnell von mehreren
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Die Wirtschaftskrise hat die Endphase des US-Wahlkampfs geprägt VON HEIKE BUCHTER
ZWEI SENIORINNEN werben
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elten hatten die US-Bürger in einem Wahljahr so viele Schocks zu verkraften. Ob die mehr als eine Billion Dollar teuren Rettungsaktionen das Bankensystem des Landes vor dem Kollaps retten, ist noch nicht klar. Doch klar ist schon: Die Krise hat die Schlussphase des Wahlkampfs geprägt. Die Amerikaner wählen jetzt einen Präsidenten für trübe Zeiten. Die Zahl der Zwangsversteigerungen steigt. Die Arbeitslosenquote beträgt über sechs Prozent und könnte auf bis zu zehn Prozent anwachsen. So gut wie alle Ökonomen gehen von einer kommenden Rezession aus. Vor wenigen Wochen noch war es in den Debatten der Kandidaten vorwiegend um die Frage gegangen, wer welche Steuergeschenke an die Mittelschicht vergeben wird. Inzwischen stehen jedoch ganz andere, grundsätzlichere Fragen im Vordergrund. Wie viel Staat verträgt der freie Markt? Droht die Rezession zur Depression zu werden? Und kann die Politik das verhindern? Dem gelernten Anwalt Obama schreiben die Wähler offenbar größere Kompetenz bei der Lösung der Probleme zu als dem Berufssoldaten McCain. Seit sich die Krise zuspitzt, liegt er bei den Umfragen deutlich vorn. Dass Obama für mehr staatliche Eingriffe steht, hätte ihn zu einem anderen Zeitpunkt suspekt gemacht. Doch jetzt wächst das Bedürfnis, die Auswüchse des Kapitalismus zurückzustutzen und das Land aus einer drohenden Lähmung zu befreien. Obama hat sich zur Finanzkrise deutlich konkreter geäußert als sein Rivale. Er will unter ande-
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rem die Eigenkapitalerfordernisse bei Finanzgeschäften erhöhen, das Risikomanagement der Banken stärker überwachen und die Kreditratingagenturen reformieren. Auf internationaler Ebene will er eine engere Zusammenarbeit bei Abkommen wie Basel II und den Rechnungslegungsstandards. Sein Programm lässt sich nicht eindeutig einer ökonomischen Schule zuordnen. Er selbst bezeichnet sich in Wirtschaftsfragen als Pragmatiker. »Ich nehme, was wirkt«, erklärte er in einem Interview. Dazu zählen seine Pläne für einen Infrastrukturfonds, der 60 Milliarden Dollar in Straßen und Nahverkehrsmittel investieren und gleichzeitig Jobs für Arbeiter schaffen soll. Der Neokonservative David Frum, früher Redenschreiber für Präsident George W. Bush in Wirtschaftsfragen, sieht in den Plänen einen Rückgriff auf die dreißiger Jahre. »Obama mag in gesellschaftlicher Hinsicht modern wirken, wirtschaftspolitisch ist er ein Reaktionär«, urteilt Frum. Obama setze auf einen neuen New Deal wie einst der Präsident Franklin D. Roosevelt und damit auf falsche Rezepte. »Bei der Bekämpfung der Krise tat Roosevelt damals so, als ob sie allein ein amerikanisches Problem sei – und verschlimmerte damit die Lage weltweit.« Auch Obama blicke bei seinen Lösungsansätzen vorwiegend nach innen. Dazu passen nach Ansicht Frums auch seine protektionistischen Töne. Obama hat angekündigt, dass er die Freihandelsabkommen gegebenenfalls nachverhandeln will.
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Obama gehe es darum, dass nicht nur Investoren und Unternehmen von der Globalisierung profitieren sollen, sagt Jared Bernstein, Volkswirt beim liberalen Thinktank Economic Policy Institute. »Aus wirtschaftspolitischer Sicht ist Obama ein Hybrid: Er kombiniert soziale Marktwirtschaftselemente europäischen Stils mit dem Kapitalismus amerikanischer Prägung.« McCain hingegen vertritt eine liberale Sicht auf die Wirtschaft, nach der Wachstum vor allem durch möglichst wenig Staat und freies Spiel der Marktkräfte erfolgt. Dabei beruft er sich auf den Ökonomen Milton Friedman, der zeitweise Berater von Ronald Reagan war. Bis heute haben die Republikaner nichts Grundsätzliches an ihrer Wirtschaftspolitik Friedmanscher Prägung verändert. So fordert McCain auch jetzt wieder Steuerkürzungen für Besserverdienende. Fast 50 Millionen US-Bürger sind ohne Krankenversicherung. McCain will jeder Familie Steuerabzüge von bis zu 5000 Dollar für Versicherungsprämien gewähren. Laut Richard Thaler, Verhaltensökonom an der Universität Chicago und Obama-Berater, löst das nicht das Problem. »McCain will die Leute dazu bringen, allein die passende Krankenversicherung zu finden. Bei Obama sollen der Staat oder der Arbeitgeber eine Police empfehlen.« Für Thaler der naheliegendere Ansatz, auch wenn er aus liberaler amerikanischer Sicht radikal zu sein scheint: »Es ist doch viel radikaler anzunehmen, dass jeder Marktteilnehmer ein Genie ist, das stets die vernünftigsten Entscheidungen trifft.«
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BRASILIENAKTIEN Bovespa: 30 241 –52,7 %
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1,25 US$ –14,5 %
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793 US$/Feinunze –48 %
0,11 US$/Pound –1,6 %
4129 US$/Tonne –38,2 %
Veränderungen seit Jahresbeginn
So ein Pech Manchmal können einem Finanzinvestoren wirklich leidtun. Am Montagmorgen legten die Schwergewichte unter ihnen in Berlin Transparenzrichtlinien vor. Danach wollen sie künftig detaillierter über die von ihnen gekauften großen Unternehmen berichten: So sollen diese sechs Monate nach Ende des Geschäftsjahres einen Abschluss vorlegen – bis dato alles andere als selbstverständlich. Auch soll die Öffentlichkeit erfahren, wer in den Gremien der Firmen sitzt und den Finanzinvestoren verbunden ist. Zudem stellen die Private-Equity-Fonds Regeln für die Information der Arbeitnehmer auf. Zu guter Letzt soll eine neue Datenbank über die großen Deals der letzten zehn Jahre bald Wissenschaftlern offen stehen. Seht her, wir haben aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt, wir sind bereit zum Dialog! Dieses Signal senden die 13 beteiligten Investoren aus, darunter KKR, Carlyle, Permira und Goldman Sachs. In der Tat hat die Branche nach anfänglichem Zögern auf die massive Kritik an ihr reagiert und ihr Auftreten über die Jahre deutlich verbessert. Die über Monate entwickelten Richtlinien sind löblich, die Datenbank ist ein auch international beachtlicher Schritt – nur ist die Welt heute eine andere. Die Bankenwelt liegt in Trümmern, der Staat rettet, was zu retten ist. Und als würde das nicht reichen, legten die deutschen Sozialdemokraten just am selben Tag einen Bericht zur Finanzkrise sowie Reformvorschläge vor. Eine Forderung: die straffe Regulierung von Private Equity inklusive weit schärferer Offenlegungspflichten und Grenzen für die Schulden der Firmen. Der Protest der Branche folgte noch am Nachmittag. Die SPD, das ist leicht zu durchschauen, erinnert an die holzschnittartige »Heuschrecken«-Debatte des Jahres 2005. Private Equity steht nicht im Zentrum der Finanzkrise und behauptet sich trotz einiger Probleme relativ gut: Die Fonds verfügen über das derzeit so begehrte Eigenkapital, ein Kollaps droht ihnen – anders als den Hedgefonds – nicht so schnell. Dennoch tun sie gut daran, die Zeichen der neuen Zeit zu erkennen. In einer Rezession werden viele ihrer Firmen unter den ihnen aufgebürdeten Schulden ächzen oder zusammenbrechen, es wird gespart und entlassen werden. Transparenz ist wichtig, doch sie ist das Thema von gestern. Verantwortungsvolles Handeln, der Erhalt der Firmen – das ist das Thema von morgen. Es wäre gut, die Finanzinvestoren stellten sich frühzeitig darauf ein. ARNE STORN
Illustration: Birgit Lang für DIE ZEIT/www.big-lang.de
Finanzinvestoren geben sich offener – die Welt dankt es ihnen nicht
Altersvorsorge für den Berater Die Riester-Rente ist beliebter denn je. Der Grund: Banken und Versicherer motivieren ihre Verkäufer mit hohen Provisionen. Die Kosten tragen die Sparer – oft ohne es zu wissen VON STEFAN MAUER
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onja Ruland ist eine Vorzeigesparerin. Schon mit 19 Jahren und trotz ihres geringen Einkommens hat die Auszubildende vor einem Jahr einen Riester-Vertrag bei einem großen deutschen Versicherer abgeschlossen. Immerhin 15 Euro im Monat legt sie seitdem steuerfrei für die Rente zur Seite, der Staat gibt 156 Euro pro Jahr dazu. Was Ruland aber nicht weiß: Kaum hatte sie die erste Monatsrate bezahlt,
bekam der private Finanzvermittler, der ihr zur Altersvorsorge verholfen hatte, knapp 450 Euro überwiesen. Und sie muss das bezahlen: Die ersten 30 Monatsraten fließen nicht in Rulands Altersvorsorge, sondern an ihren Berater. Die Nachfrage, die die staatlich geförderte Altersvorsorge für Angestellte jüngst erfahren hat, ist beachtlich. In den vergangenen drei Jahren stieg die Zahl der Riester-Verträge von knapp 4,5 auf mehr als 11,5 Millionen. Allein im Jahr 2008 wird der Staat voraussichtlich 1,7 Milliarden Euro in die Zulagen investieren – Kinderzulagen und Steuererstattungen ausgenommen. »So viele gute Gründe für die Riester-Rente gab es noch nie«, jubiliert das Arbeitsministerium. Dabei übersieht es: Die Riester-Rente ist so beliebt, weil Versicherer und Banken ihre Vermittler mit immer höheren Provisionen dazu gebracht haben, das Produkt überhaupt anzubieten. Dafür bezahlen die Kunden – und indirekt der Staat mit seinen Beigaben.
Sparer verlieren durch die Provisionen gleich doppelt Geld »Dass Riester sich jetzt so gut verkauft, liegt nicht daran, dass die Sparer umgedacht hätten«, bestätigt der Finanzberater Thomas Holz. Er hat Sonja Ruland ihren Riester-Vertrag verkauft, und ebenso wie sie möchte er seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen. Er fürchtet berufliche Nachteile, weil er ausspricht, was viele andere in seiner Branche allenfalls denken: »Ich als Berater kann doch entscheiden, ob ich ein Produkt überhaupt erwähne oder nicht. Wenn ich auf eine hohe Provision aus bin, dann erwähne ich eben nur das Produkt, das mir am meisten Einnahmen bringt.« In diesem Markt zählt nicht die Nachfrage, sondern das Angebot. Das lässt sich auch an der Statistik des Arbeitsministeriums zu den abgeschlossenen Verträgen ablesen. Es gibt drei Arten von Riester-Verträgen, die landläufig nach ihrem Risiko unterteilt werden: Fondssparverträge für den risikobereiten Anleger, Versicherungsverträge für den etwas vorsichtigeren Anleger und die nahezu bombensicheren, aber relativ renditeschwachen Banksparverträge. Von 2001 bis 2005 gab es mehr als zehnmal so viele Versicherungsverträge als andere Vertragsformen. Seitdem konnten die Fondssparverträge einen großen Teil ihres Rückstandes aufholen und stehen aktuell bei einem guten Sechstel des Gesamtmarkts. Die Banksparverträge machen gerade mal fünf Prozent davon aus. »An dieser Aufholjagd der Fondsverträge haben geänderte Provisionsmodelle einen großen Anteil«, sagt Niels Nauhauser von der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg. Früher war es üblich, wie bei einem Fondssparplan die Gebühren in Form von Ausgabeaufschlägen von meist fünf Prozent zu erheben. Die werden in dem Moment fällig, in dem der jeweilige Fondsanteil gekauft wird. Inzwischen gehen die Anbieter aber dazu über, die gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Provision voll auszunutzen. Das
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heißt: Vertriebskosten von teilweise fünf Prozent und mehr der gesamten Anlagesumme werden dem Sparer bereits in den ersten fünf Jahren nach Vertragsabschluss in Rechnung gestellt. Das kann dazu führen, dass in diesen ersten Jahren nur etwa die Hälfte des angesparten Geldes auch tatsächlich auf dem Riester-Konto landet. Bei Versicherungen ist dieses Vorgehen bereits deutlich länger üblich – was eine Erklärung für den immensen Vorsprung liefert, den diese Produkte in der Statistik noch immer haben. Auch das Schattendasein der Banksparverträge passt in dieses Bild: Es gibt wegen der relativ niedrigen Zinsen so gut wie keine Abschlusskosten und lediglich geringe jährliche Gebühren. Der Sparer verliert durch die Provisionsmodelle gleich doppelt: Einerseits schmälert die geringere Einzahlung zu Beginn des Vertrags – gerade bei langen Laufzeiten – den für die Rendite so wichtigen Zinseszins. Und andererseits wird es noch einmal richtig teuer, wenn er seinen Vertrag wechseln oder kündigen möchte. Denn die in den ersten fünf Jahren fälligen Gebühren beziehen sich auf sämtliche geplante Einzahlungen – und gehen auch dann zum größten Teil verloren, wenn der Vertrag vorzeitig gekündigt oder gewechselt wird. Besonders innerhalb der ersten fünf Jahre, so haben Verbraucherschützer in Beispielfällen ausgerechnet, drohen Verlustquoten von bis zu 80 Prozent der eingezahlten Beträge samt Zulagen. Auch die Bundesregierung hat inzwischen die Problematik erkannt, die hinter der provisionsgetriebenen Vermittlung steckt – sieht aber keine Alternative. Als Antwort auf eine parlamentarische Anfrage ließ sie gerade verlauten: »Die seit
Bitte nachfragen Wer einen Riester-Vertrag abschließen will, sollte lieber einmal mehr nachhaken: Denn zu welchem Zeitpunkt und in welcher Höhe Abschluss- und Vertriebskosten anfallen, sagen viele Anbieter nicht unbedingt von sich aus. Zumal bei immer mehr Verträgen die Provision für den Vertreter bereits während der ersten fünf Jahre der Laufzeit fällig wird. Der Anleger ist im Nachteil, weil weniger Zinseszinsen anfallen und ein Vertragswechsel kaum lohnt. Die günstigsten Gebühren bieten Banksparpläne, die auch deshalb so gut wie nicht beworben werden. Einen Überblick über den RiesterMarkt bietet zum Beispiel einmal jährlich das Magazin Finanztest, das auch Provisionen unter die Lupe nimmt. Mindestens solche Ranglisten sollten Anleger vor ihrem Beratungsgespräch kennen. MAU
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2004 geltende Regelung, wonach die Abschlusskosten auf mindestens fünf Jahre zu verteilen sind, stellt einen Kompromiss dar zwischen dem Verbraucherschutz und dem staatlichen Interesse an einer möglichst hohen Verbreitung der Riester-Rente, die nur mit einem ausreichend motivierten Vertrieb sichergestellt werden kann.« Dass die Modelle, die diese Regelung maximal ausreizen, tatsächlich zu einem Absatzschub führen können, zeigt das Beispiel der DWS Toprente. Nachdem die Stiftung Warentest dem Riester-Fondssparplan der Deutsche-Bank-Tochter gute Noten vergeben hatte, wollten deutlich mehr Sparer als zuvor dort investieren – und bissen bei ihren Beratern häufig auf Granit. Der Grund für die ablehnende Haltung vieler Berater war oft schlicht: Andere Riester-Verträge lohnten sich für sie viel mehr – beispielsweise die Variante Premium-Rente desselben Anbieters. Als die Tester bei DWS-Sprecher Baki Irmak nachfragten, gab der diesen Umstand ungewöhnlich offen zu: »Das bedeutendere Produkt ist für uns die DWS Premium-Rente. Wir haben diese Rente auch eingeführt, um die Berater durch das Provisionsmodell ein wenig zu motivieren.« Dieses Modell besteht vor allem darin, dass der Anleger die gesamten Abschlusskosten bereits in den ersten fünf Jahren zahlt – und nicht, wie etwa beim Alternativprodukt Toprente, erst im Laufe der Ansparphase.
»Die meisten kennen sich einfach nicht gut genug aus« Wie teuer ein Riester-Vertrag mit hohen Gebühren einen Sparer wirklich kommen kann, hat die Verbraucherzentrale in Baden-Württemberg gerade ausgerechnet. Das Beispiel mag zwar extrem erscheinen, ist aber dennoch lebensnah: Eine 28jährige Kundin zahlt zurzeit 2100 Euro pro Jahr in einen Riester-Vertrag, was ihr bis zu ihrem 64. Lebensjahr eine staatliche Förderung und Steuervorteile von rund 23 000 Euro bringt. Gleichzeitig fressen jedoch die Gesamtkosten des Vertrags schon bei konservativen Renditeerwartungen mehr als 40 000 Euro des möglichen Endbetrags. Und noch einmal fast dieselbe Summe geht verloren, weil die gezahlten Gebühren nicht weiter angelegt werden können. Unter dem Strich hätte die Betroffene mit 65 Jahren also etwas mehr als 120 000 Euro zur Verfügung. Bei einem theoretischen, völlig gebührenfreien Vertrag hätte die Summe knapp 200 000 Euro betragen. Das Arbeitsministerium will nichts gegen die steigende Anzahl teurer Verträge tun, sondern glaubt an die Kraft des Wettbewerbs. »Es gibt gesetzliche Vorschriften zur Gebührenstruktur, darüber hinaus regulieren wir die Anbieter nicht. Die Riester-Rente ist eine private Vorsorgeform und muss als solche am Markt bestehen«, sagt Sprecher Peter Ziegler. Verbraucherschützer Nauhauser hält dagegen: »Die meisten Anleger kennen sich einfach nicht gut genug aus, um zu verhindern, dass ihre Riester-Vorteile von den hohen Kosten aufgezehrt werden.«
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Foto: Marcus Führer/dpa picture-alliance
MACHER MÄRKTE
Familienunternehmen mit gefüllten Kassen
Harte Zeiten für SAP
Oft wurde in den vergangenen Wochen von der Renaissance der Familienunternehmen gesprochen. Die Übernahme des Autozulieferers Continental durch die Schaeffler Gruppe unter Führung der Unternehmerin Maria-Elisabeth Schaeffler (Bild) und die laufende Übernahme von Volkswagen durch die Porsche SE, hinter der die Familien Porsche und Piëch stehen, galten als Beleg. Das Beratungsunternehmen Weissmann & Cie. aus Nürnberg hat nun die Leistungen der 40 größten deutschen börsennotierten Unternehmen mit den 40 größten Familienunternehmen (darunter auch von Großaktionären dominierte AGs wie BMW oder Stif-
Wenn die Zeiten schlechter werden, kürzen Unternehmen gern als Erstes ihre Ausgaben für Informationstechnik. Das ist in der Regel einfacher durchzusetzen, als Einsparungen bei den Personalkosten vorzunehmen. Auch der Softwarekonzern SAP bekommt das zu spüren. Die Firma aus dem badischen Walldorf entwickelt vor allem betriebswirtschaftliche Programme für Unternehmen. Einen derartigen Rückgang der Nachfrage in so kurzer Zeit habe er bislang noch nicht erlebt, sagte Vorstandssprecher Henning Kagermann, der am Dienstag den Bericht zum dritten Quartal vorstellte. Demnach ist SAP zwar weiterhin pro-
tungsunternehmen wie Bosch) im Zeitraum 2002 bis 2007 verglichen. Resultat: Bei Wachstum und Arbeitsplatzzuwachs sind die Familienbetriebe besser, meist auch bei den Renditen. Bei der Ertragssteigerung liegen hingegen die börsennotierten Unternehmen vorn. Chefberater Arnold Weissmann kommt zum Schluss: »Eigenkapital und Kriegskasse stimmen« bei den meisten Familienunternehmen, deshalb könnten sie in der Krise strategisch agieren. Allerdings müssen in diesen Tagen gerade die Paradebeispiele Schaeffler und Porsche noch zeigen, ob sie mit den Börsenturbulenzen und deren Folgen wirklich gut umgehen können. DHL
lionen Euro. Und in diesem Geschäftsjahr erwartet Unternehmenschef Alfred Ötsch einen Verlust, der – ohne Sondereffekte – auf 125 Millionen Euro anwachsen könnte. »Die schwierigen Rahmenbedingungen des ersten Halbjahres haben sich erneut verschärft«, so Ötsch. Spätestens im Februar drohen weitere Hiobsbotschaften. Dann nämlich laufen Kreditlinien aus. Massive Einschnitte erwarten Analysten insbesondere dann, wenn die AUA eigenständig bleibt. Bis zu 50 Prozent der Streckenziele müssten aufgegeben werden, schätzt Paul Wessely von der UniCredit in Wien. »Das würde einen entsprechenden Personalabbau nach sich ziehen«, sagt der Analyst. Auch AUA-Chef Ötsch rechnet dann mit »Grauslichkeiten« für die Mitarbeiter. TAT
Foto: Peter Unmuth
Die notleidende Fluglinie Austrian Airlines (AUA) könnte für den österreichischen Staat zum Milliardengrab werden. Die Lufthansa hat Interesse an der Airline, will aber offenbar nicht genug zahlen. Branchenkenner schätzen, dass das bisherige Angebot der Öffentlichkeit nur schwer zu verkaufen gewesen wäre. In der Hoffnung auf ein besseres Gebot wurde deshalb die abgelaufene Frist für eine Privatisierung der angeschlagenen Fluglinie bis Ende Dezember verlängert. Auch die russische S7 Airlines gilt als ein Einstiegskandidat. Die Lufthansa hat bisher anscheinend neben einem symbolischen Abfindungspreis kaum Zugeständnisse bei Pensionsverpflichtungen und Schulden machen wollen. Die Fehlbeträge der AUA belaufen sich immerhin auf rund 900 Mil-
Streikrecht für Schwerhörige Der ehemalige IG-Metall-Chef Franz Steinkühler, Namensgeber der »Steinkühler-Pause«, Wegbereiter der 35-Stunden-Woche und zurückgetreten wegen des Verdachts auf Aktien-Insiderhandel, ist auch als 71-Jähriger noch im Dienst der Gewerkschaft unterwegs – und scheut dabei wenig Mühen. In einem Briefwechsel mit dem Axa-Versicherungskonzern kritisierte er seine Hörgeräteversicherung, die laut Kleingedrucktem nicht im Fall von »Krieg, Bürgerkrieg und Streik« gilt. »Glauben Sie im Ernst, den Versicherungsanspruch wegen eines Streiks aufheben zu können?«, schreibt Steinkühler. Dabei gehe es um ein »grundgesetzlich garantiertes Recht«. Bisher schwenkt die Axa nicht ein, gibt aber zu, dass »die genannten Gefahrenpotenziale qualitativ und quantitativ unterschiedlich zu bewerten sind«. NIA
Foto: Rolf Braun/imago
»Grauslichkeiten« bei der AUA
FORUM
»Die Pferde müssen wieder saufen« Das Rettungspaket für die Banken kann nur ein Anfang sein. Um Deutschlands Zukunft zu sichern, sind gewaltige Investitionen in die Infrastruktur nötig VON HARALD CHRIST
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ewiss hat das gigantische Rettungspaket der Bundesregierung für die Finanzindustrie die Handlungsfähigkeit der Politik bewiesen. Das war eine beruhigende Erfahrung. Es gab keine verantwortbare Alternative. Welche verheerenden Folgen es hat, wenn der Staat ein Bankhaus wie Lehman Brothers über die Klinge springen lässt, erleben wir gerade. Der so oft zitierte Dominoeffekt ist in geradezu klassischer Form zu besichtigen. Nun handeln die Regierungen, und sie handeln umsichtig und energisch. Nur müssen wir uns vor dem Irrglauben hüten, alles sei machbar, wenn es nur ausreichend mit staatlichen Garantien unterlegt ist. Wir befinden uns unverändert in einer beispiellosen Finanzkrise, die ein weltweites Systemrisiko hat entstehen lassen. Dieses Risiko ist nicht kalkulierbar, und es ist nicht gebannt. Wir haben nicht etwa den Anfang vom Ende der Krise erreicht, sondern bestenfalls das Ende des Anfangs. Es ist eine Krise, die mehrere Herde hat, nicht nur die faulen Immobilienkredite in den USA und Teilen Europas. Jeder von ihnen birgt schon für sich genommen das Potenzial für eine weltweite Rezession, und gemeinsam können sie die Weltwirtschaft in den Zusammenbruch treiben. Das ist kein gewollt pessimistisches Szenario, sondern eine sehr reale Gefahr. Sie wird noch verstärkt durch die Tatsache, dass derzeit niemand sagen kann, welches Ausmaß die Kreditkartenkrise in den USA annehmen wird. Und es gibt weitere Risiken in den Bilanzen der US-Finanzindustrie. Die Stichwörter Autokredite und Kreditderivate mögen hier genügen. Die Lage ist also unverändert bitterernst. Was ist zu tun? Die Bundesregierung bietet ihr Rettungspaket, das sie mit sehr berechtigten Auflagen versah, auf freiwilliger Basis an. Das ist eine problematische Lösung. Sie überlässt es den Banken, die Finanzhilfen anzunehmen oder auszuschlagen. Damit beschwört sie die Gefahr herauf, dass die Hilfen nicht im erforderlichen Umfang wirken. Es wäre besser gewesen, nach britischem und demnächst auch amerikanischem Vorbild die Geldhäuser bei Unterschreiten einer bestimmten Eigenkapitalausstattung zu einer staatlichen Beteiligung zu verpflichten. Das hätte den unbestreitbaren Vorteil, dass den Banken nicht automatisch eine Schieflage unterstellt wird, wenn sie staatliches Geld akzeptieren. Und überdies hätte die Politik Einflussmöglichkeiten, um den Kreditverkehr unter den Banken wieder in Gang zu bringen. Es zeigt sich, wie bitter notwendig ein Krisenreaktionsprogramm ist, das die Regierung aus der Notwendigkeit befreit, immer wieder mit Ad-hocLösungen von Fall zu Fall reagieren zu müssen. Die Geldindustrie wäre gut beraten, an einem solchen Programm konstruktiv mitzuwirken. Das Mindeste, was die politisch Verantwortlichen verlangen können, sind verlässliche Informationen. Hier gibt es gänzlich inakzeptable Defizite, wie nicht nur das Beispiel der Bayerischen Landesbank gezeigt hat. Die weltweite Finanzkrise ist schlimm genug. Die zweite große Gefahr, vor der wir stehen, ist schlimmer – der auf breiter Front drohende dramatische Nachfrageeinbruch. Ein Dominoeffekt kann uns nicht nur in der Finanzindustrie, sondern auch in der Realwirtschaft vor enorme Probleme stellen. Die europäische und vor allem die deutsche Wirtschaft steht, wenn nicht entschlossen gehandelt wird, vor einer brandgefährlichen Verbindung aus Rezession und Deflation. Die Eigendynamik einer solchen
Entwicklung wäre, wenn sie erst ein bestimmtes Stadium erreicht hat, kaum noch beherrschbar. Der auf den Rohstoff- und Energiemärkten zu beobachtende Preisverfall ist nicht das einzige Warnsignal für Deflationstendenzen. Der konjunkturelle Aufschwung war in der Bundesrepublik bereits vorüber, als die Finanzmarktturbulenzen begannen. Nun stehen wir am Rand einer Rezession, die durch Deflationsgefahren noch verschärft wird. So entstand ein Handlungsdruck, dem die Wirtschafts- und Finanzpolitik mit Nachdruck gerecht werden muss. Wenn der Export nachlässt, was bereits klar erkennbar ist, muss die Binnenkonjunktur mit allen Mitteln gestärkt werden. Der frühere Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller (SPD), der 1967/68 die erste schwere Rezession der Nachkriegszeit bändigte, hat dafür die griffige Formulierung geprägt: »Die Pferde müssen wieder saufen.« Dieser Satz beschreibt die Situation, vor der wir auch heute stehen. Die Konsequenzen liegen auf der Hand. Um Deutschlands Zukunftsfähigkeit zu sichern, sind enorme Investitionen in die Infrastruktur dieses Landes nötig. Gezielte Maßnahmen für den Ausbau des Verkehrssystems, für das Bildungswesen, den Klimaschutz und andere Politikziele sind geboten. Die Liste der Dringlichkeiten ist wahrlich lang. Erforderlich ist das nicht nur, um einer schweren Stö-
Politik wieder normalisiert. Die kommenden zwei harten Jahre können Politik und Finanzwirtschaft nur gemeinsam durchstehen. Sonst nimmt das Land dauerhaft Schaden. Der Konflikt zwischen den Chefs der Geldhäuser und den Politikern ist leider nicht nur atmosphärisch, sondern reicht viel tiefer. Beide verstehen einander nicht, weil sie – anders als in den USA – eben nie die Seiten gewechselt haben. So kommt es, dass der Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) sich mittlerweile keinerlei Mühe mehr gibt, seine Entrüstung zu verbergen, wenn er über die Bankvorstände herzieht, weil sie offenbar zusätzlich zum Rettungspaket der Bundesregierung »noch einen Pralinenteller« als Anreiz erwarteten. »Das lässt sich teilweise an Absurdität nicht mehr übertreffen«, befand der Finanzminister. Die Bankchefs hingegen können den eigentlichen Grund für ihr Zögern, die 500 Milliarden Euro aus Berliner Kassen in Anspruch zu nehmen, nicht öffentlich benennen: Es geht nicht primär um die Auflagen, mit denen die Kanzlerin und ihr Kabinettskollege Steinbrück das Rettungspaket befrachtet haben, sondern um die Wirkungen, die derjenige auslöst, der (noch dazu als Erster) den Finger hebt: Die Gefahr ist, dass eine solche Bank an der Börse mehr einbüßt, als sie von den staatlichen Maßnahmen profitiert. Es ist ja kein Zufall, dass bislang nur drei Landesbanken Hilfen aus dem Rettungsfonds beantragen wollen. Die ebenfalls in Turbulenzen geratene Postbank verzichtet jedenfalls darauf, diesen Weg zu gehen, und ihr Vorstand reden ständig aneinander vorbei, weil sie nie die hat das Für und Wider mit Sicherheit reiflich erwogen. Seiten gewechselt und jeweils andere Denkweisen Niemand sollte von der Fikennengelernt haben. Doch nur mit gegenseitigem nanzindustrie erwarten, dass sie Verständnis können sie die Krise bewältigen gegen Gesichtspunkte des zentralen Geschäftsinteresses verstößt. Zu fordern ist jedoch von ihren rung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Topmanagern mehr Verständnis für die Politiker, vorzubeugen, sondern auch im Sinne der sozialen die das, was sie tun und unterlassen, vor der ÖffentSymmetrie. Die Hilfe für die Banken ist politisch lichkeit und den Wählerinnen und Wählern rechtund im Hinblick auf die gesellschaftliche Akzeptanz fertigen müssen. Bankenpräsident Klaus-Peter Mülnur zu rechtfertigen, wenn sie mit einem Paket von ler hat zu Protokoll gegeben, die Geldinstitute seien umfassenden Maßnahmen zur Stärkung der Inves- der Bundesregierung zu Dank verpflichtet, und er titions- und der Konsumgüterwirtschaft flankiert hat die Parole ausgegeben: »Hut ab!« Das war ein wird. Es kommt darauf an, dass davon auch die Schritt in die richtige Richtung. Die Finanzbranche breite Masse der Bevölkerung profitiert, und zwar und ihre maßgebenden Akteure sollten im eigenen in Euro und Cent. Interesse, aber auch im Hinblick auf ihre Pflichten Der Streit darüber, ob es sich dabei um ein Kon- gegenüber dem Gemeinwohl ihre grundsätzliche junkturprogramm im früheren Sinne mit der Gefahr Einstellung gegenüber der Politik überprüfen, für des Strohfeuereffekts handelt, geht am Kern des die umgekehrt Gleiches gilt. Nicht Pessimismus, Problems vorbei. Sie wird der Dimension der He- sondern Realismus ist es, der beide Seiten zu der rausforderung nicht gerecht, vor der wir stehen. Einsicht bringen sollte, dass ihre konstruktive ZuPunktuelle oder branchenspezifische Maßnahmen sammenarbeit gänzlich unerlässlich ist. Als der Wirtwie Anschaffungsprämien für klimafreundliche schaftsprofessor Nouriel Roubini, als »Nostradamus Neuwagen, die steuerliche Freistellung von Kran- der Wall Street« bekannt, im Februar dieses Jahres kenkassenbeiträgen und ähnliche Vorhaben mögen seine düstere Streitschrift Zwölf Schritte zum finanihre Berechtigung haben. Das Grundproblem lösen ziellen Desaster unter das New Yorker Börsenpublisie nicht. Und sie bannen nicht die politische Gefahr, kum brachte, bekam er ungläubige Kommentare zu dass von dem heraufziehenden ökonomischen Un- hören. Acht Monate danach steht auf der Agenda wetter diejenigen profitieren, die wie die Linkspar- der Finanzkrise nicht mehr nur die Schieflage von tei außer populistischen Sprüchen nichts anzubieten Geldhäusern, sondern von Staaten: Ungarn, Dänehaben, um die Krise zu bewältigen. mark, der Ukraine, Estland. Was wird in acht MoPolitiker und verantwortungsbewusste Banker naten sein? Niemand kann das sagen. Sicher ist nur: verbindet die gemeinsame Sorge – oder sollte man Wir werden uns sehr warm anziehen müssen. eher sagen: der Albtraum? –, dass sich ein solcher Finanz-Tsunami wiederholen könnte. Es ist von Harald Christ ist Aufsichtsrat der Beteiligungsfirma Christ elementarer Bedeutung, dass sich das derzeit gestör- Capital in Berlin. Zuvor war er Generalbevollmächtigter der te Verhältnis zwischen der Finanzindustrie und der Weberbank und Vorstand der Hamburger HCI Capital
Banker und Politiker
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fitabel, allerdings sank die Gewinnmarge unerwartet stark. Bis zum Jahresende will der Softwarekonzern daher rund 200 Millionen Euro sparen. Kagermann bleibt nicht viel anderes übrig, als beim Personal anzusetzen. Schon vor einigen Wochen wurde bekannt, dass die mehr als 50 000 Mitarbeiter dafür auf Dienstreisen zwischen den Standorten verzichten sollen. Zudem verhängte der Vorstand einen Einstellungsstopp. Stellenstreichungen schloss der SAP-Chef ausdrücklich aus. »Wir stellen nicht mehr ein, aber wir werden keine Arbeitsplätze abbauen«, sagte er. Über zwangsweise Betriebsferien zum Jahreswechsel werde derzeit noch intern verhandelt. ROH
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30. Oktober 2008 DIE ZEIT Nr. 45
IM TAGEBAU werden in der Trapper-Mine im US-Bundesstaat Colorado jährlich zwei Millionen Tonnen Steinkohle gefördert (großes Foto). Bergarbeiter fahren im chinesischen Zhongyang in die Mine ein; Braunkohleabbau in Deutschland; ein Kumpel der Zeche »Roter Oktober« in Donetsk/Ukraine; das Vattenfall-Pilotkraftwerk Schwarze Pumpe, wo eine CO2-arme Kohleverstromung getestet wird (rechte Seite, im Uhrzeigersinn von links oben)
Im Kohlerausch Nr. 2
Kohle – für die Nationen des Westens war sie die Grundlage allen Wachstums: Ohne Kohle kein Strom und kein Stahl, und ohne Strom und Stahl keine industrielle Revolution. Rund 2000 Kohlekraftwerke gibt es heute auf der Welt. In wenigen Jahren sollen es 5000 sein, weil auch Länder wie China bei ihrer Industrialisierung auf den schwarzen Rohstoff bauen. Aber Kohle ist auch der größte Klimafeind. Ein Drittel aller CO₂Emissionen in Deutschland stammen aus Kohlemeilern. Kohlenutzung und Klimaschutz – geht beides gleichzeitig?
Die Folgen im Überblick:
1. Solarzeitalter 2. Die Kohlefrage 3. Abenteuer Energie 4. Das große Sparen 5. Streiten fürs Klima
A
m Rande der englischen Kleinstadt Hatfield, hinter den von ersten Straßen durchzogenen Planquadraten eines künftigen Gewerbegebietes, erheben sich die alten Fördertürme einer fast 100 Jahre alten Kohlegrube. Geröll bedeckt den provisorischen Parkplatz vor dem Bürogebäude der Zeche, aus seinen Fenstern fällt der Blick auf Röhren, Winden und schweres Gerät für die Abbaustrecken unter Tage. Die Förderwelle steht an diesem Morgen still. Aber neue Schächte zu neuen, ergiebigen Flözen sind längst getrieben worden. Seit Januar wird in Hatfield wieder Kohle gefördert; eine Million Tonnen sollen es in diesem, 2,2 Millionen im nächsten und weit mehr als drei Millionen Tonnen im übernächsten Jahr sein. Die Zeche war lange tot, so tot wie fast alle Minen im Kohlerevier im Süden der Grafschaft Yorkshire. Nach dem großen Bergarbeiterstreik Anfang der achtziger Jahre wurden sie geschlossen; britische Kohle, einst die Grundlage für Großbritanniens Aufstieg zur industriellen Großmacht, galt fortan als weitestgehend überflüssig. Öl und Gas aus der Nordsee sollten die Wirtschaft antreiben. Jetzt gehen Öl und Gas zur Neige. Und während anderorts vom Übergang der Welt in ein klimaschonendes Solarzeitalter geträumt wird, ist in Hatfield die Kohle wieder da. Richard Budge, 57 Jahre alt, ein kräftiger Mann, der auch mal unter Tage mit anpackt, hat das schon immer geahnt. King Coal wird Budge in der britischen Presse genannt. Kurz nach der Jahrtausendwende erwarb der schwerreiche Unternehmer das alte Bergwerk in Hatfield, seither haben er und seine Partner 140 Millionen Euro in die Grube gesteckt. Mindestens 100 Millionen Tonnen Kohle sollen dort in 700 Meter Tiefe schlummern. 350 Leute arbeiten inzwischen im Dreischichtbetrieb rund um die Uhr. Die Zeche mache »wirtschaftlich Sinn«, sagt Budge – weil sie effizient sei, weil Öl und Gas weniger und im Vergleich zur Kohle teurer würden: »Ich habe Spaß, Geld zu verdienen. Deswegen bin ich in diesem Geschäft.« Der Kohlemillionär möchte, dass Großbritannien noch viel mehr auf Kohle setzt – so, wie es auch andere Länder tun. Budge spricht eloquent vom Klimawandel, er weiß, dass Kohle die dreckigste und für das Klima schädlichste Energiequelle überhaupt ist. Auch darauf hat er eine Antwort: Seine Zeche soll nicht nur ein Beispiel für die Renaissance der Kohle sein, neben ihr soll für weit über eine Milliarde Euro ein Kraftwerk entstehen, in dem das Klimagift CO₂ aus der Kohle abgeschieden, über ein Pipeline-System in alte Ölförderstätten in der Nordsee geschickt und dort auf Dauer gelagert wird. »Wir machen unsere Kohle grün«, sagt Budge. Grüne Kohle? Zwei Zugstunden südlich von Hatfield, im fünften Stock eines schmalen Bürohauses an der eleganten Londoner Regent Street, lächelt Milton Catelin, als er diesen Satz hört. Der Satz gefällt ihm, er könnte auch von ihm stammen. Catelin ist Chef des World Coal Institute, das von großen Kohlekonzernen und diversen nationalen Kohleverbänden – darunter auch dem deutschen – finanziert wird. Der joviale Australier ist Kohle-Lobbyist, ein ständiger Gast auf internationalen Klimakonferenzen, während derer es um die künftige Energieversorgung und um den Kampf gegen den Klimawandel geht. Er streitet wider das schlechte Image der Kohle. Er wirbt um ihren Einsatz. Wie Richard Budge findet er, dass es ohne sie nicht geht.
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Das zeigen, meint Catelin, schon die Statistiken – nicht nur seine, sondern auch die aus neutraleren Quellen wie der Internationalen Energieagentur (IEA). Danach ist der Weltkohleverbrauch zwischen 1995 und 2007 um über die Hälfte gestiegen und könnte sich bis 2030 noch einmal annähernd verdoppeln. Vor allem in den kräftig wachsenden Schwellenländern China und Indien hat die Nachfrage rasant zugenommen. Aber auch in den etablierten Industrienationen zeigen die Verbrauchszahlen seit Jahren nach oben. Das sei kein Wunder, sagt Catelin: Schließlich nähme fast überall auf der Welt der Energiehunger zu, zugleich habe die Preisexplosion bei Öl und Gas die Kohle als Stromerzeuger noch einmal attraktiver gemacht. Und dann die Verteilung der Lagerstätten: »Mehr als 50 Prozent der weltweiten Gasreserven werden von drei Ländern kontrolliert. 13 Nationen teilen sich einen großen Teil des Öls. Kohlereserven aber gibt es in 70 Staaten der Erde.«
In Deutschland sorgt Kohle für fast die Hälfte des Stroms Wie groß diese Reserven genau sind, ist wie bei allen fossilen Energiequellen umstritten. Jedenfalls aber findet sich auf der Welt genügend Kohle, um die derzeitige Förderung noch mindestens 130 Jahre lang zu sichern – zwei- bis dreimal länger als mit Gas oder Öl aus konventionellen Förderstellen. Klar ist auch, dass die Welt auf Kohle setzt: Die IEA schätzt, dass die Zahl der weltweit betriebenen Kohlekraftwerke bis 2030 von derzeit rund 2000 auf etwa 5000 steigen wird. Wieder sind dafür nicht nur die Schwellenländer Asiens verantwortlich: In Italien etwa dürfte in fünf Jahren ein Drittel des Stroms mit Kohle produziert werden, heute sind es 14 Prozent. In Großbritannien ist Kohle bei der Elektrizitätserzeugung wieder wichtiger als Gas. Deutschland will mehr als zwei Dutzend neue Meiler ans Netz bringen, ganz Europa mindestens 50. Selbst Oman und Dubai bauen neue Kohlekraftwerke. Zwei Drittel der Kohle gehen in die Stromproduktion, ein Drittel geht in die Industrie. Weltweit ist sie für 40 Prozent der Elektrizitätserzeugung verantwortlich, in Deutschland sorgt sie für knapp die Hälfte des Stroms. »Überall verfügbar, leicht zu transportieren, relativ billig, eine gesicherte Versorgung: Was will man mehr?«, fragt Catelin. Natürlich kennt der Lobbyist die Einwände, die jetzt kommen: Schon ein modernes Steinkohlekraftwerk mit 1000 Megawatt Leistung setzt jährlich mindestens sechs Millionen Tonnen CO2 frei – so viel wie aus den Abgasen von zwei Millionen Autos stammt. Braunkohlemeiler und ältere Kraftwerke sind noch erheblich dreckiger. Pro Kilowattstunde ist Kohle etwa doppelt so klimaschädlich wie Gas. Die Internationale Energieagentur hat ausgerechnet, dass mit dem Neubau von 3000 Kohlekraftwerken die Kohlendioxidemissionen um 57 Prozent steigen werden. Würde es dazu kommen, wäre der Kampf gegen den Klimawandel verloren. »Waren Sie in Schwarze Pumpe?«, fragt Milton Catelin. Über dem Ortsteil der Kleinstadt Spremberg steht am Mittag des 9. September 2008 ein strahlender Spätsommerhimmel. Sein Blau kontrastiert mit dem Weiß der mächtigen Blöcke und dem Silber der Kessel und Rohre des vom schwedischen Energiekonzern Vattenfall betriebenen Kraftwerks am Ortsrand. Es ist ein idealer Tag, um die Hoff-
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nung zu nähren, dass Kohle und Klimaschutz zusammen gedacht werden können. Zwei Wörter werden in den nächsten Stunden immer wieder benutzt: »Zukunft« und »sauber«. Schwarze Pumpe liegt im Herzen des brandenburgischen Braunkohlereviers und galt zu DDRZeiten als einer der schmutzigsten Orte Deutschlands. Ruß und Staub gibt es nicht mehr, seit anstelle des alten Braunkohlekraftwerks ein moderner Meiler in die Höhe gewachsen ist. Geblieben sind freilich die unsichtbaren Emissionen. Auf einer von der Umweltorganisation WWF erstellten Liste der 30 dreckigsten Kraftwerke Europas nimmt Vattenfalls Meiler Platz 14 ein. Sein CO2Ausstoß liegt nach WWF-Angaben bei jährlich 12 Millionen Tonnen. Jetzt aber soll der Nachweis geführt werden, dass auch das unsichtbare Gift aus der Kohle entfernt werden kann. Der Konzern hat Hunderte Gäste geladen, dazu zahllose Journalisten und mehr als ein Dutzend Kamerateams. Auf der Bühne stehen künstliche Sonnenblumen, das Symbol der Grünen. Vattenfalls Europachef Tuoma Hatakka spricht davon, dass in Schwarze Pumpe »Industriegeschichte geschrieben wird«. Sein Auftritt ist Teil einer gewaltigen PR-Kampagne der Energiebranche. Milton Catelin ist daran beteiligt, jeder Kohlekonzern, jeder deutsche und internationale Kraftwerksbetreiber. In Berlin haben E.on, RWE, Vattenfall und EnBW zusammen mit anderen Unternehmen das »Informationszentrum klimafreundliches Kohlekraftwerk« gegründet, dessen einzige Aufgabe es ist, CCS populär zu machen – Carbon Dioxid Capture and Storage. Zu Deutsch das, was auch Richard Budge in Hatfield versuchen will: Kohlendioxid aufzufangen und dann zu vergraben, tief in der Erde. Europaweit sollen ein Dutzend Pilotprojekte in den nächsten Jahren beweisen, dass das geht. Vattenfall eröffnet am 9. September um kurz nach drei in Schwarze Pumpe neben seinem großen Meiler feierlich eines davon, ein kleines Kraftwerk, dessen CO2 in einer 3500 Meter tiefen Lagerstätte in Salzwedel in Sachsen-Anhalt verklappt werden soll. »Mindestens 90 Prozent« des Klimagases könnten abgeschieden werden, sagt Vattenfalls oberster Konzernlenker Lars Josefsson. Der Kohle gehöre damit auch weiter »die Zukunft«, sagt Hatakka. »Eine neue Technologiegeneration hat das Licht der Welt erblickt«, meint Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck. Aber stimmt das wirklich? In kleinem Maßstab sind die drei zur CO2-Abscheidung verfügbaren Technologien kaum ein Problem – in großen Anlagen dagegen unerprobt. Noch sind die Verfahren extrem teuer und führen zu hohen Verlusten im Wirkungsgrad der Kraftwerke, das heißt, es muss mehr Kohle verfeuert werden, um die gleiche Menge Strom zu erzeugen. Dazu kommt die gewaltige Dimension des CCS-Projekts: Alle 30 Meiler der WWF-Liste etwa kommen pro Jahr auf Emissionen von rund 390 Millionen Tonnen – die Menge Kohlendioxid also, die über Hunderte Kilometer lange Pipelines abtransportiert und irgendwo für alle Zeiten verstaut werden müsste. Das wäre nur das Gift aus einigen europäischen Kraftwerken. Würde man sämtliches CO2 aus den heute in den USA laufenden Kohlemeilern speichern wollen, müsste dort jährlich doppelt so viel Kohlendioxid verfrachtet werden wie die Vereinigten Staaten gegenwärtig an Öl transportieren. Jetzt schon. Und bis 2030 soll
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sich die Zahl der Kohlemeiler weltweit mehr als verdoppeln. Dennoch schreibt der mit dem Friedensnobelpreis bedachte Weltklimarat der Vereinten Nationen, nur mit Carbon Dioxid Capture and Storage seien Kohle nutzbar und die Klimaziele zu erreichen. Auch Klaus Töpfer, der frühere Chef der UN-Umweltorganisation, glaubt, dass man mittelfristig – trotz verstärkter Nutzung erneuerbarer Energien und trotz mehr Energieeffizienz – nicht auf Kohle verzichten könne und dass ihre saubere Verbrennung und die Abtrennung von Kohlendioxid jetzt »erstmals möglich« sei. Töpfer sagt allerdings auch, dass die Herausforderung, Kohle und Klimaschutz zu verbinden, in ihren Dimensionen so groß sei wie das Mondlandeprogramm der USA vor knapp 40 Jahren. »Klimaschutz ist ein Mix vieler Mondlandeprogramme«, sagt Manfred Fischedick.
Theoretisch kann der gesamte CO2Abfall der Menschen vergraben werden Fischedick sitzt in seinem Büro in einem wuchtigen Altbau nahe des Wuppertaler Bahnhofs, neben sich sein Kollege Peter Viehbahn, vor sich auf dem Tisch Studien, Broschüren, Akten. Darin Tabellen, Erklärungen und Konzepte – die ganze Welt von CCS. Fischedick gilt in Deutschland als einer der besten Kenner der neuen Technologie, in der Branche ebenso wie bei den Umweltverbänden und in der Politik. Für das Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie haben er und seine Kollegen sich über praktisch jeden Aspekt von CCS gebeugt. Das Votum der Wissenschaftler: Die Technologie sei umsetzbar und könne »eine Brückenfunktion« übernehmen, bevor in einigen Jahrzehnten der meiste Strom aus erneuerbaren Energien komme. Ob mit CCS die Elektrizitätserzeugung profitabel sei, müsse allerdings bezweifelt werden. Und die Speicherung von Kohlendioxid bleibe »eine gewaltige logistische Herausforderung«. CO2 ist ein gefährliches Gas. Wer es einatmet, kann daran sterben. Allerdings, so Experten wie Fischedick, sei sein Gefahrenpotenzial »absolut nicht vergleichbar« mit den strahlenden Resten aus Atomkraftwerken – und sein Transport technisch beherrschbar. Unklar ist dagegen, ob die Lagerung gelingt. Ob das Gas also wirklich für viele Generationen sicher unter der Erde bleibt. Theoretisch stehen weltweit Lagerstätten zur Verfügung, in denen für zwei- oder dreihundert Jahre der gesamte CO2-Abfall der Menschheit vergraben werden könnte. Die Lagerungskapazität in Deutschland wird nach ersten groben Schätzungen vom Wuppertal-Institut auf das 30- bis 60-Fache der jährlichen Kohlendioxid-Emissionen des gesamten deutschen Kraftwerkparks beziffert. Für die Unterbringung des Klimagases bieten sich dabei vor allem aufgegebene Öl- und Gasfelder oder wasserhaltige, poröse Gesteinsschichten weit unterhalb der Erdoberfläche an. Erfahrungen gibt es bereits: Vor der Küste Norwegens pumpt der Statoil-Konzern seit elf Jahren jährlich eine Million Tonnen CO2 in eine Lagerstätte über dem Sleipner-Erdgasfeld. Im kanadischen Weyburn hilft verpresstes Kohlendioxid dabei, mit mehr Druck mehr Öl zu fördern. Auch in Salah in Algerien werden seit 2004 jährlich eine Million Tonnen Klimagift unter der Erde verbunkert. Unfälle hat es bisher nicht gegeben. Dennoch sei die CO2-Lagerung noch »ein riesiger weißer Fleck«, sagt Klimaforscher Viehbahn.
Foto (Ausschnitt): Christopher LaMarca/Redux/laif
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Der Kohle-Boom Entwicklung des Kohleverbrauchs (in Millionen Tonnen) 1995
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Quelle: IEA, Zahlen für 2007 geschätzt, *30 überwiegend westliche Industrienationen,
Schmutziger Strom Anteil der Kohle an der Elektrizitätserzeugung (in Prozent) Polen
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Quelle: IEA, alle Zahlen 2006, außer *2005
Viel Dreck für Deutschland Diskutierte Standorte für neue Kohlekraftwerke
Fotos [M] im Uhrzeigersinn: The NewYorkTimes/Redux/laif; Milan Horacek/Bilderberg; Rainer Weisflog; action press
Ausgerechnet die schmutzigste Energie-Ressource erlebt einen ungeahnten Boom. Das muss kein Schaden für das Klima sein – wenn eine neue Technik funktioniert VON CHRISTIAN TENBROCK Zwar schreibt der Weltklimarat, dass nach den bisherigen Erfahrungen »wahrscheinlich« 99 Prozent des verklappten Klimagifts auch nach tausend Jahren noch sicher lagern würden. »Generelle Aussagen« reichten allerdings »zur konkreten Standortentscheidung nicht aus«, hält der Forschungsausschuss des Bundestages in einem Bericht dagegen. »Hier ist noch viel Forschungsund Prüfarbeit nötig«, meint auch Viehbahn. Schon die ist teuer. Teuer ist auch der gesamte CCS-Prozess. Vattenfalls Fachleute in Schwarze Pumpe gehen davon aus, dass die Kosten für die Abtrennung, den Transport und die Lagerung einer Tonne CO2 künftig bei rund 35 Euro liegen werden. Diese Ausgaben würden dem Preis entsprechen, den Kraftwerksbetreiber von 2013 an im europäischen Emissionshandel wahrscheinlich für eine Tonne emittierten Kohlendioxids bezahlen müssten. Mithin wäre die CO2-Vermeidung durch CCS kein Verlustgeschäft. Fischedick und Viehbahn dagegen glauben, dass die Ausgaben bei 50 bis 80 Euro pro Tonne liegen werden. Rechnen würde sich die Technologie dann nur, wenn die Politik die Preise im Emissionshandel entsprechend hoch setzte. Schon im Jahr 2020, so die Wuppertaler Fachleute, könnte Wind- oder Solarstrom überdies billiger sein als Elektrizität aus »grüner« Kohle. »Rein ökonomisch betrachtet, würde CCS also keine Vorteile bieten«, sagt Fischedick. Aber klimapolitisch. Weil Kohle – vor allem global – weiter genutzt werde und die Energieversorgung vorerst mit erneuerbaren Quellen nicht gewährleistet sei, müssten die Abscheidung perfektioniert, die Pipelines gebaut und die Lagerung gesichert werden, empfiehlt der Wissenschaftler. Nur CCS könne über die Zeit hinweghelfen, in der Biomasse, Wasserkraft oder modernste Solarund Windanlagen nicht den überwiegenden Teil der Stromnachfrage befriedigen würden – schon gar nicht, wenn auf Atomkraft verzichtet werden soll: »Gerade dort, wo in den nächsten Jahrzehnten die meisten Kohlekraftwerke gebaut werden, brauchen wir die CCS-Technologie unbedingt.« In China zum Beispiel. Am 1. Oktober feierte das Riesenreich seinen Nationalfeiertag. Im Land ruhte die Arbeit. Nicht aber in der Zeche Tashan in der Region Datong, dem größten Kohlerevier
Chinas. Seit 27 Jahren fährt hier der Kumpel Wang Kuikui ein. Im Februar stand Staatspräsident Hu Jintao an der Mine und forderte Bergleute wie ihn auf, härter zu arbeiten – damit dem »Fortschritt Chinas nicht das Licht ausgeht«. 600 000 Tonnen sollen die Arbeiter im Monat aus den Stollen fräsen, viermal so viel wie zuvor. »Wir schaffen das«, sagt Wang Kuikui – wenn nötig auch am Feiertag. China produziert knapp 80 Prozent seines Stroms in Kohlekraftwerken. Zwei Drittel aller Heizungen laufen mit dem dreckigen Rohstoff. Damit verfeuert das Land inzwischen mehr Kohle als die USA, die EU und Japan zusammen. Weil mit dem rasenden Wirtschaftswachstum auch der Energieverbrauch rasant zunimmt, gehen zudem wöchentlich ein bis zwei weitere Meiler ans Netz. Bis 2030 soll sich die Kraftwerkskapazität noch einmal verdreifachen – und in sieben von zehn neuen Meilern soll der Strom auch in Zukunft mit Kohle erzeugt werden.
In zwei Jahren wird China zum weltgrößten Emittenten von Kohlendioxid Bislang ist Kohle in China praktisch ohne Alternative. Das Land hat die zweitgrößten Vorkommen der Welt und will auf diese sichere Energieressource nicht verzichten. Damit wird der Wirtschaftswunderstaat schon in zwei Jahren der weltweit größte Emittent von Kohlendioxid sein. Und schon heute liegt es, was den CO₂-Ausstoß aus Kraftwerken angeht, gleichauf mit den USA. Trotzdem gibt es Hoffnung. Klimaforscher Fischedick etwa glaubt, dass China in der Kraftwerkstechnik mehrere Schritte auf einmal machen möchte – und dazu gehört auch CCS. Bereits im nächsten Jahr, also lange vor allen europäischen Projekten, soll in der Hafenstadt Tienjin ein erstes großes Kohlekraftwerk in Betrieb gehen, das mithilfe der IGCC-Technik (siehe Kasten) CO2 abscheidet und zur Speicherung aufbereitet. Bis 2010, so der Pekinger Energieexperte Xiao Yunhan, sind fünf weitere IGCC-Meiler geplant. Zugleich haben die chinesischen Wirtschaftsplaner die CCS-Forschung als »zentrale Technologie« festgeschrieben – was ein Maximum an staatlicher Förderung verspricht. Auch mit dem Ausland wird eng kooperiert. Auf dem Weg zu »grüner« Kohle
lenmonoxid, das durch die Zugabe von Wasserdampf in Wasserstoff und Kohlendioxid verwandelt wird. Es kann relativ leicht abgetrennt werden; der Wasserstoff wird zur Stromerzeugung im Kraftwerk genutzt. Der Vorteil des IGCC-Verfahrens: Vereinzelt wird es auch großtechnisch bereits angewandt. Allerdings sind die Kraftwerke bis zu doppelt so teuer wie herkömmliche Meiler. Vattenfall will das sogenannte Oxyfuel-Verfahren testen. Bei ihm findet die Abtrennung während der Verstromung statt. Kohle wird dabei in reinem Sauerstoff verbrannt. Aus dem Abgas lässt sich dann CO₂ abtrennen. E.ons Pilotprojekt im niederländischen Maasvlakte schließlich testet die Abscheidung nach der Stromproduktion. Hier wird das CO₂ aus dem bei der Verbrennung entstehenden
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Lubmin Hamburg
arbeiten die Chinesen mit Forschern aus den USA, Australien, Japan und Südkorea zusammen. »Der Umfang und die Möglichkeiten beim Einsatz von Carbon Dioxid Capture and Storage hängen auch von der Unterstützung und der Hilfe der internationalen Gemeinschaft ab«, sagt Fu Ping, der sich im Pekinger Ministerium für Wissenschaft und Technik mit globalen Umweltfragen beschäftigt. Übersetzt heißt das: Je mehr der Westen in CCS investiert, desto mehr tut das auch China. Ähnliches gilt für die anderen großen Schwellenländer. In Indien soll sich die Kapazität der Kohlemeiler bis 2030 vervierfachen, Russland will den Kohleverbrauch verdoppeln, um damit mehr Gas in den lukrativen Export schicken zu können. Schon moderne Kohlekraftwerke stoßen dabei weniger CO₂ aus als alte Meiler (siehe Grafik). Würden China und Indien auf einen Schlag ihren gesamten Kraftwerkspark erneuern, würde sich die Belastung der Atmosphäre durch Kohlendioxid sofort um einige Hundert Millionen Tonnen verringern. Aber was jetzt noch als riesiger Fortschritt erscheint, reicht morgen längst nicht aus. Kraftwerke sind in der Regel ein halbes Jahrhundert am Netz. Soll der Klimakollaps verhindert werden, wird man jedoch schon in 20 oder 30 Jahren mehr CO2 einsparen müssen, als es selbst der heute modernste Kohlemeiler schafft. Die Branche setzt deshalb auf Nachrüstung. Wie das gehen soll, demonstriert zum Beispiel E.on in seinem Kohlekraftwerk Maasvlakte, einer 900-Megawatt-Anlage an der Mündung des Hafens Rotterdam. Neben ihr soll ein weiterer Meiler gebaut werden, den E.on als capture ready bezeichnet – bereit, CO2 nach dem Verstromungsprozess aufzufangen. Die gerade angelaufene kleine Pilotanlage für dieses Verfahren wirkt unter den riesigen Kraftwerkstürmen wie ein Spielzeug. Ihr werde, versichert E.ons CCS-Experte Markus Ewert, etwa 2014 ein mittelgroßes Probekraftwerk folgen. Von 2020 an sei man schließlich bereit, auch große Meiler mit einer nachträglichen Reinigungsanlage auszurüsten – die hätte dann die Ausmaße eines Fußballfelds. Das Jahr 2020 ist das Datum, das die Unternehmen immer wieder nennen. Von dieser Zeit an sollen alle Verfahren für Carbon Capture and Storage auch in großem Maßstab einsetzbar sein.
Warum aber dann – zumindest in den westlichen Industrienationen – nicht vorerst auf den Neubau von Kohlekraftwerken weitgehend verzichten? Der Experte Fischedick glaubt, dass allein in Deutschland etwa zwei Drittel der geplanten Kapazität aus neuen Kohlemeilern völlig unnötig sind, um die Stromversorgung zu sichern. Noch radikaler argumentieren die Grünen, deren offizielle Parteilinie nicht nur gegen Atomkraft, sondern auch gegen jeglichen Ausbau der Kohlekraft ist – und die sich damit im Einklang mit zahllosen Demonstranten in allen Teilen der Republik findet, die regelmäßig die Bauplätze neuer Kohlekraftwerke belagern. Dies sind nicht die einzigen politischen Hindernisse, die »grüne« Kohle überwinden muss. Weltweit, in Europa und in Deutschland fehlt bislang das rechtliche Regelwerk für die neue Technologie – von der Genehmigung der Kraftwerke über den Bau und die Trassenführung bei den Pipelines bis hin zu den Haftungsfragen bei der Lagerung. Weil CCS-Anlagen etwa doppelt so teuer sein werden wie herkömmliche Kraftwerke, will die Branche zudem spätestens nach Ende der jetzt laufenden Pilotphase Geld vom Staat. »Sonst hätte ich einen Wettbewerbsnachteil«, sagt in Hatfield Richard Budge. »Unterstützung gibt es schließlich auch für Wind- und Sonnenenergie«, findet der Lobbyist Milton Catelin in London. Carbon Capture and Storage sei nur »im Rahmen einer Partnerschaft zwischen Staat und Unternehmen« zu realisieren, urteilt in Schwarze Pumpe Lars Josefsson. Ohne Kohle gehe es nicht, sagte während des Essener Steinkohletages im November 2007 Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel. Rahmenbedingungen für CCS und insbesondere für die Lagerung von CO2 müssten jetzt geschaffen werden. »Mit fröhlichem Gemüt und ohne breite Ablehnungsbewegung«, sagte Merkel. Frohsinn allein allerdings wird wohl nicht reichen. Amerikas Mondlandeprogramm war am Ende sehr erfolgreich. Aber auch sehr, sehr teuer.
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Steinkohle
Braunkohle
Quelle: BUND
Immer weniger CO2 Mit höherem Wirkungsgrad der Kraftwerke sinken die Kohlendioxid-Emissionen Kraftwerke weltweit
in der EU
moderne
(Durchschnitt)
nächste CO2-arme Generation mit CCSTechnologie
Wirkungsgrad (in Prozent) 30
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Kohleverbrauch (in Gramm je Kilowattstunde) 480
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CO2-Ausstoß (in Gramm je Kilowattstunde) 1116 881 743
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80 bis 100 i Weitere Informationen auf ZEIT ONLINE: www.zeit.de/energie
ZEIT-GRAFIK/Quelle: RWE
Onshore Offshore
Rauchgas mithilfe chemischer Lösungen ausgewaschen und kann dann aufgefangen werden. Diese Post-combustion-Technologie kann nachträglich installiert werden – vermindert aber den Wirkungsgrad eines Kraftwerks um bis zu zehn Prozent. Auch das Oxyfuel-Verfahren ist sehr energieintensiv. Hier wie dort müsste nach dem gegenwärtigen Stand der Technik sehr viel mehr Kohle verbrannt werden, um die gleiche Menge Strom zu erzeugen. Die CO2-Abscheidung werde die Effizienzfortschritte der letzten 50 Jahre kosten und den Ressourcenverbrauch um ein Drittel erhöhen, warnt das Fraunhofer-Institut in einer Studie. Und selbst wenn die Verfahren funktionieren, entstehen keine CO2-freien, sondern höchstens CO₂-arme Kraftwerke: Über die gesamte Prozess-
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MITARBEIT: FRANK SIEREN
Treibhausgas unter die Erde verfrachten Im Prinzip ist die Sache einfach: Das bei der Verbrennung von Kohle entstehende Kohlendioxid soll aufgefangen, abgesondert und über Rohre dorthin geleitet werden, wo es herkommt: unter die Erde. Carbon Dioxid Capture and Storage nennt sich das (siehe nebenstehende Grafik). Die Abscheidung des Klimagifts im Kraftwerk stellt zwar – wie sein Transport und seine Lagerung – keine unüberwindbare technische Hürde dar. Nur ist sie teuer und in großem Maßstab bislang weitgehend unerprobt. Zur CO₂-Abtrennung gibt es grundsätzlich drei Optionen. Bei den in China oder von dem englischen Kohlemillionär Richard Budge in Hatfield geplanten IGCC-Kraftwerken (Integrated Gasification Combined Cycle) wird der Rohstoff vor der Verstromung zunächst vergast. Dabei entsteht Koh-
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Brunsbüttel Wilhelmshaven
kette der Kohleverstromung betrachtet, ergibt sich nach Angaben des Wuppertal-Instituts ein CO₂Reduktionspotenzial von höchstens 78 Prozent. Schon das würde bedeuten, dass ein Steinkohlekraftwerk während seiner etwa 50-jährigen Laufzeit nicht mehr für mindestens 300 Millionen Tonnen CO₂-Emissionen verantwortlich ist, sondern »nur« noch für etwa 60 Millionen. Ob dieser Fortschritt kommt, werden die nächsten 15 Jahre zeigen. Die Branche ist optimistisch – auch weil ihr gar nichts anderes übrig bleibt. Wenn Carbon Dioxid Capture and Storage nicht gelinge, »wird Kohle aus klimapolitischen Gründen keine gesellschaftliche Akzeptanz finden«, sagt E.on-Chef Wulf Bernotat. Zumindest nicht im industrialisierten Westen der Welt. TEN
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CO2
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nicht abbaubare Kohlelagerstätten
leere Ölund Gaslager
tiefliegende wasserhaltige Gesteinsschichten
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DIE ZEIT
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WIRTSCHAFT
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30. Oktober 2008 DIE ZEIT Nr. 45
WAS BEWEGT …
Fotos: Janni Chavakis für DIE ZEIT (o.); W. M. Weber/TV-yesterday; HELIOS (u.)
Francesco de Meo?
Hart und locker Der Helios-Chef führt eine der größten Krankenhausgruppen Deutschlands. Sparen und heilen – wie will er das schaffen? VON JONAS VIERING
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lein sieht er aus, wie er da unten vor den steil ansteigenden Sitzreihen des Hörsaals im Klinikum Krefeld steht. Vor ihm Ärzte im weißen Kittel, Techniker, Verwaltungsangestellte. Tuschelnd schauen sie hinunter auf ihren Chef, auf Francesco de Meo vom Klinikkonzern Helios. Ende 2007 hat Helios das Krefelder Krankenhaus gekauft, viel Unruhe gab’s, sogar einen Fackelzug besorgter Bürger. Und jetzt steht de Meo da unten und wirkt so gar nicht wie ein Konzernboss und böser Privatisierer. Statt Seidenkrawatte und Gelfrisur trägt er Polohemd und Wuschelschopf. Und dann liest er auch noch etwas vor aus Der kleine Prinz von Saint-Exupéry: »Man kennt nur die Dinge, die man zähmt.« Das Publikum raunt. Um den Abbau von Distanz und Angst gehe es, um das Erkennen und Verändern, erklärt de Meo mit Blick in die Ränge. Auf seinem Laptop klickt er ein paar Grafiken an, die groß hinter ihm auf der Wand erscheinen: der Personalabbau in deutschen Kliniken von 876 000 auf 796 000 Mitarbeiter, die Zunahme der Behandlungsfälle von 14,6 auf 16,9 Millionen, dies alles seit 1991. »Das führt zu Arbeitsverdichtung – und die Angst ist berechtigt, dass es auf Kosten der Qualität geht«, sagt de Meo. Das Krankenhaussystem stehe insgesamt unter Druck. Die Krefelder Klinikmitarbeiter dürften ihre Sorgen nicht allein an der Übernahme durch einen privaten Träger festmachen. De Meo doziert nicht, er wirbt. Das mit dem kleinen Prinzen sei ihm eingefallen, sagt er, weil er daraus immer seinen Kindern vorlese. »Der ist aber süß«, wird später beim Rausgehen eine blondierte Verwaltungsangestellte sagen.
Haushalte unter Druck – Privatkliniken willkommen Der 44-jährige de Meo – ein Gastarbeiterkind, der Vater war Italiener, die Mutter Deutsche – steht seit Anfang des Jahres an der Spitze von Helios, dem drittgrößten Klinikkonzern in Deutschland. Die Branche wächst schnell, indem sie öffentliche Krankenhäuser aufkauft. 2007 hat Helios nach eigenen Angaben bei mehr Privatisierungen den Zuschlag bekommen als alle Konkurrenten. Umsatz und Gewinn wachsen zweistellig. Zwar sind derzeit nur etwa 14 Prozent des deutschen Krankenhausmarktes in privater Hand, doch entscheidend ist der Trend. Im vergangenen Jahrzehnt hat sich die Zahl der Betten in privaten Kliniken beinahe verdoppelt. Die öffentlichen Haushalte sind unter Druck, viele kommunale Häuser arbeiten noch immer nicht kostendeckend – da kommen die Privaten gerade recht. Aber es wächst auch die Skepsis gegenüber dem Rückzug des Staates. Unlängst schlug die Gewerkschaft ver. di Alarm: Nicht einmal in den USA werde im Gesundheitswesen so viel privatisiert wie hier. Intern hieß es lange bei ver.di, dass unter all den bösen Privatisierern Helios der Gute sei. Das hatte eine Menge mit de Meo zu tun. Seit 2001 ist er Arbeitsdirektor im Konzern und steht jetzt als Vorsit-
Gesundmacher Helios ist einer der großen Krankenhausbetreiber in Deutschland. Mit einem Umsatz von 1,84 Milliarden Euro liegt das Unternehmen auf Platz drei hinter Asklepios (2,3 Milliarden Euro) und Rhön (2,02 Milliarden). Es betreibt derzeit 61 Kliniken mit rund 17 700 Betten, die größten Häuser sind in Erfurt, Berlin-Buch, Wuppertal, Schwerin und Krefeld. Pro Jahr werden mehr als eine halbe Million Menschen stationär bei Helios behandelt. Helios wurde 1994 von dem Mediziner Lutz Helmig gegründet. Das Unternehmen spaltete sich damals von der Klinikgruppe Asklepios ab, an deren Gründung Helmig 1987 ebenfalls beteiligt war. Er führte Helios bis zum Jahr 2000 selbst. Für rund 1,5 Milliarden Mark verkaufte er 2005 die Klinikgruppe an den Bad Homburger Gesundheitskonzern Fresenius, zu dem sie seither gehört. Den Firmensitz verlegte Helios im vergangenen Jahr von Fulda nach Berlin. Der Klinikkonzern beschäftigt 2600 Ärzte. Vor einigen Wochen hat sich Helios mit dem Marburger Bund geeinigt, die Arztgehälter rückwirkend zum 1. Juni 2008 um durchschnittlich neun Prozent anzuheben. Im Mai 2009 werden sie dann um weitere drei Prozent steigen. Um den Nachwuchs zu binden, zahlt Helios, anders als viele kommunale Krankenhäuser, heute pro Monat 400 Euro Aufwandsentschädigung an Medizinstudenten in ihrem praktischen Jahr. Sie soll bis 2010 auf 700 Euro steigen. JUN
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zender der Geschäftsführung an dessen Spitze. Er führt jede Kaufverhandlung, jede Tarifverhandlung selbst. In anderen Konzernen machen das Berater und Anwälte. De Meo ist das Gesicht der Privatisierung. Er weiß das. »Ich habe da eine bestimmte Funktion. Ich bin die Projektionsfläche für Emotionen, ich bin als Mensch präsent.« Ihn kennzeichnet eine eigentümliche Mischung aus Gefühl und Härte. Und die funktioniert. Nicht so von oben herab sei dieser de Meo, sagt Gabriele Gröschl-Bahr von ver.di. Andere Manager seien oft aufgeblasen, »erfüllt von ihrer Wichtigkeit«. De Meo sei anders. »Sehr geradeheraus« hat ihn die Gewerkschafterin noch vor einigen Monaten genannt. Inzwischen hat sich ihr Bild verdüstert. Sie ist »ziemlich sauer«, weil Helios seine Mitarbeiter nicht für die Berliner Großkundgebung gegen die ungenügende staatliche Finanzierung der Krankenhäuser freigestellt hat. Offenbar gehe es Helios nur darum, angeschlagene Häuser noch leichter kaufen zu können. Andererseits ist de Meo ein Pionier, was Entgelt und Arbeitsbedingungen angeht. Als erster Krankenhauskonzern schloss Helios einen Tarifvertrag mit ver.di ab und setzte damit einen Maßstab für die anderen Privaten. Der Vertrag war in Teilen sogar besser als der des öffentlichen Dienstes. Laut ver.di lägen die Gehälter im Schnitt etwas höher, Mediziner würden bei der Facharztausbildung unterstützt. Und dann ist da noch dieser Kinderzuschlag, den es vorher nirgends sonst gab, wie Gröschl-Bahr sagt. Wer vor Ablauf von drei Jahren aus der Erziehungszeit in die Klinik zurückkehrt, erhält einen Zuschuss zu den Kosten der Kinderbetreuung. Das alles geschieht nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit. »Helios weiß, dass die Ergebnisqualität mit der Arbeitszufriedenheit zusammenhängt«, sagt der Gesundheitsökonom Alexander Karmann von der Technischen Universität Dresden. Der Kinderzuschuss nutzt dem Unternehmen, weil Mütter nicht so lange aussetzen. Beim nahenden Ärztemangel ist es schlau, als Arbeitgeber besondere Angebote zu machen. Und wer der Kinder wegen jahrelang zu Hause bleibt, büßt berufliche Qualifikation ein. »Bei der Personalentwicklung ist Helios den öffentlichen Krankenhäusern und auch vielen privaten meilenweit voraus«, sagt Matthias Schrappe, Mediziner und Vizevorsitzender des Sachverständigenrats der Bundesregierung zur Begutachtung des Gesundheitswesens. Offenbar hat de Meo als Arbeitsdirektor einen guten Job gemacht. Zu seinen Aufgaben zählte aber auch der Personalabbau. »Radikal« sei de Meo da, sagt Gröschl-Bahr. Im Helios-Klinikum Berlin-Buch etwa wurden Hunderte Stellen gestrichen, viele durch Auslagerung der Küche und einzelner Laborbereiche. Allerdings stimmt, was de Meo den Mitarbeitern in Krefeld zu erklären versucht: Personal wird in den deutschen Krankenhäusern überall abgebaut, und das schon lange. Das Gesundheitssystem steht unter Kostendruck, der Gesetzgeber hat mit den Fallpauschalen dafür gesorgt. Die Versicherten wollen nicht immer höhere Beiträge an ihre Krankenkassen zahlen. Wie aber ist es da möglich, dass Helios stattliche 160 Mil-
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lionen Euro Gewinn vor Steuern erwirtschaftet? Das zeige einfach, »wie viel Luft noch im System ist«, meint der Sachverständige Schrappe. Kein gutes Zeugnis für die Klinikträger. Die Privaten betrieben Rosinenpickerei, schimpft Hansjörg Hermes, Geschäftsführer des Klinikums Osnabrück und Vorsitzender des Interessenverbands der kommunalen Krankenhäuser. Konzerne wie Helios machten nur deshalb Gewinn, weil sie zu Lasten der Leistungsqualität kostenträchtige Abteilungen zurückstuften und sich auf Profitables konzentrierten. Das bestreitet de Meo vehement – gespart werde anders. »Die reine Organisation ist im Krankenhaus ähnlich wie in der Industrie«, sagt er nüchtern. Beim Einkauf von Wundverbänden etwa kann Helios mit seinen 60 Kliniken ganz andere Rabatte aushandeln als ein einzelnes kommunales Krankenhaus. Zudem bleibt ein Patient im bundesweiten Durchschnitt acht Tage im Krankenhaus. Bei Helios sind es nur 7,1 Tage. Das ist nicht das Ende der Entwicklung, in Österreich sind es nur 5,8 Tage. »Der Pate« nennen einige gekränkte Mediziner, an deren Chefarzt-Thron de Meo rüttelt, ihren wenig zimperlichen Chef. De Meo ist kein Arzt, sondern Jurist, und er hält das naturgemäß nicht für einen Nachteil. »Als Außenstehender«, sagt er, »muss ich mehr Fragen stellen.« Und das heißt: Überkommenes infrage stellen. Vielleicht spielt dabei auch eine Rolle, dass er nicht aus dem großbürgerlichen Milieu der Ärzte und Anwälte stammt, sondern ein Aufsteiger ist. Einer, der sich vieles erkämpfen musste.
Er kommt zu Sitzungen schon mal ohne Socken in den Schuhen Francesco de Meo ist 1963 geboren, unehelich. Auf der Schwäbischen Alb. »Die Leute haben geredet«, sagt er. »Das hat mich angetrieben.« Er wollte zeigen, dass einer wie er nicht nur Pizza backen oder Eis verkaufen kann. »Ich wollte immer schon so gut sein wie andere – oder besser«, sagt er. »Das war auch ein Streben danach, anderen zu gefallen.« Wieder blitzt diese Mischung aus Härte und Gefühl auf. Das Studium hat de Meo mit einem Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung finanziert – und durch Einnahmen als Radrennfahrer. Er wurde Anwalt, dann Unternehmensberater, kam schließlich zu Helios. Für Privatisierer sei es in Deutschland schwieriger geworden, sagt de Meo. »Ich nenne das die Lafontainisierung.« Bis zur Bundestagswahl im kommenden Jahr werde wenig passieren auf dem Krankenhausmarkt. »Danach aber werden alle wieder aufwachen und sich die Zahlen ansehen.« Eine Chance für private Konzerne. Helios selbst ist 2005 vom Medizin-Riesen Fresenius gekauft worden, das eröffnete neue Zugänge zum Kapitalmarkt. Die werden wichtig, wenn das Tempo bei den Klinikverkäufen wieder anzieht. »Ein Glücksfall« sei Fresenius für Helios, sagt de Meo. Bei der Konzernmutter sitzt er nun im Vorstand, wieder ist er aufgestiegen. Inzwischen sorgt er sich, er könne »zu weit weg sein von der Wirklichkeit in den Kliniken. Das Management im Wolkenkuckucksheim – so was ist ge-
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fährlich.« Das sind nicht nur Sprüche. Als Chef hat er in der Konzernzentrale von Helios, einer Büroetage an der noblen Berliner Friedrichstraße, weder ein Vorzimmer noch eine Sekretärin. Hinter der offenen Tür zum Flur arbeitet er in einem ziemlich kahlen Büro; einer kaputten Bandscheibe wegen am Stehpult, mit gleich zwei Computermonitoren darauf. Jede Krankenschwester im Konzern kann ihn per E-Mail erreichen, und im Fall Krefeld haben das auch manche getan. Je nach Verlauf des Geschäftsjahrs verdient er zwischen 873 000 und 1 281 000 Euro. Aber von Krefeld nach Duisburg fährt der Manager stehend im überfüllten Regionalexpress. Einen Fahrer, sagt er, brauche er nicht. Der Mann ist so locker, dass er damit aneckt. Ohne Socken in den Schuhen sei er zu einer Aufsichtsratssitzung des Klinikums Krefeld gekommen, merkt spitz der SPD-Vertreter in dem Gremium an, der Privatisierungsgegner Hans Butzen: »Ich empfand dies nicht als eine besondere Wertschätzung gegenüber den anderen Sitzungsteilnehmern.« De Meo hat einfach nur einen Ehrgeiz: zu zeigen, dass private Konzerne gute Medizin machen können. Mehr Qualität bringe auch mehr Patienten, glaubt er. Nicht durch das Sparen bei den Ausgaben, sondern durch das Hochtreiben der Einnahmen will er Kliniken sanieren. Kürzlich hat die Schweiz das System der Qualitätsindikatoren von Helios übernommen – ein ungewöhnlicher Transfer von Privat zu Staat. Helios hatte als erster Klinikkonzern einen Qualitätsbericht herausgegeben und Sterblichkeitszahlen vorgelegt, auch als die Werte zum Teil noch nicht so gut waren. »Trotz mancher Kritik im Detail halte ich das für vorbildlich«, sagt der Gesundheits-Sachverständige Schrappe. Heute sterben bei Helios laut Qualitätsbericht weniger Menschen als im Bundesdurchschnitt der Krankenhäuser. Einer der Gründe ist sicher der konzerninterne Vergleich. Zahlen zu unterschiedlichen Behandlungserfolgen, Zeitabläufen, Kosten werden auf ihre Ursachen geprüft. Regelmäßig versammeln sich aus allen Kliniken die Chefärzte, von der Neurologie bis zur Inneren Medizin, in Fachgruppen zur Diskussion. »Wenn wir sie bei der Ehre packen, bewegt das Mitarbeiter am meisten«, sagt de Meo. »Wenn eine andere Klinik etwas besser macht, dann sagen wir ihnen: Das könnt ihr auch.« Das klingt netter, als es ist. Natürlich baut de Meo hier auch Druck auf – erfreulichen Druck, wenn es um die Sterblichkeitsrate geht. Weniger erfreulichen bei anderer Gelegenheit. In Krefeld spricht de Meo vor versammelter Mannschaft über den alten Geschäftsführer der Klinik, der sich einigermaßen plump per Zeitung beschwert hat, er werde kaltgestellt. »Wir haben eine Diskrepanz zwischen dem, von dem wir meinen, dass er es kann – und dem, was er selber meint, dass er es gut kann«, sagt de Meo. Er wolle den Mann aber jetzt nicht einfach mit viel Geld abfinden. »Denn das Geld ist hier im Haus mühsam erarbeitet worden.« Geschickt ist das – und knallhart. De Meo ist so geradeheraus, dass es manchmal schmerzt. Die meisten Mitarbeiter aber klopfen beifällig auf die Pulte im Hörsaal. Der Manager hat den Ton getroffen.
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30. Oktober 2008 DIE ZEIT Nr. 45
Von wegen bizarr Das Internet zu archivieren ist durchaus sinnvoll Eine »bizarre Verordnung« machte Bild.de in der vergangenen Woche aus, und auch die restliche Onlinepresse reagierte vorwiegend mit Häme: Die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig sei seit dem 23. Oktober verpflichtet, das Internet zu archivieren, und Webseitenbetreiber müssten nun ihre Inhalte in PDFs umwandeln und an die staatlichen Archivare liefern. Abgesehen davon, dass das entsprechende Gesetz schon seit zwei Jahren in Kraft ist: Wenn diese Meldungen korrekt wären, würde es sich tatsächlich um einen Schildbürgerstreich handeln. Das Netz ist ein flüchtiges Medium, und es in starren, druckfähigen Seiten zu speichern wäre etwa so, als würde man alle Fernseh-Talkshows transkribieren und als Buch ins Regal stellen. Aber diese Annahme ist ebenso falsch wie die Vorstellung, die staatliche Sammelwut würde sich auf alle privaten Weblogs und die Angebote auf eBay erstrecken. Im Gegenteil: Die Verordnung, die nun in Kraft getreten ist, regelt, welche Inhalte nicht in Leipzig archiviert werden müssen. Sie versucht – natürlich mit guter deutscher Gründlichkeit – das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Dass viele Onlineinhalte erhaltenswert sind, daran kann es eigentlich keinen Zweifel geben. Vieles aus den ersten Jahren des Internets ist schon heute praktisch verloren für die Nachwelt, weil niemand an die Zukunft gedacht hat. In Zeiten, in denen viele Publikationen nur noch digital erscheinen, seien es Diplom- und Doktorarbeiten oder politische Onlinezeitungen, ist eine dauerhafte Archivierung dringend nötig. Woanders wird das unbürokratischer gehandhabt: In den USA grast das gemeinnützige Internet Archive das Netz ab, man kann sich dort etwa die Seite der ZEIT so anschauen, wie sie an einem beliebigen Tag in der Vergangenheit aussah. Für eine staatliche deutsche Stelle gibt es rechtliche Hürden, aber letztlich wird dasselbe Ergebnis angestrebt: dass auch in einigen Jahren noch der Nutzer über eine Onlineschnittstelle nachvollziehen kann, was die Öffentlichkeit im Jahr 2008 diskutiert hat. Und das ist gut so. CHRISTOPH DRÖSSER
Die Offenbarung Erstmals machen Menschen ihr Erbgut und ihre komplette Krankenakte öffentlich. Alle dürfen darin lesen VON ULRICH BAHNSEN UND JENS UEHLECKE
HERZINFARKT? DEPRESSION? Die Gene zeigen die Veranlagung
Ärzte sollen Krankheitsrisiken künftig aus dem Erbgut ableiten können Das Personal Genome Project (PGP) ist eines der ambitioniertesten Großvorhaben der Genforschung. Weltweit beginnen Forscher damit, riesige Pools menschlicher Genome anzulegen, um sie vergleichen und Unterschiede katalogisieren zu können. Sie wollen das weitgehend kryptische Buch des Lebens, die Folge aus drei Milliarden As, Cs, Ts und Gs, endlich in verständliche Sprache übersetzen. Ein durchaus kontrovers diskutiertes Unterfangen. Studien wie das PGP leisteten einen »enormen Beitrag zum Selbstverständnis des Menschen«, lobt etwa Churchs Kollege Hans Lehrach, Direktor am Berliner Max-Planck-Institut für molekulare Genetik; Datenschützer hingegen sehen die informationelle Entrechtung der Bürger herannahen. Churchs Projekt – das US-Blatt Newsweek wählte ihn dafür 2007 unter die »ten hottest nerds«, die »zehn heißesten Tüftler« – ist nicht nur wegen der gigantischen Zahl von Probanden außergewöhnlich: Der Harvard-Forscher begnügt sich nicht mit etwas
sich schon nach einer Viertelstunde einig, dass diese Aufgabe unlösbar war. Im Hotel eingeschneit, blieben sie dennoch und entwickelten eine andere Idee: Lasst uns das menschliche Genom entziffern! Das Human Genome Project war geboren. Würde man erst einmal das komplette menschliche Genom kennen, so die Hoffnung der Forscherrunde, wäre eine personalisierte Medizin samt neuen Therapien zum Greifen nah. Drei Milliarden US-Dollar öffentliche Fördermittel wurden für das Projekt veranschlagt. Doch nach seinem Abschluss 2003 wurde schnell deutlich, dass man mit den Daten nicht so viel anfangen konnte wie erhofft. Bis heute gibt es keine funktionierenden Gentherapien, und es sind auch nur wenige Erfolge in Sicht. Das liegt daran, dass sich nur wenige Krankheiten auf einzelne Gene zurückführen lassen – wie etwa die genetische Veränderung, die Chorea Huntington auslöst.
Blut oder ein paar Hautfetzen zur DNA-Analyse. Jeder der 100 000 Freiwilligen wird zusätzlich seine Krankenakte einreichen müssen und auf einem umfangreichen Fragebogen intime Details preisgeben: Können Sie die Zunge einrollen? Wohnen Sie in der Nähe von Hochspannungsleitungen? Mögen Sie lieber ein heißes oder kaltes Klima? Wie viele Mahlzeiten nehmen Sie am Tag zu sich? Wie lange sehen Sie täglich fern? »Wir wollen nicht nur den genetischen Bauplan der einzelnen Menschen erfassen, sondern auch das Gebäude, das daraus entstanden ist«, sagt Church. Erst beim Vergleich von Genotyp und Phänotyp ließen sich Leben und Leiden eines Menschen verstehen. Der Abgleich von Lebensstil und Erbmasse könnte offenbaren, welche Gene Krebs oder multiple Sklerose begünstigen und welche Umweltfaktoren einzelne Gene stärken oder schwächen. Zum Beispiel könnte sich herausstellen, dass eine spezielle Kombination Hunderter Gene Magenkrebs auslöst, aber nur dann, wenn man regelmäßig Gegrilltes isst. Ärzte sollen künftig Gene und Gewohnheiten eines Patienten mit der riesigen PGP-Datenbank vergleichen und so dessen persönliche Gesundheitsrisiken bestimmen können. Sie wüssten, welche Medikamente bei ihm wirken und welche nicht. Und sie könnten maßgeschneiderte Therapien mit weniger Nebenwirkungen entwickeln. »Es ist heute natürlich schwer abzusehen, was eine personalisierte Medizin für die Menschheit bedeuten wird«, sagt Church. »Ich hoffe aber, dass wir unsere Lebenserwartung schon in ein paar Jahren um 10, 20 Jahre erhöhen können.« Ob die Vision je Wirklichkeit wird, ist zumindest zweifelhaft. Der Blick in die Gene gibt zwar statistische Wahrscheinlichkeiten preis, die für große Patientengruppen gelten. So kann das Risiko für Alzheimer durch eine Kombination bestimmter Genvarianten steigen oder sinken. Umfangreichere Daten liefern präzisere Vorhersagen – aber es werden Aussagen über Wahrscheinlichkeiten bleiben. Das Schicksal des Einzelnen bleibt ungewiss (siehe Interview Seite 40). Ohnehin ist Churchs Ziel keineswegs neu. Schon vor mehr als zwei Jahrzehnten haben Genforscher ähnliche Hoffnungen geschürt. Mitte der achtziger Jahre lud das amerikanische Energieministerium knapp zwei Dutzend Wissenschaftler zu einer Konferenz in das Städtchen Alta im Bundesstaat Utah. Sie sollten eine Methode ersinnen, genetische Mutationen nach radioaktiver Bestrahlung vorherzusagen. Die Forscher, unter ihnen auch der junge George Church, waren
Nach langem Streit entsteht in Berlin eine Wissenschaftsstiftung
Die Genome der Menschen sind so vielgestaltig wie ihre Körper Der Hauptgrund für die Enttäuschung aber war ein Geburtsfehler des Humangenomprojekts: Sein Resultat existiert in Wahrheit nicht. Es ist ein hypothetisches Mustermann-Genom, zusammengesetzt aus den Erbdaten von sechs Menschen. Zwar hätte es nach damaligem Wissensstand – man war überzeugt, das Erbgut zweier beliebiger Menschen unterscheide sich nur in jedem tausendsten DNA-Baustein – als hinreichend präzises Modell für alle Menschen dienen können. Doch ebendiese Überzeugung von der genetischen Uniformität der Menschheit ist passé. Wie groß die Differenzen in den Genen tatsächlich sind, wurde offenbar, als 2007 erstmals die Erbmoleküle wirklicher Menschen entziffert wurden – zweier Koryphäen der Genforschung, des Nobelpreisträgers Jim Watson und seines großen Widersachers, des Gen-Gurus Craig Venter aus Rockville im US-Staat Maryland. Bald darauf verkündeten Wissenschaftler in Shenzhen die Gendecodierung eines Chinesen, dann meldete der Genetiker Gert-Jan van Ommen von der Universiteit Leiden die erste Entzifferung eines weiblichen Genoms. Beim Vergleich dieser ersten persönlichen Genome stießen die Forscher auf eine Vielzahl von Großbaustellen: Ganze Abschnitte waren aus den Erbmolekülsträngen verschwunden oder Fortsetzung auf Seite 40
Im Geschwindigkeitsrausch der Genetik Erst seit den siebziger Jahren kann die Information in der Erbsubstanz DNA entziffert werden. Sie ist in der Abfolge der vier DNA-Bausteine (Nukleotide) A, G, C und T in dem Kettenmolekül codiert. Die Harvard-Forscher Allan Maxam und Walter Gilbert entwickelten 1977 die chemische Sequenzierung. Die Methode erlaubt das Ablesen von wenigen Dutzend Bausteinen und wird heute nur noch für spezielle Analysen benutzt. Zugleich hatte Frederick Sanger ein biochemisches Decodierverfahren entwickelt, das ihm 1980 seinen zweiten Nobelpreis eintrug. Die meisten neuen Sequenzierungstechnologien nutzen Sangers Prinzip in Kombination mit anderen biochemischen Verfahren. Durch Automatisierung und Parallelisierung erreichen sogenannte Hochdurchsatz-Sequencer gigantische Leseleistungen: Im kommenen Jahr werden Gräte auf den Markt kommen, die rund 7 Millionen DNA-Bausteine pro Minute lesen können.
Mit den ersten Verfahren war die Genentschlüsselung eine teure Angelegenheit: Jeder gelesene Baustein kostete mehrere Tausend Dollar. Erst in den neunziger Jahren waren die Kosten so weit gefallen, dass man an die Entzifferung des menschlichen Erbguts denken konnte – zu Beginn des Projekts wurden dafür 3 Milliarden Dollar veranschlagt. Infolge der stürmischen Entwicklung der Labortechnik sanken die Kosten, so dass die Erstentschlüsselung des Men100 Mio. schengenoms tatsächlich nur 300 Millionen Dollar verschlang. Mit der Technik, die beim Abschluss des Projekts 2003 zur Verfügung 1 Mio. stand, wäre die Aufgabe wohl schon mit 50 Millionen Dollar zu bewältigen gewesen. Heute kostet ein Humangenom weniger als eine Million. 10 000 Ziel ist nun eine Lesetechnik, mit der ein menschliches Genom für 1000 Dollar entzifferbar ist. 100 1 Basenpaare pro US-Dollar Basenpaare pro Minute/Gerät
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Illustration: Peter M. Hoffmann/www.pmhoffmann.de für DIE ZEIT
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er Mann steht in seinem Labor und preist das Produkt, als wäre er Fachverkäufer für Hausgeräte. Das Ding sieht auch aus wie ein Wäschetrockner: viereckig, Metalliclackierung, mit einer großen Klappe. »Viel effizienter« als vergleichbare Modelle und »viel günstiger«, schwärmt George Church. »Es wird nicht mehr lange dauern, bis es in jedem Haushalt steht.« Church, ein Hüne mit Vollbart und eindringlicher Stimme, ist Genetik-Professor an der Harvard Medical School in Boston. Und der Automat neben ihm, vollgestopft mit Labortechnik – Schläuchen, Röhrchen, Kameras und einer 300Watt-Xenonleuchte –, ist der »Polonator G 007«. Ein Sequencer der neuesten Generation, ein Roboter, der Erbgut angeblich schneller und billiger entziffert als jede andere Maschine. In den kommenden Jahren will der Forscher damit die Gene von 100 000 Freiwilligen lesen und den Code in einer riesigen Datenbank speichern. Die erste Etappe ist bereits geschafft: Vergangene Woche verkündete Church, entscheidende Teile der ersten Genome seien sequenziert und würden demnächst veröffentlicht. Unter den zehn Erbgut-Volontären findet sich eine Menge Prominenz: die Internetunternehmerin Esther Dyson etwa, der bekannte Harvard-Psychologe Steven Pinker – und George Church selbst. Auch da erweist er sich als guter Verkäufer.
Vor mittlerweile anderthalb Jahren hat Berlins Wissenschaftssenator Jürgen Zöllner (SPD) die Gründung einer Super-Universität in der Hauptstadt vorgeschlagen, die Harvard, Cambridge und Co. Konkurrenz machen sollte. Nach etlichen Runden Grundsatzstreit und Kompetenzgerangel mit den bestehenden Berliner Universitäten ist aus den großen Plänen eine mittelmäßig spannende, etwas komplizierte Konstruktion namens Einstein-Stiftung geworden. Die immerhin, so Zöllners erleichterter Stoßseufzer vor ein paar Tagen, solle jetzt sehr rasch gegründet werden, und zwar »im Einvernehmen« mit den Unipräsidenten. Doch das war vor ein paar Tagen. Inzwischen hat der Akademische Senat der Freien Universität (FU) eine scharf formulierte Protestnote an den Senator geschickt, die Technische Universität (TU) übt sich in wolkig-ablehnenden Stellungnahmen. Es drängt sich der Eindruck auf, dass es FU und TU niemals wirklich um eine für alle Seiten akzeptable Lösung ging. Besonders die FU sieht sich seit ihrem Erfolg in der Exzellenzinitiative als einzige wirkliche Berliner Elitehochschule und will die Stiftung als Angriff auf ihren Status verhindern. Die gute Nachricht: Sie wird es nicht schaffen. Senator Zöllner hat erkannt, dass die FU für jede Forderung, die er erfüllt, längst eine neue in petto hat. Schon jetzt hat die Idee einer Super-Uni nur deshalb so viel von ihrer ursprünglichen Brillanz eingebüßt, weil Zöllner es möglichst vielen Kritikern recht machen wollte. Damit ist jetzt Schluss. Der Wissenschaftssenator wird sich nicht noch einmal ausbremsen lassen, die Einstein-Stiftung kommt – und mit ihr kommen dringend benötigte Millionen für Berlins Forschungslandschaft. 150 Millionen, um genau zu sein, allein bis 2012. Natürlich werden seine Kritiker, allen voran die Freie Universität, behaupten, Zöllner setze seine Vorstellungen mit der Brechstange durch. Wie absurd solche Vorwürfe sind, erschließt sich angesichts der anderthalb Jahre währenden Debatte von selbst. Ebenso wie folgende Erkenntnis: Die Freie Universität und ihr Akademischer Senat haben ihre Machtspielchen endgültig übertrieben. Von jetzt an leidet ihr Bild in der Öffentlichkeit, nicht das des Wissenschaftssenators. JAN-MARTIN WIARDA
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In Deutschland soll in Zukunft das Gendiagnostik-Gesetz (GenDG) den Umgang mit genetischen Informationen regeln. Den Entwurf für das Gesetz hat das Bundeskabinett am 27. August dieses Jahres beschlossen, die Eckpunkte stehen damit fest. Grundlage des Papiers ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, also das Recht jedes Einzelnen, Informationen etwa über seine genetische Ausstattung entweder zu kennen oder nicht kennen zu wollen. Genetische Untersuchungen sind demnach nur dann erlaubt, wenn die betroffene Person zuvor schriftlich ihre Einwilligung gegeben hat. Bevor ein Arzt dieses Einverständnis einholt, muss er den Patienten umfassend über die Bedeutung der genetischen Untersuchung und ihrer möglichen Ergebnisse aufklären. Ist jemand nicht in der Lage, seine Einwilligung selbst zu geben, etwa im Fall einer geistigen Behinderung, darf die genetische Untersuchung nur dann durchgeführt werden, wenn sie dem Betroffenen selbst gesundheitlich nützt. Unabhängig davon, ob die genetische Analyse eine bereits bestehende Krankheit genauer aufklären soll oder ob sie Auskunft über das Risiko für eine zukünftige Erkrankung gibt, muss der Arzt zusammen mit der Bekanntgabe des Testergebnisses eine genetische Beratung anbieten. Darin kann unter anderem zur Sprache kommen, welche Möglichkeiten der Patient hat, sich vor einer drohenden Erkrankung zu schützen. Auch die Rechte von Versicherern und Arbeitgebern sind in dem geplanten Gesetz geregelt. Beide dürfen weder einen Gentest verlangen noch die Ergebnisse von bereits vorgenommenen Untersuchungen in irgendeiner Art und Weise verwenden. Entsprechende gesetzliche Regelungen sind in den USA bereits in Kraft: Am 21. Mai dieses Jahres unterschrieb George W. Bush dort den Genetic Information Nondiscrimination Act.
Eine Ausnahme bilden in Deutschland Lebensversicherungen mit einer Versicherungssumme von mehr als 300 000 Euro: In diesem Fall muss der Kunde Ergebnisse von Gentests offenlegen, so weit sie existieren. Damit soll ein Missbrauch der Daten aufseiten des Kunden verhindert werden. Explizit nicht geregelt ist im Gendiagnostik-Gesetz der Umgang mit genetischen Informationen, die im Dienste der Forschung erhoben werden. Der Gesetzgeber begründet das damit, dass solche Daten sich nicht von anderen Forschungsdaten unterschieden und deswegen auch kein eigenes Gesetz benötigten. Trotzdem gab es aufgrund dieser Lücke schon heftige Kritik am Entwurf der Bundesregierung. JOM
verlangt die Harvard-Ethikkommission, dass sie einen Eingangstest in Genetik ablegen. Nur wer genug Fachwissen hat, kommt als Proband infrage. Manchen Datenschützern geht das nicht weit genug. Sie malen düstere Missbrauchsszenarien aus: Was, wenn der Arbeitgeber einen Bewerber nicht nimmt, weil er ein erhöhtes Krebsrisiko hat? Was, wenn eine Versicherung einen Antrag ablehnt, weil er an einer Erbkrankheit leidet? Unsere Gene enthalten die persönlichsten Daten. Sind diese einmal in Umlauf, kann man sie nicht mehr sperren lassen wie eine verlorene Kreditkarte.
Die Offenbarung Fortsetzung von Seite 39 an anderer Stelle eingefügt, dann wieder fanden sich ganze Segmente vervielfacht in den Chromosomen. Das Erbgut der Menschen, lautet nun das Fazit der Genomerkundung, dürfte ebenso vielfältig sein wie sein Körper und seine Psyche. Ahnend, dass die Entschlüsselung von Watson, Venter und Co. erst die Ouvertüre zur Durchleuchtung des Genbestands der Menschheit darstellen werde, kürte Science die Entdeckung der genetischen Variationen zum Durchbruch des Jahres 2007. Erst ein Jahr zuvor, hielt das Fachblatt fest, habe man die Aussicht gefeiert, mittels der Genomforschung die Frage nach dem biologischen Elixier des Menschlichen zu beantworten. Nun rücke bereits die nächste Erkenntnis in Griffweite: »Was in meiner DNA macht mich zu mir?« Vor allem die rasanten Fortschritte der Labortechnik ermöglichen den Experten jetzt Genomrecherchen im Expresstempo: Kostete Ende der siebziger Jahre, in der Pionierzeit der Genentschlüsselung, jeder gelesene Genbaustein mehrere Tausend Euro, liefern die Decodierroboter bald 100 000 für einen Cent. Die ultraschnellen Sequencer erreichen Leseleistungen von bis zu 30 Milliarden Genbausteinen (30 Gigabasen) in einem Durchlauf, die neuesten Prototypen gar 100 Gigabasen. Und sie spucken die Gendaten so rasant aus, dass die Schreibgeschwindigkeit der Festplatten demnächst zum limitierenden Faktor werden könnte.
Die häufigsten Krankheiten entstehen im Wechselspiel unzähliger Gene Seither können Genetiker einen Erkundungsfeldzug führen, der noch vor wenigen Jahren im Bereich des Fantastischen lag. Neben Churchs PGP lancierte erst im Januar ein Konsortium aus Genomzentren in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und China das 1000 Genomes Project. Bis Ende 2011 will die Allianz das komplette Erbgut von 1000 Menschen aus aller Welt entziffern. In der vergangenen Woche wurde auch das MaxPlanck-Institut für molekulare Genetik in Berlin in den Decodierclub aufgenommen. Die beteiligten Labors sollen eine schier unvorstellbare Datenflut erzeugen – insgesamt sind rund 20 000 Milliarden Genbausteine zu lesen. Allein die Berliner Forscher, mit knapp fünf Millionen Euro vom Forschungsministerium gefördert, wollen 700 Milliarden entschlüsseln. Informatiker am European Molecular Biology Laboratory im britischen Cambridge protokollieren dann den vielfältigen Reichtum an menschlicher Variation. Derweil haben amerikanische Genomexperten damit begonnen, das Erbgut sämtlicher Krebsarten zu entschlüsseln. Dabei sollen die Gendefekte jedes Tumortyps bei 500 herausoperierten Geschwüren von Patienten erfasst werden. Für Lungenkrebs, Hirntumore und das Pankreaskarzinom liegen bereits umfängliche Er-
Ausgerechnet ein Genetiker zögert, seine Daten zu veröffentlichen
Der Harvard-Genetiker GEORGE CHURCH setzt auf völlige Transparenz
gebnisse vor. Der auf rund eine Milliarde Dollar budgetierte Cancer Genome Atlas (siehe ZEIT Nr. 36/2008) werde für eine Revolution in der gesamten Krebsmedizin sorgen, versprechen die Forscher: Künftig werde man das vielgestaltige Leiden mithilfe der genetischen Profile in den Krebszellen präzise und individuell therapieren können. Auch zu den Ursachen der bislang weithin rätselhaften psychischen Leiden dringen Forscher nun mit genomweiten Durchleuchtungsverfahren vor: In den Erbmolekülen von Zehntausenden Patienten sollen die Erbanlagen für Schizophrenie und verschiedene Formen von Depression enttarnt werden. Den gewaltigen Anstrengungen liegt die neue Erkenntnis zugrunde, dass gerade Veranlagungen für Volkskrankheiten in einem Wechselspiel unzähliger Gene entstehen. Ihre Entdeckung erfordert die Durchleuchtung einer gewaltigen Anzahl von Probanden. Will man die unglückliche Verkettung verstehen, die zu einer Krankheit führt, muss man nicht nur ein Genom untersuchen, sondern Tausende. Erst die Kombination für sich genommen seltener schädlicher Varianten des genetischen Arsenals birgt das Unheil – erst recht, wenn ungesunde Lebensumstände und Umweltfaktoren hinzukommen. Die Medizin der Zukunft, meint der Genetiker David Haussler von der University of California in Santa Cruz, werde durch die Ergebnisse ultraschneller Genomentzifferung und massiver Rechenleistung geprägt sein: »Wir müssen vielleicht Tausende Gene gleichzeitig im Blick haben, um Krankheiten zu verstehen.« »Damit hätten wir schon viel früher anfangen können«, sagt George Church, »hätten wir nicht Riesensummen für das Sequenzieren eines einzelnen Genoms ausgegeben, sondern uns auf die Weiterentwicklung der Sequenzierungsroboter konzentriert.« Jetzt will Church keine Zeit mehr verlieren. Um Schwung in die Genforschung zu bringen, propagiert
er schonungslose Offenheit. Das gilt zuallererst für seinen 150 000 Dollar teuren Polonator, an dem er keinerlei Urheberrechte beansprucht. Wer will, darf ihn nach- und umbauen, verändern und verbessern. »Ist eine Technologie frei verfügbar, sinken die Preise rasant – und das steigert ihren Einfluss auf die Gesellschaft erheblich«, sagt er. Schonungslose Offenheit verlangt Church auch von seinen 100 000 Probanden. Nicht nur die entzifferten Erbinformationen sollen im Internet veröffentlicht werden, sondern auch die detaillierten Fragebögen inklusive Krankengeschichte und jedes noch so kleinen Ticks. Es soll eine Wikipedia der Genome entstehen. Und wie die von den Nutzern aufgebaute Internetenzyklopädie soll auch die PGP-Datenbank dynamisch durch die Beteiligung von Forschern und interessierten Laien das Wissen um die Gene mehren. »Licht ins Dunkel des menschlichen Genoms zu bringen ist das große Projekt unserer Tage. Wir müssen unsere Jugend dafür begeistern, wie wir einst für die Apollo-Mission begeistert wurden«, sagt Church. »Und das geht nur mit Transparenz.« Zwar soll die Datenbank des Personal Genome Project keine Namen enthalten, Church warnt seine Freiwilligen aber, dass er ihre Anonymität nicht gewährleisten kann und will. Schließlich könne man mit nur wenigen spezifischen Merkmalen eines Teilnehmers das entsprechende Genom ausfindig machen und herunterladen. Von Church selbst etwa ist bekannt, dass er 1954 geboren ist, täglich Vitamin C und D nimmt, vegan lebt, 110 Kilogramm wiegt und an Narkolepsie (Schlummersucht) leidet – eine Kombination, die wahrscheinlich nicht mehr als einmal unter 100 000 Menschen vorkommt. Um sicherzugehen, dass die Teilnehmer sich der Tragweite ihrer Entscheidung bewusst sind,
Vielleicht hat Micha Angrist, Genetiker an der Duke University in Durham und einer der zehn ersten Freiwilligen, auch deswegen gekniffen. Als seine neun Mitstreiter vergangene Woche bekräftigten, ihre Genome zu veröffentlichen, zögerte er. »Obwohl ich laut propagiert habe, unsere Genome unbedingt öffentlich zu machen, nehme ich mir das Recht, meine Daten eventuell zurückzuhalten«, schreibt er in seinem Blog. Sollte Angrist unter einer vererbbaren Krankheit leiden, dann könnten auch seine zwei jungen Töchter davon betroffen sein. »Ich möchte, dass sie es von mir erfahren und nicht aus dem Internet.« Dass auch hierzulande Menschen bald getestet würden, erscheint indes eher unwahrscheinlich. »Das Projekt mag wichtig zur Grundlagenforschung sein, in Deutschland würde es wahrscheinlich nicht durch die Ethikkommission kommen«, sagt Wolfram Henn, Humangenetiker und Medizinethiker an der Universität des Saarlandes. »Wer kann heute schon abschätzen, was es in zehn Jahren für Möglichkeiten gibt, die Daten auszuwerten?« Solche Bedenken hält Churchs Kollege Hans Lehrach für weltfremd. »Genome zu schützen wie den Bauplan einer Atombombe kann nicht zielführend sein«, sagt der MPI-Forscher. Schließlich erwachse die Missbrauchsgefahr erst aus der Verknüpfung aller Probandendaten. »Was bringt es mir, informationell intakt begraben zu werden, wenn die Krankheit vermeidbar gewesen wäre, an der ich gestorben bin?« ANZEIGE
Was tun mit dem Wissen? Der Humangenetiker André Reis über Sinn und Unsinn genetischer Tests Würden Sie gern ihre Gene lesen? REIS: Durchaus nicht. Chorea Huntington ist ein Mein Erbgut wird hier im Labor oh- Extrembeispiel für einen prädiktiven Gentest. Er nehin untersucht, als eine der Kontrollen für un- liefert eine sichere Vorhersage, ob dieses tödliche sere Analysen. Doch ich will nicht wissen, wie Nervenleiden bis zum 50. Lebensjahr eintreten meine Gene aussehen – es sei denn, ich hätte wird. Zugleich gibt es keine Therapie. Doch für eine konkrete Frage, die sich damit beantworten manche Menschen ist es wichtig, die Diagnose ließe. Aber vage Vorhersagen, ob ich erkranken vorher zu bekommen – weil sie Verantwortung tragen für andere, für die Familienplanung, weil sie könnte – warum sollte man das wissen wollen? mit der Unsicherheit nicht leben wollen. ZEIT: Warum kann es dann sinnvoll sein, 1000 oder gar 100 000 Menschen zu entziffern? ZEIT: Ein positives Testergebnis ist ein Todesurteil. Ist das nicht riskant? REIS: Wir wollen herausfinden, worin die Unterschiede im Genom der Menschen bestehen. REIS: Allerdings. Wir machen den Test ja bei GesunUnd wir wollen diese Unterden, meist wenn ein Elternteil beschiede mit physischen oder psytroffen ist. Die haben ein Risiko chischen Merkmalen und Ervon 50 Prozent, dass die Erkrankrankungen verknüpfen: Welche kung später auch bei ihnen eintritt. genetischen Variationen bergen Wir beraten die Menschen ausetwa die Veranlagung für Diaführlich. Nach frühestens vier Wobetes oder Schizophrenie? Da chen können sie den Test machen geht es nicht um prophetische lassen. Erst nach weiteren sechs Diagnosen für den Einzelnen. Wochen können sie kommen – in ANDRÉ REIS sitzt der Begleitung einer Vertrauensperson ZEIT: Wenn die Veranlagungen Deutschen Gesellschaft – und das Ergebnis erfragen. Ein erforscht sind: Soll dann jeder für Humangenetik vor Großteil springt vorher ab. seine Gene kennen? REIS: Das würde nur Sinn maZEIT: Wo ist ein Gentest sinnvoll? chen, wenn man daraus wesentliche therapeuti- REIS: Wir kennen Genvarianten, die für Alterssche Entscheidungen ableiten könnte. Im Mo- blindheit disponieren. Bei einer schlechten Komment ist das selten der Fall. bination ist das Risiko bis zum Faktor 200 höher. Ein Test ist sinnvoll, die Krankheit kann behandelt ZEIT: Woran liegt das? und gestoppt werden. Aber auch bei angezeigten REIS: Die Frage ist: Wenn eine genetische Disposition da ist, wie groß ist die Gefahr, dass eine Tests gibt es Probleme. Wir untersuchen ein behinKrankheit wirklich eintritt? Viele Volkskrank- dertes Kind. Und stellen fest: Die Mutter trägt eine heiten entstehen erst, wenn viele Gene verändert Veranlagung für Brustkrebs. Was tut man dann? sind, aber dann braucht es Umweltfaktoren, um ZEIT: Eine Furcht ist, dass Menschen wegen ihrer die Disposition auch zu verwirklichen. Deshalb Gene diskriminiert werden. Aber jeder trägt schwerhaben Gentests meist nur geringe Aussagekraft wiegende Genmakel. Wollten Versicherungen das für den einzelnen Menschen. zum Kriterium machen, hätten sie keine Kunden. ZEIT: Tests zum Alzheimer-Risiko gibt es doch. REIS: Wenn wir alle Risiken kennen würden, wären wieder alle gleich. Aber so weit sind wir leider REIS: Wir kennen Faktoren, die das Risiko für Alzheimer statistisch verdoppeln. Aber was nicht. Es gibt daher die Bestrebung des Gesetznützt die Auskunft, dass Ihr persönliches Risi- gebers, die Weitergabe des Testergebnisses an Arko 1 : 1000 ist, statt 1 : 2000 wie in der Nor- beitgeber oder Versicherungen zu verbieten. malbevölkerung? Würde die Gefahr auf 1 : 2 ZEIT: Um die Gendaten von entzifferten Deutschen steigen, wäre sie konkret. Aber dann möchte würden die sich dennoch balgen. man auch wissen: Kann ich etwas dagegen REIS: Mag sein, aber es gibt dafür keinen Konsens tun? in unserer Gesellschaft. ZEIT: Also sollte man nur bei Krankheiten testen, die auch behandelbar sind? DAS GESPRÄCH FÜHRTE ULRICH BAHNSEN DIE ZEIT:
ANDRÉ REIS:
Foto: Universitätsklinikum Erlangen
Gene und Gesetze
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Foto: Laura Rauch/The New YorkTimes/Redux/laif (Original in Farbe)
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Der Müll des Reformators Vieles, was wir über Martin Luther zu wissen meinten, ist falsch. Archäologen haben sich durch die Abfälle der Familie Luther gewühlt und fanden heraus: Er stammt nicht, wie er behauptete, aus armen Verhältnissen – im Gegenteil VON KAI MICHEL
N
ein, das kann überhaupt nicht sein!«, schimpft der alte Mansfelder Bergmann. Die Archäologen müssen sich irren: Das ist nicht die Abfallgrube der Familie Luther, die sie da ausgraben. Was für ein Wohlstandsmüll! Der kleine Martin hat doch wohl kaum Gänse und zartes Schweinefleisch gegessen, aus filigranen Gläsern getrunken, solch zierliche Messerchen benutzt. Und all die Silbermünzen im Müll! Wissen die Archäologen nicht, was der Reformator über seine Kindheit in der Bergbauregion Mansfeld erzählte: »Mein Vater ist ein armer Hauer gewesen. Die Mutter hat all ihr Holz auf dem Rücken getragen.« Und jetzt behaupten die, Luther sei der Spross einer wohlhabenden Unternehmerfamilie gewesen, ein Bourgeois gar. »So ein Unsinn«, schimpft der alte Bergmann, »Luther ist einer von uns!« Björn Schlenker, Archäologe des Landesdenkmalamts Sachsen-Anhalt, strahlt noch heute, denkt er an diese Begegnung am Rande der Ausgrabung in Mansfeld zurück. »Es war umwerfend, was wir alles fanden.« Und es passt so gar nicht zum traditionellen Lutherbild. Schlenker inspiziert gerade die Tische im Hallenser Landesmuseum für Vorgeschichte, wo die schönsten Fundstücke aus Familie Luthers Abfallhaufen darauf warten, einen Vitrinenplatz zu erhalten. Am 31. Oktober wird die Ausstellung Fundsache Luther. Archäologen auf den Spuren des Reformators eröffnet. Nicht nur in Mansfeld, wo Luther (1483 bis 1546) seine Kindheit verbrachte, haben die Archäologen tief in dessen Vergangenheit gewühlt, sondern auch in Wittenberg: im Augustinerkloster, dem heutigen Lutherhaus, wo Luther erst als Mönch, später dann mit seiner Frau Katharina von Bora lebte. »Allein der Umstand, dass wir nach einem halben Jahrtausend einer konkreten Person so viel archäologisches Material zuweisen können, ist spektakulär«, sagt Schlenkers Kollege Mirko Gutjahr, »erst recht, wenn es sich um eine so weltberühmte wie Luther handelt.« Die Archäologen drangen nicht nur posthum in Luthers Privatsphäre ein, sie sorgen auch für neuen Diskussionsstoff in einer alten Frage: Hat Luther die zentrale Erkenntnis der Reformation, dass der Mensch nicht durch gute Werke, sondern allein durch den Glauben die göttliche Gnade erfährt, tatsächlich, wie er selbst schrieb, auf einer »Cloaca« gemacht, also auf dem Klo? Luther, der bei der ZDF-Show Unsere Besten hinter Adenauer auf den zweiten Platz der bedeutendsten Deutschen gewählt wurde, ist ein Mythos. Vieles von dem, was man über ihn zu wissen glaubt, ist falsch: Die 95 Thesen hat er wohl nie an die Schlosskirchentür in Wittenberg geschlagen. Dafür, dass er Kaiser Karl V. ein trotziges »Hier stehe ich, ich kann nicht anders!« entgegenschleuderte, gibt es keinen Beweis. Und seine Übersetzung der Bibel ins Deutsche war mitnichten die erste (allein hat er sie schon gar nicht gestemmt) – vorher gab es bereits 18 gedruckte Übersetzungen. Selbst das Lutherzitat schlechthin: »Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch mein Apfelbäumchen pflanzen« ist die Erfindung eines hessischen Pfarrers aus dem Kriegsjahr 1944. »Es ist nicht leicht, den realen Luther unter dem Schutt der Überlieferung zu finden«, sagt Stefan Rhein, Direktor der Stiftung Luthergedenkstätten. Graben ist da ein passabler Weg.
Familie Luther bevorzugte junge Schweine – die schmeckten besser
Abb.: (Ausschnitt, Gemälde (1532) von Lucas Cranach d. Ä.); Fotos oben: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt
Eher zufällig waren die Archäologen im Hof von Luthers Elternhaus auf einen Treppenschacht gestoßen. Um ihn zu verfüllen, war einst ein Müllhaufen hineingekippt worden. Die Altersdatierung ergab: Er stammt aus Luthers Kindheit. Björn Schlenker zeigt korrodierte Nägel auf dem Museumstisch, an denen noch Eierschalen und Knochensplitter kleben. Im Abfall landete, was bei Luthers auf den Tisch kam. »Wir haben über 7000 Tierknochen gefunden«, erzählt der Archäologe, »die meisten stammen von Schweinen – jungen, die besonders gut schmeckten.« Viel Geflügel gab es: vor allem Gänse, junge Hühner, gelegentlich Enten und Tauben, aber auch – Schlenker zeigt auf einen Haufen possierlicher Buchfinkenschnäbel – Singvögel. Fisch stand als Fastenspeise auf der Karte: Neben Karpfen, Zander, Aal wurden Meeresfische wie Hering, Dorsch und Scholle gegessen. Ingredienzien der Hausapotheke fanden sich (Schlafmohn und Johanniskraut), ebenso Kochkeramik (Dreibeintöpfe standen direkt in der Glut) und Tischgeschirr (Stangengläser fürs Bier, Becher für den Wein). Die Messer trugen Griffschalen aus Knochen oder Messing. »Das hier ist ein Pfeifvogel«, zeigt Schlenker. »Mit Wasser gefüllt trillerte er.« Daneben liegen sieben Murmeln: »Wir glauben, dass die Kinder sie selbst gemacht haben: aus Ton geformt und im Herdfeuer gebrannt. Und das hier«, Schlenker nimmt ein sorgsam bearbeitetes Knochenstück, »ist Teil einer Spielzeugarmbrust.« Luther war kein armes Kind.
Im Müllberg fanden sich auch Dinge, die normalerweise nie dort landen: 300 Silbermünzen etwa, zwar nur von geringem Wert, aber sicher kein Abfall. Oder Buntmetallobjekte, die von Festtagskleidern stammen, wie die Schmuckschnalle eines Gürtels in Form einer »D«-Minuskel. Gehörte er Luthers Schwester Dorothea? »Wir wissen, dass es zwei Pestfälle bei Luthers gab«, sagt Schlenker. Es könnte sein, dass die Sachen der Toten ohne nähere Kontrolle verbrannt wurden. »Die Münzen weisen Hitzespuren auf, und wir fanden verkohlte Textilreste«, sagt Schlenker. »Doch das ist nur eine Vermutung.« Parallele Forschungen sichern das archäologische Bild ab: Der Bauforscher Alexander Stahl konnte zeigen, dass Luthers Elternhaus nicht bloß aus dem 1. BESC HL AG von der bisher angenommenen Haus bestand, Verzieru ng einer Fra sondern dieses einst durch einen Zwiuentrac ht 2. MUR schenbau mit einem weiteren Haus MEL, aus Ton verbunden war. »Das war eine große gefertig t 3 . P F E IF Hofanlage mit einer Straßenfront VOGEL, der trille von fast 25 Metern«, erzählt Björn rt, wenn er voll Was Schlenker. Und der Historiker Miser ist 4. SCHR chael Fessner entlarvte durch ArE IB S E T aus dem chivstudien die in vielen BiograLutherh aus in Witte fien auftauchende Geschichte von nberg 5 . SCHNA Luthers Vater Hans als sich hochBEL eines S schuftendem Berghauer. Hans ingvoge ls Luder (erst Martin wird sich mit »th« schreiben) war Sohn einer begüterten Bauernfamilie im thüringischen Möhra, die schon im Bergbau tätig war. Er heiratete die Tochter einer reichen Eisenacher Patrizierfamilie: Margarete Lindemann. Die beiden zogen nach Eisleben, dann nach Mansfeld. Dort wurde Hans Luder Hüttenmeister und betrieb fünf Schmelzhütten, Kupferminen inklusive. Ein einfacher Hauer hätte mit seinem Jahreseinkommen von 30 Gulden noch so viel schuften können: Die jährliche Pachtsumme von 500 Gulden hätte er sich nie leisten können. Als »Vierherr« war Vater Luder eine Art städtischer Ratsherr, als »Schauherr« diente er den Mansfelder Grafen und kontrollierte die anderen Hüttenmeister, ob sie ihre Abgaben zahlten. Daneben investierte er in die Landwirtschaft und betrieb Geldverleih. Wie konnte Martin Luther also nur behaupten: »Ich bin der Sohn eines Bauern. Meine Vorfahren sind rechte Bauern gewesen. Danach ist mein Vater nach Mansfeld gezogen und dort ein Berghauer geworden«? Warum predigte er Wasser, obwohl man Wein getrunken hat zu Hause? »Man hat in der Forschung nie wirklich auf die Familienverhältnisse geschaut«, sagt Stefan Rhein, Leiter der Luthergedenkstätten. Jetzt erst denkt man stärker darüber nach, wie Luther wurde, was er war. Denn Luther als Unternehmerspross – da erscheint einiges in neuem Licht, findet Archäologe Schlenker. Etwa seine Haltung im Bauernkrieg, als er die Fürsten aufrief, mit aller Härte gegen die »räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern« vorzugehen, sie »wie die tollen Hunde« zu erschlagen. Das erklärt sich leichter, wenn Luther kein Bauernsohn war. Volker Leppin, Theologieprofessor in Jena und Lutherbiograf, warnt jedoch vor solch biografischer Engführung. »Da sind die Spuren zu spärlich.« Theologische oder politische Gründe waren wichtiger für Luthers Parteinahme. Eins aber machen die neuen Erkenntnisse deutlich. »Der Vater war ein erfolgreicher Aufsteiger, der sich auch am neuen Ort durchsetzte«, sagt Leppin, »und Aufsteigerkinder stehen unter einem massiven Druck der Eltern, dass aus ihnen etwas Besonderes werden soll. So auch Luther.« Dem habe er sich zwar durch den Klostereintritt entzogen – Leppin vermutet, dass der Vater ihn standesgemäß verheiraten wollte, um sein Mansfelder Beziehungsgeflecht abzusichern. Im Augustinerkloster aber wurde doch noch etwas aus ihm. Er machte Karriere, wurde Universitätsprofessor und Distriktsvikar. Als Reformator legte er sich mit dem Papst an, heiratete eine Adlige und empfing reihenweise Fürsten zu Besuch. Manche der Geschenke, die diese ihm brachten, fanden die Archäologen bei der Sanierung des Wittenberger Lutherhauses. »Das Haus wurde von Luthers Sohn 1564 an die Universität verkauft«, erzählt Archäologe Gutjahr, »alten Hausrat schmiss man zum Fenster raus und planierte ihn.« Kostbares venezianisches Glas fand sich, Fayencen aus der Türkei, Kacheln eines Prunkofens, aber auch viele Gelehrtenutensilien. »Und was das Essen anging«, sagt Björn Schlenker, »können wir sagen: Was Luther von zu Hause kennt, das will er auch hier: deftige Speisen.« Die Archäologen stießen zudem auf einen sehr ungewöhnlichen Fund im Müll: einen goldenen Ring. »Aus den Quellen wissen wir, dass Luther Katharina von Bora 1537 einen Ring schenkte, den sie gleich
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verlor«, erzählt Gutjahr. Ist diese Anekdote nun archäologisch belegt? Gutjahr bleibt vorsichtig: »Natürlich kann er auch jemand anders gehört haben. Luthers hielten ja geradezu Hof.« Katharina war geschäftstüchtig: Studenten bekamen Kost und Logis, man besaß das meiste Vieh der Stadt und braute 5000 Liter Bier im Jahr. Gestorben ist der Reformator als einer der reichsten Männer Wittenbergs. Wenn Luther sich rühmte: »Ich bekenne, dass ich Sohn eines Bauern aus Möhra bei Eisenach bin, bin dennoch Doktor der Heiligen Schrift, des Papstes Feind«, dann äußern sich darin, meint Biograf Leppin, »Verwunderung und Stolz, dass er von Gott als Instrument auserwählt worden war«. Luthers Untertreibung in Sachen Herkunft ist demnach eine Übertreibung, um die eigene Leistung wie das wunderbare Handeln Gottes eindrücklich hervorzuheben. »Das ist keine Unredlichkeit«, sagt Leppin. Die Aussagen stammen meist aus Unterhaltungen zu Tisch. »Das passiert uns auch, dass wir manche Episode unseres Lebens anekdotisch zuspitzen.« Außerdem, ergänzt Stefan Rhein, gehören solche Stilisierungen zum Glaubenskampf: Die einen huldigten Luther als dem Retter der Christenheit, die anderen verdammten ihn als Ausgeburt des Teufels. »Alles konzentrierte sich auf ihn, den einsamen Helden«, sagt Rhein. Der Anteil, den Theologen wie Philipp Melanchthon an der Reformation hatten, interessierte nicht. Die Malerwerkstatt Lucas Cranachs soll über tausend Lutherporträts gefertigt haben. Eine Schablone, die dazu verwendet wurde, ist in der Ausstellung zu sehen. Luther war einer der ersten Popstars.
Hat man nun das Allerheiligste der Reformation gefunden? 5.
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Er griff gern selbst zur Inszenierung. Einer solchen sind die Archäologen im Lutherhaus auf 7. der Spur. »Wenn ich noch ein Jahr am Leben bin, so werde ich erleben, dass man mir mein armes Stüblein hinwegreißt, daraus ich doch das Papsttum gestürmet habe, weswegen es ewigen Andenkens wert wäre.« Sich selbst ein Denkmal setzen kann man das nennen. Tatsächlich konnte Luther verhindern, dass der Klosterturm für eine neue Stadtmauer abgerissen wurde, in dem sein Arbeitszimmer lag, der Ort, an dem er die als »Turmerlebnis« legendär gewordene Einsicht hatte: Nicht die Taten eines Menschen sichern ihm die göttliche Gnade, allein sein Glauben tut das. G N I ers LDR h O t G u Lange wurde gerätselt, wo das . 6 rL rte e ina? ö h für die Reformation zentrale e r G a Kath AS Turmerlebnis stattgefunden hatFrau N G E N G L lt A ha te. Einiges war in den Jahrhun7 . S T m Haus e d l tern s E derten seit Luthers Tod abgeriss au r e Luth sen worden. Jetzt stieß man von L E CH ns auf das Untergeschoss eines 8 . K A runkofe sP eine turmartigen Anbaus, der mit N E Z s ÜN ng 9 . M r b re n n u n einer Fußbodenheizung ause e mit V . Stamm er gestattet war und einer sed en fern spur p paraten Cloaca, vulgo: ToiO on sie v lette. Die inspiriert die ? Pest Fantasie der Lutherforscher ungemein. Denn Luther hatte seine reformatorische Erleuchtung eindeutig lokalisiert: »Diese kunst hatt mir der Spiritus Sanctus (Heilige Geist) auf diss Cloaca eingegeben.« Hat man also den Ort des Turmerlebnisses gefunden, das Allerheiligste der Reformation? Luther erzählte mehr als einmal, dass sein Arbeitszimmer in der Nähe einer Cloaca lag. Die Frage ist nun, seit wann es diesen Anbau gibt. Dass Luther später sein Arbeitszimmer darin hatte, gilt als sicher. Aber schon als Mönch? Sollte Bruder Martin eine solche Sonderstellung innegehabt haben? Es könnte sein. Als Distriktsvikar verwaltete er schließlich elf Klöster, war Universitätslehrer und Prediger an der Schlosskirche. Auch hier klaffen Realität und Rezeption auseinander. Luther ist eher ein Manager gewesen als der einsame Mönch, der sich selbst geißelnd in der Klosterzelle um einen gnädigen Gott sorgte. »Die Archäologie hilft, den Alltagsmenschen Luther sichtbar zu machen«, sagt Stefan Rhein, »und der passt nicht immer zum überlieferten Lutherbild.« Er lacht. Es sei ja schon eine Ironie des Schicksals, dass man nun so sehr nach den Hinterlassenschaften jenes Mannes suche, dem der Reliquienkult der katholischen Kirche verhasst war. »Vielleicht hat Luther die Worte vom Spiritus Sanctus auf dem Klo ja auch nur metaphorisch gemeint«, sagt Rhein. »Die Kloake galt damals als Sammelbecken des Teufelsdrecks.« Womöglich wollte der Reformator in seiner zuweilen recht deftigen Sprache zum Ausdruck bringen, dass er mit seiner theologischen Erkenntnis erfolgreich den Teufel bekämpft, dass er dem damit ordentlich, auf gut Deutsch gesagt, auf den Kopf geschissen habe. a www.zeit.de/audio »Fundsache Luther. Archäologen auf den Spuren des Reformators«. Vom 31. 10. an im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle/S.; Katalog bei Theiss 29,90 €, im Museum 24,90 €
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STIMMT’S
Ehrenrettung fürs Ei Stimmt es, dass der Genuss von Eiern den Cholesterinspiegel steigen lässt? DIETER KOCH AUS BERLIN FRAGT:
Bis vor ein paar Jahren lautete die medizinische »Wahrheit«: Cholesterin ist schädlich, es fördert Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Eier enthalten viel Cholesterin – über 200 Milligramm pro Stück, was fast schon der damals empfohlenen Höchst-Tagesdosis entspricht. Also hieß es: Eier nur sonntags. Das war in gewisser Weise ein Rufmord am Ei, in dem sehr viele gute Nährstoffe und Vitamine stecken. Inzwischen gehen die meisten Experten davon aus, dass man auch zwei Eier pro Tag essen kann, ohne dass die Adern verstopfen. Dafür gibt es mehrere Gründe: 1. Die Datenlage. In großen Querschnittsstudien mit vielen Tausend Teilnehmern konnte kein Zusammenhang zwischen Eierkonsum und Herzinfarkt festgestellt werden. 2. Ein gewandeltes Bild vom Cholesterin. Dieses fettartige Lipid ist lebensnotwendig, und man unterscheidet mittlerweile zwischen »gutem« Cholesterin (HDL) und »schlechtem« (LDL). Wichtig sind weniger
die absoluten Werte, sondern vor allem das Verhältnis der beiden Arten. 3. Die Regelungskraft des Körpers. Nur ein Teil des Cholesterins in unserer Blutbahn stammt aus der Nahrung. Der größte Teil ist hausgemacht (in der Leber), und bei erhöhter Zufuhr durchs Essen senkt ein gesunder Organismus die Eigenproduktion. 4. Die eingebaute Cholesterinbremse. Eier enthalten Lecithin, das sich fest ans Cholesterin bindet und dessen Aufnahme in den Körper hemmt. Das wurde vor ein paar Jahren im Tierversuch bestätigt. Wer wirklich den Cholesterinspiegel senken will, der sollte nicht an den Eiern sparen, sondern eher an ungesättigten und trans-Fettsäuren. CHRISTOPH DRÖSSER Die Adressen für »Stimmt’s«-Fragen: DIE ZEIT, Stimmt’s?, 20079 Hamburg oder
[email protected]. Das »Stimmt’s?«-Archiv: www.zeit.de/stimmts a www.zeit.de/audio
ERFORSCHT UND ERFUNDEN Unfreiwillig befangen
Wenn Schiedsrichter beim Tennis entscheiden müssen, ob ein Ball im Feld war oder nicht, sehen sie ihn überdurchschnittlich häufig im Aus (Current Biology, Bd. 18, S. R947). Schuld daran ist ein Korrekturmechanismus des Gehirns. Er sorgt dafür, dass bewegte Gegenstände immer ein Stück zu weit in Bewegungsrichtung wahrgenommen werden. Bei 70 von 87 untersuchten Fehlentscheidungen aus 4000 Wimbledon-Spielen hatten die Schiedsrichter den Ball draußen gesehen. Frühe Vögel singen besser
Prachtfinken-Mütter vererben ihr Gesangstalent vor allem an die ersten Eier eines Geleges (Behavioural Ecology and Sociobiology, Vorabveröffentlichung). Indem Biolinguisten
die Eier mehrerer Elternpaare austauschten, konnten sie nachweisen, dass der Zeitpunkt des Schlüpfens für die Gesangsqualität der Vögel dagegen keine Rolle spielt. Die Forscher vermuten, dass die Weibchen den ersten Eiern mehr Hormone mitgeben, die später die Ausbildung des Gesangszentrums im Gehirn fördern. Neues Treibhausgas
Stickstoff-3-Fluorid, das für die Herstellung von Plasmabildschirmen benutzt wird, gerät in viel höherer Konzentration in die Atmosphäre als bisher angenommen (Geophysical Research Letters, Vorabveröffentlichung). Das bisher noch seltene Gas entfaltet einen bis zu 20 000-mal so starken Treibhauseffekt wie Kohlendioxid.
Ein Mythos geht in Rente Sein Terminkalender ist gefüllt bis zum Jahr 2012, und aufs Altenteil zieht sich Stephen Hawking noch lange nicht zurück. Zwar gab jetzt die Universität Cambridge bekannt, nächstes Jahr werde der berühmteste Physiker der Welt in Rente gehen. Doch das sei nur eine Formalität, sagte eine Universitätssprecherin entschuldigend, Hawking werde weiterhin als Emeritus in Cambridge tätig bleiben. Aber mit 67 Jahren müssten Professoren eben ihre Lehrstühle räumen. Tatsächlich erreicht der gelähmte Astrophysiker im Januar das Rentenalter, und man
weiß nicht, worüber man sich mehr wundern soll: darüber, dass Hawking seit mehr als vierzig Jahren der Muskelschwäche ALS trotzt – oder darüber, dass in diesem unendlich geschwächten, ausgezehrten Körper ein unbeugsamer Geist wohnt, der die Welt bis heute mit seinen kosmologischen Betrachtungen zu faszinieren versteht. Sein Nachfolger, der zum 1. Oktober 2009 gesucht wird, wird es jedenfalls nicht leicht haben. Auf ihn wartet ein Lehrstuhl, den vor Hawking unter anderem Isaac Newton innehatte. BEL
SIEBEN FRAGEN IM STEHEN
Organe aus dem Drucker Der Mediziner Makoto Nakamura hat an der Toyama University ein Gerät gebaut, mit dem er schon bald komplexe Gewebe herstellen will DIE ZEIT: Herr Nakamura, Sie wollen mit einem abgewandelten Tintenstrahldrucker dreidimensionale Organe erschaffen. Meinen Sie das ernst? MAKOTO NAKAMURA: Ja, absolut. Jedes Jahr sterben Millionen von Patienten, weil sie kein Spenderorgan bekommen. Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, die fehlenden Organe auf anderem Wege zu beschaffen, zum Beispiel durch Gewebezüchtung. Die Idee, dreidimensionale Organe zu drucken, hört sich vielleicht an wie Science-Fiction. Ich nehme sie aber sehr ernst, seit ich herausgefunden habe, dass Tintenstrahldrucker Punkte auf das Papier setzen, die genauso groß sind wie lebende Zellen. Ich habe lange nach einer Technologie gesucht, mit der sich einzelne Zellen gezielt platzieren lassen. Für die Gewebezüchtung ist das eine entscheidende Voraussetzung. ZEIT: Und wie entsteht dabei das Organ? NAKAMURA: Im Prinzip setzen sich alle menschlichen Gewebe aus dreidimensionalen Strukturen zusammen, allerdings auf einer sehr kleinen Ebene. Ein Herz besteht unter anderem aus Bündeln von Herzmuskelzellen und vielen Kapillargefäßen. Jede Zelle übt an ihrem Ort eine bestimmte Funktion aus, und aus der Summe ergibt sich dann die Organtätigkeit. Besonders wichtig ist die genaue Position der Zellen und ihr Zusammenspiel mit den Nachbarzellen. Wenn wir ein Gewebe künstlich herstellen wollen, müssen wir diesen Zellverbund nachahmen. Tintenstrahldrucker bringen die dazu erforderliche Technologie mit. Sie können hochaufgelöste Bilder drucken, also können sie auch verschiedene Zelltypen exakt positionieren. ZEIT: Überleben die Zellen diesen Prozess? NAKAMURA: Ein Tintenstrahldrucker kann mehr als tausend Zellen pro Sekunde herausschleudern, und mehr als neunzig Prozent davon überleben das. Sie können sich danach auch ohne Probleme weiter teilen, das haben wir getestet. ZEIT: Haben Sie schon erste Erfolge zu verzeichnen?
Mit unserem Prototyp, dem 3-DBioprinter, haben wir schon Röhren hergestellt und Blattstrukturen mit einer dreidimensionalen Beschichtung versehen. Dafür haben wir Hydrogel und lebende Zellen benutzt. Der bisher größte Erfolg waren zweischichtige Röhren. ZEIT: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Organe zu drucken? NAKAMURA: Früher habe ich an künstlichen Herzen geforscht. Dabei habe ich mir oft vorgestellt, wie ein Herz Stück für Stück aufgebaut wird, ganz ähnlich wie ein Gebäude. Letztlich sind unsere Organe auch nichts anderes als kleine Gebäude aus biologischem Material. Sie bestehen bloß aus Zellen, Proteinen und Blutgefäßen statt aus Wänden, Stahlträgern und Glas. ZEIT: Haben Sie am Anfang wirklich versucht, einen Bürodrucker mit Zellen zu befüllen? NAKAMURA: Ja, das stimmt. Es hat aber leider nicht funktioniert. ZEIT: Wann wird Ihre Technik so weit sein, dass sie echte Organe produzieren kann? NAKAMURA: Es hängt davon ab, wie stark unser Forschungsgebiet in Zukunft gefördert wird. Bisher arbeiten auf der ganzen Welt nur wenige Wissenschaftler an dieser Technologie. In fünf Jahren könnten wir so weit sein, einfache Gewebe zu produzieren und in Tierversuchen zu testen, falls wir mehr finanzielle Unterstützung bekommen. Bis wir menschliche Organe herstellen können, wird es dann bestimmt noch einmal zwanzig Jahre dauern. Bisher konzentrieren sich die meisten Forscher bei der Gewebezüchtung darauf, dreidimensionale Gerüststrukturen zu entwickeln, auf denen sie dann Organe wachsen lassen. Das Problem dabei ist, dass sie die Zellen erst auf das Gerüst aufbringen können, wenn es schon fertig ist. Würde man sie schon einsetzen, während die Stützstruktur entsteht, könnte man viel besser kontrollieren, ob sie sich verteilen wie gewünscht und ob sich unter ihnen Wechselwirkungen ausbilden. NAKAMURA:
INTERVIEW: JOSEPHINA MAIER
Einfach mal loslassen Wer kreativ sein will, sollte seinen Gedanken freien Lauf lassen. »Dann finden im Hirn implizierte Verarbeitungsprozesse statt«, sagt der Hirnforscher Ernst Pöppel. »Es ist gewissermaßen ein Probehandeln, ein unbewusstes Spiel mit Möglichkeiten.« Das neue ZEIT Wissen: Am Kiosk oder unter www.zeit-wissen.de/abo
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Warm ums Herz
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NACKTE TATSACHEN im Scanner – da verstehen die Bürger keinen Spaß
Psychologen entdecken die tiefe Wahrheit der Metaphern: Heiße Getränke stimmen uns warmherziger, Händewaschen hilft gegen Schuldgefühle VON JOCHEN PAULUS »Metaphern sind nicht einfach sprachliche Elemente, mit denen sich die Leute unterhalten«, glaubt Chen-Bo Zhong. »Metaphern sind unverzichtbare Behältnisse, um die Welt zu verstehen und zu erfahren.« So lernen wir früh, dass ein warmes Körpergefühl – wenn einen die Mutter in den Arm nimmt – Zuneigung bedeutet. Diese Verbindung ist so stark, dass eine bestimmte Region des Großhirns, die Inselrinde, nicht nur auf physikalische Wärme reagiert, sondern ebenso auf Berührung und menschliche Wärme. Und dieselbe Region wird aktiv, wenn man sich ausgeschlossen oder zurückgewiesen fühlt. Auch Schuld und Beschmutzung hängen eng zusammen, wie ein anderer Versuch von Chen-Bo Zhong verdeutlicht. Dabei mussten die Teilnehmer zunächst peinliche Erinnerungen in einen Computer tippen. Als zweites wurden sie gefragt, ob sie bei einem weiteren Experiment mitmachen würden, das eine Studentin angeblich dringend vollenden müsse. 74 Prozent sagten dazu ja. Durften die Teilnehmer allerdings nach dem ersten Versuch ihre Hände mit Desinfektionslösung säubern, sank die Hilfsbereitschaft drastisch ab; dann waren nur 41 Prozent dazu bereit. Offenbar fühlten sie sich moralisch weniger verpflichtet als die anderen, die ihre peinlichen Gefühle nicht »abwaschen« konnten. Mit der Vorstellung von abstraktem, rationalem Denken vertragen sich solche Erkenntnisse schlecht. »Philosophie ohne Fleisch« nennen die Linguisten George Lakoff und Mark Johnson diese Mär von der kühlen Ratio. Sie sind überzeugt davon, dass sich unser Denken zu einem Großteil in Metaphern abspielt. Zuneigung setzen wir automatisch mit Wärme gleich, Schuld mit Schmutz, Größe mit Erfolg (weshalb größere Menschen, statistisch gesehen, mehr Geld verdienen und eher Führungskräfte werden). Auch der Psychologe Lawrence Barsalou von der Emory University in Atlanta glaubt, dass sich hinter den Metaphern mehr verbirgt als pure Sprachspiele. »Sinnliche Simulationen, körperliche Zustände und momentane Handlungen bilden die Grundlagen des Denken«, postuliert Barsalou und nennt dies grounded cognition, geerdetes Denken. Der Ansatz liegt im Trend. Schließlich hat sich in den vergangenen Jahren gezeigt, wie eng Gefühle mit körperlichen Phänomenen verbunden sind. Dann stellte sich heraus, dass moralische Empfindungen und Urteile viel stärker von Emotionen (und weniger von rationalen Argumenten) gesteuert werden als gedacht. Und nun lässt sich nicht einmal mehr die Sprache von körperlichen Zuständen trennen. Da kann einem auch bei der ZEITLektüre warm ums Herz werden.
Gott ist tot. Oder nicht? Mit einem merkwürdigen Slogan wollen Großbritanniens Atheisten den christlichen Glauben bekämpfen. Nun bekommen sie Beifall von der falschen Seite
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anche Theologen glauben, der neue Atheismus sei das Beste, was dem Christentum widerfahren konnte. Denn die Bücher von Religionskritikern wie Richard Dawkins (Der Gotteswahn) haben die Debatte um den religiösen Glauben angeheizt und damit ein Thema wieder intellektuell hoffähig gemacht, das im Herrgottswinkel oder in Esoterik-Buchhandlungen zu verstauben drohte. Doch die neueste Kampagne britischer Atheisten ist ein Geschenk, mit dem selbst gottesfürchtige Christen nicht gerechnet haben dürften. Angekündigt war eine aufsehenerregende Aktion: Auf roten Autobussen sollte ein starkes antichristliches Statement durch London gefahren werden. Herausgekommen ist der verzagte Slogan »Es gibt wahrscheinlich keinen Gott«, gefolgt von dem wohlmeinenden Ratschlag »Jetzt hören Sie auf, sich Sorgen zu machen, und genießen Sie Ihr Leben«. Nun reiben
sich Großbritanniens Christen verwundert die Augen. Wie bitte? Selbst Atheisten meinen nur noch, Gott existiere wahrscheinlich nicht? Zweifeln die Religionsgegner etwa an ihrem eigenen Unglauben? Der Slogan solle »die Leute zum Denken bringen«, kommentiert Richard Dawkins, der die Aktion mit 5500 Pfund unterstützt (www.atheistcampaign. org). Gut möglich, dass die Gedanken anders ausfallen als geplant. Schon loben Kirchenvertreter die Buswerbung, weil sie die »Menschen zum Nachdenken über Gott« ermutige, und fast könnte man das Ganze für einen christlichen PR-Coup halten. Die Erklärung der Atheisten selbst ist freilich noch kurioser. Man habe sich an der Werbung der Brauerei Carlsberg orientiert, die vorsichtshalber auch nur für das »wahrscheinlich beste Bier der Welt« wirbt. Ach Gott. Friedrich Nietzsche dürfte sich im Grabe umdrehen. ULRICH SCHNABEL
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Angst vor der Blöße
Fotos [M]: KRT/Bulls (Scannerbild), Fotolia (Feigenblatt); gettyimages (Tasse)
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ie klänge der Buchtitel Der Spion, der aus der Wärme kam? Der hätte eher das Zeug zur Lachnummer als zum Thriller. Ein richtiger Spion kommt aus der Kälte, wie in John le Carrés berühmtem Bestseller. Kälte assoziieren Menschen automatisch mit Einsamkeit, Berechnung und Gefühlslosigkeit. Dass solche Metaphern offensichtlich tiefer in uns verankert sind, als wir ahnen, weisen Psychologen derzeit in immer wieder neuen, erstaunlichen Experimenten nach. Im September überraschte Chen-Bo Zhong von der University of Toronto mit einem Versuch, der zur Ausbildung von Agenten gehören könnte. Studenten sollten sich an ein Erlebnis erinnern, bei dem sie sich isoliert und ausgegrenzt fühlten. Danach schätzten sie die Raumtemperatur gut zwei Grad kühler ein als Versuchsteilnehmer, die sich ein Gemeinschaftserlebnis vergegenwärtigt hatten. Sie erlebten also, wie kalt sich die Einsamkeit anfühlen kann. Vergangene Woche stellten Lawrence Williams und John Bargh in der Zeitschrift Science eine Art Fortsetzung dieser Studie vor. Die Psychologen der US-Universitäten Boulder und Yale demonstrierten, dass sich fehlende menschliche Wärme zur Not auch mit einem heißen Getränk mildern lässt. Ihre Probanden sollten unter einem Vorwand kurz eine Tasse mit heißem oder kaltem Kaffee in der Hand halten. Wenig später mussten sie eine fiktive Person beurteilen, von der sie eine kurze schriftliche Beschreibung erhalten hatten. Ergebnis: Wer heißen Kaffee bekommen hatte, beschrieb die fiktive Person eher als großzügig, glücklich, freundlich, gesellig und fürsorglich. Wer kalten Kaffee halten musste, neigte zu einem deutlich kühleren Urteil. All jenen, die gern Kontakt suchen, sei daher eher zu warmen Getränken als zu kühlen Drinks geraten. Übrigens verhalten sich Menschen mit warmen Händen auch selbst menschenfreundlicher, wie ein weiteres Experiment von Williams und Bargh klar macht: Sie drückten ihren Versuchspersonen wahlweise eine therapeutische Wärmepackung oder einen Eisbeutel in die Hand und boten ihnen dann verschiedene Belohnungen an. Die Probanden mit warmen Händen wünschten sich mehrheitlich ein Mitbringsel für einen Freund. Drei Viertel der Eispackhalter dagegen wollten die Belohnung selbst behalten. Offensichtlich ist also an den Metaphern von den »kalten«, rücksichtslosen Egomanen und den warmherzigen Menschenfreunden mehr dran, als wir für gewöhnlich meinen. Wie kann das sein?
Die Ablehnung von Ganzkörperscannern hat auch mit Scham zu tun VON HARRO ALBRECHT
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rüher wurden in Kleinanzeigen auf den hinteren Seiten von Jugendmagazinen »Röntgenbrillen« angeboten, die angeblich den heimlichen Spannerblick unter Mäntel und Blusen erlaubten. Nun wird der voyeuristische Jungentraum Wirklichkeit – durch ein Hightechgerät, das mit elektromagnetischer Strahlung im Terahertzbereich arbeitet. Mit dieser Entblätterungsmaschine wollte die Europäische Kommission auch an deutschen Flughäfen am Körper getragene Waffen und Sprengstoffe aufspüren lassen. Deutsche Bürger haben sich oft klaglos ausspionieren lassen (Kundendaten, Telefonüberwachung). Aber diesmal brach ein Furor über die Ungeheuerlichkeit des Vorhabens los. Die Privatsphäre werde verletzt, hieß es, ja sogar die Menschenwürde. Wenn sich Menschen so aufregen, dann darf man vermuten, dass sie emotional aufgewühlt sind. In diesem Fall steckt hinter der Aufregung die Angst vor der Scham, vor dem Moment, in dem man virtuell die Hüllen fallen lässt, während auf der anderen Seite ein Unbekannter am Bildschirm nicht nur nach Waffen späht, sondern vielleicht auch die Speckröllchen, Bierbäuche und Hängebusen beurteilt. Aber muss man darauf Rücksicht nehmen? Ist die Körperscham nicht nur ein künstliches Produkt des zivilisatorischen Prozesses?
Ob Schamschnur oder Burka – es geht um normgerechtes Verhalten Selbst die südamerikanischen Yanomami-Männer laufen nicht völlig nackt durch den Tropenwald. Um ihre Hüften ist eine Schamschnur geschlungen. Aus gutem Grund: Das Gefühl der Scham sensibilisiert für die Meinungen und Empfindungen anderer und ist lebenswichtig. Das Unangenehme an der Empfindung zwingt den Menschen, sich normgerecht zu verhalten – egal ob die Norm nun lediglich eine dünne Schnur vorschreibt oder eine alles verhüllende Burka. »Alle Menschen können sich schämen«, sagt Bettina Schuhrke von der Evangelischen Fach-
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hochschule Darmstadt, die über die kindliche Körperscham geforscht hat. »Das heißt aber nicht, dass wir eines Tages das Scham-Gen finden werden. Diese Dinge sind komplexer.« Im Grunde geht es um eine ganze Reihe von Gefühlen, die sogenannte Schamfamilie der Emotionen: Peinlichkeit, Schüchternheit, Schmach und Verlegenheit. Im Laufe der kindlichen Entwicklung treten diese Emotionen Schritt für Schritt ins Leben. Schon mit acht Monaten beginnen Kinder zu fremdeln, vermeiden den Blickkontakt und zeigen damit eine Art Verlegenheit. Die eigentliche Scham aber kann sich erst dann ausprägen, wenn die kognitiven Fähigkeiten zur Selbsterkenntnis entwickelt sind und das Verständnis für Regeln und Standards beginnt – in einem Alter von etwa zwei Jahren. »Erst wenn ich anfange, mich selbst als Person zu erkennen, bin ich auch in der Lage, mich selbst zu bewerten«, sagt Schuhrke. »Erst dann kann ich auch feststellen, dass ich irgendetwas Falsches gemacht habe.« Anzeichen für Körperscham hat die Psychologin in ihren Untersuchungen bei Kindern im Alter von vier bis fünf Jahren beobachtet. Wobei dieses Phänomen eigentlich unangebracht scheint, denn warum sollte der eigene Körper »falsch« sein können? »Es geht um den Schutz der Privatsphäre«, sagt Schuhrke, »und darum, dass einen andere unkontrolliert sehen können.« Unfreiwillige Nacktheit bedeutet Kontrollverlust. Mit dem Anlegen der Schamschnur demonstriert auch ein Yanomami, dass er selbst seine Nacktheit kontrolliert. Da wundert es kaum, dass in der Debatte um die Ganzkörperscanner besonders die Politiker als Träger von Macht und Kontrolle aufschrien. Die Aussicht, als Vielflieger dem prüfenden Blick des Flughafenpersonals ausgesetzt zu sein, muss in ihnen das Gefühl der Ohnmacht hervorgerufen haben. Da geht es ihnen nicht anders als den sogenannten Naturvölkern vor 150 Jahren. Als der britische Biologe Thomas Henry Huxley 1869 von den fernen Kolonialverwaltern Nacktfotos der »Eingeborenen« forderte, stießen die Beam-
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ten auf Widerstand. Der Generalinspekteur aus Ceylon musste berichten, »dass wir auf größere Schwierigkeiten stießen als erwartet bei der Beschaffung von Fotografien der eingeborenen Rassen«. Es war gewissermaßen ein früher Nacktscannervorfall, eine Weigerung, die Intimsphäre den Behörden preiszugeben.
Was Kopftuch und Körperscanner miteinander zu tun haben Warum aber ist der Nacktscanner in den Niederlanden willkommen und sogar in einigen amerikanischen Bundesstaaten? Was macht Deutschland, das Land der sexuellen Revolution und Freizügigkeit, so schamhaft? Zufällig erzählt jetzt der Film Anonyma die Geschichte deutscher Frauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg von russischen Soldaten vergewaltigt wurden. Diese Vorfälle hat man jahrzehntelang ebenso verdrängt wie die Kriegsgräuel. Doch die Scham darüber lebt im kollektiven Bewusstsein stets fort. Nun bricht plötzlich an unerwarteter Stelle ein Thema in der deutschen Gesellschaft auf, das lange verdrängt wurde. »Ich halte das Thema Scham für reif, die gesellschaftliche Diskussion der nächsten zehn Jahre zu bestimmen«, sagt der Freiburger Sozialwissenschaftler Stephan Marks, »so wie Ende der sechziger Jahre der Begriff Autorität und später die Themen Gewalt und Trauma.« Marks ist Autor des Buchs Scham, die tabuisierte Emotion. Er sieht einerseits eine inszenierte Schamlosigkeit in den Medien, in denen alles preisgegeben wird, und andererseits eine Sprachlosigkeit an den Schulen. An die Stelle von Dialog über die unverarbeitete Scham tritt gegenseitige Beschämung von Lehrern und Schülern. »Eine Lehrerin hat mir gesagt, dass sie gedacht hatte, Scham sei ein Problem türkischer Mädchen, die ihr Kopftuch nicht ablegen wollen.« Auf diese Weise, glaubt Marks, würde das eigene Problem mit der Scham auf eine andere Gruppe verlagert. Viele dieser Lehrerinnen würden wahrscheinlich den Ganzkörperscanner empört ablehnen.
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Gipfel des Kleinmuts Selten interessierte sich die Politik so für Bildung, selten hat sie so versagt. Was uns das Scheitern des Bildungsgipfels für den kommenden Wahlkampf lehrt VON MARTIN SPIEWAK
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onntagsreden werden auch während der Woche gehalten. Besonders gern, wenn sie die Bildung preisen. Der vorvergangene Mittwoch war so ein Tag, als die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten den Qualifizierungsgipfel beendeten: mit jubelnden Ansprachen (»Durchbruch«, »zukunftsweisend«), einer Abschlusserklärung voller Versprechungen – und mit kaum einem konkreten Ergebnis. Bereits nach einer Woche ist das Großereignis, das zum Gipfel des Kleinmuts wurde, dabei, in Vergessenheit zu geraten. Doch man sollte sie politisch nicht so leicht davonkommen lassen: die Bundeskanzlerin, die sich das Sorgenthema Nummer eins der Bürger griff und nicht wusste, was sie damit anfangen sollte. Ihre Bildungsministerin, die das Treffen – wie die Stuttgarter Zeitung bemerkte – erst zum »strategischen Wendepunkt in der Bildungsgeschichte hochgejazzt hat« und dann durch wolkige Wendungen auffiel. Die Landesfürsten, die es fertigbrachten, das wenige Geld, das der Bund in Form einer Stiftung anbot, aus Kompetenzegoismus auszuschlagen. Die Parteien, die sich aus wahltaktischem Kalkül gegenseitig den Erfolg missgönnten. Kurzum, es war fast die gesamte politische Klasse, die in Dresden einen großen Wurf verhinderte.
Foto [M]: Uwe Meinhold/ddp
Die Gelegenheit für einen großen Wurf war günstig wie selten zuvor Für die kommende Bundestagswahl hat der Gipfelabsturz vor allem eine Lektion parat: Die Bildung sperrt sich gegen den Zugriff der Berliner Politik. Dabei war die Gelegenheit, eine nationale Bildungsstrategie zu entwickeln, günstig wie lange nicht. Kaum ein anderes Thema treibt die Bürger seit Jahren so um wie die Qualität von Kindergärten, Schulen und Universitäten. Ob Integrationskrise, demografische Katastrophe oder Innovationsschwäche: Die Bildung gilt als politisches Passepartout für die Lösung sämtlicher Konflikte. Auch wenn die Erwartungen oft überzogen sind, die Politik hätte sie sich zunutze machen müssen – gerade angesichts der Zukunftsangst der Bürger. Selbst eine Sondersteuer für bessere Bildung fände heute ihre Mehrheit. Die politische Ausgangslage war ebenso historisch einmalig. Im Bund wie in allen großen Ländern regiert die Union, eng verbunden mit der SPD durch die Große Koalition. Bei wenigen The-
men haben sich beide Parteien so angeglichen wie bei der Bildung. Dass Lernen im Kindergarten beginnen muss, Ganztagsschulen sinnvoll sind, die Schulen mehr Freiheit brauchen und zwölf Jahre bis zum Abitur reichen, darüber sind sich Schulpolitiker heute einig, egal ob schwarz oder rot. Wie sehr das Treffen hinter seinen Erwartungen zurückblieb, lässt sich an den vermeintlichen Erfolgen ablesen. Zehn statt neun Prozent des Bruttosozialproduktes soll Deutschland bis 2015 für Kindergärten, Schulen und Universitäten ausgeben. So viel ist anderen Nationen bereits heute die Zukunft ihrer Kinder wert. Wer allerdings den Zuschlag – je nach Wirtschaftsentwicklung zwischen 20 und 40 Milliarden Euro pro Jahr – finanzieren soll, ist völlig unklar. Zwei Zahler, Kommunen und Wirtschaft, saßen in Dresden nicht am Tisch. Die anderen beiden, Bund und Länder, zeigten sich zugeknöpft. Nun soll ein Arbeitskreis das Rätsel bis Ende nächsten Jahres lösen. Da er mitten im Wahlkampf tagt, ist schon abzusehen, dass er erfolglos bleiben wird. Was von Vorsätzen ohne konkrete Selbstverpflichtung zu halten ist, zeigt ein anderes Ergebnis: Bis 2015 will man die Zahl der Schulabbrecher halbieren. Für Jugendliche mit Migrationshintergrund haben die Länder das Versprechen bereits auf dem Integrationsgipfel vor zwei Jahren abgegeben. Damals hieß die Zielmarke 2012. Mit dem Gipfel floppte auch der Versuch vor allem der Christdemokraten, Schulen und Universitäten auf ihre Tauglichkeit für den kommenden Bundestagswahlkampf zu testen. Denn ähnlich wie der SPD fehlen der CDU sowohl die Konzepte als auch
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die Personen, um aus dem Thema auf Bundesebene Kapital zu schlagen. Das zeigt sich besonders an den beiden Frontfrauen des Gipfeltreffens: Angela Merkel und Annette Schavan. In ihnen hat die CDU, anders als die SPD, immerhin zwei Spitzenvertreterinnen, die der Wähler irgendwie mit Bildung verbindet. Doch bisher blieben beide blass. Denn was genau hat die Kanzlerin bei ihren Besuchen in Klassenräumen und Hörsälen gelernt? Welche Schlussfolgerungen zieht sie aus den Gesprächen mit Erziehern und Lehrerinnen? Die Wortmeldungen am Ende ihrer Ortstermine erschöpften sich in Phrasen (»Die duale Berufsausbildung ist etwas, worauf unser Land stolz sein kann«).
DAS WAR’S DANN. Prüfung vergeigt, ab in die große Pause. Die Kanzlerin, ihre Bildungsministerin und die Präsidenten der Länder nach dem Bildungsgipfel
Die CDU wird wieder einmal mit Pisa in den Wahlkampf ziehen So bewies Merkels Ankündigung, Bildung zur Chefsache zu machen, zwar Instinkt – mehr jedoch nicht. Die Schwäche der Kanzlerin, Präsenz, aber kein Profil zu zeigen, bestätigte sich erneut. Ähnliches gilt für ihre Bildungsministerin. Zwar durfte Annette Schavan ihren Etat während der Amtszeit mächtig aufstocken. Doch bis heute verbindet man kaum ein konkretes Projekt mit ihrem Namen. Das Dresdner Treffen hat daran nichts geändert. Woran es der Bildungspolitik im Bund insgesamt mangelt, fehlte auch dem Gipfel: eine Vision, welche die Fantasie der Bürger anregt, eine Leitidee, die sich von der Frühförderung bis zur Forschung zieht. Motive hätte es genug gegeben: Der Mangel an naturwissenschaftlichem Nachwuchs, das Scheitern vieler
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Schüler aus Einwandererfamilien, die Ungerechtigkeit des deutschen Bildungssystems, in dem Herkunft Zukunft bestimmt. Mehr, als die Großprobleme anzusprechen und alte Rezepte neu aufzukochen, gelang den Gipfelteilnehmern jedoch kaum. Sie erinnerten an Schüler, die lustlos ihre Hausaufgaben machen und dabei größtenteils bei sich selbst abschreiben. Auch die kommende Bundestagswahl wird an dieser Konzeptlosigkeit kranken. Alle Parteien wollen das Thema besetzen. Noch sind die Bürger unsicher, wem sie auf diesem Feld eine höhere Kompetenz zuschreiben sollen. Doch wie sich die Wähler gewinnen lassen, wissen die Strategen in den Parteizentralen nach dem Gipfel weniger als je zuvor. Das Dresdner Treffen hat die Impotenz des Bundes bei der Bildung besiegelt. Die Sozialdemokraten werden kostenlose Kitas und Universitäten propagieren. Die Forderung ist populär, vor allem in der Mittel- und Oberschicht, die am stärksten zur Kasse gebeten wird. Die Beitragsfreiheit fördert jedoch nicht die Qualität der Bildungseinrichtungen, ebenso wenig die Bildungsgerechtigkeit. Auch ist fraglich, ob das Motto »Bildung darf nichts kosten« das richtige Signal ist in Zeiten, da das Lehren und Lernen wieder als wertvoll geschätzt wird. Immerhin verfügt die SPD über eine wahlkampftaugliche Botschaft, die christdemokratische Konkurrenz hat nicht einmal das. Kurz vor dem Gipfel veröffentlichten die Konservativen ihre bildungspolitischen Leitsätze, ein Dokument voller Allgemeinplätze und Vagheiten. Auch die CDU will Familien die Kitagebühren ersparen, aber nur im ersten Jahr. Auch sie beklagt die soziale Schieflage des Schulsystems, an dessen Dreigliedrigkeit will sie jedoch nicht rütteln. Dabei tun dies konservative Schulverantwortliche in Sachsen, Hamburg oder dem Saarland schon lange. Wirklich schaden wird die als Vielfalt getarnte Uneinigkeit der Partei aber kaum. Denn der wichtigste bildungspolitische Trumpf der CDU wird wieder einmal Pisa heißen. In drei Wochen werden die regionalen Ergebnisse des Leistungsvergleichs veröffentlicht und – wenn kein Wunder geschehen ist – erneut Schüler aus Bayern oder Baden-Württemberg die besten Resultate erzielen. Konservative können Bildung besser: Das wird das schlagende Argument der CDU. Da braucht es weder Gipfel, Konzepte noch eine Kanzlerin, die dies zur »Chefsache« machen wollte.
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DIESE WOCHE:
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WAS SOLL ICH LESEN?
Lesefutter Wahrscheinlich gibt es nur wenige Menschen, die sich nicht für’s Essen interessieren. Und wir haben zudem das Glück, in einem Land zu leben, in dem es für die meisten Leute genug Nahrungsmittel gibt. Wir könnten also wählerisch sein: frisches Gemüse statt eines dicken Hamburgers, getrocknete Aprikosen knabbern statt der ewigen Gummibärchen, Wasser trinken und nicht überzuckerte Brause. Warum tun wir es nicht? Das erklären die Autoren des Buches Sabine Jaeger/ Hermann Schulz: Schmeckt’s?. Sie beschreiben, Schmeckt’s? Alles wie Werbung uns dazu ver- übers Essen führt, Dinge zu essen, die Sauerländer 2008 nicht gut für uns sind. Und sie 12,90 Euro erzählen aufregende Geschichten rund ums Essen, über berühmte Tafelrunden, russische Vorratskeller und »Ameisen süß-sauer« in Afrika. Dazu gibt es viele Tipps und ein kleines Lexikon der Lebensmittel. Ein leckeres Buch!
DER ELEKTRONISCHE HUND
Bleeker
Dein Vorname:
Wie alt bist Du?
Wo wohnst Du?
Was ist besonders schön dort?
Und was gefällt Dir dort nicht?
Was macht Dich traurig?
Was möchtest Du einmal werden?
KRABAT-DARSTELLER DAVID KROSS: Die Kamera zeichnet auf, was wir später auf der Kinoleinwand sehen
Was ist typisch für Erwachsene?
Ab auf die Leinwand
Wie heißt Dein Lieblingsbuch?
Bei welchem Wort verschreibst du dich immer?
Neunzig Minuten braucht man, um sich einen Film anzuschauen. Einen Film zu produzieren kann Jahre dauern. So war es auch bei »Krabat«, der jetzt in den Kinos läuft VON MARIKE FRICK
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uhe bitte!«, ruft Marco Kreuzpaintner in die Runde. Dann nimmt er die zwei Hauptdarsteller des Films beiseite: Krabat und Tonda, gespielt von David Kross und Daniel Brühl. »Krabat, du willst wissen, was in der geheimnisvollen Mühle vorgeht«, sagt er. »Und du Tonda, willst Krabat vor genau diesem Wissen schützen.« Die Schauspieler nicken, denn Marco Kreuzpaintner ist der Regisseur und hat beim Filmdreh von Krabat das Sagen: Er entscheidet, wo die Schauspieler stehen sollen, wann ihr Gesicht groß gezeigt wird und ob sie ängstlich gucken sollen oder fröhlich. »Action!«, ruft er jetzt, und die Aufzeichnung beginnt. Ein paar Wochen noch, dann sind alle Szenen für den Film gedreht. Doch bis er im Kino läuft, wird über ein Jahr vergehen. Denn ein Film wie Krabat ist ein Puzzle mit vielen Einzelteilen: Raben lernen fliegen, Nähmaschinen rattern in der Kostümwerkstatt, ein Musiker komponiert Geräusche … Aber langsam: Spulen wir zurück zum Jahr 2003. Damals beginnt alles mit Uli Putz. Als Produzentin ist sie von der ersten bis zur letzten Minute dabei, wenn ein Film entsteht. Uli Putz entschließt sich 2003: Das Buch Krabat von Ottfried Preußler soll verfilmt werden! Der Roman erzählt von dem Jungen Krabat, der in einer Mühle die Kunst der schwarzen Magie erlernt. Krabat ist der Neuling unter den zwölf Müllerburschen. Der unheimliche Müller lehrt sie Zauberei – sie können sich sogar in Raben verwandeln. Als aber einer von ihnen unter merkwürdigen Umständen stirbt, erkennt Krabat, welchen Preis sie für ihre düstere Kunst zahlen. Eine unheimliche, eine spannende Geschichte! Aus diesem Roman ein Drehbuch für die Verfilmung zu machen ist gar nicht
leicht. Der Regisseur und ein Autor schreiben es sechsmal um, bis alle zufrieden sind. Und schon wartet die nächste Aufgabe: Wo gibt es Berglandschaften, wie im Buch beschrieben? Es gibt tatsächlich Leute, deren Beruf es ist, solche Orte zu finden. Einen solchen Orte-Finder schickt Uli Putz nach Osteuropa. Er stapft durch Wälder und steigt auf Berge. In Rumänien ist er dann sicher: Hier soll der Film gedreht werden. Jetzt gehen die Vorbereitungen richtig los: Handwerker bauen die unheimliche Mühle und ein ganzes Dorf. Damit alles sehr alt aussieht, wird das Holz über Feuer geschwärzt. Währenddessen schaut sich eine Kostümbildnerin alte Gemälde an, um zu lernen, wie sich die Menschen vor etwa 400 Jahren kleideten. Für jeden Schauspieler fertigen 20 Näherinnen mehrere Kostüme an – jedes mindestens drei Mal. Schließlich geht beim Drehen auch oft etwas kaputt oder wird schmutzig. Schmutz ist bei diesem Film allerdings erlaubt: Die Kleidung soll zeigen, dass die Leute arm waren. Mittlerweile sind auch die Raben geschlüpft. Uli Putz hatte nämlich Vogeleier besorgt und sie einem Tiertrainer übergeben. Der bringt den Vögeln bei, auf Kommando loszufliegen oder sich niederzulassen. Drei Jahre nachdem die Produzentin die Idee zum Film hatte, beginnen im Herbst 2006 die Dreharbeiten. Eine große Filmtruppe reist nach Rumänien. Allein für die Scheinwerfer werden drei Lastwagen gebraucht! Für die vielen Mitarbeiter stehen am Drehort Wohnwagen, Küchenzelte und Toilettenhäuschen bereit. »Ruhe bitte!«, ruft der Regisseur erneut. Er will die Szene zwischen Krabat und Tonda noch einmal drehen. Und noch einmal. Und noch einmal. Das geht so lange, bis er zufrieden ist.
Am späten Abend sind zwei Szenen geschafft. Krabat-Darsteller David Kross hat trotzdem noch nicht frei. Er lernt abends und nachts noch seinen Text. Dass er deshalb am nächsten Tag müde aussieht, macht bei diesem Film zum Glück nichts: Krabat hat schließlich kein leichtes Leben, er soll gar nicht putzmunter wirken. »Bei dem Matsch und der Kälte ist es gar nicht so schwer, Krabat darzustellen«, sagt David Kross. In einem Studio in München wird es dann wärmer. Hier wurde das Innere der Mühle nachgebaut: der Dachboden mit den Schlafplätzen der Jungen, die Küche mit den Holztischen und die dunkle Kammer des Meisters. Und hier im Studio werden auch Trickszenen gedreht: Im Film stürzt Krabat zum Beispiel von einem Felsen und steigt, in einen Raben verwandelt, in die Lüfte auf. Tatsächlich aber hängt der Schauspieler im Studio an einem Seil und saust quer durch den Raum. Am Computer wird später die Landschaft eingebaut. Dort werden auch die Szenen in der richtigen Reihenfolge aneinandergefügt und bearbeitet. Diese Arbeiten dauern noch einmal ein halbes Jahr! Gleichzeitig überlegt ein Komponist, wie der Film sich anhören soll. Welche Geräusche gibt es im Kampf? Wo wird Musik zu hören sein? Tricks, Geräusche und Musik – all das gibt es in Büchern nicht. Wenn Romane verfilmt werden, wird deshalb oft gestritten, ob der Film so gut ist wie das Buch. Auch zu Krabat gibt es verschiedene Meinungen. Dafür muss jeder selbst lesen und den Film anschauen. Und wem die Kinoversion zu gruselig ist, der kann beim Lesen seinen eigenen Film im Kopf gucken.
Fotos: © 2008 Twentieth Century Fox (großes Foto mit Fackel, Regisseur); © Claussen+Wöbke+Putz Filmproduktion (Wald); © 2008 Marco Nagel/Claussen+Wöbke+Putz Filmproduktion (Schminken); © picture-alliance/dpa (Kürbis); Abb.: © Apfel Zet für DIE ZEIT, www.apfelzet.de (Piktogramme); © Niels Schröder für DIE ZEIT (Wappen, kl. Löwe)
Am Freitagabend (31. Oktober) wird es gruselig: Ausgehöhlte Kürbisse mit Fratzengesichtern leuchten, von Kerzen erhellt, in die Dunkelheit. Mit oft unheimlichen Kostümen verkleidete Kinder ziehen durch die Straßen und rufen an den Türen: »Süßes oder Saures!« Wer keine Leckereien parat hat, dem wird ein Streich gespielt. Es ist Halloween – seit einigen Jahren auch in Deutschland. Wir haben uns diesen Grusel-Karneval in den USA abgeguckt. Dort ist Halloween ein Riesenfest, Kinder und Erwachsene geben in jedem Jahr Milliarden Dollar für Kostüme, Spielzeug und Süßigkeiten aus. Auch in Deutschland werden inzwischen Millionen Euro mit Weingummi in Fledermausform oder künstlichen Spinnennetzen verdient. Halloween gab es aber bereits, bevor es um Geld ging. Der Name stammt von »All Hallow’s Eve«, übersetzt: der Vorabend des christlichen Festes Allerheiligen. Der Papst führte diesen Tag zum Gedenken der Heiligen im 8. Jahrhundert ein. Einige Geschichtsforscher denken, dass die gruseligen HalloweenBräuche auf die Kelten zurückgehen. Schon vor mehr als 2000 Jahren feierten sie im alten England am 31. Oktober das Ende des Sommers mit dem Samhain-Fest. Die Menschen glaubten, dass in der Nacht die Verstorbenen als Geister auf die Erde zurückkamen.
Fragebogen
www.zeit.de/kinderzeit
Willst Du auch diesen Fragebogen ausfüllen? Dann guck mal unter www.zeit.de/fragebogen
UMS ECKCHEN GEDACHT
Ein kniffliges Rätsel: Findest Du die Antworten und – in den getönten Feldern – das Lösungswort der Woche? 1 2
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Die benutzen ihre Flügel Hexen können’s auch ohne
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Anlass, zur Gruselparty einzuladen
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Die sind Babyspielzeug, Geister tun’s mit Ketten
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Bringt auch andere zum Flattern – vor Angst vor den spitzen Zähnen
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Da kommen KEVIN und LUDGER durcheinander: Damit sieht man ja wie jemand ganz anderer aus
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Die Römer tun’s, glaubt Obelix – die krabbeln auf acht Beinen
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Können zugleich Hohlköpfe und unheimliche Leuchten sein
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Schaurig sein Rippenklimpern, Schädelschlenkern, Kieferklappern
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Die können das ungefähr genauso gut wie Zauberer
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Gibt’s nichts Süßes, dann gibt’s ...!
Schicke es bis Dienstag, den 11. November, auf einer Postkarte an die
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ZEIT, KinderZEIT, 20079 Hamburg,
und mit etwas Losglück kannst du mit der richtigen Lösung einen Preis gewinnen, ein kuscheliges ZEIT-Badetuch. Lösung aus der Nr. 43: 1. Zugbruecke, 2. Schild, 3. Ruestung, 4. Katapult, 5. Zinnen, 6. Schwerter, 7. Bogen, 8. Turnier, 9. Verlies, 10. Belagerung – RITTERBURG
ALLTAG BEIM DREH: Der Regisseur blickt ernst, Technik steht im Wald, und der Dreck im Gesicht ist geschminkt
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ZEIT ZUM VORLESEN
30. Oktober 2008 DIE ZEIT Nr. 45
Der Kampf im Moor
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en ganzen Sommer lang wanderte Wanja von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt, durch Wälder und Steppen, an Flüssen und Bächen entlang, bei Regen und Hitze, bei Wind und Sonnenschein. Was er zum Leben brauchte, verdiente er sich. Hier half er Weizen schneiden, dort packte er einen wild gewordenen Stier bei den Hörnern und bändigte ihn; bald schleppte er eine Ladung Getreide zur Mühle: alles Arbeiten, die nicht viel Zeit erforderten und ihm doch seine Krautsuppe eintrugen, seinen Brei, seinen täglichen Kanten Schwarzbrot, und manchmal ein Stück Fleisch oder Speck. Oft musste Wanja zurückdenken an den Ritter Wolok, an die schimmernde Stadt Kiew – und an die Geschichten, die ihm Wolok von den Abenteuern der Helden vom Goldenen Tisch erzählt hatte. Dann wurde ihm schwer ums Herz. Er war stolz auf den Dolch, den Wolok ihm zum Abschied geschenkt hatte; und bisweilen erschien ihm im Traum die Schimmelstute Bjelaja und trug ihn auf ihrem Rücken wie ein Sturmwind. Viele Leute, mit denen er unterwegs zusammenkam, fragte er nach den Weißen Bergen. Einige meinten, sie hätten schon einmal von ihnen gehört; aber wo sie lagen und wie man dorthin gelangte, das konnte ihm niemand sagen. Der Herbst kam mit Wind und Nebel, mit Krähenschwärmen und dem Geschrei der Wildgänse. Wanja wanderte eine Zeit lang am Rand eines weiten Moores dahin. Der Weg führte an schwarzen Tümpeln vorbei, über schwankende Knüppeldämme, durch struppiges Heidekraut. Die Dörfer hier waren klein und ärmlich, die Böden karg. Unweit des Weges waren zwei alte Leute damit beschäftigt, ein Feld zu pflügen. Der Bauer hatte sich selbst vor den Pflug gespannt. Die Bäuerin, ein verhutzeltes Frauchen, stolperte hinterdrein und drückte das Pflugscheit nieder, so gut es ging. Wanja schaute den beiden kopfschüttelnd eine Weile zu. Dann stieß er die Lanze aus Eisenholz in den Boden und krempelte sich die Ärmel auf. »He, Großvater!«, rief er. »Ihr beiden mutet euch da ein bisschen viel zu!« Der Alte blieb stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Das wäre der erste Acker, Söhnchen, der sich von selbst pflügte«, sagte er. Wanja trat auf ihn zu und griff nach dem Zugseil. »Lass mich den Pflug ziehen«, sagte er. »Ich bin jung, für mich ist das eine Kleinigkeit.« Der starke Wanja pflügte den alten Leuten das ganze Feld um. Es war Abend geworden, die beiden hatten ihn eingeladen, bei ihnen zu übernachten. »Unsere Hütte«, sagte der Bauer, »ist klein, doch für drei reicht sie allemal.« Die Alte tischte dem starken Wanja einen Borschtsch auf, das ist eine Suppe von roten Rüben, und hinterher eine Schüssel voll Linsenbrei. »Iss du nur, Söhnchen«, sagte sie, »Du hast auf dem Acker für zehn gearbeitet. Was wir dir vorsetzen können, ist dürftig,
aber es kommt von Herzen! Gott segne dir’s!« Wanja ließ sich den dampfenden Borschtsch und die Linsen schmecken. Das bisschen Pflügen, meinte er, habe ihm wenig ausgemacht. Aber für alte Leute sei es doch wohl eine arge Schinderei. »Reicht’s denn nicht auf ein Pferd?«, fragte er. »Und wenn nicht – warum leiht ihr euch keins bei den Nachbarn?« Das sei leider nicht möglich, sagten die Alten. Es gebe hier, in den Dörfern am Moor, keine Pferde. »Und warum nicht?« »Die Baba-Jaga hat sie alle weggeholt«, sagte der Bauer. »Die Hexe Knochenbein. Sie haust draußen im Moor – und sie reitet zuweilen auf einem alten Backofen aus, der läuft auf vier großen Hühnerpfoten. Wer ihr den Weg kreuzt, dem wirft sie ein Fangeisen um den Hals, zerrt ihn in den Morast und ertränkt ihn.« – »Die Pferde auch?«, fragte Wanja. »Die lässt sie am Leben«, sagte der Alte. »Sie hält sie im Moor gefangen. Es müssen schon mehr als hundert sein.« – »Und findet sich niemand, der ihr das Handwerk legt?« – »Viele haben den Zweikampf mit ihr gewagt. Wer in den Dörfern herumhorcht, dem wird man von manchem tapferen Mann erzählen, den die verfluchte Hexe auf dem Gewissen hat.« Wie der Kampf mit der Baba-Jaga sich denn abspiele, fragte Wanja. »Der Kampf besteht darin«, sagte der Alte, »dass die Baba-Jaga ihrem Gegner das Fangeisen um den Hals wirft. Am Fangeisen hängt eine lange Kette. Gelingt es der Baba-Jaga, dich ins Moor zu zerren, bist du verloren. Wenn du es aber fertigbringst, sie und den Backofen auf das trockene Land zu ziehen – dann hast du sie überwunden, und sie muss tun, was du ihr befiehlst. Aber bisher hat das keiner fertiggebracht; und ich fürchte, so wird es bleiben.« Das müsse sich erst noch zeigen, erwiderte Wanja in einem Ton, der die beiden aufhorchen ließ. »Um Himmels willen! Du willst doch nicht etwa selbst …« – »Doch«, sagte Wanja. »Ich habe den bösen Och und den Räuber Batur besiegt – und ich hoffe, mit Gottes Hilfe werde ich auch die Baba-Jaga bezwingen. Morgen bin ich am Moor.« Dabei blieb es. Vor Tau und Tag stand er auf, ging zum Brunnen und wusch sich. Bei der Morgensuppe versuchten die beiden Alten noch einmal, ihn umzustimmen – vergebens. »Ich danke euch, gute Leute, für eure Gastfreundschaft«, sagte Wanja. »Sorgt euch nicht um mich, es wird alles ausgehen, wie es mir bestimmt ist. Wenn die Pferde zurückkommen, wisst ihr, dass ich den Kampf bestanden habe.« Er nahm Abschied und wollte gehen. Aber der Alte hielt ihn zurück und sagte:
Nr. 43 DIE ZEIT
»Da nichts mehr daran zu ändern ist, dass du hingehst und deinen Kopf wagst, will ich dir etwas anvertrauen: Solltest du wider alles Erwarten den Kampf mit der Baba-Jaga gewinnen, dann zwinge sie, dir den Rappen Waron zu geben, der schneller ist als der Steppenwind, das beste und treueste Ross. Lass dir kein anderes Pferd von ihr aufschwatzen, hörst du – kein anderes!« Wanja dankte dem Bauern für seinen Rat. Dann verließ er die Hütte und schlug den Weg ein, der aus dem Dorf hinausführte an den Rand des Moores. Dreimal rief Wanja mit lauter Stimme die Baba-Jaga. Beim ersten Mal rührte sich nichts; beim zweiten Mal fegte ein Windstoß über das Moor; beim dritten Mal kam die Hexe auf ihrem Ofen herangeprescht: krummnasig, schiefmäulig, mit fliegenden Röcken und wirr flatterndem Haar. Der Ofen lief auf stämmigen nackten Hühnerbeinen mit langen Krallen. Die Hexe hockte darauf wie ein Reiter. Mit der einen Hand hielt sie die Zügel, in der anderen schwang sie das Fangeisen. Dicht vor Wanja, am Rand des Moores, zügelte sie den Ofen. »Du hast mich gerufen, Bürschlein? Was willst du?« – »Ich will mit dir kämpfen«, erwiderte Wanja tapfer. »Kämpfen?! – Gib acht, was ich mit dir mache!« Eins – zwei warf die Baba-Jaga ihm das Fangeisen um den Hals. Klirrend schnappte es zu, mit eisernem Würgegriff. Wanja fasste sich an die Kehle. »So!«, rief die Baba-Jaga. »Und nun ins Moor mit dir!« Damit wendete sie den Backofen. »Vorwärts, mein Pferdchen, hej!« Sie versuchte den starken Wanja ins Moor zu zerren. »Willst du wohl ziehen, du alter Klepper? Vorwärts!« Die Hexe spornte den Ofen mit Geschrei an. »Hej, hej, hej, hej!« Wanja stützte sich auf die Lanze von Eisenholz. Die Kette war zum Zerreißen angespannt, das Fangeisen würgte ihn halb zu Tode. Keuchend rang er nach Luft. »Alle Heiligen!«, dachte er. »Steht mir bei – wie soll das ein Mensch ertragen …« Er machte sich schwer und stemmte sich mit den Füßen fest in den Boden. Die Hexe schlug wie nicht bei Trost auf den Ofen los. »Noch ein Ruck!«, rief sie. »Hej, hej, hej!«
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anja spürte, dass es mit seinen Kräften zu Ende ging. In seiner Verzweiflung zog er Woloks Dolch aus dem Gürtel und schleuderte ihn nach dem Backofen. Knirschend bohrte die Klinge sich in die rechte Flanke des Ofens. Blut spritzte aus der Wunde. Der Ofen stieß einen gellenden Schrei aus und bäumte sich auf. Für einen
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Augenblick verlor die Baba-Jaga die Gewalt über ihn. Diesen Augenblick nützte Wanja zu einem mächtigen Ruck. Der Ofen war nicht gefasst darauf, die Hühnerbeine knickten unter ihm weg, er verlor den Halt. Wanja schleifte den Backofen samt der Baba-Jaga auf das feste Land. Kaum war das geschehen, da öffnete sich das Fangeisen und klirrte zu Boden. Wanja trat auf die Hexe zu. »Nun – wer hat wen besiegt?« Die Baba-Jaga stieg vom Ofen, aschfahl im Gesicht vor Wut. Sie knirschte mit ihren langen Pferdezähnen, sie fauchte wie eine böse Katze. Sie hatte den Kampf verloren – und basta. »Was verlangst du von mir?« Wanja sagte fest und mit lauter Stimme: »Den Bauern ihre Pferde – und mir den Rappen Waron: Das verlange ich!« Die Hexe wich einen Schritt zurück, sie duckte sich wie zum Sprung. »Was du verlangst, soll geschehen«, krächzte sie. »Lass uns zu mir nach Hause reiten, auf meinem Ofenpferdchen ist für uns beide Platz.« Auf dem Backofen ritten die Baba-Jaga und der starke Wanja über das weite Moor, dass der Schlamm spritzte und der Wind ihnen um die Ohren pfiff. Weit draußen im Moor stand die Hütte der Baba-Jaga: ein schiefes, schludriges Häuschen mit blinden Fenstern und schimmligen Balken, das Strohdach an vielen Stellen durchgefault. »Da wären wir – brrr, mein Öfchen!« Links von der Hütte begann ein langer, fast mannshoher Bretterzaun. Als Wanja darüber hinwegblickte, sah er auf eine Pferdekoppel. Dort grasten mit hängenden Köpfen die von der Baba-Jaga auf den Dörfern zusammengestohlenen Pferde – alle gut im Futter, soweit sich das aus der Ferne erkennen ließ, aber krank vor Heimweh. »Schick sie in ihre Dörfer zurück!«, befahl Wanja. »Und wehe dir, wenn auch nur eines zu Schaden kommt!« Die Hexe murmelte etwas in einer fremden, unverständlichen Sprache und fuchtelte mit den Händen. Dann steckte sie zwei Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus. Wanja fasste sich an die Ohren, die Alte kicherte. »Um Vergebung, falls ich den Herrn erschreckt habe.« Im Bretterzaun hatte sich auf den Pfiff hin ein Tor geöffnet. Die Pferde der Bauern kamen herbeigetrottet und schauten. »Lauft, gute Pferdchen!«, rief der starke Wanja. »Seht ihr nicht, dass ihr frei seid?« Nun begriffen die Bauernpferde. Freudig stürmten sie aus der Koppel, mit fliegender Mähne und wehendem Schweif. Nach allen Richtungen stoben sie davon, ein jedes zurück in sein Heimatdorf. Und keines sank auch nur einen Fingerbreit im Morast ein, dafür hatte die Hexe mit ihren Zaubersprüchen gesorgt. »Zufrieden, der Herr?« – »So weit ja«, sagte Wanja. »Nun aber her mit dem Rappen Waron!« Die Hexe buckelte. Mit schiefem Grinsen führte sie Wanja zu einem Stall, darin standen zwei prächtige Pferde: ein Goldfuchs mit langer, geflochtener
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Mähne und eine herrliche Schimmelstute, in allen Dingen Bjelajas Ebenbild. »Schneeflöckchen ist zu haben«, sagte die Baba-Jaga, »und Goldfüchslein auch …« Wanja klopfte der Schimmelstute den Hals. Zutraulich schmiegte sie ihm den Kopf an die Schulter. »Nun, wie gefallen dir meine Tierchen? Eins davon kannst du mitnehmen.« – »Und der Rappe Waron?«, fragte Wanja. »Ach, der!«, rief die Hexe Knochenbein. »Dort hinten steht er und frisst das Gnadenbrot.«
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alb versteckt hinter einem grauen Vorhang stand ein elender, dürrer Klepper mit Triefaugen und verfilzter Mähne. »Dies soll Waron sein?« – »Du sagst es.« Wanja besah sich den Rappen näher. Was für ein schäbiges Tier! Wanja war drauf und dran, sich für Schneeflöckchen zu entscheiden: Da fiel ihm die Warnung des alten Mannes ein. Wie zufällig streifte sein Blick die BabaJaga, und er sah sie grinsen. »Nun?«, drängte die Hexe. »Du hast deine Wahl getroffen?« – »0 ja«, sagte Wanja. Der Rappe Waron war mit einem Strick festgebunden. Wanja löste den Knoten und führte Waron ins Freie. Als sie die Stalltür durchschritten, verwandelte sich die dürre, räudige Schindmähre in ein strahlendes Heldenross. Der Fuchs aber und die Schimmelstute wurden im gleichen Augenblick wieder zu dem, was sie in Wirklichkeit gewesen waren: ein Strohwisch und eine alte Nachtmütze. Der Baba-Jaga hatte ihre Hexenkunst nichts genützt. Wütend schwang sie sich auf den Backofen und ritt kreischend davon. So groß war ihr Zorn, dass sie Feuer fing. Lichterloh brennend stürzte sie sich mit dem Ofen in einen der schwarzen Moortümpel und versank darin. »Die sind wir los!«, sagte Wanja. »Nun brauchen die Bauern sich nicht mehr vor ihr zu fürchten.« Wohlgefällig betrachtete er den Rappen Waron, dessen Fell in der Sonne glänzte wie schwarze Seide. »Wie stolz du den Kopf hältst, Waron! Und wie feurig du in die Runde blickst!« Das edle Ross trug den starken Wanja auf die Heide hinaus. »Lauf zu, mein Waron!« Da stürmte der Rappe mit Wanja dahin, schneller als der Steppenwind. Die Leute, denen sie unterwegs begegneten, sahen bloß einen Schatten und spürten den scharfen Luftzug. »Was war das?«, fragten sie. »Will es schon Winter werden? Es scheint, dass der Sturm uns die ersten Schneewolken übers Land treibt.« Weitere Informationen auf ZEIT ONLINE: www.zeit.de/jungeleser a www.zeit.de/audio
Nächste Woche: Vier Extraseiten zur neuen ZEIT-Edition »Fantastische Geschichten für junge Leser«
Illustrationen: © Herbert Holzing, aus dem Buch »Wanja und seine Brüder« von Otfried Preußler, erschienen im K. Thienemanns Verlag, Stuttgart-Wien-Bern 1981, Textauszug: S.100-112
Dem starken Wanja ist geweissagt worden, dass er einmal Zar von Russland werden soll. Um dieses Ziel zu erreichen, muss er sieben Jahre auf einem Ofen liegen. »Die Abenteuer des starken Wanja« von OTFRIED PREUSSLER erscheinen demnächst in der neuen ZEIT-Edition »Fantastische Geschichten für junge Leser«. Hier könnt Ihr in das Buch hineinlesen: Wanja hat seinen Ofen verlassen – aber auf dem Weg zur Zarenkrone begegnen ihm viele Gefahren, zum Beispiel die schreckliche Hexe Baba-Jaga …
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30. Oktober 2008 DIE ZEIT Nr. 45
Umsturz auf Probe
Unheilsgeschichte
Führt die Finanzkrise zum Klassenkampf? Am Hamburger Schauspielhaus fordern die Armen schon mal die Superreichen heraus
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uf der Bühne des Hamburger Schauspielhauses stehen 24 Menschen und rufen die Namen von anderen Menschen, die offensichtlich nicht im Saal sind: Familie Weisser, Heinz Bauer, Familie Fielmann. Jedenfalls antwortet niemand, niemand ruft »Hier!«. Wird ein Turnier vorbereitet? Fordert eine Gruppe die andere rituell zum Kampf heraus? Nein, was sich hier abspielt, ist eine symbolische Gegenüberstellung. Auf einem großen Platz der Stadt sollen sich die Armen und die Reichen begegnen. Die Menschen auf der Bühne gehören zu den ärmsten Einwohnern Hamburgs, das Schauspielhaus hat sie eigens ausgesucht, damit sie in dieser Inszenierung mitspielen. Viele von ihnen sind krank, einige süchtig, arm sind sie alle: das Volk von König Hartz dem Vierten. Und die Namen, die diese Menschen auf der Bühne rufen, sind die Namen der 28 reichsten Bewohner Hamburgs. So sprechen die 24 Armen im Chor: Frank Leonhardt, und dann: 450 Millionen Euro. Oder sie rufen: Thomas Ganske, und dann: 550 Millionen Euro. Man hört zuerst den Namen und dann das Vermögen, das er repräsentiert. Aber nicht nur das; der Chor
Auf geht’s! Revolution!
Foto (Ausschnitt): A.T. Schaefer
Diese Zeit, so rufen manche, braucht einen Umsturz. In der Kunst wird er probehalber schon vollzogen. Auf dieser Seite berichten wir von einem Aufstand im Hamburger Schauspielhaus. Und auf Seite 56 beleuchtet Dietmar Dath mit satirischem Witz »Deutschlands Weg zur Revolution«
spricht langsam, zum Mitschreiben, auch die Adressen, unter denen die Reichen zu erreichen sind. Immer höher werden die Zahlen. Zu hören ist ein Sprachkunstwerk aus Namen, Adressen und Summen. Das Publikum verfolgt die Darbietung in Andacht und Faszination, als sähe es zu, wie ein unfassbares Vermögen unter Außerirdischen verteilt wird. Die Szene steht am Schluss von Volker Löschs jüngster Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus, einer recht freien Variante von Peter Weiss’ Stück Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade. Weiss befasst sich mit dem Scheitern und den unabgegoltenen Ansprüchen der Französischen Revolution. Die Hamburger Variante, als deren Autoren nun Volker Lösch und seine Dramaturgin Beate Seidel firmieren, heißt Marat, was ist aus unserer Revolution geworden? und spielt in einer riesigen Gummizelle, die mit dem Aldi- beziehungsweise Lidl-Logo geschmückt ist. Interessant an der Aufführung ist vor allem, wie das bürgerliche Publikum sich in ihr benimmt: Es gerät hier gleichsam zwischen die Armen und die Reichen. Es soll sich vor dem Abstieg fürchten, den die Armen auf der Bühne schon hinter sich haben; und es soll den Reichtum jener Abwesenden verachten, deren Namen auf der Bühne aufgerufen werden. Was tut das Publikum? Es wartet gierig auf neue Millionärsnamen und auf immer höhere Zahlen, es gerät in eine übermütige Wut, denn es wird vom Theater ermächtigt, sich endlich mit Recht zu empören. Fast könnte es schunkeln zur Deklamation der Summen. Die Liste steigt auf 2,9 Milliarden (Heinz Bauer, Verlagsgruppe) und 6,3 Milliarden (Geschwister Herz, Mayfair-Holding), sie erreicht die
DAS VOLK zu Füßen Lenins – Szene aus der Hamburger »Marat«-Inszenierung
Höhe von 8,1 Milliarden (Familie Otto), und dann ist sie zu Ende. Einige Millionäre haben gegen das Verlesen ihrer Namen geklagt, auch das wird vom Chor verkündet. Gäbe es in Hamburg noch mehr Superreiche und wäre die Liste noch länger, dann bräche am Ende des Abends womöglich die Revolution aus, und die Zuschauer verließen das Schauspielhaus und suchten die genannten Adressen auf, eine nach der anderen, in einer tollkühnen, ergebnisoffenen Halloween-Prozession. So weit kommt es natürlich nicht. Es ist aber auch so ein Abend des puren Theaterglücks. Das Publikum feiert den Chor der Armen, und es wirkt, als wolle es die eigene Wut und Ausgelassenheit an die Höhe der vom Chor genannten Summen ketten, um irgendwann mit ihnen durch die Decke zu gehen. So ein Reichtum kann nur ein anderes Wort für Unrecht sein, sagt uns Löschs Inszenierung, denn: Warum stellt man sich sonst auf einen Platz und ruft die Namen von Abwesenden? Doch wohl, um sie zur Verantwortung zu ziehen.
Nr. 45 DIE ZEIT
Das bürgerliche Theaterpublikum wärmt sich an der Wut der wirklich Armen. Es genießt die Gewissheit, relativ unschuldig zu sein am Unglück der Welt; andere, so spüren wir, haben in viel größerem Maßstab das Gute unterlassen. Peter Handke hat einmal über reiche Leute gesagt, sie seien im Kern unernst, ja sie seien im Grunde genommen gar nicht da. Handkes vernichtendes Urteil wird diesem Marat zum Leitsatz: Die Schwerreichen und Mächtigen, von der Soziologie gern als die »Unsichtbaren ganz oben« bezeichnet, sie haben hier die Aura abwesender Bestien, den Anruch der Untoten. Reichtum wird als Entfernung spürbar, welche Gute und Böse trennt: Herr X ist 1,9 Milliarden reicher als ich – wie rechnet man das in Lichtjahre um? Die Armut und der Reichtum stehen sich in Hamburg symbolisch gegenüber – als Pole unserer Welt, als feindliche Heere. Was bringt diese Konkretion? Man könnte sagen, sie bringt so etwas wie die Idee von Gleichgewicht und Symmetrie in den Abend: Löschs Inszenierung suggeriert, dass jene Reichen an
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VON PETER KÜMMEL
der Armut dieser Armen unmittelbar schuld seien; dass jene diesen das ihnen zustehende Geld vorenthielten; dass Umverteilung und langfristige Abschaffung des Geldes geboten seien. Also, liebes Publikum, ihr wisst ja jetzt, wo jene Leute wohnen. Löschs Theater ruft jenen Ernstfall aus, der ein Kunstinstitut dazu legitimiert, unverschleiert zu sprechen und alle »Zwischentöne« und Differenzierungen fahren zu lassen (etwa jene, dass selbst die ärmsten Deutschen global gesehen zu den Wohlhabenden zählen). Tatsächlich erübrigen sich Interpretationsund Dechiffrierarbeiten, um dieses Spiel zu begreifen. Es rechtfertigt seine ästhetische Obszönität durch die Obszönität des großen Ganzen: Armutszurschaustellung auf der Bühne ist schlimm; aber längst nicht so schlimm wie der Reichtum, den sie – von unten – beleuchtet. Dieser Marat, so heißt es schon in manchen Zeitungen, sei die Wiedergeburt des politischen Theaters. Es ist eine Geburt aus dem Geist der Verteilungskämpfe. Lösch unternimmt den drastischen Versuch, die sagenhaften »Geldströme« sichtbar zu machen, die unsere Welt beherrschen, und wenn das nicht geht, so will man doch die Herrschaften benennen, in deren Höfen die Ströme an die Oberfläche sprudeln. Wir sind zurück in den Zeiten, da Öffentlichkeit sich bildete, wenn jemand am Pranger stand, und Lösch ruft: Höchste Zeit, dass wir so weit sind! Erstaunlicherweise scheint das Publikum auf diesen Klimawechsel nur gewartet zu haben. Es ist wach, es ist animiert. Am Ende herrscht minutenlanger Jubel, als sei etwas beschlossen worden. Aber was? Dass wir unverzüglich zu den angegebenen Adressen ziehen, in ansteigender Reihenfolge, zuletzt zum Allerreichsten? Und überall »Kommt heraus!« rufen? Natürlich ist das eine Droh- und Imponiergeste des Theaters, das so gern politische Wirkung hätte. Eine Ende-der-Schonzeit-Geste, hinter der sich »der Bürger« gern verschanzt – als verantworte er sie aus sicherer Entfernung mit. Ganz sacht wird im Theater die Fackel der Wut an die Kostüme der »Reichen und Mächtigen« gelegt, gerade so, als habe Volker Lösch während der Regiearbeit Poes Froschhüpfer gelesen, die Geschichte von dem zähneknirschenden Hofnarren, der den König, den er unterhalten soll, mitsamt seinen Höflingen bei lebendigem Leib in Brand steckt. Und eine zähneknirschende Wut liegt in der Art, mit der Lösch seinen Armenchor in Dienst nimmt. Die Wut des »Bürgers« bleibt dahinter sehr zurück. Das liegt vermutlich daran, dass er noch nicht so recht weiß, wo er hingehört und von wem er mehr erhoffen soll – von den erbitterten Armen auf der Bühne oder doch von den »Unsichtbaren ganz oben« und ihrer rücksichtslosen Vitalität. Also ist man versuchsweise empört. Die öffentliche Wut wirkt wie ein Trick, den der Bürger manchmal übt, zur eigenen Unterhaltung oder um Begleiter zu verblüffen. Nachdem es 15 Minuten lang applaudiert hatte, wild wie seit Jahren nicht, strömte das Publikum aus dem Schauspielhaus, und man hatte keineswegs den Eindruck, dass der im Saal geknüpfte Empörungszusammenhang in der frischen Luft auch nur zwei Minuten überdauern würde. Das Ganze war nur eine Übung für den Ernstfall gewesen, und wir, die Bürger, hatten vor allem eines bewiesen: unsere ungeheure Flexibilität. Geprobt wurde Das Ende der Schonzeit dargestellt durch das Publikum des Schauspielhauses Hamburg. Nun warten wir darauf, zu erfahren, welche Schonzeit es ist, die da zu Ende geht. Dunkel ahnen wir, dass es unsere eigene sein könnte. a www.zeit.de/audio
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Warum der Kapitalismus zwanghaft mit Juden assoziiert wird Warum nur? Was hat den Münchner Wirtschaftswissenschaftler Hans-Werner Sinn gebissen, dass er die Kritik an den Bankmanagern unserer Tage ausgerechnet mit der Hetze gegen Juden nach der Weltwirtschaftskrise 1929 vergleichen musste? Woher die zwanghafte Neigung zur Assoziation der deutschen Unheilsgeschichte, wann immer nach einem rhetorischen Ausdruck des Abscheus gesucht wird? Noch niemals ist der Vergleich für den Polemiker gut ausgegangen, noch immer hat er sich, und in diesem Falle auch Professor Sinn, entschuldigen müssen. Mit guten Gründen entzieht sich die jüdische Leidensgeschichte dem Bezug auf ein Unrecht der Gegenwart. Und nun erst recht auf ein Unrecht, das den deutschen Bankern vielleicht, wer weiß, womöglich, unter Umständen zugefügt werden könnte. Drohen ihnen etwa Verfolgung, Gefängnis, Tod? Es drohen ihnen, wenn’s schlimm kommt, Schmähung, Verachtung, öffentliche Kritik. Worte kurzum, möglicherweise auch Einkommensverluste. Nichts im Entferntesten von dem, was erlauben könnte, im Hintergrund den Feuerschein des Holocaust auflodern zu lassen. Natürlich ist es immer unerfreulich, so weit kann man dem Präsidenten des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung zustimmen, wenn in einer Krise nach Sündenböcken gesucht wird. Aber schon seiner Begründung, dass es sich eher um einen »anonymen Systemfehler« handele, sollte man nur unter Vorbehalt folgen. Denn der »Systemfehler«, der den Vorzug hat, von persönlicher Verantwortung zu entlasten, belastet stattdessen den Kapitalismus als solchen – und ruft damit zugleich den fatalen Zusammenhang auf, der den historischen Hintergrund des Judenvergleichs bildet. Denn es war ja gerade die paranoide Gleichsetzung von Juden mit dem Kapitalismus und seinen Krisen, die erst der nationalsozialistischen Propaganda ihre Schubkraft verlieh. Antisemitismus, das hat schon einmal August Bebel im 19. Jahrhundert gesagt, ist der Antikapitalismus der Dummen. Die Verbindung wird aber nicht intelligenter und gewinnt auch nicht an Unschuld, wenn man den Satz ideologiekritisch umdreht und etwa folgert, dass Antikapitalismus, wann immer er sich äußert, stets etwas Antisemitisches mit sich trage. Einmal abgesehen davon, dass man damit die Existenz jüdischer Kapitalismuskritiker unterschlägt – und es waren doch die ersten und größten! –, zementiert man auf diese Weise erst recht eine Zuschreibung, die zu den unheilträchtigsten Ressentiments der Geschichte gehört. Liebe Deutsche! Verehrte Volkswirte! Macht mit dem Kapitalismus, was Ihr wollt, lobt ihn, kritisiert ihn, erwürgt oder füttert ihn – aber lasst die Juden heraus! Ich flehe Euch an auf Knien! Dieser Spuk muss ein Ende haben. Es muss möglich sein, über ein Wirtschaftssystem zu debattieren, ohne im Hintergrund – und sei es zu apologetischen Zwecken! – auf die Juden zu zeigen. Oder muss man erst daran erinnern, um die Willkür des Arguments zu beweisen, dass auch der Bolschewismus unseligen Angedenkens einst jüdischen Revolutionären in die Schuhe geschoben wurde? JENS JESSEN
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Deutschlands Weg zur Revolution VON DIETMAR DATH
Foto: AP/Süddeutsche Zeitung (o.); Peter Peitsch/peitschphoto.com
Wie die Bankenkrise, das Internet und der Verfassungsschutz das Land in den Sozialismus führen könnten. Eine prophetische Satire
PROBEN EINES AUFSTANDS: Demonstration gegen den G8-Gipfel in Genua 2001
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er Umsturz vollzieht sich mit der paradoxen Anmut beinah zufälliger Zwangsläufigkeit. Es beginnt mit Krawallen in Lübeck: Hafenarbeiter randalieren in den Einkaufspassagen, um ihren Unmut über den geplanten Verkauf größerer Anteile der städtischen Hafengesellschaft an eine Tochter der Deutschen Bank auszudrücken. Sie besetzen den Bürgerschaftssaal und verabreden mit Kollegen in Kiel und Rostock Streiks, die mit keiner Gewerkschaftsbürokratie abgesprochen sind, aber für mehrere bereits aus Finanzmarktkrisengründen angeschlagene Handelskonzerne zu ernsten Verdienstausfällen und Vertrauenserschütterungen führen, die einen Dominoeffekt auslösen, der zahlreiche Aktienkurse im Lebensmittelbereich in die Tiefe reißt. Von ihrem Erfolg berauscht, reisen die Lübecker nach Frankfurt und schicken Abordnungen vor das Gebäude der Deutschen Bank sowie in den Starbucks an der Börse. Broker, Analysten und andere Versager werden vor ihren Handelstempeln angepöbelt, ausgelacht und gedemütigt; das Fernsehen steigt begeistert ein. Die Börsianer machen immer peinlicher Fehler, ihre Psychologie ist zerrüttet. Müntefering warnt vor »Übermut, liebe Lübecker Kollegen«, Steinbrück vor »Kindereien«. Unter ungeklärten Umständen scheitert die Hochzeit von Porsche und VW, das heißt, sie wird in letzter Minute halbherzig rückgängig gemacht, durchlöchert oder sonst irgendetwas, das nur noch sehr wenige Wirtschaftsprofessoren verstehen, aber nicht erklären können. Bei Opel in Bochum kommt es zu ersten Sabotageakten, zum großen Ärger von Konzernleitung und Werkschutz als Dummheit und Ungeschicklichkeit getarnt. Der Verfassungsschutz verständigt die Bundesregierung, dass die Lübecker, Frankfurter und Bo-
chumer Vorkommnisse mit Unregelmäßigkeiten in der Essener Metallindustrie und Ungezogenheiten diverser Transportbeschäftigter (angefangen wie üblich bei den Lokführern) in engem »klandestinem Zusammenhang« stehen: Wie sich zeigt, wird die Unruhe koordiniert über ein neuartiges transgewerkschaftliches Handy-Netz, dessen Koordination offenbar auf einem geheimen Zusatztreffen zur Tagung der europäischen Nokia-Betriebsräte am 30. Januar 2008 in Brüssel verabredet wurde.
Das Debakel in Afghanistan lässt die Bundeswehr nach links driften Die Gewerkschaft ver.di, drei linke SPD-Bundestagsabgeordnete aus Hessen und Berlin sowie ein bunter Haufen prominenter Einzelnörgler von Rolf Hochhuth bis Götz George verklagen daraufhin die Bundesrepublik Deutschland beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Bespitzelung von Arbeitnehmerverbänden. Otto Schily übernimmt aus Beschäftigungsmangel und Alterswut eine Parallelklage beim Bundesverfassungsgericht. Bald laufen Funktionsträger der alten Eliten zur roten Fahne über: Als Maßnahmen zur Kreditstabilisierung die befürchteten Bankenzusammenbrüche genauso wenig verhindern können wie weiland die »Reichsgarantie« zur Weimarer Zeit die berühmte Pleite der Banatbank, trifft sich der Commerzbank-Chef Martin Blessing mit norddeutschen Industriellen, die anonym bleiben wollen, aber philosozialistische Neigungen hegen. Enttäuschte hochrangige Bundeswehrangehörige klagen nach ihrer Rückkehr von Inspektionsreisen nach Afghanistan über Zweifel am »abstrakten Expansionismus« der neueren westlichen Menschen-
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Popmarxismus Dietmar Dath, geboren 1970, mit seinem Roman »Die Abschaffung der Arten« in diesem Herbst auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, war Chefredakteur der Musikzeitschrift »Spex« und Feuilletonredakteur der »FAZ«. Seine Romane, zwischen ScienceFiction und marxistisch inspirierter Gesellschaftskritik, sind Bestseller der Popliteratur. Ausformuliert finden sich seine Thesen in dem Buch »Maschinenwinter« (2008). Die Autoren, die er zur revolutionären Nachhilfe empfiehlt, sind Robert Kurz, dessen »Schwarzbuch des Kapitalismus« 1999 in der ZEIT kontrovers debattiert wurde, der Marburger Politologe Georg Fülberth und der niederländische Marxist Kees van der Pijl, Professor in Sussex. Die Website der Zeitschrift »Wildcat«, die Dath zitiert, trägt das Motto: »Nur wenn der Kapitalismus an Grenzen stößt, gibt es ernsthafte Aussichten auf eine das Kapitalverhältnis radikal umstürzende Revolution.«
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rechtspolitik. In der IG Metall kommt es zum »Putsch« (Müntefering) gegen den Vorsitzenden Berthold Huber, weil dieser sich abfällig über die Bochumer Streikenden ausgelassen hat. Auch in anderen Gewerkschaften geraten die sozialpartnerschaftlich orientierten Spitzen unter Druck, als sich herausstellt, dass sie mit dem Verfassungsschutz kooperiert haben, um das Rumoren an der Basis loszuwerden. Mehrere nur per Kennwort zugängliche Internetportale werden eingerichtet, die man über Webseiten syndikalistischer Schattengewerkschaften oder die Onlinepräsenz der Zeitschrift Wildcat (www.wildcat-www.de) erreicht. Dort werden die Arbeitskämpfe koordiniert. Die Linkspartei zerbricht nach dröhnenden Erfolgen bei Dutzenden von Kommunal- und Landtagswahlen zunächst in zwei Organisationen, »Die Linke« und »Die Nochlinkere«, welche beide wiederum sofort ungeheuerliche, die übrigen Parteien mehr und mehr marginalisierende Erfolge erzielen. Ein Gießener Politologe erstellt ein Computermodell, aus dem hervorgeht, dass jede weitere Spaltung parlamentarisch präsenter linker Kräfte in Deutschland deren Gesamtanteil an zu gewinnenden Wählerstimmen verdoppelt bis verdreifacht. Daraufhin einigen sich die beiden Parteien, mit der Spalterei bis zum vollständigen Verschwinden aller übrigen Parteien fortzufahren und auf Länder- wie Bundesebene jederzeit Tolerierungsabkommen und Koalitionen zwischen sämtlichen so entstehenden Linksparteien zu schmieden, und zwar »voraussetzungslos« (Lafontaine, Linkspartei), »ohne Wenn und Aber« (Gysi, Nochlinkerepartei), ja »bis zum bitteren Ende« (Wagenknecht, Partei der Sozialen Wiedergeburt). Müntefering warnt Tag und Nacht vor jeder einzelnen der neuen Parteien. Die während des weltweiten Krieges gegen den Terror auch in Deutschland durchgesetzten neuen Vollmachten der Exekutive kehren sich unerwarteterweise gegen die Bundesregierung: Jungsozialistische Verschwörer haben in Erfahrung gebracht, dass der Verfassungsschutz die heikleren seiner Aufstandsbekämpfungsmaßnahmen zu vertuschen und Unterlagen darüber zu vernichten sucht. Über undurchsichtige Erpressungen gegen leitende Beamte des Innenministeriums erwirken die Verschwörer auf der Grundlage der neuen Antiterrorleitlinien einen Marschbefehl für die Bundeswehr, die seit ihrer Afghanistan-Ernüchterung zunehmend nach links gedriftet ist. Das Heer besetzt die Gebäude des Verfassungsschutzes, nimmt die verdächtigen Personen fest und stellt die Dokumente sicher. Diese werden durch ein unidentifizierbares Leck dem Spiegel zugespielt. Nach der Veröffentlichung distanzieren sich erste Sprecher der Polizeigewerkschaft von »diesem Schnüffelstaat«. Müntefering warnt vor allem Möglichen, »welches hier und heute aufzuzählen mir Platz und Kraft fehlen« (Müntefering). Lafontaine warnt erstmals zurück, nämlich vor Müntefering. Gerhard Schröder wird beim Versuch, mit brisanten Unterlagen nach Russland auszubüxen, von zwei auf Heimaturlaub befindlichen Grundwehrdienstleistenden auf einem niedersächsischen Kleinstflughafen gestellt. Der neue Chef des Verfassungsschutzes, ein linker SPD-Mann aus Mecklenburg-Vorpommern, wittert seine Chance und zwingt den Exkanzler mit dubiosen Methoden zu ungeheuerlichen Enthüllungen über die rot-grüne Wirtschafts-, Innen- und Außenpolitik. Müntefering weint vor Publikum bei Anne Will. Eine wissenssoziologische Umfrage ergibt, dass die Schattenavantgarde des akademisch trainierten Neokommunismus in Deutschland zu 97 Prozent aus Gramscianern, Foucault-Anhängern und anderen Idealisten besteht. Deshalb wird mit dem Geld der Rosa-Luxemburg-Stiftung der holländische Gelehrte Kees van der Pijl eingeflogen, damit dieser den überzüchteten Revolutionärinnen und Revolutionären der Bundesrepublik auf der Grundlage seines Standardwerkes Transnational Classes and International Relations (London: Routledge 1998) das Einmaleins der spätmarxistischen Globalklassenanalyse in die Köpfe hämmert. Für hoffnungslose Fälle richtet der bewährte skeptische Marxianer Georg Fülberth (Marburg) eine ambulante Sonderschule ein. Wer’s auch dort nicht lernt, wird zu Robert Kurz (Nürnberg) geschickt und von diesem
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zur Bibliothekshilfskraft umgeschult (Kurslektüre: Das Weltkapital von Kurz). Mit tatkräftiger Unterstützung erfahrener Computerhacker stören Arbeitslose, die von Kadern der Revolution direkt in den Vorzimmern der Agenturen für Arbeit rekrutiert werden, das deutsche E-Business und machen die rechtsverbindliche Netzkommunikation zahlreicher Regierungsstellen nahezu unmöglich. Die Saboteure nehmen alle wichtigen Organe der hierzulande bekanntlich unablässig laufenden Verwaltungsmodernisierung als Geiseln, bis neue Mitbestimmungsformen auf dem Mangelverteilsektor installiert werden. Auf Servern der offiziellen wie der syndikalistischen Gewerkschaften und der unübersehbaren linken Parteien werden die ersten revolutionären Arbeiterräte gebildet. Es gelingt ihnen, innerhalb eines halben Jahres die Organisation sowohl der Privatwirtschaft wie des öffentlichen Sektors umzuwälzen und zu 65 Prozent effektiv zu sozialisieren.
Das Privatfernsehen wird verstaatlicht und an Alexander Kluge verschenkt In Frankreich und Italien, später im neueuropäischen Osten, auch in Spanien und Portugal geschieht Ähnliches, nur mit mehr Krach. In England erklärt die Queen Großbritannien zur »Konstitutionellen Volksdemokratie« und macht, wie alle anderen auf der Insel, weiter wie bisher; während die Republik Irland sich mit dem nach der katholischen Soziallehre neu verfassten Vatikanstaat zum Catholic Commonwealth of Nations zusammenschließt. In Deutschland warnt Müntefering plötzlich vor der Konterrevolution. Marcel Reich-Ranicki gibt bei Suhrkamp eine Kassette mit Proletkultklassikern heraus. Niemand kauft sie, stattdessen wird sie überall begeistert geklaut, woraufhin die provisorische Revolutionsregierung der Freien Sozialistischen Enklave Hamburg die Spiegel-Bestsellerliste verbietet (alle mit deren Zusammenstellung auf der Grundlage von Buchhandelsdaten betrauten Redaktionsmitglieder müssen zu Robert Kurz nach Nürnberg, Mikrofiche-Archive putzen). Die deutschen Theater spielen über Nacht, von niemandem dazu aufgefordert, nur noch abwechselnd Peter Hacks (Zuckerbrot), Peter Weiss (Peitsche) und Peter Brecht (Boulevard). Das Privatfernsehen wird verstaatlicht und anschließend augenblicklich an Alexander Kluge weiterverschenkt, der nach einem längst gefassten genialen Plan auf sämtlichen Kanälen so lange siebzehnstündige Dokumentationen über Billiglohntextilarbeiterinnen in asiatischen Schwellenländern hintereinanderweg sendet, bis die Deutschen ihr Fernsehen für alle Zeiten satt haben und sich stattdessen sinnvolleren und welthaltigeren Dingen zuwenden (leider überwiegend im Internet). Hermann L. Gremliza, Herausgeber der Zeitschrift konkret, erklärt, seine Zeitschrift sei neuerdings regierungsnah, vorausgesetzt, es lasse sich demnächst erkennen, dass es eine Regierung gebe. Das ihm angetragene Amt des obersten Kulturkommissars für den gesamten deutschsprachigen Raum lehnt Gremliza fast beiläufig ab: »Pipifax.« Während die Menschen einander auf den Straßen und Plätzen trunken vor Glück mit sich überschlagenden Stimmen die neuesten Agitationsaufmacher aus der FAZ (Frankfurter ArbeiterZeitung) vorlesen – in denen erklärt wird, die Revolution sei erfolgreich gewesen, nun gelte es, den Sozialismus aufzubauen –, hat der Weltgeist die Deutschen allerdings wieder einmal hinter sich gelassen und blamiert ihre verwirklichte Utopie, indem er sie locker links überholt: In Amerika geht die von John Rambo und Batman persönlich überwachte Enteignung der Finanzochlogarchie unmittelbar in die feministische Erhebung über, organisiert von Bernadette Dohrn (ehemals Weather Underground), Judith Butler (ehemals Diskursanalyse) und Hillary Clinton (ehemals mit Bill verheiratet). Dazu Jutta Ditfurth, vorläufige Vollzeitbeauftragte des Zentralkomitees der Vereinigten Sozialen Fortschrittsparteien für Patriarchatsbeseitigungsmaßnahmen, zu ihren Genossen: »Schaut euch die Amis an, Jungs. Und schämt euch.« Müntefering und Lafontaine fühlen sich beide angesprochen und sind wochenlang eingeschnappt.
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Abb.: © Vincent van Gogh «Der Sämann», 1888/Van Gogh Museum Amterdam/Vincent Van Gogh Foundation
30. Oktober 2008 DIE ZEIT Nr. 45
Mit der Ruhe ist es aus Kandinsky in München, van Gogh in Wien, Picasso in Paris: Wie die drei wichtigsten Großausstellungen des Herbstes unseren Blick auf die Moderne verändern VON HANNO RAUTERBERG EIN STILLES MOTIV, doch wie unruhig tanzt die Feder übers Blatt: »Der Sämann« von Vincent van Gogh, 1888
PABLO PICASSO: »Le Déjeuner sur l’herbe
d’après Manet«, 1960
WASSILY KANDINSKY: »Der Blaue Berg«, 1908
Moderne Schaulust lange Schlangen: In München zeigt das Lenbachhaus bis zum 22. Februar eine stolze Auswahl von Gemälden des russischen Künstlers Wassily Kandinsky (1866– 1944); der Katalog erscheint bei Prestel und kostet 30 Euro (www. kandinsky-muenchen.de). Auch in Wien zieht es die Menschen zur Kunst: In der Albertina ist bis zum 8. Dezember unter dem Titel »Gezeichnete Bilder« eine Ausstellung mit Gemälden und Grafiken von Vincent van Gogh (1853–1890) zu sehen; der Katalog bei Dumont kostet 24,80 Euro (www.albertina. de). Paris schließlich zeigt Pablo Picasso (1881–1973) und zwar gleich in drei Häusern, im Grand Palais, dem Louvre und dem Musée d’Orsay, und konfrontiert ihn mit alten Meistern der Malerei wie Rembrandt, El Greco oder Goya (www. rmn.fr/Picasso-et-les-maitre). Großes Gedränge,
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als hätte sie niemals anders verlaufen können. Und doch beginnt man in dieser Ausstellung an Kandinskys unbedingter Konsequenz zu zweifeln. Das liegt vor allem an der Architektur. Üblicherweise werden Kandinskys Werke sorgsam in Werkphasen geschieden und auf kleine Säle verteilt; in München aber sind sie in nur einem Raum, in der großen Halle des Kunstbaus, zu sehen. Und so können die Blicke fast ungehindert hin und her wandern, vom frühen zum späten zum mittleren Kandinsky. Und plötzlich wirkt, was eben noch zwingend logisch erschien, seltsam und rätselvoll. Erst berauschendes Farbenfeuer, die Lust an der Apokalypse; dann der Temperatursturz. Was loderte, gefriert, was ungestüm war, wird eingefangen, wird Kreis und Quadrat, verliert alles Räumliche, jeden Bezug zu dem, was wir Wirklichkeit nennen. Es ist, als blickte Kandinsky am Ende nur noch durch ein riesiges Fernrohr hinaus in ein fernes kosmisches Nichts, in dem die verrücktesten Kunstwesen auftauchen, lauter Weichgebilde, wild gestreift und bunt gescheckt. Kandinsky selbst wollte in dieser Kunst einen Ausdruck des Geistigen sehen, er wollte vorstoßen zu neuer Bedeutung, zum Absoluten. Deshalb verglich er seine Bilder gern mit musikalischen Kompositionen und behauptete, ein Blau könne tönen wie ein Cello und Gelb wie eine Trompete. Das galt lange Zeit als ungeheuer avantgardistisch und kühn, doch folgte Kandinsky mit seinen Musikmetaphern vor allem einem tiefromantischen Ideal. Schon am Ende des 18. Jahrhunderts rühmten viele Künstler die Musik als bessere Malerei, reiner und erhabener. Nur neigten sie damals noch nicht dazu, aus ihren Bildern ein unentzifferbares Chiffrensystem zu machen, eine Komposition, die einzig im Kopf ihres Schöpfers den nötigen Resonanzraum findet. Aber vielleicht wollte Kandinsky ja ebendas: Seine Kunst sollte jede Art von Bedeutung und Weltbezug hinter sich lassen. In der abstrakten Kunst könne »der Mensch angesichts der ungeheuren Verworrenheit des Weltbildes ausruhen«, schrieb der Kunsthistoriker Wilhelm Worringer 1906. Und wirklich, Kandinskys späte Bilder wollen sich Ruhe verschaffen, wollen Sicherheit, Kontrolle. Wollen all das, was die frühen Bilder nicht wollten. Wunderbar lässt sich in der Münchner Ausstellung beobachten, wie Kandinsky erst mit stürmischen Bildern alle Regeln und Bedeutungen abräumte und ihm dann nichts anderes übrig zu bleiben schien, als eigene Regeln und Bedeutungen zu ersinnen. Aus dem Freiheitsdrang wurde Freiheitszwang, und recht gezwungen sehen manche der späten Bilder denn auch aus: erstarrt unter dem Druck, aus sich selbst heraus bedeutsam sein zu müssen. Kandinsky, das kluge Künstlergenie – ein wenig scheint er zu schrumpfen in dieser Ausstellung.
Was würde passieren, wenn wir van Goghs Bilder betreten könnten? Der Besichtigungstour zweiter Teil: Vincent van Gogh in der Albertina Wien. Wie schon in München wuchern sie auch hier mit dem eigenen Erfolg. Schon 100 000 Besucher in den ersten drei Wochen! Drei Milliarden Euro Versicherung! Die vielen Leihgaben! Offenbar misstrauen die Museen ihren eigenen Ausstellungen, sonst müssten sie nicht so laut dafür trommeln. Und brauchten mit dem Getöse nicht jene zu verschrecken, die ohnehin glauben, van Gogh tauge allenfalls noch als Geschenkpapier – lauter leer ge-
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schaute, zu oft gezeigte Bilder. Dabei bieten sich wie in München auch in Wien unerwartete Quer- und Einblicke. Überrascht wird selbst der Überdrüssige. Zwar ist auch diese Ausstellung nicht sonderlich originell gehängt, sie folgt den Lebensstationen des Künstlers. Doch kombiniert sie klug die Ölbilder mit Grafiken, das Bunte mit dem Matten, Großformate mit Skizzen – und beugt so jeder Ermüdung vor. Sie ermuntert zum vergleichenden Sehen. Ähnlich wie in München staunen wir auch in Wien über die Wandlungen; nur dass van Gogh nicht wie Kandinsky aus dem Sturm in die Ruhe flüchtet, sondern aus der Ruhe hinaustritt in den Sturm. Sehr still beginnt er: mit einem Blick auf einen Friedhof im Regen, in derbe Bauerngesichter, auf Winterbäume. Nichts blüht auf diesen Bildern, die Welt ist entblättert. Auch darin zeigt sich, was Worringer »die ungeheure Verworrenheit des Weltbilds« nennt: Die Kunst hat sich frei gemacht vom hohen Pathos. Anders als viele Künstler vor ihm malt van Gogh nicht den stolzen Wald, er richtet seinen Blick aufs Unterholz, im wortwörtlichen und im übertragenen Sinn. Und weil er schon mal dabei ist, nimmt er es auch mit der malerischen Präzision nicht mehr so genau. Unterholz lässt sich ohnehin kaum malen, ist verkrautet, verschlungen, ein Knäuel aus Hölzern, Gräsern, Blüten. Und also lässt er den Pinsel hüpfen, kreiseln, zittern, malt ein verknäultes Bild. Ähnlich wie Kandinsky geht auch van Gogh die Greifbarkeit der Welt verloren, alles scheint zu verschwimmen. Doch malt er keine Untergangsbilder, die Auflösung von Farbe und Form führt nicht ins Apokalyptische, sie führt ins Versonnene. Einmal malt er sich selbst mit Hut und Bart, ein Gesicht aus lauter Farbstriemen; doch um ihn herum, im Himmel, lässt er blaue Farbflocken fliegen wie Konfetti. Van Gogh wird zum großen Teilchenbeschleuniger der Moderne. Doch obwohl auch seine Welt in abertausend Farbsplitter zerspringt, obwohl seine Bilder oft so aussehen, als hätten sich die Partikelchen nur kurz auf der Leinwand niedergelassen und könnten schon im nächsten Moment davonfliegen – nie wird ihm die Farbe zum Selbstzweck, nie verrät van Gogh den Gegenstand. Selbst wo das Gekringel und Geschwärme der Linien überhandnimmt, schwebt van Gogh nicht hinfort in kosmische Eiseshöhen. Er bleibt auf den Feldern der Wirklichkeit, auch als die Heiterkeit weicht und die Farbschlangen bedrohlich zu züngeln beginnen. Am Ende seines kurzen Lebens verdichten sich die Farben, der Teilchenschwarm beginnt zu rasen, fast scheint er sich selbst verschlingen zu wollen. Man stelle sich vor, eines dieser Bilder zu betreten: Sofort würde die Farbe an den Beinen emporwuchern, rasch versänken wir im Gewürm. Dabei ist van Goghs Kunst nie reißerisch, nie spektakulär; den stillen Sujets bleibt er treu, seinen Landschaften, den Gesichtern. Doch vielleicht macht ja gerade das die Faszination seiner Bilder aus: dass sie etwas von jener unruhigen Ruhe einfangen, die zu den Kennzeichen der Moderne zählt. Und dass sie uns vorführen, wie leuchtend diese Unruhe sein kann, wie schön die Auflösung des Schönen. Dennoch bleibt natürlich die Sehnsucht nach dem Unaufgelösten, nach stabilen Weltbildern, nach einer Kunst, die sich ihrer Traditionen wieder gewiss sein kann. Das lässt sich auch an der dritten Station unserer Kunstreise besichtigen, in Paris, bei Picasso. Es ist die größte der großen Ausstellungen und die gewagteste. Sie verteilt sich auf Grand Palais, Louvre und Musée d’Orsay und zeigt Picasso nicht auf die
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übliche Weise, nicht als sein eigenes Universum, sondern im engsten Verbund mit der Vergangenheit. Eigens hat man eine Ahnengalerie inszeniert, die stolzer nicht sein kann. Wie selbstverständlich hängen sie beieinander, Delacroix und Rembrandt, Poussin, El Greco, Goya und, jawohl, Picasso. Das Genie des 20. Jahrhunderts und die alten Meister, hier treten sie mit- und gegeneinander an. Für den Besucher ist das ein höchst unterhaltsames Kräftemessen und ein rarer Kunstgenuss obendrein, denn viele wunderbare Bilder aus 400 Jahren sind hier versammelt. Auf den ersten Blick meint man, der Wettstreit Avantgarde vs. Tradition sei schnell entschieden. Viel zu delikat ist die Malerei der Alten, viel zu selbstbewusst ihr Können. Picasso hingegen malt sich als jungen Mann im Unterhemd, verblüfft über das, was er da eigentlich tut. Auch wir sind verblüfft, denn der Junge auf dem Bild streckt zwar die Hand der Leinwand entgegen, als hielte er einen Pinsel, doch hat Picasso keinen Pinsel gemalt. Und so zeigt sein Bild einen Maler, der nicht malt. In dieser Verunsicherung beginnt Picasso, und natürlich fühlen wir uns an van Gogh und Kandinsky erinnert. Doch anders als diese ist Picasso nicht besonders gut im Leiden und Schwärmen. Kurzerhand macht er die »Verworrenheit« der Moderne zu seiner Stärke und erklärt das Unstete, das Ungebundene zum Prinzip seiner Kunst. Immer wieder wechselt er die Stile, die Farben, immer wieder zerhackt er seine Motive und setzt sie neu zusammen.
Picasso arbeitet sich ab an den alten Meistern, sie lassen ihn nicht los Auch vor den alten Meistern macht er nicht halt. Manchmal sind es fast unmerkliche Annäherungen, an El Grecos Düsternis zum Beispiel. Dann treibt Picasso sein Spiel mit den Meisterwerken von Velazquez oder Manet, malt großformatige Spottbilder, oft plump und vulgär. Viel kämpferischer ist seine Kunst als die Kandinskys oder van Goghs, fast meint man, Picasso sei durch nichts und niemanden zu beeindrucken. Und doch, auch das zeigt Paris, hat ihn die alte Kunst für sich eingenommen. Er arbeitet sich an ihr ab, und mit manchen der Bilder wird er einfach nicht fertig, immer neue Versionen entstehen. So spürt selbst er, der Alleskönner, dem Verlorenen nach, will eintauchen in die Geschichte und bleibt doch auf der Oberfläche. Ansonsten pflegt er ja die Distanz mit einem gewissen Stolz, sie gehört zum Charakter seiner Kunst. Zum Beispiel ist er nie in Afrika gewesen, obwohl er sich doch für afrikanische Kunst begeistern konnte. Und auch sonst sind ihm seine Modelle und Motive oft nur ein Malanlass, eine gute Gelegenheit, seine ungestüme Schaffenskraft unter Beweis zu stellen. Hier aber, im Angesicht der Überlieferung, scheint er den Abstand gern überwinden zu wollen, sucht Nähe und vermag sie doch kaum zu finden. So scheitert denn auch diese Ausstellung mit ihrem Versuch, die Moderne als einen ganz normalen Teil der Kunstgeschichte zu begreifen. Der Abstand bleibt, wie interessant die Versuchsanordnung auch sein mag. Dennoch gehen wir bereichert aus ihr heraus, denn sie zeigt uns Picasso nicht nur als tollkühnen Selbsterfinder, sie zeigt auch seine Zweifel. Die Helden der Moderne, das wird in allen drei Ausstellungen deutlich, erscheinen heute nicht mehr als ungebrochene Vorkämpfer. Wir sehen auch die Hilflosigkeit der Moderne, ihre selbstzerstörischen Kräfte. Und vielleicht ist es gerade das Zwiespältige, das wir an ihrer Kunst heute lieben.
Abb.: © Wassily Kandinsky «Der Blaue Berg», 1908-1909/The Solomon R. Guggenheim Museum, New York/ VG Bild-Kunst, Bonn 2008
Abb.: © Pablo Picasso (1881-1973) «Le Déjeuner sur l‹herbe d‹après Manet, 27 février 1960»/Collection Nahmad/ Succession Picasso 2008/VG Bild-Kunst Bonn, 2008
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ie Stimmung ist lindgrün und safrangelb, alles heiter im hügeligen Tal. Wäre da nicht diese Wolke. Eine Wolke, die so ungeheuer weiß und dick über den Hügeln hängt, als wollte sie sich im nächsten Moment hinabwälzen ins Tal und alles zudecken mit ihrem Weiß, das Lindgrün und das Safrangelb und erst recht die Eisenbahn, die sich gerade mit langem Dampfschweif hineinschiebt in die traute Bergwelt. Vermutlich schnauft sie laut und stößt scharfe Warnpfiffe aus. Vermutlich antwortet die Wolke mit bösem Gedonner. Vermutlich ist dieses Bild alles andere als lieblich. So ist es oft beim frühen Wassily Kandinsky: Er malt Landschaften in freudigsten Farben, doch ist die Bedrohung nie fern. Immer erzählen seine Bilder auch von Umsturz und Zerstörung, von der Eisenbahn, die den Fortschritt ins Bergtal bringt, die Moderne mit all ihren Unwägbarkeiten. Kandinskys Berge geraten ins Rutschen, seine Kirchtürme legen sich schief, verhangen ist der Himmel. Viele seiner Werke künden vom Verlust: Die alten Gewissheiten sind dahin. Was eben noch wirklich erschien, verliert seine klare Kontur, die Farben haben sich selbstständig gemacht, sie überrollen alle Linien, alle Grenzen, alles, was Halt bieten könnte. Es sind heitere Bilder, krisengeschüttelt. Paradoxerweise hat gerade das Krisenhafte seiner Kunst diese derart krisensicher gemacht, dass die Museen gar nicht mehr damit aufhören können, sie groß zu zeigen. Für Kandinsky gibt es keine Konjunkturdellen, nichts scheinen seine stürmischen Idyllen an Verlockung einzubüßen. In diesem Herbst werden sich wiederum Hunderttausende Besucher anstellen, um sie zu sehen, und selbst lange Wartezeiten unterm Heizpilz nicht scheuen. Das Lenbachhaus in München, ohnehin ein KandinskyHort, hat sich mit dem Centre Pompidou und dem Guggenheim zusammengeschlossen. Gemeinsam treten sie an, alle Besucherrekorde zu brechen. Ein wenig seltsam ist das schon. Ausgerechnet Künstler wie Kandinsky, wie Vincent van Gogh und Pablo Picasso, die in diesem Herbst ebenfalls wieder in großen Ausstellungen dargeboten werden, ausgerechnet die Radikalen von einst, deren Kunst von Umwälzungen handelt, von einer Welt im Sturm, ausgerechnet sie sind die Helden der Gegenwart. Das liegt wohl daran, dass die Museen noch jeden Sturm gestillt haben. Sie zähmen das Unbändige und verwandeln Außenseiter in Kunststars. Doch ist das nur ein Teil der Wahrheit. Denn so blind das Gedränge in den XXL-Ausstellungen auch machen mag – zumindest einige kräftige Böen pusten einem schon entgegen. Spürbar wird, wie sehr die Künstler vor hundert Jahren durchgewirbelt wurden, alle Regelbücher zerfleddert, die Konventionen zersaust. Damals war die Moderne ein Abenteuer, ein Kampf um die und mit der neuen Freiheit, so anregend wie anstrengend. Allerdings interessieren sich die drei Ausstellungen in München, Wien und Paris nicht so sehr für Stürme als für ästhetische Probleme, dafür zum Beispiel, wie van Goghs Zeichentechnik seine Maltechnik beeinflusste oder welchen Einfluss alte Meister auf Picasso hatten. Im Lenbachhaus wird anhand von rund hundert Gemälden dargelegt, wie Kandinsky seinen Weg in die Abstraktion fand, wie er sich erst in die Murnauer Landschaften hineinmalte und dann hinüberglitt ins Reich der Geometrie. Ähnlich ist Kandinskys Werk schon oft gezeigt worden: als Fortschrittsgeschichte, so folgerichtig und bruchlos,
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DIE PLATTE, DIE MEIN LEBEN VERÄNDERTE
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Bei Mutter Pius Foto: akg-images
Else Lasker-Schülers Dialekt-Drama »Die Wupper« führt mittenmang ins Arbeiter- und Bürgermilieu des 19. Jahrhunderts VON WILHELM TRAPP Die Dichterin ELSE LASKER-SCHÜLER im Jahr 1932
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ie ist gewiss nicht die leichteste Geliebte, die man unter den deutschen Dichterinnen haben kann. Schon Gottfried Benn genierte sich seiner Freundin Else Lasker-Schüler: Er konnte nicht »mit ihr über die Straße gehen, ohne dass alle Welt stillstand« angesichts der extravaganten Frau mit den »unmöglichen Obergewändern« und dem grellen »Dienstmädchenschmuck«. Und passen Benns Worte nicht auch auf ihre Kunst? Blitzt nicht auch das Werk dieser Poetin von Talmi und Strass, bauschen sich da nicht exotische Kostüme und wilde Maskeraden? In der Tat hat sie sich ihre Metaphern von überall her geholt, vom Himmel gepflückt, aus Märchen geklaubt, aus fremden Welten und fernen Zeiten geklaut. Aber wie niemand sonst hat Else Lasker-Schüler die Klänge, Echos, Reize, Düfte und Farben der Worte verknüpft zur ihrer eigenen Sprache. Nicht mit Strassschmuck, nur mit seinem Glanz hat sie gedichtet. Noch im Jerusalemer Exil baute sie aus den Trümmern der Welt Werke von solch desolater Schönheit, dass man still davor werden muss. In einer selten runden Hörbiografie erzählt Nina Hoger in Begleitung des Klezmer-Ensem-
(nur Kinder und Kranke dürfen ein bisschen lasker-schüleresk daherreden). Deshalb ist das nun wiederveröffentlichte Hörspiel, das der WDR 1978 aus der Wupper gemacht hat, auch kein schneller Hörstoff. Langsam erst erkennt man, wie echt und reich die knapp skizzierten Figuren sind, was hier alles passiert. Der Titel- und Kindheitsfluss der Autorin plätschert dahin als schwappende Tonfolge, die den Siebzigern verpflichtet bleibt. Doch die Stimmen sind mit den Jahren gereift. Schauspieler wie Heinz Schacht und Grete Wurm haben solche Kleine-Leute-Typologien, die sie darstellen, noch erlebt. Sie sind ausgestorben, diese lieben, elenden, schlimmen Menschen, die man herzen möchte, bis man ihre hilflose Gemeinheit erkennt. Else Lasker-Schüler wusste schon, warum sie ihre Heimat, der sie dieses zärtliche, zwiespältige Denkmal setzte, früh verlassen hat.
bles Noisten das Leben der armen, bildervollen Dichterin anhand von Zeugnissen und Gedichten (Tiefer beugen sich die Sterne, Griot Hörbuchverlag, Filderstadt 2008, 72 Min., 19,80 €) Wer nur die phantasto-poetische Else LaskerSchüler kennt, wird kaum glauben, dass das Drama Die Wupper von der selben Autorin stammt. Ganz ohne lyrische Himmelsstiege stolpert man hier in ein Arbeiter- und Bürgermilieu des 19. Jahrhunderts, sitzt plötzlich mittenmang bei Mutter Pius und Opa Wallbrecker. Einer will raus aus dem Mief, ein Mädchen wird verführt, na, und was die Leute halt sonst noch so treiben. Man könnte sagen, es geht um Standesgrenzen, Aufstiegsträume und Abstiegsängste, um Menschenschwäche und Schweinereien. Man könnte, aber es träfe die Sache nicht. Denn Die Wupper führt keine Themen durch bis zur moralischen Vollstreckung. Das Stück ist ein Gesellschaftstableau in Wopperdaler Platt, realistisch, hart, offen. So apart Lasker-Schüler sonst dichtet, so beiläufig plänkelnd entwickeln sich hier die Szenen
Else Lasker-Schüler: Die Wupper Regie: Heinz Dieter Köhler, mit Brigitte Horney u. a.; edition parlando, 2 CDs, 104 Min., 19,95 €
Es fällt mir schwer, das zuzugeben zwischen den Kollegen links und rechts, aber: Ich mache mir nicht so viel aus Musik. Ein paar Jahre ließ sich das verschweigen, doch nun, da ich der letzte Mensch ohne Ohrstöpsel geworden bin, ist der Defekt derart offensichtlich, dass ich nach Gründen suchen muss – und die Schuld natürlich bei einem anderen. Nämlich bei Herbert Grönemeyer. Als ich 1972 in eine Lehrerfamilie geboren wurde, waren meine Eltern gerade schon zu alt für Beatles oder Stones – und ich naturgemäß zu jung (weswegen ich mit der rausgestreckten Zunge, noch mehr mit den Typen, die sie auf ihren Kutten trugen, bis heute eine gewisse Einschüchterung verbinde). Wenn bei uns in Bochum, im Hoheitsgebiet des WDR, das Radio eingeschaltet wurde, dann nicht für Mal Sondocks Hitparade, sondern für das Echo des Tages. Korrespondentenberichte aus aller Welt, verknarzte Telefonstimmen, verkopfte Kommentare. Das Gegenteil von Musik. Ich war, das kann man sagen, auf dem besten Weg zum Außenseiter, als es in der siebten Klasse plötzlich diese Platte gab: Herbert Grönemeyer, 4630 Bochum. Kreideweiß auf schwarzem Grund, als hätte meine SoWiLehrerin es eben an die Tafel geschrieben. 4630 Bochum! Das war meine Adresse! Das war mein Leben! Das war ich! Ich besorgte mir also: meine Platte, als Kopie auf Kassette. Und hörte? Eine knödelige Stimme, die klang, als habe dieser Grönemeyer einen Frosch im Hals, wenn nicht eine Mandelentzündung. Da besang jemand meine Stadt, doch ich verstand ihn nicht. »Duhassn-pulschla-auschta, mannöti-laut-indana?« Bis ich begriffen hatte, dass damit »Du
Foto: EMI Records
»mannöti-lautindana« hast ’n Pulsschlag aus Stahl, man hört ihn laut in der Nacht« gemeint war, hatte Bochum den Strukturwandel schon hinter sich. Zum Glück bekam ich »gipmirmei-herzuru, bevors-ausanannabri« pünktlich zur Pubertät als »Gib mir mein Herz zurück, bevor’s auseinanderbricht« entschlüsselt. Und aus »menna-nehminnen-ahm, menna-gehm-borgenhei!« war sogar schon »Männer nehmen in den Arm, Männer geben Geborgenheit« geworden, bevor ich Gelegenheit hatte, Grönemeyers Worten Taten folgen zu lassen. (Ich war in dieser Angelegenheit aber auch spät dran.) Dieses Album war also: harte Arbeit. Ich tat alles, um es mir anzueignen, jedes Lied, jede Zeile, bis Grönemeyers Texte tatsächlich zu den Untertiteln meines Jugendlebens wurden: Flugzeuge im Bauch für jeden neuen Liebeskummer, Amerika für jeden neuen Krieg im Nahen Osten, Jetzt oder nie für jeden neuen Außer-mir-sind-alle-Spießer-Anfall. Ich behaupte, ich kenne bis heute nicht nur jedes Wort auf dieser Platte, sondern jede verschluckte Silbe, und das sind eine ganze Menge. Bloß: Ich empfinde keine Freude mehr, wenn eines der zehn Lieder mal wieder mein Leben kreuzt, eher Müdigkeit. Und langsam gestehe ich mir ein, dass ich schon damals beim Hören nur selten echtes Glück gespürt habe, öfter eine Art Streberzufriedenheit. Vielleicht war 4630 Bochum niemals meine Platte, die in mein Leben passte, sondern ich ihr Hörer, der sich bemühte, ihr sein Leben anzupassen. Sie war gesungenes Echo des Tages. Heute denke ich, ich hätte es damals mit Musik versuchen müssen. HENNING SUSSEBACH Herbert Grönemeyer: Bochum EMI
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DVD
Arnold Schönberg: Die Prinzessin
Peter, Björn and John: Seaside Rock
Vittorio de Sica: Fahrraddiebe
Die meisten seiner Zeitgenossen haben ihn wohl eher für einen Kinderschreck gehalten als für den liebenden, Geschichten erzählenden Vater, der der Komponist Arnold Schönberg auch war. Er erfand und deklamierte Märchen und Geschichten für seine drei Kinder Nuria, Ronald und Lawrence. Glücklicherweise nahm er einige davon auf, als er 1946 einen Draht-Rekorder (ein Vorläufer des Tonbandes) geschenkt bekam. Die historischen Aufnahmen sind jetzt auf einer CD zu hören, raffiniert montiert mit Musik von Schönberg, Erinnerungen der Kinder (die heute Senioren sind) und neu produzierten Hörspielszenen. Die Musik von Schönberg ist so imaginativ hinzugesetzt, dass eine zauberische Atmosphäre zu leuchten beginnt. Unwillkürlich wird das Kind in uns angesprochen: Man will die CD gleich noch einmal hören. FRANK HILBERG
Das nennt man wohl ein uneingelöstes Versprechen. Peter, Björn and John wurden bekannt mit dem federleicht gepfiffenen Sommersong Young Folks. Auf Seaside Rock jedoch sträuben sich die Schweden gegen die so geweckten Erwartungen mit allen Mitteln, die die Postmoderne zur Verfügung stellt. Ob Klimpergitarren, Ölfassgetrommel, LoungeBeats, Industrial-Rhythmen oder Hörspielelemente. Eingängig ist das nie, leicht konsumierbar eher selten. Pop will es nicht sein, Soundtapete erst recht nicht, für Art-Rock ist es wieder nicht ernsthaft genug. Was es ist? Am ehesten wohl noch die pompöseste Produktenttäuschung aller Zeiten. Und ziemlich großartig. THOMAS WINKLER
Massenarbeitslosigkeit und Hunger im Nachkriegsitalien. Der Diebstahl seines Fahrrads wird für einen Mann zur Katastrophe. Ein Film über die reine Verzweiflung.
Cybele SACD AB 005, www.cybele.de
Wichita/Cooperative Music/Universal
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Foto: © Peter Björn and John
Arthaus
G. W. Pabst: Die Dreigroschenoper
»Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.« Pabsts Meisterstück des frühen Tonfilms wurde, wie Brechts Bühnenstück, 1933 von den Nazis verboten. Absolut
Ang Lee: Eat Drink Man Woman
Ein wunderbarer Film über Kochen und Essen, Töchter und Väter, alte Riten und neue Lieben und wie das alles zusammenhängt. Unvergesslich, wie die Ente in der Küche aufgeblasen wird. Alamode
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Es war ein wundervoller Einfall, den Schriftsteller Rafik Schami mit dem Jazzschlagzeuger Günter Baby Sommer in einem Duo zu vereinen. Wörter und Klänge verbinden sich in ihrem Zusammenspiel so selbstverständlich miteinander, aber auch so überraschend, dass es scheint, das eine bekomme erst durch das andere seine verzaubernde Farbe. Denn Schami ist nicht bloß ein fantasievoller Dichter, sondern auch ein faszinierender Erzähler, und sein Partner ein Klangfiguren- und Klangfarbenerfinder. Der 1946 in Damaskus geborene Schriftsteller hat für diese wundersame Darbietung neun Geschichten ausgesucht. Er beginnt mit einer bilderreichen, Beobachtetes und Gedachtes vereinenden Huldigung an Damaskus, das für ihn »ein Meer an Geschichten«, aber auch »ein Fundort der Kulturen« ist. Darauf hören wir, »wie das Echo auf die Erde kam« und warum die Ohren ein Segen sind und die Schöpfungsgeschichte von Palme und Dattel sowie eine klangvoll auf Ara-
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bisch vorgetragene Satire über einen zweimal geborenen Syrer. Es folgen Geschichten über den Wald und das Streichholz, über die Essgewohnheiten der Tante Serine und das Gedächtnis der Hühner, schließlich eine Satire über den EFurz, der einem seriösen Autor entfährt. Unter all diese, die Neugier reizenden Geschichten mischt sich der Mann am Schlagzeug mit einer atemraubend fein nuancierten, verblüffend vielgestaltigen Musik auf Pauken, Trommeln, Becken, Gongs und Glöckchen, auf Triangel, Xylolofon – und seiner Stimme. MANFRED SACK
Rafik Schami/Günter Baby Sommer: Abbara Verlag steinbach sprechende Bücher/Intakt Records; 65 Min., 18 €
Foto: Francesca Pfeffer
Klang der Dattel
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Globalista! Weltmusik schmeckt nicht mehr nach Jute und korrekt gehandeltem Kaffee, sie ist Teil des urbanen Lebensstils geworden Foto: Andrew Buurmann
VON THOMAS GROSS
DAMON ALBARN, TOUMANI DIABATÉ UND BASSEKOU KOUYATE beim BBC Electric Proms Africa Express in London
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ein persönliches Schlüsselerlebnis in Sachen Weltpop spielt vor sechs Jahren auf einer Autofahrt ins Innere von Lagos, Nigeria. Bereits die Luft vor dem Flughafen war wie ein Faustschlag gewesen. Wir – zwei Journalistenkolleginnen, ein Labelbetreiber und ich, die das Interesse an nigerianischem Hip-Hop zusammengewürfelt hatte – wussten nicht, was uns erwartet, hatten aber gehörigen Respekt: Der Ruf von Lagos als Hauptstadt des Chaos ist legendär schlecht. In Erwartung kommender Kulturschocks sanken wir tiefer in unsere Wagensitze, doch schon die ersten Gestalten draußen wirkten seltsam vertraut. Der eine trug ein Eminem-T-Shirt, der zweite eine Baseballkappe, der dritte offerierte gefälschte RolexUhren und zeigte dabei das breite Grinsen Snoop Doggy Doggs. Das gleiche Bild bei den Hip-Hoppern selbst. Sie trugen adidas, Puma und Nike, sie sagten »Yo« und »Man«, sie klatschten sich und uns zur Begrüßung nach allen Regeln der Kunst ab: Style war auch hier alles. Der Chefredakteur des lokalen Rap-Magazins fuhr gar einen silbermetallic lackierten Mercedes SL mit dem amtlichen Kennzeichen »HipHop World«, was so in New York oder Los Angeles wohl nicht möglich gewesen wäre, in Lagos jedoch, Geld und Kenntnis der richtigen Leute vorausgesetzt, kein Problem darstellt. Lagos sei die ANZEIGE
einzige Stadt, in der ein Blinder einen Führerschein machen kann, erzählte der Mann uns lachend. Ansonsten aber waren die nigerianischen Hip-Hopper schwer von ihren US-amerikanischen Vorbildern zu unterscheiden: der gleiche Gang, derselbe Habitus, Déjà-vus allerorten. Auch Afrika, der Sehnsuchtskontinent aller Musiksucher, ist eben keine Weltgegend mehr, in der die Uhren wesentlich anders ticken als anderswo. Com-
puter gibt es längst auch hier, die nötige Software dazu lässt sich beschaffen, und der Sprechgesang – letztlich geht man in Nigeria davon aus, dass er sowieso von Afrikanern erfunden wurde. Längst hat sich in den großen Städten eine Szene gebildet, die technisch und musikalisch den Anschluss an die westliche Welt sucht, und mit jeder Raubkopie, die auf einem der Straßenmärkte ihren Besitzer wechselt, werden es mehr. Wer in dieser Umgebung das »authentische Afrika« sucht, stößt bestenfalls auf Unverständnis: Immer schon, vom Highlife-Jazz bis hin zum Afrobeat der siebziger Jahre, war nigerianische Musik an internationalen Vorbildern ausgerichtet, sie bot eine Chance auf Modernität inmitten ungünstiger Lebensverhältnisse.
Noch in der bescheidensten Hütte ist MTV schon da Globalisierung, mit anderen Worten, meint nicht nur die internationale Verflechtung von Märkten, es gibt auch eine Globalisierung der Bilder und der Töne. Mit der Schallplatte breitete sie sich aus, die CD brachte massenhafte Reproduzierbarkeit. Musikfernsehen und Internet haben den Prozess zusätzlich beschleunigt: Noch in der bescheidensten Hütte ist MTV immer schon da. Natürlich ist dies eine Entwicklung, die nicht auf Afrika begrenzt ist. Überall auf der Welt, von Ulan Bator bis Johannesburg, von Brasilien bis an den Bosporus, tanzt man zu einem globalen Beat. Was von den regionalen Traditionen geblieben ist, wird zur Klangfarbe: Lokalkolorit im allgemeinen PopEsperanto. Das Etikett »Weltmusik« freilich wirkt seltsam antiquiert angesichts dieses Spiels mit Codes und Samples. Angemessener wäre es, von Weltpop zu sprechen: hybriden Sounds für ein globales Zeitalter. Verglichen mit der Tragweite des Sachverhalts, hat sich die Erkenntnis erstaunlich langsam durchgesetzt. Seit den späten Achtzigern, als der strategische Begriff »World Music« im Hinterzimmer eines Londoner Pubs geprägt wurde, existiert zwar ein Label für Musikstile jenseits der Dominanz Angloamerikas. Doch musste vom Gamelanorchester aus Bali bis hin zum modernsten Fusionpop alles darin Platz finden. Umgekehrt hat der weiße Rock ’n’ Roll sich zeitweilig so weit von allen afroamerikanischen Einflüssen entfernt, dass man ihn für eine Erfindung Elvis Presleys halten könnte. Die Folge war eine Art wechselseitiger Apartheidspolitik: Während der Weltmusikfreund dazu neigte, sich mit »authentischer« Musik vom kulturindustriellen Einheitsbrei zu erholen, führte
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man die Musiken der Welt bei der Recording Industry Association of America (RIAA) marginalisierend unter »Other«. Mindestens ebenso lange gibt es ein Unbehagen in der hiesigen Popkultur, das sich in Hilfsspektakeln und Benefizkonzerten äußert – und doch nie ganz den Eindruck zerstreuen konnte, hier würde das Richtige mit falschen Mitteln gewollt. Peter Gabriels Engagement für nichtwestliche Musikstile: löblich, aber ein Massenpublikum erreichte er damit nie. Bob Geldof wiederum brachte noch 2005 das Kunststück fertig, sein Londoner Live-8Konzert zugunsten Afrikas ohne einen einzigen afrikanischen Musiker zu planen. Projekte dieser Art krankten daran, dass dem Engagement für die gute Sache immer auch der Dienst am guten Gewissen anzumerken war: Charity-Pop als kultureller Ablasshandel. Unterdessen allerdings sind die Grenzen zwischen Pop und »Weltmusik« selbst durchlässig geworden. Björk etwa lud sich zu ihren Eskimochören auch Stammestrommeln ins Studio, und Manu Chao landete mit seiner Mixtur aus Straßenmusik, Technobeats und engagierten Texten einen Welthit. Inzwischen sind exotische Stilmischungen ganz ohne schlechtes Gewissen an der Tagesordnung. Mestizo, Reggaeton, brasilianischer BaileFunk, direkt aus den Favelas, her damit! LatinPunk, kongolesischer Daumenklavier-Techno, Ethno-Heavy-Metal aus Nordnorwegen, auch einen Versuch wert. Banghra, Bollywood, Asian Underground, fast schon wieder durch. Seit die EU sich nach Osten erweitert hat, rollt die Balkanpopwelle, und Anatolien trifft sich mit elektronischen Beats im Zeichen von Oriental Disco – there’s no fusion like fusion. In Berlin kann man sich am Wochenende mit Mixen und Remixen jeglicher Geschmacksrichtung rund um die Uhr vergnügen, wem das nicht genug ist, der jettet mit dem Billigflieger nach London oder Istanbul, wo die Party weitergeht. Was noch vor zehn Jahren undenkbar schien, ist eingetreten: »World Music« schmeckt nicht mehr nach Jute und korrekt gehandeltem Kaffee, sie ist Teil des urbanen Lebensstils geworden. Die alte popkulturelle Weltordnung schwindet zugunsten einer Mitte aus vielen einstigen Peripherien. Und the beat goes on. 2008 wird in die Popgeschichte eingehen als das Jahr, in dem selbst die letzte Bastion weißer Coolness eingenommen wurde: der Independent Pop. Im Frühjahr erschienen die vielbeachteten Debütalben von The Foals und Vampire Weekend, ebenso belesenen wie alerten Mittzwanzigern, die in Interviews den Afrobeat-
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Pionier Fela Kuti als Inspirationsquelle angeben. Seither gehört es in Hipsterkreisen zum guten Ton, mit außereuropäischen Einflüssen bei der Fangemeinde zu punkten. Die Neorocker von Hard-Fi etwa traten gemeinsam mit dem frankoalgerischen Enfant terrible Rachid Taha auf, und auch die kunstsinnigen Schotten von Franz Ferdinand ließen verlauten, den Songs ihrer neuen CD läge ein »afrikanisches Gefühl« zugrunde. Vorläufiger Höhepunkt der neuen Afrikabegeisterung: eine Serie von Konzerten unter dem Titel Africa Express, die vergangene Woche mit einer rauschenden Show in London zu Ende ging. Der Africa Express, organisiert von Ex-Blur-Sänger Damon Albarn, vermeidet die Fehler, für die Geldofs Live 8 kritisiert wurde: keine Superstars, sondern echte Freunde der Musik auf der Bühne, kein fixes Repertoire, das es nur noch abzuspulen gilt. Afrikanische Musiker wurden nicht nur eingeladen, die ganze Bühne verwandelte sich in eine spontane Jam-Session mit allen Beteiligten, darunter Amadou & Mariam aus Mali, Baaba Maal aus dem Senegal, Flea von den Red Hot Chili Peppers und DJ Adrian Sherwood. Um Eurozentrismusvorwürfen vorzubeugen, fand zwei Tage zuvor im Kuti-Shrine in Lagos ein vergleichbares Konzert mit Ex-Cream-Drummer Ginger Baker und Fela Kutis Sohn Femi statt. Das Ziel der Veranstaltung, den eingeladenen Afrikanern auf Augenhöhe zu begegnen, wurde damit übererfüllt, die britische Presse ist begeistert. »Könnten die langen Jahre der kulturellen Apartheid zu Ende gehen?«, fragte Ben Thompson im britischen Guardian. Und gab sich selbst die Antwort, die aktuellen Entwicklungen kündeten von einem Wandel im Verständnis und der Wertschätzung afrikanischer Musik, »der einer Revolution gleichkommt«.
Aus Weltpop droht Allerweltspop zu werden So optimistisch muss man den Trend zum Weltpop insgesamt nicht sehen: Oft ist die Quelle, was die hiesigen Konsumenten anbelangt, schiere Langeweile. »New Sounds for a bored culture« hat Joe Boyd ausgemacht, selbst ein Pionier und Reisender in Sachen Musik: Noch immer gebe der Westen der Entwicklung die Richtung vor, der immer größer werdende Hunger nach Exotik sei nicht frei von neokolonialen Attitüden. Dass die Grenze zwischen Pop und »World Music« fiel, war so gesehen zwar nötig und begrüßenswert: Nie fanden sich so viele Sounds aus sämtlichen Erdteilen im Angebot wie heute. Der Anschluss an den Weltmarkt schafft aber auch neue Spaltungen. Viele
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Musiker bringen ihre Alben mittlerweile in zwei Versionen heraus: einmal wie sie ursprünglich gedacht waren und einmal in einem gefälligeren Globalremix. Wo aber noch der zarteste balinesische Gongschlag Teil des großen Potpourris wird, sind Verluste unvermeidlich: Aus Weltpop droht Allerweltspop zu werden. Während man früher Abenteuer bestehen musste, um sich fremden Kulturen zu nähern, ist Musik mit fremden Geschmacksstoffen heute nur noch eine Marke unter vielen: Wer eine neu aufgelegte CD von Fela Kuti kauft, der interessiert sich vielleicht auch für Bioprodukte, er diskutiert mit seinen Freunden, welchen individuellen Beitrag zur Verhinderung der Klimakatastrophe man leisten kann, und plant bereits den nächsten Urlaub auf einer ökologisch sanft geführten Finca in Feuerland. Ein Lebensstil ist auf dem Vormarsch, zu dem auch Madonnas Adoptionspolitik gehört und Brad Pitts schadstoffarmer Toyota Prius: Gutes tun, aber zu eigenen Bedingungen. Der Euro- und Anglozentrismus in Mode und Popkultur wird uns also noch eine Weile begleiten. Und doch sind die kulturellen Widersprüche der Globalisierung nirgends so spürbar wie im Hybridpop von heute. »Musik heilt die Scheidung von Körper und Geist. Musik verhilft uns zu unseren tiefsten, ehrenwertesten und spirituellsten Momenten. Musik verkauft uns Dinge, die wir nicht brauchen. Musik führt zu Zuständen der Geistesabwesenheit. Musik verschafft uns Gemeinschaftserlebnisse. Musik kann physisch krank machen. Musik ist eine Industrie« – so steht es in David Byrnes Aufsatz Why We Are All Dancing To A Universal Beat geschrieben, einer furiosen Apologie der Welterschließung durch Sound, die am Ende in ein Manifest mündet: Das 20. Jahrhundert sei das Zeitalter des Suchens und Forschens gewesen, im 21. Jahrhundert aber käme es auf das Bewusstsein an, als Bürger und Nutznießer der Industrienationen diesen Planeten nicht allein zu bewohnen. Seien wir bescheidener und sagen: Hören eröffnet neue Perspektiven. Es schafft Anreize, sich auf unbekanntes Gebiet vorzuwagen, und tanzen kann man auch noch dazu. Vielleicht werden Forscher in einem kommenden Jahrhundert tatsächlich auf unsere Zeit zurückblicken und dabei feststellen, dass die interessanteste Popmusik nicht in London oder New York produziert wurde, sondern in São Paulo, Jakarta, Lagos oder Bamako. Noch ist es nicht ganz so weit. Aber das ist ja das Schöne am Pop: Was unwahrscheinlich ist und belächelt wird, kann man sich hörend trotzdem schon einmal vorstellen.
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Melancholie? Dafür haben wir keine Zeit Die Kunsthalle Wien zeigt Edward Hoppers Einfluss auf zeitgenössische Kunst. Das Ergebnis verblüfft
VON THOMAS ASSHEUER
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er amerikanische Maler Edward Hopper war der Held der heroischen, nun abgelaufenen Moderne. In den siebziger und achtziger Jahren hingen seine Sehnsuchtsfiguren neben jedem Billy-Regal und zierten die Herrgottswinkel der Reihenhäuser. Die Liebe zu Hopper in den Zeiten des siegreichen Fortschritts war leicht zu erklären. Wie kein anderer beschrieb er die Melancholie dieser Moderne, ihre unheilbare Wunde. Melancholisch war sie nicht deshalb, weil das Leben kurz ist und der Mensch sterben muss. Melancholisch war die Moderne, weil sie ahnte, dass ihr schöner Fortschritt uns zwar erleichtert, aber nicht erfüllt. Etwas fehlt. Und doch – irgendwann verkamen Hoppers Menschengespenster zum Gefühlskitsch, zum sentimentalen Interieur der Wohlstands-Seele, die am Kamin darüber klagt, die Welt sei kalt und ihr fehle das »Menschliche«. Zwei, drei große Ausstellungen noch, dann verschwanden Hoppers Schwermutslandschaften aus den Ikea-Ecken. Mit dem Ende der alten Bundesrepublik wurde die melancholische Selbstbekümmerung erst recht zum Luxusproblem. Edward Hopper – ein toter Klassiker der Moderne. Man hatte andere Sorgen. Nun ist Hopper zurück, jedenfalls in der Kunsthalle Wien. Warum? Weil die Zeiten wieder einmal auf Abschied gestimmt sind und Hopper der Mann der Stunde ist? Western Motel – Edward Hopper und die zeitgenössische Kunst heißt die Ausstellung, und sie will zunächst einmal herausfinden, welche Spuren Hopper ästhetisch hinterlassen hat, bis hin zu den Filmen von Alfred Hitchcock, Jim Jarmusch oder Wim Wenders. Auf den ersten Blick könnte dies eine recht staubige Veranstaltung werden, ein Pflichtbesuch in der Ärmelschonerwelt der Einflussforschung, die Ähnlichkeiten sammelt wie andere Leute tote Schmetterlinge. Denn was besagen schon Einflüsse? Es stimmt zwar, dass viele Künstler eine motivische Liebschaft zu Hopper unterhalten. Aber von ihren Wahlverwandtschaften, von ihren epigonalen Elegien sollte man sich nicht blenden lassen. Die zeitgenössische Kunst, jedenfalls die in Wien gezeigte, huldigt Hoppers Kunst zwar noch, doch das Gefühlserbe schlägt sie aus. Oder um es plakativ zu sagen: Der Gestus der Gegenwartskunst ist nicht melancholisch. Er ist vor allem – depressiv.
Abb.: © Edward Hopper «A Woman in the Sun» 1961/Whitney Museum of American Art, New York/50th Anniversary Gift of Mr. and Mrs. Albert Hackett in honor of Edith and Llyod Goodrich
MELANCHOLISCHE ERWARTUNG:
Edward Hoppers »A Woman in the Sun« (1961)
Schwermut verträgt sich nicht mit modernen Stress-Gesellschaften
Die »schwarze Sonne« taucht die Welt in den Abglanz der eigenen Leere Um verstehen zu können, warum Hoppers Schwermutshöhlen einer älteren Epoche angehören, muss das Publikum erst einmal in sie eintreten. Dafür sorgt der österreichische Künstler Gustav Deutsch, der das Bild Western Motel zu einer dreidimensionalen Holz-und-Pappmaché-Installation umgebaut hat, in der die Besucher neben gepackten Koffern und abgewetzten Möbeln Platz nehmen können, im Hintergrund eine pantherhaft lauernde Buick-Limousine sowie eine konturlos zerfließende Landschaft. Hoppers Natur ist aschgrau wie ein Brikett, aber immerhin, es gibt sie noch. Eine Kamera überträgt die Szene in den Besucheraufgang des Museums und weckt für einen Moment die Illusion, der Betrachter könne sich in Hoppers Melancholien noch einmal heimisch fühlen – in der gefrorenen Zeit von Western Motel und der Schockstarre zwischen Abschied und Aufbruch. Es ist, als sei Hoppers Bild auch eine Reflexion über das Verhältnis von »Zeit und Sein« – darüber, wie die kinetische Zivilisation, wie Tempo und Technik das Selbstgefühl ablenken und zurichten. Der Maler hingegen ist der Anwalt des »Seins«. Er friert die Zeit ein und setzt die Dauer ins Bild. Wie in Trance steht bei Hopper die Zeit still, und das »Sein« der Figuren kommt zum Vorschein. Glückliche Menschen sehen anders aus. Hopper gilt als einfacher Maler, aber das ist schlicht ein Irrtum. Gustav Deutsch, ein regel-
rechter Hopper-Detektiv, hat in zahlreichen Miniaturnachbauten dessen Bildräume auseinandergefaltet und in dreidimensionale Kinderstuben verwandelt. Und siehe da: Die Blickachsen »stimmen« nicht, die Fluchtpunkte sind unklar, und die Winkel, durch die das Licht einfällt, spotten jeder Geometrie. Manchmal fällt die Sonne sogar aus mehreren Richtungen gleichzeitig ins Bild. In dieser Technik steckt eine Botschaft. Hoppers Sonnenlicht ist das »Große Andere«, ein Jenseits der Dinge, das die Absenzen der Figuren überstrahlt und sie von ihrem Ding-Sein erlöst. Das Licht rettet die Subjekte, bevor sie vollständig zum Inventar erstarren, bedrängt von der majestätischen Herrschaft der Apparate, eingeschüchtert von der Technizität der Aktenschränke, Zapfsäulen und Diners. In Hoppers Zivilisationslandschaften (viele sind es in Wien leider nicht) gibt es noch einen Himmel und eine Erde, ein Lumen naturale und ein nichtmenschliches Außen. Kurzum, seine Stillleben sind düster, aber nicht verzweifelt; die Einsamkeit seiner Puppengesichter ist erdrückend, aber nicht absolut. In ihrem Warten steckt noch Erwartung, denn jeden Augenblick könnte jemand zur Tür eintreten - und alles verwandeln. Wenn nicht alles täuscht, dann ist in der zeitgenössischen Kunst Hoppers Lumen naturale, sein tröstendes Licht, verschwunden. Die Melancholie verliert ihren feierlichen Ausdruck und nimmt depressive Züge an. Während Hoppers Figuren noch vor sich hin träumen; während ihre Schwermut noch Fantasien entbindet, eine schwebende, objektlose Wehmut, ist die Depression kalt wie Beton und stumm wie ein Fisch. Sie malt nicht mehr. Ihre »schwarze Sonne« taucht die Welt in den fahlen Abglanz der eigenen Leere und macht sie zu einem gigantischen Innenraum. Diese Distanz zu Hopper lässt sich bei dem Münchner Künstler Thomas Demand gut studieren. Mit einem messerscharfen Realismus fotografiert er Fenster, Balkone und Treppenhäuser, genauer: Er fotografiert penibel gefertigte Modelle von ihnen. Doch im Gegensatz zu Hoppers leuchtend-offenen Fenstern hält Demand seine Jalousien blickdicht geschlossen, sie wirken brutal und feindselig. Einige erinnern an Zyklopenhöhlen für urbane Monster, andere sehen aus wie Setzkästen für die Single-Gesellschaft.
Abb.: © Tim Eitel «Matratze» 2008/ VBK Wien/Galerie EIGEN+ART Leipzig/ Berlin/Pace Wildenstein/VG Bild-Kunst Bonn, 2008
DEPRESSIVE HÖHLE: Tim Eitels
»Matratze« (2008)
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Auch über den Werken von Jeff Wall und Tim Eitel liegt der Hauch einer kollektive Depression, auch in ihren Kompositionen ist das Subjekt ein Fremd-Körper, eine sozial isolierte Biomasse. Zweimal steht ein Bett im Mittelpunkt, doch von der romantischen Chiffre, den »Traumenergien der Nacht«, ist nichts mehr geblieben, nur ein seelenloser Nichtort, der den stumpfen Alltag in die Nachtstunden verlängert. Auf Jeff Walls eisiger Fotografie verlässt ein Zimmermädchen gerade den Raum, das frisch bezogene Hotelbett wirkt wie eine Deponie für Stadtnomaden. Auf solchen unterkühlten Bildern stehen die Menschenwesen, die schon Hopper zu einem Strich in der Landschaft hat schrumpfen lassen, ganz am Rand des Geschehens, während andere Räume schon gänzlich von ihnen geleert sind. Zum Beispiel bei Tim Eitel. Das Bett, eine Matratze, sieht aus wie ein Grab, und das Grab ist leer, die Decken panisch aufgewühlt, alles gemalt in einem sagenhaften, bleiernen Blau. Eitel erzählt gewiss nicht von einer Liebesnacht; er berichtet von einem monochromen Albtraum in einem fensterlosen Gemach. Ein Gehetzter scheint darin zu wohnen, ein Lebensangestellter mit einem fiebrigen, schlaflosen Schlaf – einem Schlaf, der den Träumenden nicht mehr in die »Nacht der Welt« entführt, sondern das Rattenrennen der Gesellschaft nur kurz unterbricht und der nichts mehr zu fürchten hat als den Horror des Erwachens.
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Nicht minder ernüchtert fällt der Befund bei der englischen Künstlerin Rachel Whiteread aus. Auch bei ihr scheint das Subjekt eine Bagatelle zu sein, ein abgeschlossenes Sammelgebiet. Vom Einzelnen bleibt nur ein Verwehen, ein unsichtbarer Abdruck in den Dingen, die dünne Spur eines rätselhaft verzagten, extrem isolierten »Da-Seins«. Über solchen Werken liegt eine zähe, nicht abzuschüttelnde Last, und im Vergleich zu ihnen stimmt Hoppers Melancholie tatsächlich – melancholisch. Hoppers Bilder zeigen, dass die Schwermut ganz offenbar einer abgelaufenen Epoche angehört. Sie verträgt sich nicht mit radikalisierten Marktgesellschaften, mit der Austreibung von Muße und Einsamkeit, auch nicht mit dem Benchmarking des Subjekts, das sich alle Optionen offenhält, um sich am Ende dafür zu entscheiden, sich gar nicht zu entscheiden. JedenANZEIGE
falls fehlt den Bildern, die in den depressionsanfälligen Gesellschaften der Gegenwart entstehen, das transzendierende Moment von Hoppers Schwermut – auch wenn sich ihr »Timbre« zum Verwechseln ähnlich sieht. Die zeitgenössischen Figuren wirken nicht einsam, sondern eher autistisch; ihre Identität ist porös, und sie scheinen freier und unfreier zugleich. So wirken die traumlosen Träumer auf den Arbeiten des amerikanischen Fotografen Philip-Lorca diCorcia wie Gefangene in einer unsichtbaren, von einer künstlichen Sonne erhellten Höhle. Nichts bindet sie an diesen Ort, und dennoch wirken sie seltsam unfrei, versunken in einer Abwesenheit, die von Erstarrung kaum zu unterscheiden ist. Aber noch haben die Verhältnisse nicht gesiegt. Von dem Österreicher Markus Schinwald ist eine wunderbar zarte Videoinstallation zu sehen, auf der ein Mann (Oleg Soulimenko) durch eine Tapetentür eine Wohnwelt betritt, sich ausgiebig an Kisten und Kästen, Regalen und Ablagen zu schaffen macht, um dann in einem opaken Weiß zu verschwinden. Nichts ist passiert, und doch hat der Schattenheld das Phlegma der Dinge und die stoische Macht der Sachlichkeit unterbrochen und ihnen sanft seine Spuren eingeschrieben. Schinwalds Moderne ist eine Welt ohne ein Außen, ohne Natur. Mit ihr muss man zurande kommen, denn eine andere gibt es nicht mehr. Kunsthalle Wien, bis zum 15. Februar 2009; Katalog 40,– €
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Foto: Elliott Erwitt/Magnum/Agentur Focus
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UNSERE AUTORIN nach ihrer Einbürgerung
Ich schwöre Treue New York, Federal Plaza: Wie man amerikanische Staatsbürgerin wird
Land ohne Handys Die französische Erfolgskomödie »Willkommen bei den Sch’tis« kommt in die hiesigen Kinos – nostalgische Feier einer Provinzidylle VON PASCALE HUGUES
Foto (Ausschnitt): Prokino Filmverleih GmbH, 2008
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wanzig Millionen! Ein Kinowunder à la française. Fast ein Viertel der französischen Bevölkerung, quer durch alle Altersgruppen, quer durch alle Regionen. Willkommen bei den Sch’tis brach alle Kinorekorde des Landes und stieß sogar Die große Sause (17 Millionen) vom Thron, Gérard Ourys Kinolegende mit Louis de Funès, die seit 40 Jahren an der Spitze stand. In rasender Geschwindigkeit sind die Sch’tis an Amélie und Die Kinder des Monsieur Mathieu vorbeigezogen, den anderen französischen Blockbustern der letzten Jahre. Und es fehlt nicht viel, dass sie Titanic (20,7 Millionen Zuschauer in Frankreich) hinter sich lassen. Ein Land reibt sich die Augen. Ein mittleres Budget, eine bescheidene PR-Kampagne, keine Stars – nichts ließ den überwältigenden Erfolg der kleinen Komödie erwarten. Optimistisch rechneten die Produzenten mit zwei bis drei Millionen Zuschauern. Die Überraschung war umso größer, als die Handlung in der Region Nord-Pas-de-Calais spielt, die an Belgien und den Ärmelkanal grenzt und mit ihrer farblosen Tristesse nicht gerade zum Träumen einlädt. Auch das Thema ist frei von Glamour: Damit seine depressive Frau sich erholen kann, möchte Postdirektor Philippe Abrams sich an die Côte d’Azur versetzen lassen, in das Land der Sonne, der Zikaden, der Siesta und des Pastis. Aber nichts da – wegen eines schweren Fehlers wird Philippe in den Norden, nach Bergues, strafversetzt. In der Vorstellung der Franzosen steht der Norden für Bergwerke, für die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs, für grauen Nieselregen, Arbeitslosigkeit, Alkohol und miese Stimmung. Der Komiker Dany Boon führt Regie und spielt Antoine Bailleul, den Briefträger von Bergues. Boon wurde in Armentières in Nord-Pas-de-Calais geboren. Seine Mutter stammt aus der nordfranzösischen Picardie. Er wollte »den Norden mit den Augen des Südens zeigen«, die verborgene Schönheit seiner Heimat offenbaren, die Klischees auf den Kopf stellen. In seinem Film entdeckt der strafversetzte Abrams also ein Land, in dem es auch sonnige Tage gibt, ein Land mit warmherzigen und liebenswürdigen Menschen, braven Provinzlern, rundlich und sehr einfach gestrickt, aber mit dem Herzen auf dem rechten Fleck. Schluss mit dem sozialrealistisch-düsteren Norden und dem lebensfroh-hedonistischen Süden. »Es gibt Filme«, so die Wochenzeitung Paris Match, » zu denen steht man wie zu einem Schluck Bier, man denkt nicht groß darüber nach. Die Sch’tis: der einzige Zaubertrank, der einen in gute Stimmung versetzt.« Die deprimierten Franzosen haben keine Lust mehr, sich einen Kopf zu machen. Sie wollen lachen, auf andere Gedanken kommen, was der allgemeine Erfolg von Komödien und Ein-Mann-Shows beweist. Doch ist es nicht ein bisschen zu einfach, einen so ungeheuren Erfolg allein mit dem Wunsch nach Ablenkung zu erklären? Die ausverkauften Säle,
Was mache ich hier?
NORDFRANZÖSISCHE SAUF- UND BRIEFTOUR: Postdirektor (Kad Merad) und Postbote (Dany Boon)
die Staus auf den Parkplätzen vor den Multiplexkinos, Nord-Pas-de-Calais als beliebtes neues Reiseziel – die Sch’timanie, die ganz Frankreich erfasst hat, entzieht sich jeder rationalen Erklärung. Am Wochenende pilgern die Pariser nach Bergues, dessen Postamt jetzt ebenso berühmt ist wie die Gendarmerie von St. Tropez. Schon dreimal wurde das Ortsschild gestohlen. Und neben den Ausflügen zu Stadtmauer und Glockenturm bietet das Touristenbüro jetzt auch einen Sch’ti-Rundgang an, bei dem man die Dreharbeiten nacherleben kann. Willkommen bei den Sch’tis ist jedoch alles andere als ein harmloser Film, vielmehr gibt er als gesellschaftliches Phänomen Auskunft über den Zustand Frankreichs. Seit Monaten denken So-
ziologen und Therapeuten der Volksseele darüber nach. Das ganze Land befasst sich mit seinem – gelinde gesagt – verzerrten Bild, das der Film widerspiegelt. Willkommen bei den Sch’tis zeigt ein ewiges Frankreich, das im Schatten des Glockenturms zwischen Maroilles (der nördlichen Version des Camembert) und Bier lebt. Ein Frankreich mit Blümchentapete im Schlafzimmer, geschützt vor Globalisierung und Krise, zusammengekuschelt im traulichen Universum eines Postamtes, dessen fünf Angestellte gute Kumpel sind, die abends gemeinsam ausgehen und schon am späten Vormittag angesäuselt sind. Ein Retro-Frankreich, das sich seit den fünfziger Jahren nicht mehr bewegt hat.
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Auf unseren Stühlen wartet neben allerhand Broschüren ein Briefbogen. In der Mitte oben prangt ein Prägestempel: Adler mit ausgebreiteten Schwingen und in Beutehaltung gespreizten Klauen. Wieso eigentlich immer Adler? Unter dem Wappen steht in dezentem Schwarz »The White House, Washington«. Der Präsident hat mir geschrieben: »Dear Fellow American, I am pleased to congratulate you on becoming a United States Citizen. You are now part of a great and blessed Nation. I know your family and friends are proud of you on this special day.« Ich drehe mich um und winke der family zu, die ganz hinten sitzt und zurückwinkt. Links neben mir faltet ein Chinese in einer Art Clubjacke und hellgrünem Hemd andächtig die Hände über dem Bauch, zu meiner Rechten dreht ein bräunlich verschrumpeltes, in blau fließende Gewänder gehülltes Mütterchen das Heftchen mit der Verfassung in den Händen, das zusammen mit dem Präsidentenbrief verteilt wurde. An der Wand vor uns, auf einem Flachbildschirm, flattert das Sternenbanner, wird jedoch unvermittelt vom vertrauten Anblick meines zukünftigen Nochpräsidenten verdrängt. Die Textzeile »Love for family and love for country« huscht während seiner Ansprache unter seinem Kinn vorbei. Ich spüre einen winzigen Fluchtreflex. Eine Mitarbeiterin der Behörde tritt an ein Stehpult, hinter dem sich eine Nationalflagge aus Stoff mächtig spannt, und fordert uns auf, uns bei der Nennung unseres Herkunftslandes zu erheben. Bei G wie Germany steht schon ein Wall aus Afghanistan, Columbia, Denmark und Ecuador und verdeckt den neugierigen Blick auf even-
s ist 7.30 Uhr morgens, wir stehen vor dem Gebäude der United States Citizenship and Immigration Services in Manhattan, Nummer 26, Federal Plaza. Ein offizielles Schreiben berechtigt mich und meine Gäste – Ehemann und Sohn – zur Teilnahme an der Naturalization Oath Ceremony im dritten Stock, Zimmer 310. Unzählige Male war ich hier. Vor 13 Jahren fing es mit einem Visum an, gefolgt von einer Aufenthaltsgenehmigung; heute soll die Bürokratieschlacht mit meiner Einbürgerung enden. Dem voraus gingen das monatelange Zusammentragen eines gewaltigen Dokumentenhaufens und zuletzt ein Interview, für das die Antworten auf 97 Fragen zum amerikanischen Staat parat zu haben waren. Seitdem überrasche ich arglose Amerikaner heimtückisch mit der Frage nach ihren 13 Gründungsstaaten und genieße meinen hart erpaukten Wissensvorsprung, wer weiß, wie lange er hält. Nach Überwindung der Sicherheitsschleuse werde ich im dritten Stock von der Familie getrennt und in einen neonbeleuchteten Saal gelenkt, prall gefüllt mit jenem bunten Völkchen, das den typischen New Yorker Bevölkerungsquerschnitt darstellt. Die Mitarbeiter der Behörde, die uns zuvorkommend unsere Plätzen anweisen, verströmen eine für diesen Ort bisher ungewöhnliche menschliche Wärme; nachsichtige Milde glänzt auf ihren Gesichtern, ja sogar eine gewisse Euphorie. Die etwa 250 zukünftigen Neubürger umgibt dagegen eher eine Atmosphäre leichter Erschöpfung, bestenfalls zaghafter Neugierde.
Ulrich Schnabel, Dr. Hans Schuh-Tschan (Wissenschaft), Martin Spiewak, Urs Willmann
Gründungsverleger 1946–1995: Gerd Bucerius † Herausgeber: Dr. Marion Gräfin Dönhoff (1909–2002) Helmut Schmidt Dr. Josef Joffe Dr. Michael Naumann
Chefredakteur: Giovanni di Lorenzo Stellvertretende Chefredakteure: Matthias Naß Bernd Ulrich Geschäftsführender Redakteur: Moritz Müller-Wirth Chef vom Dienst: Iris Mainka (verantwortlich), Mark Spörrle Politik: Bernd Ulrich (verantwortlich), Andrea Böhm, Alice Bota, Christian Denso, Frank Drieschner, Angela Köckritz, Matthias Krupa, Ulrich Ladurner, Jan Roß (Koordination Außenpolitik), Patrik Schwarz, Dr. Heinrich Wefing Dossier: Hanns-Bruno Kammertöns (verantwortlich), Roland Kirbach, Kerstin Kohlenberg, Henning Sußebach Wirtschaft: Dr. Uwe J. Heuser (verantwortlich), Thomas Fischermann (Koordination: Weltwirtschaft), Götz Hamann (Koordination: Unternehmen), Marie-Luise Hauch-Fleck, Rüdiger Jungbluth, Dietmar H. Lamparter, Gunhild Lütge, Anna Marohn, Marcus Rohwetter, Dr. Kolja Rudzio, Arne Storn, Christian Tenbrock Wissen: Andreas Sentker (verantwortlich), Dr. Harro Albrecht, Dr. Ulrich Bahnsen, Christoph Drösser (Computer), Dr. Sabine Etzold,
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Feuilleton: Jens Jessen (verantwortlich), Thomas Assheuer, Evelyn Finger, Peter Kümmel, Katja Nicodemus, Dr. Hanno Rauterberg, Claus Spahn Kulturreporter: Dr. Christof Siemes Literatur: Ulrich Greiner (verantwortlich), Konrad Heidkamp (Kinderbuch), Dr. Susanne Mayer (Sachbuch), Iris Radisch (Belletristik), Dr. Elisabeth von Thadden (Sachbuch), Dr. Volker Ullrich (Politisches Buch) Leserbriefe: Margrit Gerste (verantwortlich) Reisen: Dorothée Stöbener (verantwortlich), Michael Allmaier, Karin Ceballos Betancur, Stefanie Flamm, Dr. Monika Putschögl Chancen: Thomas Kerstan (verantwortlich), Arnfrid Schenk, Jeannette Otto, Jan-Martin Wiarda Zeitläufte: Benedikt Erenz (verantwortlich) Wochenschau: Ulrich Stock (verantwortlich) ZEITmagazin: Christoph Amend (Redaktionsleiter), Tanja Stelzer (Textchef), Jörg Burger, Wolfgang Büscher, Heike Faller, Dr. Wolfgang Lechner (besondere Aufgaben), Christine Meffert, Ilka Piepgras, Tillmann Prüfer (Stil), Jürgen von Rutenberg, Dr. Adam Soboczynski, Matthias Stolz, Carolin Ströbele (Online) Art-Direktorin: Katja Kollmann Gestaltung: Nina Bengtson, Jasmin Müller-Stoy Fotoredaktion: Michael Biedowicz (verantwortlich), Usho Enzinger Redaktion ZEITmagazin: Dorotheenstraße 33, 10117 Berlin, Tel.: 030/59 00 48-7, Fax: 030/59 00 00 39; E-Mail:
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Nr. 45 DIE ZEIT
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In diesem Kino-Bergues hat McDonald’s die Frittenbude noch nicht verdrängt, der Hot Dog die Frikadelle noch nicht aus dem Feld geschlagen. In keiner Einstellung des Films sieht man einen Computer, einen Fernseher oder ein Handy, und wenn der Briefträger sturzbetrunken ist, stehen die Leute auf der Post geduldig Schlange. Die Idylle hat etwas Beunruhigendes, durch und durch Künstliches. Auch der Dialekt. Abgesehen von ein paar alten Leuten auf dem Land oder in den Bergwerksgebieten spricht in Nordfrankreich praktisch kein junger Mensch das Sch’ti. Das linguistische Jakobinertum trieb den Regionen ihr »schlechtes Französisch« gründlich aus. Dany Boon erweckt eine verkümmerte Sprache zum Leben, die in der deutschen Synchronfassung klingt wie eine gewagte Kreuzung zwischen Schwäbisch und Schwyzerdütsch. Dazu passt das völlige Fehlen von Bürgern ausländischer Herkunft. 106 Minuten lang wandert nicht ein einziger arabischstämmiger Mensch über die Leinwand. Doppelt absurd, bedenkt man, dass die beiden Hauptdarsteller Dany Boon und Kad Merad, die hier prototypische Durchschnittsfranzosen verkörpern, einen Migrationshintergrund haben. Dazu schrieb Jean-Marc Lalanne, Chefredakteur der Kultzeitschrift Les Inrockuptibles: »Im Film findet sich allerdings nicht der geringste Hinweis auf diese Bevölkerungsschicht, vielmehr negiert er die Migration. Er verwandelt das große Andere = den Einwanderer in das kleine Andere = den Sch’ti.« – und das wenige Jahre nach den Unruhen in den Vorstädten und angesichts der Tatsache, dass die Frage der Integration auf der Sorgenliste der französischen Gesellschaft ganz oben steht. Was ist das für ein Land, das ein derart fantasmatisches Bild seiner selbst feiert? Schon mit Amélie und Die Kinder des Monsieur Mathieu gab sich das französische Kino sentimentalen Flashbacks hin. Alle diese Filme huldigen dem Land der anständigen kleinen Leute und der »echten Werte«. Ob die Sch’tis wohl auch die deutschen Kinos füllen werden? Zweifellos entspricht Amélies Montmartre-Frankreich mit seiner Mischung aus Akkordeon, Sacré-Cœur und rehäugigen Brünetten den deutschen Klischeevorstellungen eher als Nordfrankreichs schlichte und wenig erotische Biertrinker. Übrigens denkt man in mehreren Ländern bereits über eine lokale Variante der Goldmine nach. Hollywood – eifersüchtig auf die Konkurrenz eines frechen kleinen Films – plant eine Fassung made in USA. In der deutsche Ausgabe könnte es einen SchickimickiMünchner nach Eisenhüttenstadt, in die dahinsiechende ostdeutsche Hauptstadt des Stahls, verschlagen. Oder einen genussfreudigen Freiburger nach Schwed, in die Hölle der real existierenden sozialistischen Chemie. Die Krise bringt ihr Anti-Krisenkino. Bully, übernehmen Sie! AUS DEM FRANZÖSISCHEN VON ELISABETH THIELICKE
tuell anwesende Landsleute. Das Mütterchen neben mir bleibt bis zum Schluss sitzen. Ich frage flüsternd nach ihrer Heimat, verständnislos starrt sie mich an. Wie ist sie bloß durch den, zugegeben nicht sehr anspruchsvollen, Sprachtest gekommen? Hat sie den Namen ihres Landes nicht verstanden oder schon so lange auf diesen Tag gewartet, dass sie längst vergessen hat, wo sie herkommt? Wir beklatschen alle 62 vertretenen Länder und uns selbst für überstandene Strapazen, jenseits des Ganges schwenkt jemand wie wild ein amerikanisches Fähnchen, dann spricht eine – wie sie uns stolz mitteilt – selbst eingewanderte Mitarbeiterin der Behörde den Eid vor. »I pledge allegiance«, sage ich, ich schwöre Treue, und denke an den Morgen nach der letzten Wahl, an dem ich im Zustand ungläubigen Schocks durch die Wohnung taumelte und schwor, nach Hause zurückzukehren, sollte der Mann sich jemals überreden lassen, doch noch Deutsch zu lernen, oder, besser, nach Italien zu ziehen, einem Land, dessen Sprache er beherrscht, die sowieso schöner klingt und wo alle paar Jahre ohnehin Berlusconi dran ist und sich nie was ändert, weshalb man sich also gar nicht erst in falschen Hoffnungen verliert … Aber dann kam, wie so oft, das Leben dazwischen. »… with liberty and justice for all.« Ein strahlender Behördenmitarbeiter händigt uns unter Beglückwünschungen unsere Einbürgerungsurkunden aus und damit unseren verfassungsrechtlich verbrieften Anspruch auf »Pursuit of Happiness«. Ich bin entschlossen, ihn einzulösen. Am 4. November wird gewählt. PIA FRANKENBERG
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Das Letzte Wie könnte man ein Haus nennen, in dem viele Katzen wohnen? Nun? Hm? – Das ist natürlich ein Miezhaus! Ja, lieber Leser, und wenn Sie sich von dem Schock erholt haben und darüber hinaus vorsichtig ins Auge fassen, dass Zeiten der Krise immer auch Zeiten des Kalauers sind, werden sie folgende Scherzfrage auf Anhieb beantworten können: Welches Obst ließe sich als Mirawauwau bezeichnen? Tja – räusper, schluck –, Pardon: Mirabellen natürlich. Damit hätten wir das Gröbste hinter uns. Das denken und hoffen wir jedenfalls. Andererseits sehen wir schon mit Grausen den Namenswitzen entgegen, die sich aus dem antikapitalistischen Engagement des Münchner Erzbischofs Marx entwickeln ließen. Predigt er etwa mit Engels Zungen? Oder was wird man dem von wildem Bankenhass getriebenen Schauspieler Peter Sodann raten, wenn er, wie gewünscht, Ackermann verhaftet hat? Vielleicht: Lehn ihn (Lenin) an die Wand? Da ist uns schon die Metzgersfrau lieber, zu der eine eilige Kundin atemlos rief: »Ich kriege ein Suppenhuhn«, und die daraufhin beruhigend replizierte: »Glaube ich nicht. Waren Sie schon bei der Ultraschalluntersuchung?« Ja, liebe Leser, wir gehen harten Zeiten entgegen. Der Umgangston wird rauer, die Ansprüche ermäßigen sich. In Anspielung auf den fast vergessenen Bestseller Schlafes Bruder hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung neulich die Überschrift »Schlafes Luder« kreiert. Hohoho! Da bleibt kein Auge trocken. Was werden wir erst erleben, wenn demnächst Heinz Erhards hundertster Geburtstag naht? Welches Denkmal wird man ihm setzen? In Variation eines sowjetischen Witzes könnte man drei Vorschläge machen: Erstens, einfach und schlicht, Heinz Erhard in Bronze. Zweitens, weil ihn womöglich niemand mehr kennt, statt seiner ein bekannterer Possenreißer in Bronze, sagen wir Mario Barth, wie er Heinz Erhard rezitiert. Oder drittens, noch besser, Heinz Erhard, wie er eine typische Geste von Mario Barth macht. Tief in die Knie gehen, mit dem Arm ausholen, als wolle er jemandem die Faust in den Unterleib rammen – oder in irgend etwas, das noch unterhalb des Unterleibs … Jedenfalls eine typische Geste unserer Tage, mit der sich Heinz Erhard – nun, wie sagt man? – updaten ließe. Er selbst sagte freilich nur: »Es schlafen schon die Bienchen, die Beinchen und die Steinchen, schlaf ein, schlaf einchen.« Das waren aber auch andere Zeiten. FINIS
WÖRTERBERICHT
Wording Nichts ist peinlicher, als Anglizismen zu verteufeln. Seit sich in der klassischen Sprachkritik immer mehr Ideologen tummeln, seit junge Nationaldemokraten demonstrativ von Weltnetz statt Internet sprechen, seit konservative Didaktiker ihre Muttersprache bloß wegen ein paar hübscher Komposita wie Weltschmerz, Hassliebe, Schoßhund als wertvollstes Kulturerbe der Menschheit preisen und schlechter Stil als Mangel an Nationalgefühl gilt – seitdem möchte man sich Kritik lieber verbeißen. Peinlicher als jeder Service Point ist stolzdeutscher Sprachpurismus. Schön ist die Lehnübersetzung Gehirnwäsche. Und dennoch! Im Firmendeutsch haben sich englische Ausdrücke eingebürgert, die nichts als rhetorische Hochstapelei sind. Das Wort »Internet-TopLevel-Domain« zu benutzen, wie es eine Berliner Firma in einem Presserundbrief tat, hat nichts Fachmännisches, sondern etwas Fachidiotisches. Am idiotischsten aber ist der Mode-Ausdruck »Wording«, den neuerdings sogar Buchverlage verwenden. Da wird man als Journalist um ein Wording statt um einen Essay, einen Kommentar, eine Glosse gebeten. Was soll Wording sein? Ein beliebiger Wortbrei zu einem beliebigen Thema. Wo es auf das Genre schon nicht mehr ankommt, wird bald auch die Aussage egal sein. Armes Deutschland. EVELYN FINGER a www.zeit.de/audio
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30. Oktober 2008 DIE ZEIT Nr. 45
Wir sind das Quotenvieh
MURSCHETZ
Christoph Amend und Christof Siemes: »Ist das deutsche Fernsehen Blödsinn? Ein Pro und Contra« ZEIT NR. 43
Christof Siemes ruft Reich-Ranickis Schelte hinterher: Blödsinn! Und sein Zuruf an das deutsche Fernsehen: Weiter so! Denn die Leute wollen es. Sie stimmen mit der Fernbedienung ab, die pure Demokratie. Jedoch, da unterliegt Siemes einem Denkfehler. Es geht letztlich um Kultur. Über Kulturgüter entscheidet nicht die Mehrheitsmeinung einer Wählermasse. Denn da bliebe nicht viel übrig, kein Museum, kein Sinfonieorchester, keine Bibliothek, ja vermutlich nicht einmal die ZEIT. So daneben, wie Siemes’ ganze Argumentation ist, so endet sie auch: Reich-Ranicki habe doch »nichts anderes als Dieter Bohlen gemacht« und sich damit »den Preis, den er nicht haben will, redlich verdient«. Das aber war nicht die Frage. Ich bin kein ReichRanicki-Fan. Aber jetzt, vor so viel Zivilcourage – Hut ab! Dr. Dieter Greuel, Baden-Baden
Als langjährige Filmschaffende kann ich leider Herrn Reich-Ranickis Eindruck nur bestätigen und bin ihm dankbar, dass er die Diskussion über die Qualität des Fernsehens eröffnet hat. Denn es geht bei den öffentlichen wie bei den privaten Sendern tatsächlich fast nur noch um Einschaltquoten. Wer die besten erzielt, zieht die Gunst der Werbeindustrie auf sich. Was wir vom Film boshaft »Werbefüllblöcke« nennen: Das sind Serien und Sendungen, die vor allem darauf aus-
gerichtet sind, das von der Werbewirtschaft gewünschte Publikum für ihre Produkte zu erreichen. Inhalte sind eher nebensächlich. Bei den privaten Sendern mag das Ringen um die Gunst der Werbewirtschaft gerechtfertigt sein, aber beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen darf der Zuschauer mehr erwarten. Es sollte seinem Bildungsauftrag nachkommen und die Gesellschaft durch Anregungen begleiten, fördern und fordern. Ein weiteres Problem ist, dass immer mehr Filme produziert werden, die dem Eskapismus vor den alltäglichen Problemen der Welt dienen. Dagegen ist auch erst einmal nichts einzuwenden, doch die Häufigkeit hat derart zugenommen, dass die Sender sich den Vorwurf, Fernsehen sei »Opium fürs Volk«, durchaus gefallen lassen müssen. Dass dies den Mächtigen in den Kram passt, ist auch klar. Wenn Arbeitslose nur noch vor der Glotze hängen, dann gehen sie wenigstens nicht auf die Barrikaden. Hurra, der soziale Friede bleibt gewahrt! Suzanne Pradel, Berlin
Wenn es noch an einem Beweis dafür gefehlt hätte, dass wir auf dem Weg in eine Rentnergesellschaft sind: nicht ein Kind, sondern ein 88-Jähriger ruft: »Der Kaiser ist ja nackt!« So mancher Journalist äußert jetzt sein Mitleid mit dem armen Zuschauer, der sich diesen Müll anschauen und dafür auch noch Gebühren zahlen
muss. Muss? Bei Wahlen höre ich oft, wir wären ja nur Stimmvieh – seltsam, nie habe ich vom Quotenvieh reden hören. Zumal es da einen wesentlichen Unterschied gibt: Eine Regierung müssen wir haben, aber wer zwingt uns dazu fernzusehen? Wir schimpfen auf die Sender, die nur auf die Zuschauerquote schauen, doch die Quote, das sind wir! Solange wir uns mit dem Niveau von »Goldhamster sucht Frau« und »Deutschland sucht den Superpöbler« zufriedengeben, indem wir es uns ansehen, glaube doch bitte niemand, es werde sich etwas ändern. Leute, wir haben kein Staatsfernsehen, wir haben das Programm, das wir verdienen. Raimund Poppinga, Hannover
Christof Siemes hat ganz schön Nerven, dem »simplen Gesetz von Angebot und Nachfrage« etwas wie »Demokratie« zusprechen zu wollen. Die beruht nämlich zum Glück auf Werten, die nicht mit stumpfer Fernbedienungs-Laune wegzuzappen sind. Hinsichtlich der Werte aber befindet sich das Fernsehprogramm längst im freien Fall. Diesen Verdacht werde ich nicht los, seit ich das zweifelhafte Vergnügen hatte, bei Richterin Barbara Salesch zuzusehen, wie ein katholischer Vikar verdächtigt wurde, seine heimliche Geliebte mit einem vergifteten Dildo ermordet zu haben (halb vier Uhr nachmittags!). Florian Kraemer, 27 Jahre, Köln
Der richtige Augenblick ist jetzt Themenschwerpunkt: »Die Sehnsucht nach Sicherheit« ZEIT NR. 43
Ackermann und sich schämen? Arne Storn: »Freiwillige vor« ZEIT NR. 43
Ackermann sagt, er würde sich schämen, Staatsgeld zu nehmen, und die Presse betont, die Bank, die zuerst auf das Rettungspaket zurückgreift, blamiere sich damit. Falsch! Banken, die auf das Angebot öffentlicher Gelder zurückgreifen oder zurückgreifen müssen, werden schnell wieder handlungsfähig und können so gerade jetzt und in nächster Zukunft gute Geschäfte machen und die Wirtschaft stützen – und ihre Stellung und Macht ausbauen. Wer die Banken diskriminiert, die Staatsgelder anfordern, will offensichtlich verhindern, dass dies geschieht. Das könnte gerade die stärksten Banken in
ihrer Stellung in der Bankenhierarchie gefährden. Ackermann sagt, er würde sich »schämen«? Er hat doch schon mehrfach bewiesen, dass ihm gerade diese Fähigkeit fehlt – die fehlt auch allen Bankmanagern, die den USHypothekenschrott mit AAA++ bewerteten und anderen andrehten. Und auch die Käufer hätten mal auf die Inhalte schauen sollen (was sie vor dem Kauf jedes Joghurt-Bechers tun). Schämt sich einer von denen? Sie haben allen Grund dazu. Nicht die, die sich mit Staatsgeldern oder Garantien aus dem Schlamassel wieder raushieven wollen. Walter Schorlies, Berlin
Gut getroffen
Renate Wöhrle, Weinstadt
Susanne Gaschke: »Die Neunmalklugen« ZEIT NR. 43
Sie nutzen die Finanzkrise zu einer Generalabrechnung mit den sogenannten Neoliberalen und schütten so das Kind mit dem Bade aus. Die heutige Krise zeigt einerseits: Staatsbanker sind nicht die besseren Manager, und andererseits: Globalisierte Finanzmärkte brauchen Regeln. Damit bewegen wir uns auf Ludwig Erhard zu, dem immer bewusst war: Unternehmertum muss sich entwickeln können, der Staat hat Regeln vorzugeben und für sozialen Ausgleich zu sorgen. Aus seiner Zeit stammt auch der völlig aus der Mode gekommene Begriff »Maß halten«. Er kann durch die Forderung ergänzt werden: »Vernunft walten lassen.« Das gilt auch für Ihren Artikel. Hans Spichalsky, Bebra
Alle Mythen werden irgendwann als solche entlarvt. Die Realität hat endlich den Schleier vom Mythos des allwissenden Marktes gezogen, und Susanne Gaschke hat die Enthüllung von Gier, Dummheit und Ideologie in treffende Worte gefasst. Danke! Dr. Karl Wolfgang Biehusen, Vorwerk-Dipshorn
Ständig haben sie uns in die Ohren geblasen, wie rückständig und unmodern wir und das ganze Land seien, weil wir nicht flexibel, effizient, markt- und DAX-orientiert seien. Geradezu weltfremd musste sich vorkommen, wer darauf beharrte, dass öffentliches Eigentum wie Stadtwerke, Sozial- und Bildungseinrichtungen nicht dem profitorientierten Zugriff des privaten Marktes preisgegeben werden dürften. In anderen Ländern waren ja die Folgen solchen Tuns bereits zu besichtigen. Es gäbe noch weitere, die man abwatschen müsste, allen voran Herrn Westerwelle, der plötzlich so auffallend still geworden ist. Schön, dass Susanne Gaschke auch den Herrn Bundespräsidenten nicht ausnimmt, der als ehemaliger IWF-Präsident mitverantwortlich
Das Wort Sicherheit müssen wir aus unserem Wortschatz streichen. Die gleiche Gier, Inkompetenz und Verantwortungslosigkeit, die die Finanzkrise hervorgerufen hat, dominieren unser politisches und wirtschaftliches System, das dabei ist, die Erde, die Schöpfung und die Zukunft der Menschheit zu ruinieren. Wir müssen unseren Lebensstil auf den Prüfstand stellen und nicht oberflächliche Kosmetik durch Sanierung des Finanzwesens betreiben. Welche Sicherheit bietet schon eine gut gefüllte Brieftasche an Bord der Titanic? Welche Sicherheit wird eine Welt bieten, in der in Asien zwei Milliarden Menschen keinen Zugang zu Trinkwasser mehr haben, in der der Meeresspiegel um einen Meter steigt, in der wegen Überschwemmungen und Dürre immer weniger Nahrung produziert, die Meere überfischt sind, gleichzeitig aber die Erdbevölkerung wächst?
ist für das Elend der sogenannten Entwicklungsländer, denen man die Übernahme marktradikaler Mechanismen als Heil gepriesen hat. Die Aussicht, so einen Neunmalklugen und nunmehr Blamierten noch weitere fünf Jahre im Amt zu haben, gerät zur Anfechtung. Dr. Hermann Engster, Göttingen
Dieser Artikel gehörte auf die Titelseite der ZEIT! Angesichts der Heuchelei eines Horst Köhler ist die Borniertheit eines Friedrich Merz, der in diesen Tagen unverdrossen sein neues Buch »Mehr Kapitalismus wagen« anbietet, schon geradezu erfrischend ehrlich. Bitte machen Sie weiter damit, den ZEIT-Lesern ins Gedächtnis zu rufen, dass die von Ihnen genannten Neunmalklugen nicht die Wahrheit gepachtet haben und dass das Leben mehr ausmacht als reines Profitstreben.
»Wir machen uns nichts vor«, ist das Interview mit Peer Steinbrück überschrieben. Wer macht hier wem was vor? Der Minister seinen Interviewern Marc Brost und Matthias Nass oder alle drei etwas den Lesern der ZEIT, weil sie kein Wort darüber verlieren,
wie tatkräftig diese Regierung zur Krise beigetragen hat? Kein Wort des Bedauerns, dass es ein Fehler war, im Koalitionsvertrag der Deregulierung zu huldigen und Real Estate Investment Trusts (Reits) sowie Private Equity Tür und Tor zu öffnen. Dazu passt, was der Leiter der Abteilung Geld und Kredit im Hause Steinbrück im Juli 2006 in der Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen versprochen hat: Man werde der Branche »keine unnötigen Prüf- und Dokumentationspflichten« auferlegen und darauf achten, »dass den Instituten keine unnötigen Prüf- und Dokumentationspflichten« entstehen, wenn sie »in ABS-Produkte mit gutem Rating investieren«. ABS, Asset Backed Securities meint jene Finanzpakete, in die Kredite von cleveren Geldvermehrern zerstückelt, verschnürt und dann weiterverkauft wurden und mit denen die Kreditanstalt für Wiederaufbau pleitegegangen ist. Autor Jörg Asmussen ist inzwischen Staatssekretär von Peer Steinbrück. So betätigen sich in trauter Eintracht die Böcke als Gärtner. Bruno Bienzle, Nürtingen
Wie lange wird das Machtpotenzial wohl aufseiten der Politik bleiben, sollte es tatsächlich gelingen, eine
Weltwirtschaftskrise abzuwenden? Reicht die Aussicht, dass die Politik durch eine monetäre Versorgung der Finanzmärkte das Schlimmste gerade noch abwenden kann, überhaupt aus, um das nötige Vertrauen in Wirtschaft und Globalisierung wiederherzustellen? Die Vergangenheit hat wiederholt gezeigt, dass Politik, wenn überhaupt, häufig nur in Krisenzeiten die nötige Durchsetzungskraft besitzt, um nachhaltige Reformen mit vielen Beteiligten durchzusetzen. Dass die Politik ihre derzeitige Handlungsmacht verteidigen kann, darüber können die Beteiligten nur spekulieren, nach Stabilität und Vertrauen klingt das noch nicht. Der richtige Augenblick ist jetzt. Die Politik erscheint insofern gut beraten, neben den monetären Maßnahmen unmittelbar auch konkrete Maßnahmen zur stärkeren Regulierung der Finanzmärkte mit dem Ziel der nachhaltigen Stabilisierung der Weltwirtschaft zu ergreifen und umzusetzen. Wenn die Globalisierung den Menschen gerechten und nachhaltigen Wohlstand zu bringen in der Lage ist, dann ist jetzt einmal mehr der Zeitpunkt, die Menschen davon zu überzeugen und die Weichen rasch in die richtige Richtung zu stellen. Dr. David Schwartze, Wuppertal
»Heute: Fragil – Putin und das Küken« ZEIT NR. 43
Nun lese ich zu meinem grenzenlosen Erstaunen, dass es sich genau andersherum verhält. Das kann nur an den Folgewirkungen der globalen Krise liegen, die nun auch den ländlichen Raum bis hin zum letzten Hühnerstall erreicht und zur Umkehrung aller Werte geführt hat.
Das Allerschlimmste steht uns wahrscheinlich erst noch bevor. Wenn erst mal die Katzen anfangen zu bellen … Und, ach!, man darf das gar nicht zu Ende denken. Aber so wird es wohl kommen, und alles wird im Chaos versinken. Georg Wanke, Freiburg
Prof. Matthias Laska, Linköping, Schweden
Was schon lange klar war, aber keiner auszusprechen wagte: Der Kapitalismus hat eine neue Form von Asozialität hervorgebracht. Asoziale waren bisher nach gängiger Meinung Menschen, die betteln, keiner Arbeit nachgehen, rumhängen, sich ein paar Euro zu ihrer Grundsicherung hinzuverdienen und so weiter. Die Herrschaften in den Nadelstreifen an den Spitzen der Unternehmen und Banken waren bisher angesehene Bürger, und wer es wagte, hohe Abfindungen für gescheiterte Bosse anzuprangern, wurde abgewatscht: »Ihr seid ja nur neidisch.« Die Systeme, die eine solche Entwicklung ermöglicht haben, sind nicht zerschlagen, sodass es wie so oft mit den Versprechungen der Politiker sein wird: nichts als Schall und Rauch. Den Gewinn kassieren, die Schulden von allen bezahlen lassen: Das können nur diejenigen, die ganz oben sind und die Politiker sicher an ihrer Seite wissen. Hans Nau, Stuttgart
Nr. 45 DIE ZEIT
Die Finanzkrise und die teuren Rettungsversuche der Regierungen 16. Oktober 2008
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Schon wieder Matthias Stolz: »Deutschlandkarte« ZEIT MAGAZIN NR. 43
Leipzig hat kein Programmkino? Das ist insofern merkwürdig, als vor einem Monat die Filmkunstmesse in Leipzig stattfand – immerhin die Messe des Interessenverbandes der Programmkinos und Filmkunsttheater in Deutschland. Und diese Messe fand logischerweise nicht im Multiplex statt, sondern innerhalb der zahlreichen Programmkinos, die Leipzig glücklicherweise besitzt. Auch das internationale Dokumentar- und Animationsfilmfestival, das jährlich in Leipzig stattfindet, scheint Ihnen entgangen zu sein. Denn auch dieses findet in Programmkinos statt. Mit Nischenveranstaltungen wie die »Japanischen Filmtage« brauche ich wohl gar nicht mehr anzufangen. Mir geht es nicht ums Rechthaben. Mir geht es darum, dass hier zum xten Mal ein Bild Ostdeutschlands reproduziert wird, das geprägt ist von kultureller Armut und Tristesse. Eine vergleichsweise harmlose Karte über die Anzahl und Verteilung der Programmkinos ist so durchaus Politik. Sie kann Vorurteile zementieren und ein gewisses Maß an Ignoranz sichtbar machen. Henriette Rösch, per E-Mail
Wenn erst die Katzen anfangen zu bellen In ländlich-bäuerlicher Umgebung aufgewachsen, war ich bisher der unerschütterlichen Überzeugung, dass es sich beim Krähen um eine Lautäußerung handelt, die dem Hahn zuzuordnen ist, und sich die Henne, also das Huhn, demgegenüber durch Gackern bemerkbar macht.
AUS NR.
Höchst problematisch
Sollte man nicht stutzig werden, wenn ihre Quelle für ganz Mecklenburg-Vorpommern nur zwei Kinos überhaupt ausspuckt und in Städten wie Leipzig, Erfurt, Jena, Schwerin oder Potsdam nicht ein Programmkino auftaucht? Stefanie Börner, Leipzig
Ich wohne jetzt in Lübeck und wäre froh, wenn hier ein Angebot an Programmkinos vorhanden wäre wie in Leipzig oder Halle. G. Ackermann, Lübeck
Geld ist da Martin Spiewak und Jan-Martin Wiarda: »Bildungsrepublik Deutschland« ZEIT NR. 43
Den zehn Punkten einer »Regierungserklärung« zum Bildungsgipfel wäre noch ein elfter hinzuzufügen: 11. Finanzierung. Wir werden die Ausgaben für militärische Rüstung halbieren, auch wenn die einschlägige Industrie aufschreit. Die Bundesländer werden ihren Straßenbauetat halbieren, auch wenn der ADAC aufschreit. Dann werden wir zusammen mit den Ländern den Spitzensteuersatz auf 50 Prozent erhöhen, eine einprozentige Vermögenssteuer einführen und die Erbschaftssteuer für Reiche drastisch erhöhen – auf die Gefahr hin, dass einige »vaterlandslose Gesellen« ihr Geld in Steuerparadiese verschieben. Um dem zu begegnen, werden wir mit geeigneten Mitteln diese »Schurkenstaaten« zwingen, unseren Finanzämtern Einblick in die Konten deutscher Staatsbürger zu gewähren. Mit all dem müssten sich die unter den Punkten 1 bis 10 beschriebenen Maßnahmen finanzieren lassen, und unser Land wäre für die Zukunft gewappnet. Dr. Peter Dodel, Rhodt
Florian Klenk: »Verrückt vor Trauer« und Titelthema der Österreich-Ausgabe ZEIT NR. 43
Mit Bestürzung habe ich gelesen, dass sich leider auch die ZEIT nicht dem anekdotischen, augenzwinkernden Berichterstattungsstil anlässlich Jörg Haiders Tod entzieht. Abgesehen davon, dass ich überrascht bin, dass dieser rechtspopulistische Provinzpolitiker es auf Ihre Titelseite der Österreich-Ausgabe schafft, finde ich den Titel des Beitrags höchst problematisch: Der Bösewicht, den wir vermissen! Das kann man über einen beliebten Krimidarsteller schreiben, aber nicht über einen Politiker, der erstens sehr viel menschliches Leid verschuldet hat,
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zweitens chronisch in seiner Bedeutung überschätzt wurde und den »wir« – wer immer das ist – sicher nicht vermissen werden. Michael von Rainer-Mente, Wien
Er, der noch am letzten Tag dem Nachbarn Slowenien in der Ortstafelfrage »Zündeln« vorwarf und nicht nur in dieser Causa selbst, unter Missachtung der Urteile des Verfassungsgerichtshofes,permanent zündelte und Brände legte; der von »Straflagern« für KZ-Häftlinge redete und Asylansuchende vorbeugend in »Sonderlager« ver-
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frachtete; der die SS-Veteranen lobte und selbst auf diese Republik vereidigt war; der zuletzt in der 70er-Geschwindigkeitszone überholte und dann, mit 135 Kilometern je Stunde, kurz danach – im Stadtgebiet – eine 50er-Beschränkungstafel niedermähte, ungeachtet einer Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer; er, der ganze Bücher füllte mit gewichtigen Abwahlkriterien und doch immer wieder aufstand: Dies war seine letzte – selbstzerstörerische – Grenzüberschreitung. Jürgen Hirsch, Wien
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i Weitere Leserbriefe finden Sie unter: www.zeit.de/leserbriefe
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Feuerwerkerin
Fotos: Terry Fincher/gettyimages (US-Soldaten im vietnamesischen Dschungel 1968); Cindy Lee Johnson (u.)
Elke Heidenreichs Abgang und die Zukunft der Literatur im Fernsehen
DER VIETNAMKRIEG war
ein exemplarischer Sündenfall. Wer heute Vietnam sagt, denkt auch an den Irak
In der Hölle zu Hause Ein grandioser Wurf: Denis Johnsons Vietnamroman »Ein gerader Rauch« leuchtet in die Abgründe amerikanischer Kriegsführung
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er Erste, dem Tränen übers Gesicht rinnen, ist ein Affe. Seaman Apprentice William Houston jun. hat ihn in den Rücken geschossen, weil ihm gerade nichts Besseres einfiel. Als der Affe stirbt, weint auch der junge US-Soldat, der in einen fernen Dschungel geschickt wurde, um die Welt in Ordnung zu bringen. Ein paar Stationen später, mit ein paar weiteren hässlichen Bildern im Kopf, wird er zu einer japanischen Prostituierten sagen: »Dies ist mein letztes Jahr bei der Navy. Ich bin über dieses Meer gekommen und gestorben. Man könnte genauso gut meine Knochen zurückbringen.« Der Weg zu Unheil und Tod ist nirgendwo lang in der Welt des Denis Johnson, und Tränen werden auch von harten Burschen vergossen. Da muss nicht viel erzählt, entwickelt, analysiert oder bewiesen werden. Das Unglück, die Delirien der Verdammnis, sie sind bei diesem Autor keine unerhörte Begebenheit, sondern die Regel. Auch der Marinesoldat William Houston, dem wir hier als jungem Mann begegnen, wird den Rest seines Lebens, wie es bereits in Johnsons Roman Engel von 1983 geschrieben steht, vorwiegend unter schwarzen Wolken verbringen, bis er in der Todeszelle verschwindet. Seine Vita – 1949 in München geboren als Sohn eines amerikanischen Offiziers, aufgewachsen in Tokyo und Manila, als Korrespondent viel gereist – sieht ganz so aus, als hätte Denis Johnson
Denis Johnson Nun ist er kein Geheimtipp mehr,
sondern bekannt als einer der bedeutendsten lebenden amerikanischen Autoren. Geboren 1949 in München, aufgewachsen in Japan und Südostasien, lebt er heute in Idaho. Seine großen Themen – die abgrundtiefe Verlorenheit des Menschen im Kosmos im Allgemeinen und in Amerika im Besonderen – bestimmten schon seinen traumwandlerischen Kurzroman »Train Dreams« und seine Erzählungen »Jesus Son«. Seine Romane »Engel«, »Fiskadoro«, »Wiederbelebung eines Gehängten«, »Schon tot« und »Der Name der Welt« warten nach dem großen Erfolg seines finster-luziden Vietnam-Epos auf ihre Wiederentdeckung.
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überall immer nur Bestätigungen dafür gesammelt, dass die Welt ein unseliger Ort ist. Im neuen Roman Ein gerader Rauch hat er die »Blicke in den Abgrund der Welt«, wie es im Untertitel seines Reportagebandes In der Hölle heißt, auf das alte, doch nach wie vor rumorende Trauma des Vietnamkriegs gerichtet. Damit erweitert er den Fokus von den Leiden seiner notorischen existenziellen Unglücksraben auf die Widersprüche und das problematische Sendungsbewusstsein einer ganzen Nation. Bereits der erste Satz des Romans zielt ins Schwarze: »In der Nacht um 3:00 Uhr war Präsident Kennedy ermordet worden.« Dieser Auftakt unterstreicht, dass Johnsons Erzählen weniger von handlungslogischen Entwicklungen als von den Schocks, Gesichten, Obsessionen und oft willkürlich anmutenden Reflexhandlungen bestimmt wird. An den Rändern der Gesellschaft, der Vernunft, der Heillosigkeit, des halluzinatorischen Wahns haben sich Johnsons Protagonisten immer herumgetrieben. Diesmal kommen also noch die Ränder des amerikanischen Imperiums hinzu. Bill Houston weint über den von ihm erschossenen Affen auf einer philippinischen Ferieninsel für US-Soldaten. Mit seinem kaputten Zuhause in Arizona führt er Telefongespräche, deren sprachlose Leere grausam über die unendlichen Distanzen hallt. Sein jüngerer Bruder lässt sich nicht vom Eintritt in die Armee abhalten. Als Bill, zurück in Phoenix,
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einem Zivilleben als Gelegenheitsarbeiter und Krimineller entgegensieht, steckt James schon in einem Militärlager bei Da Nang, wo seine Einheit demnächst von der Tet-Offensive des Vietcong aufgerieben wird. Bill und James Houston sind die Fußsoldaten des amerikanischen Weltbefreiungstraums. Skip Sands hingegen gehört zur Intelligenz, besonders im nachrichtendienstlichen Sinn. Protegiert und geführt von seinem Onkel, dem legendären Colonel Francis X. Sands, nimmt Skip als CIA-Agent teil am Kampf gegen den Kommunismus. Sein Onkel hat im Zweiten Weltkrieg Heldenruhm erworben, vor allem jedoch die Einsicht, dass es zwischen Gut und Böse, Freund und Feind, Wahrheit und Manipulation viele Schattierungen gibt. Der Neffe dagegen möchte zunächst schlichtweg an sein Land glauben, an den Mythos von der für alle Zukunft makellosen Siegermacht. Aber glauben – das wollte in Johnsons Büchern schon mancher. Skips Desillusionierung beginnt mit einer von klassischer Dschungelexotik vibrierenden Thrillerszene: Ein der Kollaboration mit dem Feind verdächtigter Priester wird von einem CIA-Killer liquidiert. Nur bestand seine einzige Schuld darin, dass er sich auf seinem verlorenen Missionsposten dem Teufel näher fühlte als Gott. Niemand kann Fortsetzung auf Seite 64
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Glaubwürdigkeit sei ihr Erfolgsgeheimnis, hat Elke Heidenreich mal stolz behauptet. Wenn es ihr damit wirklich ernst war, hätte sie mit ihrer Literatursendung Lesen! auch ohne das Rauswurf-Tamtam der letzten Tage am 1. Januar 2009 aufhören müssen. Denn im neuen Jahr wird aus der Moderatorin die Verlegerin Elke Heidenreich; unter dem Dach der Verlagsgruppe Random House wird sie im ElkeHeidenreich-Verlag Bücher zum Thema Musik herausbringen. Wie wollte sie da noch unabhängig andere Bücher empfehlen? Schon bislang hatte die Sendung damit zu kämpfen, dass sie mitunter wie ein Büttel der deutschen Verlage wirkte. Pflichtschuldigst sind denn auch die wichtigsten Verleger ihrer Propagandistin in einem offenen Brief beigesprungen, haben ihre Wiedereinstellung gefordert und in schönster Offenheit geschrieben, was Lesen! eigentlich war: ein »wichtiger Umsatzverstärker« – auf Deutsch also eine kostenlose Werbesendung. Den Brief hat übrigens auch Klaus Eck unterschrieben, der Geschäftsführer von Random House. Hat Elke Heidenreich das unabwendbare Ende ihrer Sendung also nur vorgezogen und mit einem schönen Feuerwerk in eigener Sache versehen? Was soll man von der Glaubwürdigkeit einer Lautsprecherin halten, die Thomas Gottschalk erst in ihre Weihnachtssendung einlädt und ihn dann öffentlich niedermacht? Die die Gala zur Verleihung des Deutschen Fernsehpreises als »endlosen Unsinn« bezeichnet, nachdem sie dort die wichtigste Rede, nämlich die auf Marcel Reich-Ranicki, nicht halten durfte? Die sich nun als heilige Johanna der Hochkultur inszeniert, in ihrer Sendung und ihren Texten aber oft genug einen veritablen Anti-Intellektualismus pflegte? Mit starken Worten nimmt Elke Heidenreich für sich in Anspruch, das richtige Fernsehen für intelligente Leute zu machen. Im Namen vieler ernsthafter Leser und guter Autoren muss hier einmal festgestellt werden: Uns kann sie mit ihrer Sendung nicht gemeint haben! Wir wollten uns ihrem Imperativ nie beugen; der Trompetenton, mit dem sie neben vielen Schmökern auch manche echte Entdeckung ankündigte, tut auf Dauer in den Ohren weh. Soll sie weiterhin Lanzen brechen für Bücher, die ihr gefallen – aber bitte nicht so tun, als träte sie für etwas Größeres ein als ihren eigenen Geschmack. Letztlich war auch ihre Sendung nichts anderes als eine jener »Prominentenshows«, von denen sie angeblich selbst die Nase so voll hat. Wer aber Campino, Günther Jauch oder Iris Berben zum Gespräch über Bücher einlädt, will bloß den QuotenRahm der Prominenz abschöpfen. Hier liegt der Kern der Debatte: Wie lassen sich Bücher, wie lässt sich Kultur angemessen im Fernsehen präsentieren? Unter dem selbst auferlegten Quoten-Joch versuchen die öffentlich-rechtlichen Sender, Kultur auch jenen schmackhaft zu machen, die sich dafür nicht interessieren. Heraus kommen zwitterhafte Sendungen, die die überschaubare Anzahl überzeugter Theatergänger, Leseratten, Musikliebhaber vor den Kopf stoßen und den Rest trotzdem kaltlassen. Beide Gruppen haben das Recht, auf ihrem Niveau angesprochen zu werden. Es unternimmt ja auch niemand den Versuch, eine Fußballsendung für Fußballverächter zu machen, in der Elke Heidenreich das Abseits erklärt. Nach dem idealen Format für Literatur im Fernsehen wird also noch gesucht. Platz dafür ist ja jetzt da. CHRISTOF SIEMES
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In der Hölle zu Hause Fortsetzung von Seite 63 seine Figuren so traurig und wirr durch die Welt irren lassen wie Denis Johnson. »Mr. Sands, kennen Sie Christus?«, fragt Kathy Jones in einem Dorf des nördlichen Mindanao. Sie arbeitet für Kinderhilfsorganisationen und schlägt sich mit dem Calvinismus herum, weil sie das irdische Leben ohne den Gedanken an Verdammnis und Erlösung nicht aushält. Skip Sands schätzt sie, doch in seinem militanten Männerleben ist für sie kein Platz. »Diese Querköpfigkeit zog ihn an. Immer dasselbe Faible für sardonische, kurzsichtige, intellektuelle Frauen. Frauen, die schlagfertig und von Geburt an traurig waren.« Die Houston-Brüder, Skip, Colonel Sands, Kathy Jones und der südvietnamesische Funktionär Hao, der von der Auswanderung in die USA träumt, sie sind es, deren Geschick der Roman verfolgt, indem er sie abwechselnd, an entscheidenden Stationen ihres Weges, ins Rampenlicht holt. Die durch Jahreszahlen gegliederte, vielschichtig bewegte Handlung beginnt 1963, als mit Kennedys Tod der Weg zur Eskalation des amerikanischen Engagements in Vietnam frei wurde, und wird auf vielen Schauplätzen fortgeführt bis zu einem Nachspiel im Jahr 1983, aus dem hervorgeht, dass der Krieg für keinen der Beteiligten je richtig zu Ende gegangen ist. Neben den Protagonisten bevölkern noch weitere prägnante Figuren die trostlosen Schlachtfelder. Der Besuch von James Houston am Krankenbett seines im Gefecht zerfetzten Sergeant fasst auf ein paar Seiten viel von dem zusammen, wovon der Antikriegsfilm Johnny zieht in den Krieg (1971) nach dem Roman von Dalton Trumbo handelte. Der Vietcong Trung wird für eine Geheimdienstintrige als Doppelagent ins Feuer geschickt. Ein Trupp von Fernspähern, Handwerkern der Hölle, liefert das brutalste Beispiel dafür, wie Unerschrockenheit im Kampf pervertieren kann zur schieren Bestialität. Wenn einer von denen sagt: »Das ist kein Krieg. Wir haben eine Mission«, dann ist die moralische Katastrophe, von der dieser Roman handelt, auf die kürzeste Formel gebracht. So verfahren die Lage der Figuren auch ist, so pointiert verraten die Dialoge, die Johnson ihnen auf den Leib geschrieben hat, ihre Verstümmelung, Angst und Verlorenheit. Bettina
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Abarbanell und Robin Detje haben mit ihrer Übersetzung ausgezeichnete Arbeit geleistet. Nur ganz selten wird in Johnsons Roman der oftmals artifizielle Doppelklang des intertextuellen, zitathaften Schreibens hörbar. Gleichwohl steckt er voller Querverbindungen, Einflüsse und Zitate. Joseph Conrads Herz der Finsternis, der quasimythologische Text über kolonialistisch-imperialistische Zusammenstöße, ist hier ein weiteres Mal als Assoziationspool gegenwärtig. Natürlich auch manches von der Atmosphäre und Bildwelt aus Coppolas Apocalypse Now und anderen Vietnamkriegsfilmen. Bill Houston kennt gewiss nicht die Bemerkungen von LéviStrauss über wechselseitige Kulturzerstörungen, trotzdem lässt ihn sein Autor feststellen: »Ich sag dir was, die Tropen sind kein tropisches Paradies.« Skip Sands brütet in seinen müßigen, einsamen Stunden über geistzermürbenden Reflexionen von Antonin Artaud und E. M. Cioran. Die Bibel wird mit dem titelgebenden Topos »ein gerader Rauch« zitiert, der Denis Johnson: ebenso als apokalyptisches Ein gerader Rauch wie als segensreiches ZeiRoman; aus dem chen gelesen werden kann. Englischen von Ganz demonstrativ ins Bettina Abarbanell intertextuelle Gewebe ist und Robin Detje; Rowohlt Verlag, Graham Greene eingeReinbek 2008; flochten, bei dem Johnson 880 S., 24,90 € schon manche Anregung, manches Motto entliehen hat. Skip kennt Greenes Roman Der stille Amerikaner von 1955 genau. Mit diesem idealistischen Missionar für Demokratie und Freiheit kann er sich identifizieren. Bald aber rutscht er doch ab und wird der »hässliche Amerikaner«, nach einem anderen Bestseller aus den fünfziger Jahren, in dem die Art, wie die USA andere Länder unter ihre Fürsorge zwingen, kritisch beleuchtet wird. Mit Skips Absturz liefert der Roman ein zweifellos knalliges, böses Lehrstück über jeglichen Interventionismus: Am Anfang bemüht sich der CIA-Mann noch wie ein Ethnologe um das Verstehen der fremden Kultur, am Ende wird er zum Waffenhändler und deshalb in Kuala Lumpur zum Tode verurteilt. »Wir sind an einem grauenvollen Ort«, sagt einmal jemand zu Kathy Jones, worauf sie erwidert: »Es ist eine gefallene Welt.« Was Updike über Hemingway sagte, kann auch für Johnson gelten: Er durchforscht die Welt nach jenen entlegenen Orten, wo Gewalt seinen Stil stärken kann. Als Tree of Smoke im vergangenen Jahr den National Book Award erhielt, recherchierte der Autor gerade auf den kurdischen Ölfeldern im Irak. Ist das Kollateralironie? Ein vielsagender Zufall gewiss. Wer heute Vietnam sagt, meint auch Irak. Und wenn dieser Roman die Kriegführung in Vietnam als
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exemplarischen Fall, ja als Sündenfall darstellt, dann ist im Subtext unvermeidlich zugleich der Irak zu entziffern. Die Metapher Ein gerader Rauch dient hier als Codename einer Operation, mit der Colonel Sands seinem Verdacht nachgehen will, dass die Erkenntnisse des Geheimdienstes verfälscht werden, um politische Zwecke durchzusetzen. »Die Lügen«, so der Colonel, »wandern nach oben, und was wieder runterkommt, ist schlechte Politik, falsche Politik.« Das jüngste reale Beispiel für derartige Vorgänge waren die getürkten Begründungen für den Präventivkrieg gegen den Irak. Trotzdem: Ein gerader Rauch ist weder ein politischer Roman noch ein Sendschreiben wider die Machenschaften des Pentagons. Johnson argumentiert nicht, er ist kein objektivierender Erzähler, er arbeitet mit einer ganz eigenen Mischung aus bedeutungsschwerem Realismus, grellem Sarkasmus und einer zugleich passionierten wie manischen Fixierung auf alle Nuancen eines Seelenschmerzes, der daher rührt, dass sich seine Helden auf der Welt unrettbar verloren fühlen. Darum weht aus dem erzählerischen Atem dieses Autors manchmal der Pesthauch eines bitteren, idiosynkratischen Grams. Johnson überzeugt nicht durch abgewogene Darstellungen, sondern er nimmt gefangen durch Schwarzmalerei. Die allerdings ist keineswegs aus der Luft gegriffen. Sie weist überzeugende und unübersehbare Übereinstimmungen auf mit den schmutzigen historischen Wahrheiten über den Vietnamkrieg und andere US-Interventionen. Darum ist dies ein Roman, der aus der Tiefe poetischer Einsicht eben doch politisch zu denken gibt. Zum Beispiel über die Frage, ob es gut gehen kann, wenn die einen sich auserkoren wähnen, anderen als bewaffnete Weltverbesserer auf den Pelz zu rücken. Und ob dabei nicht sogar so vornehme Werte wie Demokratie, Freiheit, Moral und menschliche Integrität auf den Hund kommen. Für die vorwiegend von Hollywood modellierten (hin und wieder auch schon kritisierten) amerikanischen Helden als weltweit tätige Erretter vor dem Bösen bricht jedenfalls mit Johnsons Roman die Dämmerung an. Kein Wunder angesichts von Präventivschlägen, Hightechsöldnern, Folterern und Security-Kräften, die primär für den Schutz kapitalisierbarer Interessen bezahlt werden. Allein Kathy Jones kann bestehen, sie ist die anrührendste Figur in diesem Roman. Sie rackert sich ab, Kinder und überhaupt Leben zu retten, während die kriegerischen Männer Löcher in die Welt und ihre Bewohner schießen, um dann in die aufgerissenen Abgründe zu starren. Geistige Wellness hat Johnson nicht zu bieten. Doch großartige, beunruhigende, brisante, wunderbar wüste Literatur.
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Eindrucksvolle Dampfwolken Petra Morsbach führt einen Cembalisten durch Venedig
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ie glücklich wäre ein Blinder in Venedig!« Diesen Satz notierte Jean Giono in einem der poetischsten Texte, die über die zu Tode geschriebene Sehnsuchtsstadt je verfasst worden sind. Petra Morsbach, mehrfach ausgezeichnete Autorin publikumsfreundlicher Romane, hat ihn offenbar nicht gelesen, sonst würde sie in ihrem neuen Werk Der Cembalospieler den blinden Icherzähler nicht so umstandslos durch das Labyrinth an der Lagune trotten lassen: Orientierungsprobleme spielen dabei kaum eine Rolle, aber auch die Glücksgefühle halten sich in Grenzen. Von der gesteigerten akustischen und olfaktorischen Wahrnehmung, die man Sehbehinderten nachsagt, wird literarisch kein Gebrauch gemacht, auch nicht von der Atmosphäre Venedigs, die doch zur Not immer noch etwas hergibt. Warum nur, fragt man sich, hat Morsbach dann ihre fiktive Künstlerbiografie derartig überinstrumentiert? Moritz Bauer, der Held, ist erstens blind und zweitens Cembalist, eine an sich schon prekäre Kombination. Er ist drittens eine musikalische Ausnahmebegabung, vulgo ein Wunderkind, und viertens homosexuell. Wenn dann, fünftens, die Rahmenhandlung auch noch in Venedig spielt, wirkt das Ganze etwa so wie der Coup eines Veranstalters, der Vivaldis Vier Jahreszeiten in einer Fassung für zwölf Tenöre in Karnevalsmasken auf dem Markusplatz präsentiert und Pasta dazu servieren lässt. Zugegeben, der Vergleich ist unseriös, zumal die Exdramaturgin Petra Morsbach über Musik in Theorie und Praxis eine ganze Menge zu wissen scheint. Wenn aber der dreizehnjährige Moritz – übrigens, sechstens, aus äußerst schwierigen Familienverhältnissen stammend – von seiner ersten Pianolehrerin das C-Dur-Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier als Hausaufgabe bekommt, bevor er je eine Tonleiter gespielt, ja eine Taste berührt hat, regen sich leise Zweifel an der im Buch waltenden Sachkompetenz: Die Dame weiß nämlich gar nicht, dass Moritz ein Wunderkind ist. Das merkt sie erst, als der Knabe nach einer Woche, in der ihm das Schulklavier täglich eine Stunde zur Verfügung steht, eine künstlerisch ausgereifte Version des Stücks vorlegt. Unterdessen schreitet seine juvenile Makula-Degeneration so unaufhaltsam voran, wie die Verlegenheit des Lesers wächst.
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VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Ein Cembalokonzert von Bach im 45er-Format beschert dem erblindenden Junggenie das instrumentale Erweckungserlebnis: »Es war der herrlichste Klang, den ich je gehört hatte. Ich kniete auf dem Teppich und weinte. Pures Gold!« Kurios genug, dass der Erzähler bei seinen Versuchen, die Klangsprache des Cembalos zu charakterisieren, auf deren Klarheit, Präzision und Rationalität abhebt, während gleichzeitig das weichspülerische Sentiment, das ihm angeblich so verhasst ist, in seine Sätze schwappt wie die Acqua Alta in Venedigs Gassen. Wie auch immer: Moritz wird zum Cembalisten ausgebildet und erobert als Virtuose die Welt; er verliebt sich in Instrumente und in Männer; er sieht immer weniger und begeistert sich für Computer mit BlinPetra Morsbach: densoftware; er erlebt menschDer liche Enttäuschungen und Cembalospieler musikalische Offenbarungen, Roman; Piper eine gescheiterte WunderheiVerlag, München lung und eine erfolgreiche 2008; 286 S., Psychotherapie; er feiert Trium18,– € phe und durchleidet Krisen; er entdeckt die Annehmlichkeiten mäzenatischer Förderung und die Absurditäten des Aufführungsbetriebs. Dann ist da noch die venezianische Rahmenhandlung, bei der es um eine Gala im Palazzo Zenobio geht, um einen greisen rumänischen Prinzen und seinen verrückten Adlatus, beide natürlich schwul. Und da das alles in einem relativ schmalen Roman Platz finden muss, kann nicht viel mehr dabei herauskommen als ein Kessel Buntes. Der wiederum erzeugt eindrucksvolle Dampfwolken bei der Beschreibung und Analyse der Bach-Werke, die für Moritz Bauer die Stationen seiner künstlerischen Entwicklung markieren. Aber ob das alles stimmt, was da über die Chromatische Fantasie oder die Goldberg-Variationen steht, wenn schon aus der Johannespassion unkorrekt zitiert wird? Der Held jedenfalls arbeitet sich ganz nahe an seinen Hausheiligen heran: »Ich verschmolz mit seinem Genie und spürte in dieser Hingabe eine wahnsinnige Kraft und unendliche Liebe. Tiefer kann man nicht fühlen. Stärker kann man nicht lieben. Man würde vor Glück weinen, wenn man nicht mit dem Dienen so beschäftigt wäre.« Dass der fromme Diener kurz vorher noch deftige Details aus der Internetseite »Gayplay« zitiert hat, könnte manche Leser in Verwirrung stürzen. Ihnen sei hiermit gesagt: Bach war eindeutig hetero.
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ter wie der Bernstein das Insekt umschließt. Die Beschriftung der Bilder einer Welt, die den langen Blick in den Spiegel scheut, die sich hinter hohlen Ungetümen wie »Frühwarnsystem« und »Schutzschirm« verschanzt und das als soziales Bewusstsein begreift. »Ich möchte meine Finger an seiner Wirbelsäule verzopfen, aber er ist nicht da, ich umarme die Luft und erwürge den Sauerstoff«, sehnt sich eine andere der literarischen Masken nach einem tunesischen Strichjungen in Rom. Es war in den achtziger Jahren nicht üblich, so haltlos zu schreiben, und ist es auch heute nicht. Zwei Szenen beschreiben die Ursprünge dieses Dichters. »Schau Seppl, schau!«, ruft die Tante, den Dreijährigen über die Leiche seiner Großmutter haltend. Hätte sie gewusst, wie ernst ihr Neffe die Aufforderung fortan nehmen würde, sie hätte die Lektion in Sachen Leben wohl unterlassen. Hier setzt die Erinnerungsflut nach Auskunft des Erzählers ein und bildet einen Strudel um die zweite Schlüsselszene: den Doppelselbstmord zweier Jungen. »Du kannst über mich schreiben, was du willst, wenn es nur dir hilft, aber laß die beiden erhängten Buben im Dorf in Ruh!« Umsonst fleht der Vater. Am allgegenwärtigen »Kalbstrick« pendeln sie im Heustadel, pendeln, immer wieder, in fast jedem Buch, bis heute. Chiffre für einen Zwang, sich zu erinnern. Denn dieser Tod, schreibt Winkler, hätte seiner sein können: wie »ein Geschwür« habe er seine Sprache aufbrechen lassen. 1980 wohnt Winkler ein Jahr lang auf dem Bergbauernhof einer ehemaligen Zwangsarbeiterin. Ein Buch lang protokolliert er ihre Verschleppung, ein fremdes Leben. Zuhörend blickt er ins Tal hinab, auf den Hof der Eltern. Das verändert seinen Ton. Weicher, differenzierter zeichnet er in den folgenden Büchern insbesondere den Vater, der ihm die erste Schreibmaschine geschenkt hat, durch dessen unbeholfenen Stolz auf den Sohn, gepaart mit Miss- und Unverständnis, Winkler das ewige Dilemma zwischen Eltern und ihren Kindern erzählt, das Double-Bind von Zu- und Abneigung. Winklers Erzähler haben »Filmkameraköpfe«, die in langen Einstellungen Bilder in Sprache brennen. Diese Kameras halten nicht drauf, sondern schauen hin. Das ist ihr Skandalon. Seit Muttersprache verstärkt sich außerdem (»kein Wort der Widerrede, da hilft nur Sterben«): das Komische. Ja, der Leser darf lachen bei der Lektüre dieses beharrlichen Leichensammlers, bedient der sich doch der uralten Mittel der Groteske: Übertreibung, Zusammenführung des Unvereinbaren, Wiederholung. Die Montage ist Winklers Technik, das Fragment seine Form. Richtig zum Zug kommt das in den großen Städten. Rom, Neapel, Varanasi. Mit seinem Straßennotizbuch steht der Erzähler vor der Stazione Termini in der italienischen Hauptstadt, sitzt in Indien am Ganges und füllt sein Bildarchiv. Es sind untergehende Welten, die er beschreibt. Den Markt auf der römischen Piazza Vittorio Emanuele, Schauplatz der sinnlich berstenden Novelle Natura morta, gibt es schon nicht mehr; der römische Bahnhofsvorplatz wurde einer Reinigungsaktion unterzogen. Vielleicht nur eine Frage der Zeit, bis den indischen Einäscherungsplätzen aus hygienischen Gründen der Garaus gemacht wird. Auch der Büchnerpreisträger Mosebach hat einen Indien-Roman geschrieben. Darin senkt er die Melancholie des letzten Monarchen in 1001 Farben(spiele). Das hässliche Leben will diese Erzählhaltung weder anschauen, noch liegt ihr an ästhetischen Formen diesseits des 19. Jahrhunderts. Der Tod wird als erhabenes Moment gestreift, bleibt körperlos. So stört er die Ordnung nicht. Anders Winkler, der in Domra oder Roppongi bei den im Feuer krachenden und schmelzenden Körpern verweilt. Hinschauend. Kein Faible für Blut, sondern die Versprachlichung dessen, wovon man nicht spricht und wovor die meisten die Augen verschließen. Töricht, sagt Hebbel, wer vom Dichter Versöhnung der Dissonanzen verlangt. »Aber allerdings kann man fordern, daß er die Dissonanzen selbst gebe.«
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Der lange Blick Am 1. November erhält Josef Winkler den Georg-BüchnerPreis. Geehrt wird einer der eindringlichsten Dichter des deutschen Sprachraums VON INSA WILKE
Foto [M]: Susanne Schleyer/Ullstein
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an erinnere sich: Voriges Jahr erhielt Martin Mosebach, der »sanfte Reaktionär«, den wichtigsten deutschen Literaturpreis. Ein Romancier der Ironie. Die Verleihung des Büchnerpreises 2008 an Josef Winkler ist eine Wendung um 180 Grad und damit erneut: keine Selbstverständlichkeit, aber eine großartige Wahl. Winkler hält sich die Welt, wie sie ist, nicht vom Leib. Er setzt sich ihr aus und setzt sie uns vor. Wenn er auf Lesereise geht, häufen sich in den Literaturhäusern für eine Stunde die Unglücksfälle. Seine Texte stapeln dann beschädigte Körper oder tote Hasen und Lammschädel mit blutigen Kinnspitzen in den ehrwürdigen Sälen. »Herr Winkler, haben Sie ein Faible für Blut?«, sucht das indignierte Publikum sich dieses Autors durch Pathologisierung zu erwehren. »Ich zeige die Wunde am Körper auf, nun sagt man, ich sei in Wunden verliebt«, klagt Friedrich Hebbel in seinem Tagebuch. Mit einsamen Klassikern wie Hebbel, Hans Henny Jahnn und vor allem Jean Genet fand Josef Winkler in die Sprache und ins Schreiben. Mit Dichtern also, die gar nicht daran dachten, der Welt, die sie so unerhört in Sprache schlugen, Verbesserungsvorschläge zu machen. Wen wundert’s bei diesen Ziehvätern, dass der aus der Art geschlagene Bauernsohn aus Kärnten, kaum »vom Misthaufen weg« und gegen die Voraussagen jeder Bildungsstatistik, mit 26 Jahren im Suhrkamp Verlag landete. »Damals zitterte ich vor Menschen, heute vor Büchern«, schreibt Winkler 1982 in seinem Nachwort zu Jahnns Roman Nacht aus Blei. Durchschnittlich alles scheint er von der schönen Literatur gelesen zu haben. Seine zarten, schonungslosen Lektüren anderer Dichter, für Winkler oft hemmende und inspirierende Begegnungen zugleich, gehören zum Lesenswertesten, was in diesem Genre geschrieben wurde: Unübertroffen Das Zöglingsheft des Jean Genet, täuschend beiläufig seine neuesten poetologischen Reportagen Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot. Zurück zu den Anfängen. 1979 debütiert Winkler mit Menschenkind: ein Brief an den Vater, ein barockes »Kindertotengedicht« in Prosa, ein »stummes Theaterstück«, in dessen Zentrum der Erzähler mit zum Schrei geöffnetem Mund steht. Die FAZ mutmaßte, dass man nur einmal, »knapp jenseits der Kindheit«, fähig sei, so rücksichtslos seine Herkunft niederzuschreiben. Ein Irrtum. Denn seither arbeitet Winkler an dem, was Thomas Bernhard den »österreichischen Herkunftskomplex« nannte, und spielt mit der hauchdünnen Membran, die ihn von seinen Ich-Figuren trennt. Und mit ihnen verbindet. Falte »deine Hände zum Gebet, schließ die Mutter ins Herz, den Vater in die Faust«, dirigiert sich der Erzähler in der Trilogie Das wilde Kärnten durch die Bilder seiner Kindheit und lockt: »Ich will dich in mir totschlagen, mein liebes Kind.« Es spukt in den katholischen Ritualen des Dörfchens Kamering (31 Häuser, 387 Tiere, 121 Kinder, 247 Kruzifixe). Es tanzt im gläsernen Bauch der schweigenden Mutter, zittert vor der »Schönheit der todesschweißtragenden, ackerdurchfurchten Stirn« des Vaters und krümmt sich unter der bodenständigen Gewalt der Dorfgemeinschaft, deren Veteranen sich wohlig an Hitlers Zeiten erinnern. Hiergegen entlädt sich Winklers »Wortmaschine«. Den erstaunlich zahlreichen Selbstmördern des Dorfes richtet sie in einer Orgie aus Buchstaben das Totenfest aus. »Kruzifix und Sex und Sex und Kruzifix«, so habe man daheim, an den Ufern der Drau erbost die literarischen Blasphemien und homoerotischen Fantasien kommentiert. »Sündigen entspricht der Wahrheit des Lebens eher als dieses grausame Reinhalten der Seele«, entgegnet der Abtrünnige und flicht gleich noch ein paar peinliche Anekdoten aus der Nachbarschaft ein. »Eman« heißt einer seiner jungen Geliebten in den ersten beiden Bänden der Trilogie. Das ergibt rückwärts gelesen: Name. Spielt sich nicht genau dies in den Romanen Winklers ab? Der Versuch, sich einen Namen und einen Körper zu erschreiben in einem Raum, dessen erstickende Sprachlosigkeit den Außensei-
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Josef Winkler und seine Bücher Geboren wurde er am 3. März 1953 in Kamering in Kärnten, als Bauernsohn. »Sepp« nannte ihn der Vater. »Sepp« nannte er ihn auch noch im letzten Telefongespräch, als er dem Sohn verbot, auf seine Beerdigung zu kommen, was der Sohn dann auch nicht gemacht hat. Über das Nicht-zur-Beerdigung-des-Vaters-Kommen hat er ein Buch geschrieben: Roppongi. Requiem für einen Vater. Der Vater war schon das dunkle Zentrum seiner ersten, sprachwildernden Kärntner Romane Menschenkind, Der Ackermann aus Kärnten und Muttersprache. Die barocke Todesschwelgerei, die Qualen des
Eros, die Lust am Fleisch und die Vergeblichkeit des Begehrens verfolgen ihn auch in seinen italienischen Romanen Friedhof der bitteren Orangen und (vielleicht sein bester, freiester) Natura morta. In den letzten Jahren zog es Winkler immer wieder nach Indien, wo er sich mit den beiden Kindern und seiner Frau in Varanasi einquartierte, um den Toten beim Verbranntwerden zuzusehen. Sein Roman Domra beschreibt die Himmelfahrt des Fleisches in den Fegefeuern der indischen Einäscherungsstätten. Zusammenfassend darf man sagen: Josef Winkler ist ein katholischer Schriftsteller.
In diesem Herbst erscheint (wie alle genannten Bücher im Suhrkamp Verlag) ein Band mit Prosaminiaturen, Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot.
Josef Winkler lebte in Kamering, in Rom und seit einigen Jahren mit seiner Familie in Klagenfurt. Im vergangenen Jahr wurde ihm der Große Österreichische Staatspreis verliehen. Am 1. November erhält er den wichtigsten deutschsprachigen Literaturpreis: den Georg-Büchner-Preis, vergeben von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
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Politisches Buch
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BUCH IM GESPRÄCH
Außer Balance
Mantra des Neoliberalismus Friedrich Merz singt noch einmal das Loblied auf den entfesselten Kapitalismus – und steht damit plötzlich ziemlich allein da
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»Ich will Erfolg. Ich weiß, dass das eine hochexplosive Aussage ist, aber für mich ist Erfolg das Maß aller Dinge.« Das steht so nicht im Abschiedsbuch des Bundestagsabgeordneten Friedrich Merz, aber mit seinem Grundbekenntnis entspricht Dieter Bohlen ziemlich genau dem Typus, den Merz vor Augen hat, wenn er mal wieder für die Radikalisierung der Marktwirtschaft wirbt. Bohlen ist mit seiner autobiografisch motivierten Fibel Planieren statt sanieren auf dem Weg an die Spitzen der Bestsellerlisten, Merz wäre das mit seinem Traktat über die Schönheit des Kapitalismus sicherlich auch, hätte ihn die internationale Finanzkrise nicht ins Abseits gestellt. Man stelle sich nur mal vor, Angela Merkel hätte statt des gemütlich leisen Michael Glos den ehrgeizigen Besserwisser Friedrich Merz zum Wirtschaftsminister gemacht. Im Wahlkampf von 2005, als der Sauerländer nach seinem zornigen Rücktritt als Fraktionsvize plötzlich wieder da war, schien das durchaus denkbar. Anders als der tatsächliche Wirtschaftsminister hätte Merz sich an den »tollen Tagen« der Finanzkrise nicht auf Tauchgang schicken lassen, sondern unbeirrt mit Sentenzen wie diesen aufgewartet: »Hedgefonds korrigieren durch ihre Aktivitäten falsche Preisbildungen am Markt und tragen so zur Risikobegrenzung an den Finanzmärkten bei.« – »Der große Teil der deutschen Unternehmer und der angestellten Manager leistet hervorragende Arbeit«, oder: »Die Bevölkerung (sollte) in den nächsten Jahren Schritt für Schritt für den Kapitalmarkt zurückgewonnen werden.« Vor einigen Wochen waren solche schlichten Be- und Erkenntnisse genauso falsch, wie sie es heute sind, aber sie wären nicht nur in der Wirtschaftspresse bejubelt worden. Doch zwischen Manuskriptabgabe und Erscheinen des Buches änderte sich zwar nicht die Welt, wohl aber die Interpretation der Welt. Nur der sonst so ungeliebte Staat, so heißt es nun, könne das Vertrauen wiederherstellen, das die Banken untereinander verloren haben. Als der
an hat zigmal davon gehört und mag es dennoch kaum glauben: In den USA gibt es mehr Gotteshäuser pro Einwohner als in jedem anderen Land der Welt – durchschnittlich eines auf 865 Bürger. Und diese Kirchen sind keine musealen Relikte vergangener Tage, sondern Woche für Woche gut besuchte, wenn nicht überlaufene Treffpunkte einer verwirrenden Vielzahl von Glaubensgemeinschaften. Der mit religiöser Literatur erzielte Jahresumsatz wird auf zwei Milliarden Dollar geschätzt, Tendenz steigend. Repräsentativen Umfragen zufolge glauben 96 Prozent aller Amerikaner an Gott und 55 Millionen oder knapp 20 Prozent der Bevölkerung an Endzeitprophezeiungen. »Amerika ist eine Nation mit der Seele einer Kirche«, hat der englische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton vor knapp hundert Jahren treffend angemerkt. Wer dieses Land, seine Gesellschaft und Politik verstehen will, sollte tunlichst den europäischen Merksatz vergessen, dem zufolge Moderne und Säkularisierung zwei Seiten derselben Entwicklung sind. Jenseits des Atlantiks gilt das Gegenteil: Amerika ist nicht trotz, sondern wegen seiner Religiosität zum Taktgeber der westlichen Moderne geworden. Warum dem so ist, diskutiert Matthias Rüb, Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Washington, in seinem neuen Buch. Frei von europäischen Vorurteilen und immun gegen amerikanische Selbstgefälligkeiten, kartiert Rüb in zwölf eindrucksvollen Reportagen das religiöse Terrain, von den »Megakirchen« der Evangelikalen in Los Angeles über die Mormonenhochburg Utah und die alte Autostadt Dearborn, die heute mehrheitlich von Schiiten bewohnt wird, bis nach Kiryas Joel, einem »Schtetl« für 20 000 chassidische Juden im Staat New York. Aus der Fülle anregender und präzise vorgetragener Beobachtungen zu Geschichte und Gegenwart verdienen zwei Hinweise besondere Beachtung. Zum einen konstatiert Rüb eine schleichende Aus-
höhlung des ersten Zusatzartikels zur Verfassung, wonach Staat und Kirche strikt voneinander zu trennen sind. Gerade die Glaubensgemeinschaften mit den größten Zuwachsraten, Evangelikale und Mormonen, greifen nach einer Domäne, die bisher vom Staat oder von Privaten jenseits weltanschaulicher Dogmen alimentiert wurde: Bildung und Ausbildung. Allein die »Liberty University« in Virginia, eine Gründung von Evangelikalen, bietet 28 000 Studenten ein vollständiges akademisches Curriculum und hat mittlerweile 120 000 »Kader« ins Berufsleben entlassen. Selbstverständlich ist es zu früh, über Konsequenzen zu spekulieren. Unstrittig Matthias Rüb: Gott scheint indes, dass ein von regiert Amerika den Gründungsvätern sorgReligion und sam austariertes System aus Politik in den USA; der Balance gerät und zu Zsolnay Verlag, kippen droht. Wien 2008; Zweitens lädt Matthias 207 S., 17,90 € Rüb dazu ein, den politischen Implikationen amerikanischer Religiosität mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Gewiss lassen sich die unterschiedlichen Denominationen nicht über einen Kamm scheren. Gleichermaßen gilt, dass auf den ersten Blick monolithische Dogmen für multiple politische Deutungen stets offen waren. Neu ist indes, dass sich die amerikanische Gesellschaft mit ihrem weltpolitischen Bedeutungsverlust, wenn nicht unhintergehbarem Niedergang auseinandersetzen muss. Was bedeutet in diesem Zusammenhang die von allen Glaubensrichtungen geteilte, in den letzten Jahren wieder mit Inbrunst vorgetragene Überzeugung, Teil einer von Gott auserwählten Nation und im Zweifel zu einem Entscheidungskampf zwischen Gut und Böse aufgerufen zu sein? Diese Frage bleibt, egal, wer am 4. November die Wahl gewinnt. Und sie stellt sich umso mehr angesichts des Umstandes, dass Amerika historisch nicht nur einen Sonderweg beschritten hat, sondern sich auf diesem Weg immer weiter vom Rest der Welt abzusondern scheint.
Foto (Ausschnitt): Nina Berman/Redux/laif (evangelikaler Gottesdienst, Louisville/Kentucky)
Matthias Rüb erkundet in eindrucksvollen Reportagen das religiöse Leben in den Vereinigten Staaten VON BERND GREINER
IM GEBET in einer Christian Church Amerikas
mit Gloriolen versehene einstige wirtschafts- und finanzpolitische Hoffnungsträger der Union seine Streitschrift Mehr Kapitalismus wagen vorstellte, wirkte er wie ein tragikomischer Prophet, der als Einziger noch nicht bemerkt hatte, dass seine Botschaft von der Überlegenheit des entfesselten Kapitalismus gerade durch die Wirklichkeit widerlegt worden war. Die Kanzlerin und ihr Finanzminister warben, unterstützt von einer ganz großen Koalition aus Parteien, Managern, Journalisten und anderen Welterklärern, um Zustimmung für das 500 Milliarden Euro schwere Programm, mit dem der Staat wieder in Fahrt bringen soll, was der Markt und seine Akteure Friedrich Merz: Mehr gegen die Wand gefahKapitalismus wagen ren haben, und das eiWege zu einer nem Blankoscheck zur gerechten GesellVergesellschaftung der schaft; Piper Verlag, Bankenverluste gleichMünchen/Zürich kommt. Plötzlich und 2008; 216 S., 19,90 € unerwartet stand Friedrich Merz mit seinem auf 216 Seiten ausgebreiteten Mantra des Neoliberalismus allein da. Dabei hatten sie doch bis weit in die SPD hinein das Hohelied der Privatisierung mitgesungen, verkündet, dass der Markt gut, Staatsinterventionen schlecht seien, der Sozialstaat seine Grenzen überschritten habe. Zwar war nicht jeder wie Merz der Meinung, dass Pensionsfonds, die mit riskanten Anlagen spekulieren, eine vorbildhafte Erfindung seien oder dass das Gesundheitswesen dereguliert und die Solidargemeinschaft der Krankenkassen aufgekündigt werden sollte, doch der neue und abrupte staatsinterventionistische Konsens stimmt skeptisch, und vieles spricht dafür, dass die Marktradikalen angesichts der Wucht und des Ausmaßes der Krise erst einmal auf Tauchstation gegangen sind, aber jetzt schon den Zeitpunkt herbeifiebern, an dem sie fortsetzen können, was sie unterbrochen haben. Wer wissen will, was die Freunde des ungebremsten Kapitalismus noch alles im Köcher haben, sollte das Pamphlet von Friedrich Merz unbedingt lesen. HERMANN THEISSEN
AUS POLITISCHEN ZEITSCHRIFTEN
Wie weiß ist Schwarz? Nikol Alexander-Floyd zeigt, wie rassistische Stereotype in der amerikanischen Gesellschaft fortwirken
Ein Schwarzer ins Weiße Haus? Der Ausgang der amerikanischen Präsidentschaftswahlen wird am Ende davon abhängen, wie viele Wähler, allein in ihrer Wahlzelle, vor dieser Konsequenz ihrer Stimmabgabe zurückschrecken. Im Voraus lässt sich das so wenig berechnen wie nachher beweisen. Zwar vermuten Meinungsforscher, die Zustimmung für Barack Obama würde um sechs Prozent höher ausfallen, wäre er ein Weißer. Aber wie viele, von der kleinen Minderheit hartgesottener Rassisten abgesehen, würden sich offen dazu bekennen? In den Umfragen vor der Wahl lag Obama mit kaum mehr als sechs Prozent vor seinem Rivalen McCain. Wie sehr in der amerikanischen Gesellschaft alte Stereotype rassischer Besonderheit bei der subjektiven Einordnung von Führungsgestalten schwarzer Hautfarbe fortwirken, zeigt am Beispiel der schwarzen US-Außenministerin ein Aufsatz in der September-Ausgabe der amerikanischen Zeitschrift Politics&Gender. Sein etwas gestelzter Titel: Framing Condi(licious): Condoleezza Rice and the Storyline of »Closeness« in U.S. National Community Formation. Die Kernthese seiner Autorin Nikol G. AlexanderFloyd, Professorin an der Rutgers-Universität in New Jersey: Selbst eine so erfolgreiche und moderne Persönlichkeit wie Rice bleibt in die Schubladen rassischer Vorurteile gepresst. Gesellschaftlich integriert ist sie nicht wegen ihrer selbst, sondern weil sie gleichsam zur Familie Bush zählt, wie weiland die Schwarzen auf den Plantagen des amerikanischen Südens zur Großfamilie weißer Gutsherren. Drei Stereotypen schwarzer weiblicher Identität klopft sie danach ab, ob sie in der Gestalt von Rice ein Echo in der öffentlichen Darstellung finden: die Mammy, jene gut- und großmütige Hausmutti weißer Herrschaften, bekannt aus Filmen wie Vom Winde verweht; die Matriarchin als Chefin der schwarzen Single-Familie, die ihre Brut mit Hartnäckigkeit und Schläue zusammenhält und durchbringt; schließlich die sexuell ungehemmte Verführerin. Alle drei, argumentiert Alexander-Floyd, schillerten auf die eine oder andere Weise in der Behandlung durch, die auch der früheren Nationalen Sicherheitsberaterin und heutigen Außenministerin der Regierung Bush zuteil wird, exemplifiziert an den abendlichen Spaß- und Spottsendungen des Fernsehens wie in politischen Karikaturen der Presse. An Beispielen fehlt es ihr nicht. Da wiegt in einer Karikatur Rice jene Aluminiumrohre auf dem Schoß, die einmal die Existenz irakischer Massenvernichtungswaffen suggerieren sollten,
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und spricht in der Wortblase im Tonfall der schwarzen Unterklasse des amerikanischen Südens. In einer anderen tritt sie auf als Chefin, die einem tumben Bush die Richtung vorgibt. Und je weniger über ihr Liebesleben bekannt ist, desto weniger können TV-Spaßmacher wie Jay Leno oder David Letterman sich dazu zotige Anspielungen untersagen. Wenn Condoleezza Rice dennoch von vielen, zumal unter Konservativen, als Inbild des Amerikanischen Traums von einer Gesellschaft gesehen wird, in der Unterschiede des Geschlechts und der Rasse verschwunden sind, dann läge das nicht etwa an der Überwindung dieser Stereotypen als vielmehr an der Nähe zu ihrem Präsidenten. Diese Nähe sei der Grund, warum die intelligente, unverheiratete, kinderlose und durchsetzungsstarke schwarze Frau nicht als Herausforderung traditioneller Wertvorstellungen empfunden werde. Als schwarze Dienerin weißer Macht werde Rice vielmehr nahtlos in die Tradition eines auf Geschlecht und Rasse bezogenen weißen Paternalismus eingeordnet: Die Nähe zu Weiß macht weniger schwarz. Der Amerikanische Traum werde so durch Rice gleichermaßen bestätigt und infrage gestellt. Was bedeutet das für die Chancen Barack Obamas in den Wahlkabinen Anfang November? Die Verführer des Unterbewusstseins sind auch gegen ihn in Stellung gegangen – und werden durch die skrupellose Polemik der letzten Wahlkampfwochen weiter ermuntert. Amerikanische Freunde versichern, sie empfänden den Kandidaten nicht wirklich als schwarz. Aber, wie Professor Alexander-Floyd darlegt, gewachsene Stereotype leben lange. Gewinnt Obama, dann wäre das ein Triumph über die dumpfe Last der alten Vorurteile, der Amerika zu Hause und in der Welt zur Ehre gereichte. Verliert er aber, werden viele, zumal unter der schwarzen Wählerschaft, dies vornehmlich jenen Vorurteilen anlasten. CHRISTOPH BERTRAM VON ZEIT-MITARBEITERN
Volker Ullrich: Der Kreisauer Kreis Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008; 160 S., 8,95 €
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Kinder- und Jugendbuch
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Vierundvierzig winzige Reiskörner Über das Einfangen, das Loslassen und die Liebe zu unseren Großmüttern – ein Gedicht in Bildern
Großes Rätsel um ein kleines Loch
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Ein trickreiches Pappbilderbuch für die ganz Kleinen
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ate, rate, was ist das, es ist kein Fuchs, es ist kein Has’ …« Es ist ein kleines Loch, das wissen wir von Anfang an. Nur wo es hingehört, wohin es führt, das sind die großen Fragen in der Geschichte vom kleinen Loch. Isabel Pin hat für ihr neuestes Buch das bekannte Rätselspiel abgewandelt. Und dann holt sie weit aus: Die Geschichte beginnt auf einem Planeten. Ein Astronaut und sein Hund schauen in einen Krater. Auf dessen Grund, durch alle Buchseiten hindurchgeschnitten, ist es zu sehen: das kleine Loch. Es ist nicht so groß wie ein Vulkan, ist auch nicht das Loch im Eis, das Eskimo, Eisbär und Pinguin gespannt beobachten, nicht ein Erdloch und auch nicht das Loch, das auf dem Zeichenblatt durchradiert wurde. Wir kommen, Seite um Seite, schon deutlich näher, bis ins eigene Zuhause: Der Abfluss der Badewanne,
das Loch im Käse, das Schlüsselloch, das Loch in der Hose, all das ist auch nicht gemeint. Wir können das Rätsel nicht lösen, schlagen die letzte Seite auf und sehen, die Lösung liegt ganz nahe. »In meinen Illustrationen versuche ich, mich ganz auf die Erzählung im Bild und im Text zu konzentrieren. Mir ist das Erzählen wichtiger als das Malen und Zeichnen«, sagt die französische Zeichnerin, 1975 in Versailles geboren und heute in Berlin zu Hause. In eigenwilligen Perspektiven, mit Liebe zum Detail sind die Bilder ausgeführt. Figuren und Gegenstände haben viel Platz. Weniges ist abgebildet, dadurch konzentriert sich die Geschichte. Und doch bleibt Raum für kleine bildliche Nebengeschichten, die den vorlesenden Erwachsenen Spaß machen können: Wie kommt es, dass sich Eisbär und Pinguin am Eisloch treffen? Oder: Da steht sie ja, die hochmütige Rose, die der Kleine Prinz beim Abschied von
seinem Stern noch fürsorglich mit einer Glashaube abgedeckt hatte. Isabel Pin hat ein Buch für ganz kleine Kinder erdacht. Eine einfache, kurze Geschichte, ausdrucksstark gestaltet, die oft angesehen und vorgelesen werden kann. Zwei- bis Dreijährige lieben Wiederholungen. Gespannt verfolgen sie die Geschichte bis zur Lösung des Rätsels und freuen sich dann auch daran, dass sie die schon längst kennen. Die Aufmachung in kartonierten Seiten, mit dem Krater, der durch die Seiten geschnitten ist, zeigt sich robust genug, Kindern dieses Alters standzuhalten. Die Geschichte vom kleinen Loch hat das Zeug zum Lieblingsbuch auf dem allerersten Bücherregal. KARL-HEINZ BEHR Isabel Pin: Die Geschichte vom kleinen Loch Bajazzo Verlag, Zürich 2008; 24 S., Pappband, 14,90 € (ab 2 Jahren)
eine Großmutter hat ein schwarzes Kopftuch. Darin hat sie einmal den Wind eingefangen. Und zwei Eier und ein Huhn und eine mittelgroße Kuh.« So spricht das Kind. In ein großmütterliches Kopftuch passt freilich noch mehr, ein kleiner Sturm zum Beispiel und vierundvierzig winzige Reiskörner, genau genommen sogar ein ganzes Leben. Und als die greise Heldin aus Heinz Janischs und Aljoscha Blaus Bilderbuch Das Kopftuch meiner Großmutter alles eingefangen hat, was man mit bloßem Kopftuch eben einfangen kann, lässt sie, zack, los. Das Kopftuch flattert im Wind, und alle Dinge fliegen davon: der kleine Sturm zum Beispiel und die vierundvierzig winzigen Reiskörner. Zum Schluss hat die Großmutter nur noch »das schöne Gesicht mit den freundlichen Augen«. Nach Rote Wangen und Der Ritt auf dem Seepferd ist Das Kopftuch meiner Großmutter die dritte Gemeinschaftsarbeit von Janisch und Blau, und sie kommt wesentlich stiller daher als ihre beiden Vorgänger, zurückgenommen in Text und Bild, kleinformatig und nur hier und da zart koloriert. Das Bilderbuch ist deshalb nicht minder geglückt, im Gegenteil: Lyrisch und filigran gestaltet es die linde Wucht der Liebe, mit der ein Junge an seine Großmutter und ihr Leben denkt – Momente, die er durch die Erzählung mit ihr geteilt hat. Als Text dient ein Gedicht des österreichischen Kinder- und Jugendbuchautors Heinz Janisch, Jahrgang 1960. Es stammt aus seinem Gedichtband Ich schenk dir einen Ton aus meinem Saxofon, und die Tatsache, dass es sich dabei um einen freirhythmischen Text handelt, ist überaus erfreulich. Schließlich folgt die deutschsprachige Kinderlyrik – obwohl seit den siebziger Jahren formal und thematisch teilweise gelockert – auch heute noch hauptsächlich traditionellen Schemata. Was für ein Glück also, dass der Bajazzo Verlag Janischs
wunderschöne Verse in seine Reihe illustrierter Einzelgedichte aufgenommen hat. Die Bilder des 1972 in Leningrad geborenen und heute in Hamburg lebenden Illustrators Aljoscha Blau, die ebenso freirhythmisch anmuten wie Janischs Text, gestatten dem jungen Leser ein langsames Durchwandern des allegorischen Gedichts. Da werden das Kopftuch der Großmutter und die eingefangenen Lebensmomente Sternenhimmelsstoff, da fliegen Kühe, Hühner und Brautpaare durch die Luft – Erinnerungen an Chagalls Zauberwelten werden wach. Blaus Bilder machen sichtbar, aber erklären nichts, weder das Gedicht noch sich selbst. Und so bleiben am Ende eine kleine schöne Rätselhaftigkeit und fernerhin die Ahnung, dass im Leben nicht viel mehr zählt als dies: einfangen, loslassen und irgendwann, vielleicht, ein Gesicht haben. SUSANNE KRELLER Heinz Janisch/Aljoscha Blau (Ill.): Das Kopftuch meiner Großmutter Bajazzo Verlag, Zürich 2008; 32 S., 9,90 € (ab 5 Jahren)
Auf den Grachten von Amsterdam Die Jury von ZEIT und Radio Bremen stellt vor: Peter van Gestels Roman über das Ende der Kindheit und einen langen Winter voller Schmerzen und kleiner Seligkeiten
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ebruar 1947: Es ist kalt in Amsterdam. Auf seinen Eltern und einer Erklärung. Wir ahnen: Er den zugefrorenen Grachten liegt »Schnee von wird immer rastlos bleiben. Zwaans Cousine Bet ist vierzehn. Auch ihr früher, der nicht schmelzen will« – dies das vorangestellte Motto. Durch den kalten Nachkriegs- Vater wurde ermordet. Die Mutter, keine Jüdin, winter taumeln drei Kinder, magere Gestalten, und lebt zwar, ob sie aber die Trauer und Schuldgetreffen auf dem Eis der Grachten aufeinander. Tho- fühle überlebt, scheint lange fraglich. Das Mädmas ist der Erzähler in Peter van Gestels Wintereis, chen selbst flüchtet in einen rigorosen Ordnungssinn. Weil die Erwachsenen mit seine Mutter starb kurz nach Kriegssich selbst beschäftigt sind, mit ende an Typhus. Der Vater schreibt, Schuld, Trauer, Verdrängen, bleizumindest nachts, tagsüber versucht ben die Kinder auf sich gestellt. Sie er, Geld zu verdienen für Kohlen, brauchen lange, um einander näherBrot und Kleidung – was ihm nicht zukommen, lassen sich Zeit, forleichtfällt: »Er ist und bleibt ein dern sich aber auch heraus. IrgendSchlamper, mein Vater.« Und so verwann ist es so weit: Thomas spricht fangen ist er in der eigenen Trauer, über seine tote Mutter, Zwaan über dass er den Sohn oft gar nicht wahrseine Eltern: »Sie sind ermordet nimmt. Der zweite Junge heißt Piet wurde ausgewählt von Gabi worden, weil sie mehr als zwei jüdiZwaan, ist zwölf Jahre alt wie der Bauer, Marion Gerhard, Franz sche Großeltern hatten.« Und Bet Erzähler und Jude. Fünf Jahre lang Lettner, Hilde Elisabeth Menzel zeigt Bilder her von fröhlich lachenlebte er versteckt auf einem Dach- und Konrad Heidkamp. Am den Menschen. Die alle tot sind. 30. Oktober, 16.40 Uhr, stellt Wintereis spielt im Zentrum boden bei Freunden der Eltern auf Radio Bremen-Funkhaus Eurodem Land. Die Eltern wurden von pa das Buch vor (Redaktion: Amsterdams, bald sind wir zu Hauden Deutschen verschleppt und er- Libuse Cerna). Das Gespräch se in den Grachten und Straßen Buch ist abrufbar im Interrund um die Weteringschans, lermordet. Verloren steht Zwaan im zum net unter www.radiobremen.de nen langsam auch das Geheimnis für ihn viel zu großen Stadtraum, oder /podcast/luchs um das Haus in der Den Texstraat auf der Suche nach einem Bild von
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kennen, in dem unsere Helden in einem früheren glücklichen Leben vor dem Krieg aufeinandergetroffen sind: Keiner kann oder will sich recht erinnern. Es gibt aber auch normales Leben in diesem kalten Winter, und wie Gestel davon erzählt, das sorgt dafür, dass dieses große Buch vom Schweigen nicht nur berührt und verstört. Die Rutschpartien auf dem Grachteneis – eine gelungene Metapher auch für die rutschige Zeit der beginnenden Pubertät – schaffen Gelegenheit für komische Szenen; die Dialoge zwischen Vater und Sohn und die Gespräche der Freunde sprühen vor klugem Witz. Das liegt vor allem an der Gestaltung der Erzählerfigur, eines Gassenjungen mit zerschrammten Knien. Hinter Thomas’ ungehobelter Rede verbirgt sich eine charmante Intelligenz. Und sinnliche Lebensfreude: Er wird »verrückt vor Seligkeit«, wenn Bet eins seiner Ohren berührt, zittert vor Vergnügen, wenn im Kino die Vorhänge zur Seite schweben und »schielt wie ein Otter vor lauter Glückseligkeit«, wenn er mit den immer dreckigen Füße in einer Schüssel heißen Wassers steht. Das wärmt auch uns. Der niederländische Romancier Peter van Gestel, Jahrgang 1937, hat ein wunderbares Buch über ein schwebendes Dazwischen geschrieben. Seine Figuren stehen zwischen Krieg und Frieden, Abgrund und festem Boden, Kindheit und Jugend.
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Mirjam Pressler hat der sehr eigenen Sprache, die den Text in Spannung hält und zum Vibrieren bringt, ihre entsprechende deutsche Form gegeben. Und am Ende taut es. Auch wenn die drei nicht länger beieinander bleiben können. Das hat sich ja schon vorher angekündigt, in einer Szene voller Zauber: Noch während Thomas mit Zwaan und Bet in einer kalten Nacht ein Bett teilt, denkt
er sich schon in die Zukunft, und er weiß: »Ich hatte Heimweh nach den dreien dort im Bett.« Wenn das Wintereis geschmolzen ist, bleibt die Erinnerung. FRANZ LETTNER Peter van Gestel: Wintereis A. d. Niederl. von Mirjam Pressler; Beltz & Gelberg, Weinheim 2008; 333 S., 17,90 € (ab 12 Jahren)
Die LUCHS-Jury empfiehlt außerdem Yves Coppens: Der Ursprung des Menschen Mit Bildern von Sacha Gepner; aus dem Französischen von Ilse Rothfuß; Hanser, München 2008; 64 S., 17,90 € Zum Darwin-Jahr die Evolution für die ganze Familie: Der französische Paläontologe erzählt die Geschichte des Menschen vom Urknall bis zum Homo sapiens, und Sacha Gepner hat dazu betörend schöne Bilder gemalt. (für alle) Hans Hagen: Die Nacht der Trommler mit Illustrationen von Tobias Krejtschi Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer; Peter Hammer Verlag, Wuppertal; 96 S. 11,– €
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Sechs neue Trommeln, sechs Kinder, die sie schlagen wollen und ein alter Meister, der zu jeder Trommel eine Geschichte zu erzählen weiß. Tobias Krejtschi versetzt den Leser mit seinen Illustrationen mitten hinein in eine afrikanische Nacht. (ab 9 Jahren) Sabine Jaeger/Hermann Schulz: Schmeckt’s? Alles übers Essen. Mit Zeichnungen von Jörg Mühle Sauerländer Verlag, Düsseldorf 2008; 144 S., 12,90 € Hier finden wir Antworten auf viele Fragen rund um das große Thema Essen in einer globalisierten Welt. Eine spannende Informationsquelle für Kinder (ab 11 Jahren und für die ganze Familie)
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Kaleidoskop
30. Oktober 2008 DIE ZEIT Nr. 45
VOM STAPEL Foto: Karel Cudlin für DIE ZEIT; kl. Foto u. aus: »Franz Kafka. Aus Prager Sicht«; Verlag der tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, 1965
GEDICHT: KATHARINA HACKER
im Oktober die Farbe platzt ab von den Augen während der Tag überm Dach den Wind antreibt und Geruch nach Weihrauch aus einem Gebüsch steigt Bussardrufe unablässig tönen und Flugzeuge aller Arten Passanten sind hier überall promenieren wie in der Stadt Hunde voran und leichtes Schuhwerk an den Füßen während die Landschaft sich vernutzt unter den täglichen Blicken werden die Farben von Tag zu Tag kühner platzen ab von den Augen Katharina Hacker: Überlandleitung Prosagedichte; Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007; 112 S., 12,80 €
KRITIK IN KÜRZE: VOLKER ULLRICH
DAS SCHLOSS IN LIBLICE, eine Autostunde nordöstlich von Prag gelegen
Kafka kam nach Liblice
Radeks Kurierin
Deutsche und tschechische Intellektuelle diskutierten über den Beginn des Prager Frühlings
Was für ein Leben! Bereits mit 16 Jahren freundet sich Lotte Kornfeld, Tochter aus gutbürgerlich-jüdischer Familie in Berlin, mit dem russischen Revolutionär Karl Radek an, der nach Beginn des Ersten Weltkriegs in die Schweiz zieht. Sie übernimmt Kurierdienste für ihn, befördert Briefe in die revolutionären Zentren der deutschen Arbeiterbewegung, auch nach Bremen, wo sie den führenden Kopf der sogenannten Linksradikalen, Johann Knief, kennen- und lieben lernt. Gemeinsam geben sie die Arbeiterpolitik heraus, das wichtigste Organ der Linken im Weltkrieg. Im April 1917 müssen sie vor dem Zugriff der Politischen Polizei fliehen; im Januar 1918 werden sie in München verhaftet. Am 9. November 1918 kommen sie frei und stürzen sich in die revolutionäre Bewegung, die gerade in Bremen hohe Wellen schlägt. Karin Kuckuck hat in mühevoller Recherche die Biografie der Lotte Kornfeld der Vergessenheit entrissen und ihr damit ein Denkmal gesetzt.
önnen Dichter die Welt verändern? Jedenfalls hat Kafka das 1963 in Liblice getan. Weil das leicht gesagt und schwer zu erklären ist, hat sich vor einigen Tagen eine Gruppe von deutschen und tschechischen Intellektuellen in diesem prachtvollen Barockschloss nordöstlich von Prag getroffen, um zu rekonstruieren und zu diskutieren, was damals passiert ist. Es war nämlich der Anfang jenes Dammbruchs, der im Prager Frühling 1968 die ersten Bastionen wegspülte und 1989 ein ganzes Imperium. Was hat Kafka damit zu tun? Er war doch nur ein Dichter, stammte aus Prag, schrieb auf Deutsch, war Jude, hatte erst den österreichischen Pass und nach 1918 den tschechoslowakischen. 1938, als die Deutschen das Land besetzten, war er längst gestorben (1924), seine Bücher wurden verboten, und später setzten die Kommunisten die Repression mit anderen Mitteln fort. Erst 1965 konnte eine Übersetzung des Process-Romans erscheinen, und die Schriftstellerin Alena Wagnerová erinnerte sich daran, wie ihr als junger Frau der Name Kafka zugeflüstert wurde. Als sie dann zum ersten Mal den berühmten Anfang des Processes las: »Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eine Morgens verhaftet«, fand sie das, was da beschrieben wurde, »völlig normal«, es war ihr und allen, die das lasen, aus den stalinistischen Prozessen vertraut, »nur hatte es noch niemand aufgeschrieben«. So begann die politische Wirkung eines unpolitischen Autors. Nun gut, aber was hat es mit diesem Liblice auf sich? Zuallererst mussten sich die Deutschen, die gerne italienisch artikulierten, sagen lassen, dass das Wort auf der ersten Silbe betont und dass das »c« wie »z« ausgesprochen wird. Dann, dass dieses nach 1945 enteignete Schloss in den Besitz der Akademie der Wissenschaften kam. Drittens, dass einige Germanisten aus der Akademie, darunter der berühmte Eduard Goldstücker, auf die Idee kamen, zum 80. Geburtstag des Dichters eine Tagung zu veranstalten. Zu der wurden auch namhafte Schriftsteller und Wissenschaftler aus der DDR und aus Österreich eingeladen. Anna Seghers zum Beispiel war auch dabei, aber sie hat sich nicht zu Wort gemeldet, vermutlich weil sie wusste, wie heikel der Fall Kafka war. 1962 hatte Sartre eine Rede über Kafka gehalten, die dann in der DDR-Zeitschrift
Karin Kuckuck: Im Schatten der Revolution Lotte Kornfeld (1896–1974). Biografie einer Vergessenen; Donat Verlag, Bremen 2008; 180 S., Abb., 12,80 €
Tödliches Virus Es begann im März 1918 in Kansas/USA: Schüler erkrankten an einer bisher unbekannten Grippe. Über Truppenschiffe gelangte der Erreger nach Europa. Bald waren alle Armeen an der Westfront betroffen und schließlich viele Regionen in der ganzen Welt. Im Herbst 1918 erreichte die Pandemie ihren Höhepunkt. 300 000 Tote allein im Deutschen Reich, weltweit bis zu 50 Millionen – so lautete die Bilanz der »Spanischen Grippe«, so genannt, weil der spanische König als einer der Ersten erkrankte. Wilfried Witte, Historiker und Arzt in Berlin, hat die Geschichte der verheerendsten Grippeepidemie der Moderne erzählt und ist dabei auf manche Merkwürdigkeit gestoßen. Wilfried Witte: Tollkirschen und Quarantäne Die Geschichte der Spanischen Grippe; Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008; 125 S., 16,90 €
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Sinn und Form abgedruckt wurde, was schließlich dazu führte, dass deren Chefredakteur Peter Huchel gehen musste. Es war Walter Ulbricht, der die Konferenz in Liblice als den Beginn des Abfalls vom wahren sozialistischen Weg bezeichnete, um die Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Truppen des Warschauer Pakts zu rechtfertigen. Seitdem gilt »Liblice« als Symbol für die kleine Macht, die der Geist gegen die große Macht trotz allem besitzt. Und das war der Grund, weshalb Roland Reuß und Peter Staengle, in deren Institut für Textkritik die neue Kafka-Ausgabe erarbeitet wird, diese Tagung mit dem Titel Kafka und die Macht organisiert hatten, unterstützt von tschechischen Institutionen sowie der Kulturstiftung des Bundes. Es entsteht nun aber, wenn man die Historie derart entspannt und vermutlich fehlerhaft resümiert, der Eindruck eines abgeschlossenen Kapitels. Nichts aber ist jemals wirklich abgeschlossen, und schon gar nicht sind es die wahrhaft
1963: Eduard Goldstücker und Anna Seghers
entsetzlichen Untaten, die in Namen des Kommunismus wie des Nationalsozialismus begangen wurden. Sie kamen auf dieser Tagung mit Urgewalt wieder hoch. Der Journalist und Kritiker Alexej Kusák, inzwischen 80 Jahre alt, zog seinen Judenstern hervor, zeigte ihn der Versammlung und berichtete, wie er als Kind Tag für Tag seinen Verwandten beim Packen half. Es hieß, man werde nach Polen reisen, und die Tante nahm ihr Abendkleid mit, weil sie dachte, im eleganten Polen werde sie darin einen guten Auftritt haben. Kusák erzählte, wie eigentlich er die Idee zu dieser Tagung gehabt habe und wie er sich gegen
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den opportunistischen Goldstücker habe durchsetzen müssen. Da brach nun der Protest anderer Zeitzeugen los, und alles war wieder da, die Erinnerung an den fortdauernden Antisemitismus, wie er in den Slánský-Prozessen von 1952 hervorgebrochen war, die Erinnerung an eine Zeit, da ein falsches Wort den Tod bedeuten konnte, und der alte ideologische Streit tobte unter neuen Vorzeichen. War nicht die Konferenz von 1963 lediglich eine Kontroverse unter Kommunisten, und ist nicht die Idee eines »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« bestenfalls eine schöne Selbsttäuschung? Und ist das der Grund, weshalb der Prager Frühling im neoliberalen Tschechien von heute keine Rolle zu spielen scheint? Was den 2000 verstorbenen Goldstücker betrifft, Mitglied der tschechoslowakischen Exilregierung: Er war 1951 wegen Hochverrats verurteilt worden, hatte den Schock der Wiederbegegnung mit dem Antisemitismus erlebt und nach seiner Rehabilitierung jeden Grund zur Vorsicht. Auf einmal sah es so aus, als wäre die LibliceKonferenz nichts anderes gewesen als eine versteckte Stalinismus-Debatte, in der die Antisemitismus-Debatte versteckt war, auf einmal schien diese Erinnerungskonferenz zur schieren Wiederholung verdammt. Jemand äußerte den Verdacht, man sitze dem Verdacht der Geheimdienste auf, wenn man Liblice eine derart politische Bedeutung zumesse, und ein anderer entgegnete: Liblice habe diese Bedeutung in jedem Fall, gleichgültig, aus welcher Wurzel sie stamme. Währenddessen hatte sich draußen ein dichter Nebel übers Schloss gesenkt. Wie ein Raumschiff aus einer ferner Welt lag es da, perfekt restauriert mit Mitteln der EU, und wer sich bei einem Spaziergang den Kopf frei machen wollte, atmete den vertrauten Ostblock-Smog, wie er noch immer aus Braunkohleöfen übers Land schwebt, und er sah die Tristesse dieses Dörfchens, das aussah, als würde die alte Zeit nie vergehen können. Aber Kafka! Roland Reuß erhob ärgerlich Einspruch und sagte, die politische Interpretation des Processes sei eindimensional. Zeige nicht der Roman, dass Josef K. eine höchst ambivalente Figur sei, keineswegs nur ein Opfer? Ja, stimmte man ihm zu, schon wahr, aber das gelte auch für jene Heroen, die damals mit Kafka den Aufstand geprobt hätten. Plötzlich sah man, wie politisch seine Texte sind, vielleicht gerade deshalb, weil sie mit Politik gar nichts zu tun haben.
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Blaues Blut URSULA MÄRZ über Herrn von Schönburgs hochmögende Bemerkungen zur Zukunft der Monarchie
Mal angenommen, die Deutschen könnten sich einen König nach Wunsch backen, dann käme er garantiert nicht aus dem Kreis jener Vertreter des Hochadels, die dem Vernehmen nach anwesend waren, als Alexander von Schönburg jüngst in Berlin sein neues Buch Alles, was Sie schon immer über Könige wissen wollten, aber nicht zu fragen wagten (Rowohlt Berlin;
270 S., 17,90 €) vorstellte. Er käme auch nicht aus dem Geschlecht der Hohenzollern. Und noch weniger käme er aus jenen Adelsfamilien, die eine innige Beziehung, sexualmoralischer oder hemdsärmliger Art, zum Kontinent Afrika pflegen. Unser König wäre weder in Regensburg noch in Hannover zu Hause. Er müsste, wie gesagt, erst gebacken werden. Denn er wäre ein Hybrid: Ein Drittel Günther Jauch. Ein Drittel Wolfgang Joop. Ein Drittel Thomas Dörflein. Dies ist symbolisch zu verstehen, da der beliebte Tierpfleger ja nicht mehr am Leben ist. Aber die Mischung käme hin. PotsdamGlamour plus mediengemäßer Intelligenz plus altruistischer Herzensgüte. Gar nicht so übel. Nur wäre es halt ein König, der mit der Idee des Königtums nichts zu tun hat. Der tiefere Sinn der Monarchie ist es ja gerade, dass sie sich als absolute, souveräne Einrichtung gegen das wechselnde Personal behauptet, welches sie jeweils ausfüllt. Könige werden nicht nach Wunsch gebacken. Sie kommen an die Reihe, bis der Nächste an die Reihe kommt. Deswegen käme auch der Tatort-Kommissar Peter Sodann nicht infrage, sollte er das Bundespräsidentenamt verpassen. Diese Zusammenhänge klärt Alexander von Schönburg in seinen kenntnisreichen Ausführungen zu Theorie und Geschichte der Monarchie. Allein: Um das Paradox der gegenwärtigen Lage der Monarchie kommt der Autor nicht herum. Denn auch wenn es rundum von Schweden bis Spanien Königshäuser gibt, ist die Idee eines Königtums, das vom individuellen König getrennt zu denken ist, nun mal passé. Das weiß der Autor auch. Deswegen hat er auch ein Buch geschrieben, das auf galante Art zwischen historischem Essay und gehobenem Yellow-Press-Futter zwittert. Stilistisch ist von Schönburg, der die Kunst des luftig-leichten Parlierens schlichtweg im Blut hat, hier auf seiner Höhe. Aber letztlich ist es gerade der Charme dieses mit dem Unterton süffisanter Ironie durchweg kokettierenden Stils, der den Gegenstand des Buches ins Zwielicht bringt. Man weiß als Leser nie so genau, wie Herr von Schönburg es eigentlich meint. Macht er sich über die Royals und ihre Storys lustig? Oder zieht er in vollem Ernst den Hut vor der Langlebigkeit der Institution? Wahrscheinlich beides. Nur ist dies gerade das Problem. Vom Kern der Institution bleibt nicht allzu viel übrig, wenn die royalen Protagonisten sich mit der Ausbreitung ihrer Privatstorys allzu sehr in den Vordergrund drängen dürfen. Ein Buch übers Königtum dürfte – ganz streng genommen – keines sein, in dem Alexander von Schönburg ausplaudert, wie es war und was er erlebte, was er anhatte, was er trank, wie er um Blamagen herumkam oder mitten in sie hineingeriet, wenn er im Lauf seines Lebens hie und da bei den Höfen dieser Erde selbst zu Gast war. Nächste Woche erscheint an dieser Stelle »Stillleben mit Buch« von Rolf Vollmann
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30. Oktober 2008 DIE ZEIT Nr. 45
Ein Kilometer Luxus: Der »PRIDE OF AFRICA« auf dem Weg durch die Täler der Kapregion
Afrika in einem Zug Von der Südküste bis fast an den Äquator: Wer mit Rovos Rail den Kontinent durchquert, erlebt ein Abenteuer im Sitzen
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eben den Viktoriafällen führt eine Eisenbahnbrücke über den Sambesi. Da habe ich gerade ein Stück Seife verkauft, für 5 Milliarden Dollar. Aber besser, ich erzähle das von vorn, sonst glaubt man mir kein Wort. Es begann vor einer Woche, an einem regnerischen Wintermorgen in Kapstadt, in einem Wartesaal gegenüber vom Bahnhof. Den Kapstädter Bahnhof sollte man sich nicht wie unsere Bahnhöfe vorstellen, mehr wie eine Markthalle, wenn gerade kein Markt ist. Kaum einer fährt Zug in Südafrika. An den Schaltern lümmeln Uniformierte mit Kindergesichtern. Vor dem Eingang verkauft ein zahnloser Alter auf einer Decke Zitronen. Uns empfängt man in einem kolonialen Prachtbau auf der anderen Straßenseite. Hier residiert Rovos Rail, eine private Bahngesellschaft, die von sich behauptet, ihr gehöre »der komfortabelste Zug der Welt«. Von der Decke des Empfangssaals hängen schwere Kronleuchter und Ventilatoren. Auf den Kaffeetischen liegen ledergebundene Hochglanzmagazine: Golf & Wein, Leadership, Good Taste. Hostessen bringen Silbertabletts mit Gurkensandwiches und Kap-Sekt. Mittendrin sitzen wir: Pullunder, Polohemden, Polarfleece. Tagesrucksäcke, Duty-free-Tüten, Klettverschlusssandalen. Deutsche unterwegs. Der Reiseveranstalter Lernidee, ein Spezialist für Eisenbahnreisen, hat den Luxuszug für zwei Wochen gechartert. Wir sind die erste deutsche Gruppe, die mit ihm zu einer Fahrt durchs halbe Afrika aufbrechen wird, 5742 Kilometer von der Südspitze des Kontinents bis Daressalam, schon fast am Äquator. Die meisten von uns 60 Passagieren sind im vorgerückten Alter und schon viel herumgekommen, aber doch ein bisschen bang vor diesem Teil der Welt. Vor allem wegen der zwei Tage in Simbabwe machen manche sich Sorgen. Zu viel Schlimmes hört man über den einstigen Volkshelden Robert Mugabe, der sein reiches Land ruiniert hat.
Einer nach dem anderen werden wir ausgerufen, Oberfläche ein rosa Teppich schwappt. Beim Näwie Gäste auf einem Ball. Die Hostessen geleiten uns herkommen sehe ich, dass es keine Wasserrosen mit riesigen Schirmen zu unserem Gleis, vorbei am sind, sondern Tausende Flamingos. Lichtstrahlen alten Zitronenmann, der vergeblich auf Kundschaft fallen durch Wolkenfetzen wie Spots auf ihr Gefiewartet. Da steht unser Zug – dunkelgrün, vornehm der. Zwei Fotografen hocken versunken neben den und einen Kilometer lang. The Pride of Africa hat man Gleisen. Ich glaube, sie bemerken uns gar nicht. ihn getauft. Das mag dann doch übertrieben sein. Zu tun gibt es an Bord nur wenig. Man kann vom Aber er ist sicher der Stolz von Rohan Vos. Der süd- Salonwagen im vorderen Teil zum Aussichtswagen afrikanische Unternehmer, reich geworden im Schrott- hinten spazieren. Bei der Länge des Zuges ist man an geschäft, hat sein Vermögen auch wieder in Schrott die zehn Minuten unterwegs. Jeden Mittag und jeden angelegt. Er kaufte historische Lokomotiven und Wag- Abend vollzieht sich das gleiche Ritual: Man hört ein gons zusammen und renovierte sie nach seinem Traum Ding-Dang-Dong vom Gang, öffnet seine Abteiltür von der guten alten Zeit. Es sollte und sieht eins der Zimmermädchen, das vergnügt auf ein Xyloein Privatvergnügen sein – wie die alten Autos und Flugzeuge, mit fon einklöppelt. Essenszeit. Hindenen Vos sonst unterwegs ist. tendrein folgt die Prozession der Aber nun fährt Rovos Rail schon Hungrigen. Vorn gehen die Gebrechlichsten als Tempomacher. im zwanzigsten Jahr für jeden, der es sich leisten kann. Eine Suite Bei den engen Korridoren wäre es halten die Angestellten auf jeder rüpelhaft zu überholen. Tour frei, falls der Chef einmal In den zwei noblen Speisezusteigen möchte. wagen späht dann jeder nach Ich mache es mir bequem in passender Gesellschaft. Schon komisch, wie sich Gruppen bilmeinem unverschämt großen Abden. Mal verbindet Herkunft, teil. Chantell, das Zimmermädmal Trinkfestigkeit oder Gesinchen, zeigt mir die Einrichtung: RESTAURIERTE DAMPFLOK im den Safe, die Dusche, den beheiz- Rovos-Rail-Bahnhof von Pretoria nung, und immer die Buchungsklasse. Allgemeinen Unbaren Handtuchhalter, die Minibar. Ich frage nach ihren Dienstzeiten. Sie schaut mich mut erregt die alte Dame aus der sündteuren Royal verwundert an: »Immer«. Als wir losfahren, geht Suite, die mit versteinerter Miene die Reise über durch die Waggons ein Quietschen, als ob ein riesiges sich ergehen lässt. Weil sie nur selten mit anderen Akkordeon aufgezogen würde; die Schranktüren spricht, wird viel über sie geredet: »Die hat eine klappern im Takt. Am Anfang höre ich sie noch, die Badewanne mitten im Zimmer und nutzt sie nicht einmal.« Melodie unserer Reise. So ein Zug ist eine Röhre, da gibt es kein AusDie ersten Tage vergehen beschaulich. Manchmal halten wir für einen Ausflug. Aber die eigent- weichen. Und gerade die Leute, die man nicht liche Attraktion ist, sich mit einer Tasse Tee aufs mag, trifft man andauernd wieder. In meinem Fall Bett zu legen und die Landschaft vorbeiziehen zu ist das der Schweizer. Ein lauter, leutseliger Mann lassen. Einmal passieren wir einen See, auf dessen mit dem Gemüt eines trotzigen Kindes. Wenn
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Fotos: Lernidee Erlebnisreisen/Rovos Rail
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man ihm etwas vorschreiben will, lacht er auf und boden ragen. Der Sommer kommt am sechsten tut es erst recht nicht. Rauchen nur im Raucher- Tag. Sommer ist, wenn man die Klimaanlage von raum? Ha! Er setzt sich davor und raucht. Mobil- heiß auf kalt stellt. Wenn die Landschaft hinterm telefone und Computer bitte nur im Abteil? Ha! Fenster sich von Blassgrün ins Gelbe verfärbt. Wir Er sucht den Zug nach dem besten Empfang ab erreichen Botswana. Botswana ist ein reiches Land, weil seine Bound gibt uns Duckmäusern lautstark Sportergebdenschätze erst nach der Unabhängigkeit gefunnisse und Aktienkurse durch. In Pretoria besuchen wir Rohan Vos auf seinem den wurden. Wir kommen durch Gaborone, die eigenen Bahnhof. Ein hochgewachsener Mann kleine Hauptstadt. Da haben sie einen Kricketclub Anfang 60, dem man ansieht, dass er Untätigkeit und sogar eine Pferderennbahn. Die Frauen tragen hasst. »Vor Ihnen liegt ein Abenteuer«, sagt er. Die gefärbte Ponys wie die schwarzen Popsängerinnen meisten seiner Kunden begnügen sich mit ein der sechziger Jahre. In den Straßen hängen Plakate: »Haltet Botswana sauber!«, paar Tagen Südafrika. Wir aber »Null Toleranz gegen Korrupfolgen dem größten Wunschtion!« Über allem thront der traum der Eisenbahngeschichte: Wolkenkratzer der halbstaatder Route vom Kap nach Kairo. lichen DiamantenhandelsgesellDie Briten wollten sie erbauen, schaft. auf dem Höhepunkt der KoloZugegeben, wir sehen nur nialzeit. Über sie sollten die Boeine Seite von Afrika. Genau gedenschätze des Kontinents zu nommen: die linke. Nach links den Häfen am Mittelmeer und gehen die Abteilfenster raus. von dort nach England fließen. Und da ist noch so viel mehr, Für Afrika war es wohl besser, von dem wir nichts mitbekomdass die Strecke nur halb fertig men. Wir bleiben ja immer unwurde. Vos sagt, viele Gleise stammten noch von damals und Etwa 30 ANGESTELLTE kümmern ter uns. Der »Stolz von Afrika« hat draußen keine Klinken. Die seien praktisch stillgelegt. »Wir sich um die Passagiere Serviceangestellten sind fast alle wundern uns selbst, dass wir da nicht entgleisen. Erwarten Sie viel Klicki-Klacki weiße Südafrikaner mit der undurchdringlichen Freundlichkeit von Fünfsternepersonal. Woran solund ein bisschen Bäng-Bäng.« An das Rattern gewöhnen wir uns schnell. len wir erkennen, dass ausgerechnet das propere BoManche sagen, sie schlafen schlechter, wenn der tswana die höchste HIV-Rate der Welt hat? Jeder Zug nachts stehenbleibt. Und obwohl wir langsam Dritte ist infiziert. Solche Dinge bringt man uns schonend in fahren, wandelt die Landschaft sich im Zeitraffer. Auf den Kapstädter Winter folgt ein zaghafter Bordvorträgen bei. Andreas Lappe, unser ReiseleiFrühling im kargen Norden der Republik Südafri- ter, kennt auch die andere Seite von Afrika. Einmal ka. Erste Palmen rücken zwischen die Sträucher, erzählt er uns, wie er hier das erste Mal unterwegs die dürren Akazien und die Termitenhügel, die wie rachitische Riesenfinger meterhoch aus dem SandFortsetzung auf Seite 72
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Fotos: Lernidee Erlebnisreisen/Rovos Rail (2); bildstelle (mi.li.)
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Rovos Rail Veranstalter: Lernidee bietet die Sonderzugreise durch das südliche Afrika 2009 zweimal an: vom 23. Mai bis zum 9. Juni von Kapstadt nach Daressalam und vom 8. bis zum 25. Juni in umgekehrter Richtung. Der Preis beträgt 9560 Euro pro Person bei Doppelbelegung im einfachsten, sieben Quadratmeter großen Abteil. Inbegriffen sind die Anreise aus Deutschland, deutschsprachige Reiseleitung, volle Verpflegung und mehrere Ausflüge mit Übernachtungen in Luxuslodges. (Lernidee Erlebnisreisen, Eisenacher Straße 11, 10777 Berlin, Tel. 030/786 00 00, www.lernidee.de) Zug: Wer auf eigene Faust mit dem Rovos Rail fahren will, kann die Reise auch direkt buchen. Die meisten angebotenen Routen verlaufen innerhalb der Republik Südafrika. Die günstigste Fahrt mit einer Übernachtung kostet umgerechnet circa 350 Euro. (Rovos Rail Deutschland, Mary De Ridder, Tel. 02837/664 98 11, www.rovos.co.za)
700 km
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ZEIT-GRAFIK
TANSANIA Daressalam
Unannehmlichkeiten einer Reise, vom Koffertragen bis zur Zollabfertigung, nimmt das ZUGPERSONAL den Gästen ab
liegende Dörfer; hungrige Dorfbewohner jagen Tiere. Aber auch davon sehen wir natürlich nichts. Wir sehen nur freundliche Menschen. Wo immer Fortsetzung von Seite 71 wir vorbeikommen, winken sie uns zu. Der Bahnwar. Mit dem Fahrrad! Ein Jahr lang, 25 000 Kilo- polizist, der lässig die Linke hebt, während die meter weit ist er aus dem Taunus bis nach Kap- Rechte noch lässiger den Griff seines Schlagstocks stadt gefahren. Er hat im Malariafieber gelegen, knetet. Der Bauer, den ich für eine Vogelscheuche Bürgerkriegsopfer gesehen und in der Sahara den hielt, weil er so reglos auf seinem Acker stand. Ich Tod erwartet. Und doch beschlossen, fortan in frage Andreas Lappe, ob es solche Leute waren, die Afrika zu bleiben. Nach dem Vortrag lächelt er uns vor ein paar Jahren unter Kriegsgebrüll die weißen Hinterglasabenteurern aufmunternd zu und sam- Farmer verjagten. Er denkt lang nach und sagt dann: »Wahrscheinlich.« melt die Hörhilfen ein. Die Hälfte der Fahrt liegt jetzt hinter uns. Wir Und dann also Simbabwe. Unser Kilometer Luxus hat die Schwelle zum Elend überschritten. Wir errei- stehen an den Viktoriafällen, an der Grenze zu chen am Morgen des siebten Tages einen Ort mit Sambia. Das grüne Wasser des Sambesi fällt in zädem netten Namen Plumtree. Die Abfertigung dau- hen Schuppen einen Kilometer herab und steigt ert vier Stunden lang. Uns Passagiere lassen die Zöll- als brodelnde Dampfwolke voller Regenbogen ner in Ruhe. Rovos Rail hat für die Grenzformalitäten wieder empor. »Ein Bild, so schön, dass Engel im eine Auswahl Geschenke an Bord. Für die Grenzstadt Flug es bestaunten«, schrieb der Missionar David eines Landes, dessen Bewohner fliehen, wirkt Plum- Livingstone, der den Wasserfall 1855 nach seiner tree verblüffend gemütlich. Ein paar Leute flanieren Königin benannte. Über die simbabwische Seite flog wohl schon lange kein Endie Geschäftsstraße am Bahnhof gel mehr. Auch die Touristen entlang. Erst nach einer Weile betrachten ihn lieber von Sammerke ich, dass es die gleichen bia aus, wo sie sich sicherer fühLeute sind, die auf und ab gehen, len. Aber die Andenkenverkäufer immer auf und ab, wie Tiere in sind noch da, und sie stürzen einem Käfig. Einer tippt auf den sich auf uns mit dem Mut der Geldautomaten der schmucken Verzweiflung. Zum ersten Mal Bankfiliale ein. Er scheint nicht auf dieser Reise begegnet uns überrascht davon, dass nichts hedie andere Seite von Afrika. Wir rauskommt. werden bedrängt und angestarrt Simbabwe hält einen trauriaus rot unterlaufenen, panischen gen Weltrekord: 11 Millionen Augen. Mittendrin ist auf einProzent Inflation. Es heißt, die Händler schrieben alle paar Eine der beiden ROYAL SUITES ist mal Rohan Vos, eingeflogen mit einem seiner Oldtimer-FlugzeuStunden eine weitere Null hin- für den Zugbesitzer reserviert ge. Fluchend vor Zorn hetzt er ter ihre Preise. Ob das wahr ist, bekomme ich nicht heraus, weil auch mit den Ge- über den Bahnsteig. »Wenn ihr meine Passagiere schäften etwas nicht stimmt. Der Bata-Schuh- belästigt, werde ich es euch zeigen.« laden, Draper’s Hardware, die Total-Tankstelle Einer der Händler kriegt mich zu fassen. Er streckt sind noch am Mittag geschlossen. Beim genaueren mir seine Giraffe entgegen, »selbst geschnitzt, sehr Hinsehen erkenne ich, dass die Türen vernagelt schön, Mister«. »Ich hab kein Geld«, sage ich. Ich habe sind. Auf dem Bahnsteig liegen zerrissene Geld- wirklich keins bei mir; bei Rovos Rail ist ja alles inkluscheine herum. sive. Natürlich glaubt er mir nicht. Er denkt, ich will Wir passieren verödetes Farmland und einen handeln, und verlangt immer weniger für seine hässaufgegebenen Nationalpark. Andreas Lappe erzählt, liche Giraffe, bis er am Ende nur noch bettelt. Ich wie es dort zugeht, seit die Regierung die Ranger finde ein Stück Seife und gebe es ihm; er gibt mir einen nicht mehr bezahlt: Hungrige Tiere überfallen um- wertlosen Schein: 5 Milliarden simbabwische Dollar.
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»Mehr Seife!«, schreit er mir hinterher. Ich ziehe die kaum – nur ihre bunten T-Shirts und, wenn sie klinkenlose Zugtür hinter mir zu und verkrieche mich sprechen, dann auch ihre Zähne. Ich möchte so viel in meiner Kabine. Mir fällt ein Lied von Bob Dylan von ihnen wissen, dass ich den Mund nicht aufbekomme. Können sie verstehen, warum jemand ein: »It takes a lot to laugh, it takes a train to cry«. Hinter der Brücke liegt Sambia. Sambia ist Bil- um die halbe Welt fliegt, bloß um sich dort einderbuch-Afrika. Zwischen strohgedeckten runden zusperren und rauszugucken? Sind wir für sie nur Lehmhütten balancieren Frauen Krüge auf ihren ein Wanderzirkus mit dicken alten Weißen? Geht Köpfen. Nun geht es los mit dem Bäng-Bäng, vor es in Ordnung, dass wir in zwei Wochen mehr Geld dem Rohan Vos uns gewarnt hat. Die Schienen sind verjubeln, als sie wohl zeitlebens verdienen? Viel zu hundert Jahre alt, und sie verlaufen nicht parallel. große, viel zu deutsche Fragen. Stattdessen singen wir einander vor: unsere NaUnser Zug zittert, er ächzt und stampft, als sollten wir spüren, welche Strapazen er uns abnimmt. Durch tionalhymnen, unsere Volkslieder und zum Schluss Sambia fahren wir im Schritttempo. Der Weg in den gemeinsam Happy Birthday. Sie singen viel schöner Speisewagen wird zum Hindernislauf. Jeder ent- als wir. Dann fährt der Zug an. Wir setzen uns wickelt seine eigene Technik. Meine Abteilnachbarin wieder auf die Bank unseres Aussichtswagens und schwört auf Joggen. Ein Mann mit einem enormen bestellen die nächste Runde Sekt. Die Kinder verSpitzbauch geht seitwärts, das polstert ihn ab. Ich schwinden in der schwarzen Nacht. Nur ihre Stimbewege mich breitbeinig in Cowboymanier. Ich fin- men wehen uns eine Weile hinterher. Wir erreichen Tansania, das ehemalige Deutschde, das passt in die Landschaft. Inzwischen habe ich es geschafft, alle 23 Tisch- Ostafrika. Hier sind die Gleise wieder gut. Die Chiweine zu probieren. Das Essen ist nicht mehr so gut nesen haben sie in den siebziger Jahren verlegt. Das wie am Anfang, was daran liegen Entwicklungshilfeprojekt sichermag, dass wir seit Pretoria von te nebenbei ihren Handelsweg Vorräten zehren. Auf das Rezept zum sambischen Kupfer. Sie hafür den Artischocken-Mandariben auch Bahnhöfe errichtet. Die nen-Salat mit Feta kam der Küsollte man Architekturstudenten chenchef sicher erst beim Anblick zeigen, als Musterbeispiele dafür, seiner eisernen Reserven. Mittlerwas passiert, wenn man die Kundweile habe ich einen festen Tischschaft erziehen will. Kalkweiß und kantig stehen die Klötze in gefährten: ein früherer Gürtelherder Savanne. Unter ihren Dästeller aus Wuppertal, der die Landschaft so sorgsam studiert wie chern nisten Vögel. Es fährt ja nur ein Techniker einen Bauplan. alle paar Tage ein Zug. Auf die Manchmal wendet er sich mir zu Plastikstühle in Reih und Glied und sagt etwas wie »Alles abge- An den VIKTORIAFÄLLEN passten vielleicht maoistische Arknipst«. Dann schaue ich hinaus überquert der Zug den Sambesi beitsbrigaden. Die Tansanier sitund merke, dass die Strommasten zen lieber draußen. Beim Abendessen höre ich, wie Andreas Lappe neben unseren Gleisen nicht mehr verbunden sind. Jemand hat die Kabel geklaut, über Hunderte Kilo- der Zugchefin zuraunt, ein Passagier mache Problemeter. Am Nebentisch empört man sich über den me. Ich spitze die Ohren. Jawoll, der Schweizer. Schweizer. Der habe bettelnden Jugendlichen vom Ha!, denke ich. Zwei Wochen Zwangsgemeinschaft Aussichtswagen Geld zugeworfen. Es soll Schlägereien bringen nicht das Beste im Menschen hervor. Draugegeben haben. Süßigkeiten, Spielzeug können sie ßen setzt die Landschaft zum großen Finale an. Wir überqueren tiefe Täler mit Schlammflüssen auf ihteilen. Einen Dollarschein nicht. Der offene Aussichtswagen ist unsere Nahtstelle rem Grund. Das Wasser lässt alles ergrünen, wobei mit Afrika. Einmal nachts, der Zug tankt Wasser, »grün« hier heißt: grün, gelb und rot, alle Jahreszeikommen irgendwoher aus der Dunkelheit Kinder. ten durcheinander. Die Hügel stehen voller BanaErst nur ein paar, dann immer mehr. Wir sehen sie nenstauden, Kokospalmen, Papaya- und Affenbrot-
BOTSUANA
Gaborone
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Plumtree Pretoria MADAGASKAR
SÜDAFRIKA
Kapstadt
Indischer Ozean
bäume. Wie ein Lindwurm windet sich unser Zug immer tiefer in den Dschungel. Am letzten Tag klebe ich am Fenster, bis mir schwindlig wird. Bewegen wir uns überhaupt? Oder sind wir der ruhende Punkt, und dieser Kontinent schiebt sich seit zwei Wochen an uns vorbei? Im Zimmersafe liegt noch meine Beute, die 5 Milliarden Dollar. Ich wollte sie eigentlich dort vergessen und stecke sie dann doch ein. Den Schweizer habe ich lang nicht mehr gesehen. Sie werden ihm doch keinen Stubenarrest erteilt haben? Beinahe fehlt er mir. Unsere Ankunft in Daressalam ist kein Ankommen, mehr ein Anhalten. Die Melodie hat aufgehört zu spielen. Kein Klicki-Klacki mehr und kein BängBäng. Keiner mehr, der Lust hat, uns zuzuwinken. Auf einmal ist Afrika wieder schwül, laut und ein bisschen bedrohlich. Wie einfühlsam, dass Rovos Rail uns nicht ohne Ausklang entlässt. Am Bahnsteig werden wir wie Staatsgäste mit Blasmusik empfangen. Die tansanische Polizeikapelle spielt La Paloma und Alte Kameraden von vergilbten Partituren. Die stammen wohl noch von den Deutschen. Wir nehmen Abschied, jeder auf seine Art. Manche tanzen auf dem Bahnsteig. Andere schütteln jedem Rovos-Angestellten dankbar die Hand. Die alte Dame aus der Royal Suite schaut steinern wie immer, aber sie wischt sich die Augen. Da ist ja auch wieder der Schweizer. Er trägt all die Schnitzereien heraus, die er an den Viktoriafällen gekauft hat. Und brummt was von »so günstig nie wieder«. Der bisse sich lieber auf die Zunge als zuzugeben, dass er Mitleid hatte. Mein Wuppertaler Tischgefährte überlegt bis zuletzt, ob er mit diesem Zug nicht gleich wieder nach Kapstadt zurückfahren soll: »Die Kabinenfenster gehen ja dann zur anderen Seite hinaus.« Schwer, ihm da etwas zu raten. Ich glaube, es ist leichter, von manchem nur die Hälfte zu sehen. a www.zeit.de/audio
Weh auf dem Kilimandscharo Bergführer Joseph Simbee hört mit 34 Jahren auf. Ein Gespräch über zähe Russen, dicke Amerikaner, »Attacke« brüllende Deutsche und die Schwierigkeiten eines Berufs in 5895 Meter Höhe sich erfüllt. David habe ich in Dubai besucht, Afo- SIMBEE: O ja. Viele versuchen, einen neuen Rekord nin in Moskau und Anja und Tommy in Wien. aufzustellen. Ein Mann ist rückwärts hochgeganUnd ich habe viel über die Eigenheiten der ver- gen. Ein anderer mit geschlossenen Augen. Chrisschiedenen Nationen gelernt. tian Stengl aus Österreich hat die 45 Kilometer vom Nationalparkeingang zum Gipfel in 5 StunZEIT: Gibt es auch nationale Unterschiede in der den 36 Minuten und 38 Sekunden geschafft. Das Art und Weise, einen Berg zu besteigen? war am 16. Oktober 2004, und ich stand mit am SIMBEE: O ja. Japaner etwa geben nie auf. »Bring Weg und habe ihn angefeuert. mich hoch, ich zahle mehr!«, Letztes Jahr war ich mit Fritz sagen sie. Oder: »Zeig mir die oben, Fritz aus Frankfurt – er Abkürzung. Du kennst doch siwar 80 Jahre, der älteste Kunde, cher eine Abkürzung!« Russen den ich je hatte. sind zäh und rasen schon mal in drei Tagen hoch und wieder hiZEIT: Woher wissen Sie denn, nunter statt in den üblichen wie man sich als Bergführer zu fünf oder sechs. Die Leute aus verhalten hat? den USA sind oft dick und SIMBEE: Ich habe ein Diplom als schwerfällig. Eigentlich ist SchieWildnisführer gemacht. Da ben ja nicht erlaubt. Nur wer lernt man nicht nur alles über den Berg aus eigener Kraft das Verhalten der Tiere. Man schafft, ist auch gesund genug erwirbt auch das Wissen, um für ihn. Aber manchmal drücke JOSEPH SIMBEE will in Zukunft eine Expedition zu führen: Wetich beide Augen zu, wenn zwei als Privatlehrer unterrichten terkunde, Sicherheit, Erste Hildrahtige Einheimische einen fe, Gebrauch von Karte und schwitzenden Makler aus Seattle Meter um Meter Kompass. Geprüft wird, ob man auf dem Kocher hochbugsieren: Sie können das Extrageld natürlich vernünftige Mahlzeiten zustande bringt, ob man gut gebrauchen. die Umwelt schützt – und ob man in der Lage ist, selbstständig Entscheidungen zu fällen. ZEIT: Und die Deutschen? SIMBEE: Die Deutschen kommen mit TrekkingstöZEIT: Braucht man also Führungsqualitäten, um cken an, und viele tragen einen Schnauzbart. Sie eine Gruppe auf einen Berg zu leiten? überholen gern alle anderen. Sie brüllen: »Atta- SIMBEE: Ja. Die Arbeit ist nicht einfach. Du trägst cke!« – »Gemmer!« – »Pack mer’s!« Und wenn es Verantwortung für bis zu 60 Träger, einen Koch ganz hart wird, schreien sie: »Scheiße!« und ein paar Ersatzleute. Du musst aufpassen, dass die Träger sich nicht mehr als die erlaubten 18 ZEIT: Ist Leistung denn so wichtig? Foto: Franz Lerchenmüller
DIE ZEIT: Herr Simbee, Sie haben mehr als 300 Mal Touristen auf den Kilimandscharo geführt. Warum hören Sie jetzt auf – mit gerade mal 34 Jahren? JOSEPH SIMBEE: Meine Knie machen nicht mehr richtig mit. Überhaupt ist mein Job auf Dauer gefährlich: Ein Freund, der Führer war, kann seine Finger nicht mehr bewegen. Ein anderer ist am ganzen Körper gelähmt. Die Ärzte empfehlen ja, dass man höchstens zweimal im Monat den Gipfel besteigt. Lunge und Gehirn könnten sonst ernsthafte Schäden erleiden. Ich habe aber jeden Monat drei, vier, manchmal sogar fünf Gruppen auf den Kilimandscharo geführt. ZEIT: Gibt es in Ihrer Heimat denn keine einfachereren Jobs, als einen 5895 Meter hohen Berg zu erklimmen? SIMBEE: Doch, man kann Bananen anbauen, Ziegen züchten, nach Edelsteinen schürfen oder einen kleinen Handel aufziehen. Aber ein Arbeitsplatz im Tourismus ist beliebt. Ein Trekking dauert drei bis sechs Tage und bringt zwischen 100 und 300 Dollar ein. Das ist viel Geld. ZEIT: Ist es allein der Lohn, der Sie an diesem Beruf gereizt hat? SIMBEE: Nein, die Arbeit hat auch viele sehr schöne Seiten. Ich rede gerne mit Fremden und höre mir an, wie sie leben. Die meisten Menschen sind im Urlaub sehr entspannt, manche verraten mir am Lagerfeuer ihre Geheimnisse. Ich bin Buschmann vom Stamm der Sandawe. Da trifft man normalerweise nicht viele Fremde. Ich wollte Führer werden, um Freunde in aller Welt zu finden. Das hat
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Kilo aufladen, plus fünf Kilo für den eigenen Bedarf. Du musst sichergehen, dass sie einen Schlafsack dabeihaben, gute Schuhe, eine Taschenlampe und eine Regenjacke – nicht alle Träger kümmern sich ausreichend um die eigene Gesundheit. ZEIT: Gibt es manchmal Konflikte zwischen den Trägern und den Kunden? SIMBEE: Das kommt vor. Es gibt beispielsweise Touristen, die am Ende einer Reise überhaupt nicht daran denken, Trinkgeld zu geben: In ihren Ländern sei so etwas nicht üblich, behaupten sie, und außerdem stehe nichts davon im Vertrag. Kein Wunder, dass unsere Jungs, die eine Woche lang für sie geschuftet haben, da schon mal richtig sauer werden. Sie sehen das als Kritik an ihrer Arbeit. Außerdem machen die Dollar einen wichtigen Teil ihres Einkommens aus. Am Ende muss ich als Chef dann vermitteln. ZEIT: Richten sich die Kunden dann wenigstens nach Ihren Empfehlungen? SIMBEE: Es gibt immer ein paar Leute, die nicht zuhören und alles besser wissen. Dabei kann es richtig gefährlich werden, wenn sich die Leute über meine Ratschläge hinwegsetzen. Zwei Touristen etwa haben in 4000 Meter Höhe Schnaps getrunken, obwohl ich sie eindringlich gewarnt hatte. Sie sind dann am Herzinfarkt gestorben. ZEIT: Waren Sie selbst auch einmal in Gefahr? SIMBEE: Ja, zweimal. Einmal habe ich in der Dunkelheit beim Abstieg erst die Taschenlampe, dann meine Gruppe verloren – und fiel eine sechs Meter hohe Felswand hinunter. Zum Glück wurde ich nicht ernsthaft verletzt. Das zweite
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Mal bin ich auf einem der Hanggletscher ausgerutscht, runtergeschlittert und war sicher, dass es jetzt aus ist – aber mein Kunde, ein norwegischer Soldat, hat mich gerettet. Er hat mir einen Eispickel zugeworfen, den ich in den Gletscher bohren konnte – so fand ich Halt. Danach habe ich das erste Mal ernsthaft daran gedacht, aufzuhören. ZEIT: Und was haben Sie jetzt vor? Reicht Ihr Geld schon für die Frührente? SIMBEE: Nein, das kann ich mir nicht leisten. Ich muss ja meine Eltern und meine Verwandten unterstützen. Und die Zweizimmerwohnung bezahlen, in der ich mit meiner Frau, den beiden Kindern und meinem jüngeren Bruder lebe. Ich bin auch nicht gerade sparsam gewesen. Früher habe ich nach einer Expedition schon mal hundert Dollar am Abend in den Kneipen gelassen. Ich habe mir gesagt: Du musst das Leben feiern in den paar freien Stunden, bevor es wieder auf den Berg geht. Jetzt ist das anders. Vor zwei Jahren habe ich geheiratet. Jetzt habe ich eine Privatschule in Arusha eröffnet. Schon mein Vater war Lehrer, ich selbst bin 13 Jahre zur Schule gegangen – Bildung war bei uns immer wichtig. ZEIT: Die Schule ist Ihre Versicherung für die Zukunft? SIMBEE: Ja – aber nicht nur. Sie gibt mir auch die Möglichkeit, etwas für die Kinder am Kilimandscharo zu tun. Mein Herz hängt an dem Berg und seinen Menschen. INTERVIEW: FRANZ LERCHENMÜLLER
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Kunst fürs Volk
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ie Tür war einmal weinrot. Jetzt ist die Farbe an vielen Stellen abgeblättert. Über die Jahrzehnte haben sich tiefe Furchen ins Holz gegraben, Spuren der Hausbewohner, die hier ein und aus gegangen sind. Nein, sie ist gewiss nicht schön, diese Tür in der Rue d’Aubervilliers 52. Ebenso wenig wie die beigegraue Fassade des Hauses, zu dem sie gehört. Die vorbeihastenden Menschen, mit Plastiktüten aus dem Discounter bepackt, mit Handys am Ohr, schenken ihr denn auch keine Beachtung. Für Nicolas Simarik ist diese Tür im 19. Arrondissement, im Nordosten von Paris, dennoch ein lieu insolite, ein ungewöhnlicher, bemerkenswerter Ort. »Sie erzählt mir etwas über das Leben in diesem Viertel. Die Leute, die hier wohnen, müssen aufs Geld schauen. Die Mieten sind niedriger als anderswo in Paris.« Jede zweite Wohnung im Bezirk ist eine Sozialwohnung. Die Zahl der Alleinerziehenden ist hoch, zeigen die Statistiken, auch die der Schulabbrecher, Armen und Arbeitslosen. Simarik ist Künstler, aus Creil in Nordfrankreich. Ein Mann mit fröhlichem runden Gesicht und einem Bauch, der ihn älter wirken lässt, als er tatsächlich ist. In den vergangenen Monaten ist der 31Jährige durch die Straßen von Paris gestreift auf der Suche nach ungewöhnlichen Orten. So wie jetzt, in ausgetretenen braunen Stiefeln und grauer Windjacke. 82 solcher Flecken hat er gefunden, die Hälfte davon im 19. Arrondissement. Es sind keine Sehenswürdigkeiten, wie sie Reiseführer beschreiben, die halten hier höchstens den Parc de la Villette mit seinen Kulturinstitutionen für erwähnenswert. Simarik geht es vielmehr um »Dinge, die man normalerweise übersieht«: Graffiti an den Wänden zum Abbruch stehender Häuser, Ausblicke wie der von einer Eisenbahnbrücke auf den Rangierbahnhof des Gare de l’Est. Oder eben auch alte Fenster und Türen wie die in der Rue d’Aubervilliers 52. Entstanden ist dabei ein Kunstprojekt, das die Augen öffnet für das Besondere im Alltäglichen. Und es ist kein Zufall, dass Simarik im 19. Arrondissement danach suchte. Nur ein paar Hundert Schritte entfernt von der weinroten Tür hat dieser Tage in der Rue d’Aubervilliers das Centquatre eröffnet, Hausnummer 104. Ein Kulturzentrum, wie es Paris bislang nicht gesehen hat: Auf 39 000 Quadratmeter Fläche, in einem riesigen Hallenkomplex, hat die Stadt eine Künstlerresidenz geschaffen, ein Experimentierfeld, einen Treffpunkt für Künstler und ihr Publikum. Und Nicolas Simarik ist einer der Ersten, die hier arbeiten und ausstellen dürfen.
Alexander McQueen buchte die Kulisse jüngst für ein Modedefilee Natürlich hat Paris berühmte Museen wie den Louvre oder das Grand Palais, auch große Theater- und Konzertsäle. Was aber bisher fehlte, waren bezahlbare Ateliers und Probenräume. »Ich kenne das aus eigener Erfahrung«, sagt Frédéric Fisbach. Der 42-Jährige mit dem Dreitagebart ist Kodirektor des Centquatre und macht selbst Theater. »Du probst wochenlang in einem Kellerloch und musst dir vorstellen, wie das auf der Bühne vor Publikum wirkt.« Und nun das hier. Fisbach holt mit beiden Armen weit aus. Seine Stimme hallt von den hohen Sandsteinwänden wider. Er steht in einer der beiden Haupthallen des Centquatre, die so groß sind wie die Mittelschiffe mächtiger Kathedralen, aber weniger düster. Durch das gläserne Dach scheint die Herbstsonne. 70 Meter breit und 240 Meter lang, unterbrochen nur von einem kleinen Innenhof, ist der Industriebau aus dem 19. Jahrhundert, der bis 1997 das städtische Bestattungsinstitut beherbergte. Im Keller, wohin eine breite Rampe führt, waren einst die Pferde untergebracht und die Kutschen, mit denen die Toten zu den Friedhöfen transportiert wurden. Später dann die motorisierten Leichenwagen und die Werkstätten für die Automechaniker. Im Erdgeschoss und im ersten Stock liegen hinter Rundbogenfenstern die Räume, in denen der Leiter der pompes funèbres die Angehörigen der Verstorbenen empfing, wo Schreiner Särge zimmerten, Schneiderinnen mit Spitzen verzierte Inlets nähten oder Floristen Kränze banden. Jetzt belegen junge Künstler die 17 Ateliers und zwei Theatersäle: Architekten, Bildhauer, Filme- und Theatermacher, Designer, Performancekünstler, Musiker und Schriftsteller. Die Architekten Laurent und Cyrille Berger haben in ihrem abgedunkelten Raum einen Irrgarten
Simarik. Im Bezirk leben 187 000 Menschen, die aus mehr als 30 Nationen stammen. An einem Freitagnachmittag trifft man in den Straßen um das Centquatre auf muslimische Männer in langen Gewändern ebenso wie auf orthodoxe Juden in dunklen Anzügen und mit schwarzen Hüten; auf junge Frauen aus Mali mit bunten, figurbetonten Kleidern und Babys in Tragetüchern; auf Jugendliche mit Baseballkappen, Ghettoblastern und um die Beine schlackernden Jeans.
aus mannshohen Neonröhren aufgebaut. Wer ihn betritt, wird unsichtbar für den Betrachter. Im Atelier von Melik Ohanian laufen auf sieben Bildschirmen verschiedene Szenen eines 20-minütigen Films über ein französisches Bergdorf. Ein kleiner Bach gurgelt. Ein Mann sitzt auf einem Holzkarren, der von einem Muli gezogen wird. Jemand macht Feuer in einer halb verfallenen Hütte. Ein asiatisches Mädchen spielt eine traurige Melodie auf einem Saiteninstrument. Ein Wolf heult, eingesperrt in einem Käfig. Am Fuß einer steilen Klippe zoomt die Kamera auf ein Rudel toter Wildpferde. Ein Wohnwagen explodiert. Der Film erklärt nichts. Jeder Betrachter montiert im Kopf seinen eigenen Film, je nachdem, in welcher Reihenfolge er die Szenen verfolgt. Mehr als 3000 Künstler aus aller Welt haben sich für das Centquatre beworben. Eine Jury hat die Projekte ausgewählt, etwa 30 sollen jährlich realisiert werden. »Die Künstler bekommen ein Stipendium für ein paar Wochen oder auch mehrere Monate«, erklärt Fisbach das Konzept. Er redet schnell. Seine Hände, die jedes Wort unterstreichen, können seiner Begeisterung kaum folgen. »Dafür öffnen sie im Wechsel ihre Ateliertüren, lassen sich über die Schulter schauen, diskutieren mit den Besuchern oder lassen sie mitarbeiten.« Als das Bestattungsinstitut geschlossen und die Bestattung privatisiert wurde, hatten Immobilienfirmen auf das Grundstück spekuliert. Sie hätten hier gern weitere Wohnungen gebaut. Doch der sozialistische Oberbürgermeister Bertrand Delanoë ließ das Gebäude unter Denkmalschutz stellen. Irgendetwas Kulturelles sollte entstehen. Ein Museum für szenische Kunst aus China war einmal im Gespräch. Bis Fisbach und sein Partner, der Regisseur Robert Cantarella, bei der Ausschreibung ihr Konzept einreichten. Zunächst wollte man ihre Bewerbung gar nicht berücksichtigen. »Wir bekamen einen höflichen Anruf, in dem man uns darauf aufmerksam machte, dass ein erfahrener Direktor gesucht würde«, erinnert sich Fisbach amüsiert. »Weniger höflich formuliert hieß das: ›Wir können keine chaotischen Künstler wie Sie gebrauchen.‹« Aber die beiden hielten an ihrer Bewerbung fest und machten schließlich das Rennen. Acht Millionen Euro bezahlt die Stadt im Jahr für das Centquatre, weitere vier Millionen Euro muss das Kulturzentrum selbst einnehmen. Fisbach und Cantarella rechnen mit 750 000 Besuchern jährlich. In den nächsten Monaten werden ein Restaurant, ein Café und ein Buchladen einziehen. Die Hallen können für Firmenfeste, Konzerte oder andere Großveranstaltungen gemietet werden. Alexander McQueen buchte die Kulisse jüngst für ein Modedefilee. Der Eintritt für die Besucher bleibt zumindest vorerst frei. An diesem Mittag spazieren ein Dutzend Neugierige herum, noch ein wenig unschlüssig und scheu, entdecken sie schließlich das Schild »En travail/at work« vor Simariks Atelier. Bis unter die Decke stapeln sich Kartons, auf denen 82 Tage notiert sind. Vom 11. Oktober bis zum 31. Dezember, dem Tag der Eröffnung des Centquatre, bis zu dem Tag, an dem Simariks Projekt endet. In jedem der Kartons, die sich öffnen lassen wie die Türchen eines überdimensionalen Adventskalenders, liegen DINA4-Blätter mit der Wegbeschreibung zu einem lieu insolite. Jeden Tag öffnet Simarik ein weiteres Türchen und lotst die Besucher an einen anderen Ort. Damit dieser sich ihnen »erschließt«, müssen sie dem Künstler einen alten Schlüssel überlassen: einen zum Schloss eines Fahrrads, das schon vor Jahren auf dem Schrottplatz gelandet ist; einen, der früher die Tür einer Wohnung geöffnet hat, in einer anderen Stadt. Manchmal beugt sich Simarik auch über seine Fräsmaschine und kopiert Schlüssel, die noch in Gebrauch sind. Anschließend gießt er jeden einzeln in 50 mal 50 Zentimeter große Harzplatten, die in den nächsten Wochen in eine Fahrbahn oder ein Trottoir einbetoniert werden. Irgendwo in Paris, wo gerade eine Straße ausgebessert wird. »Schlüssel«, sagt Simarik, »sind etwas sehr Persönliches, weil wir damit den Zutritt zu unserem Privatleben öffnen oder auch verweigern. Und sie sind etwas sehr Geheimnisvolles, weil sie unbekannte Welten erschließen können.« Allein in der ersten Woche haben sich 1000 Besucher an Simariks Kunstprojekt beteiligt. So wird das Centquatre auch zum Schlüssel für das 19. Arrondissement. »Es gibt hier sehr viele Dinge, die es wert sind, entdeckt zu werden«, sagt
Die Gegend ist berüchtigt für die Umtriebe zweier Jugendbanden Auf den Bildschirmen der französischen Bars laufen Rugbyspiele und Pferderennen. Nebenan warten orientalische Wasserpfeifen auf ihre Raucher. Ein paar Straßen weiter, am Canal de l’Ourq, wird es beinahe mondän. Am Kai liegen ein paar Yachten neben alten Lastkähnen, mit denen einst Bau-, Brennholz und Kohle aus dem Norden Frankreichs in die Stadt transportiert wurden. Anaco, Opéra oder Abricadabra heißen die Frachter, auf denen nun Kindertheater gespielt wird und jeden ersten Dienstag im Monat mittags ein Picknick stattfindet, zu dem kommen kann, wer Lust hat. Die Speicher am Kanal wurden in den vergangenen Jahren renoviert. Jetzt sind Künstler- und Studentenwohnungen dort untergebracht, Kinos und Restaurants. Ça bouge ici, es tut sich was, sagen die Zugezogenen, denen das Marais nicht mehr lebendig genug ist. Auch die Probleme, mit denen der Bezirk immer wieder von sich reden macht, versucht man anzupacken. Vor allem die Straßen Riquet und Curial in unmittelbarer Nähe zum Centquatre sind berüchtigt für die Umtriebe zweier Banden. Ein jüdischer Jugendlicher wurde im Sommer fast zu Tode geprügelt, ein 23-Jähriger, mutmaßlich Drogendealer, wurde erschossen. Seit ein paar Jahren gibt es im Viertel Gemeinschaftsgärten, wo die Bewohner der umliegenden Häuser zusammen pflanzen und jäten. Einmal im Jahr wird ein großes Festessen veranstaltet mit den eigenen Erzeugnissen. So sollen sich die Nachbarn unterschiedlichster Herkunft freundschaftlich näher kommen. Auch das Centquatre will zum gegenseitigen Verständnis beitragen. Fisbach und Cantarella wünschen sich, dass die Bewohner hier Räume mieten, um ihre Kultur zu präsentieren. Dass es tatsächlich zu einer Verankerung des Kulturzentrums im Viertel kommen kann, zeigte bereits die Eröffnung. In einer kleinen Prozession zogen Eltern und Kinder aus der Umgebung in die Rue d’Aubervilliers, um den Garten des Centquatre mit Ablegern aus ihren Gemeinschaftsgärten zu begrünen. Sie pflanzten Zweige von Himbeersträuchern und Triebe von Erdbeeren, sie säten Kichererbsen und setzten Hibiskus und Hortensien. Ein Garten, so bunt wie das 19. Arrondissement.
Bis 1997 beherbergten die riesigen Hallen aus dem 19. Jahrhundert das städtische BESTATTUNGSINSTITUT
Paris Das Centquatre: Das Kulturzentrum (104 rue
Centquatre E 19
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Gare du Nord Gare de l’Est
19. Arrondissement
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d’Aubervilliers/5 rue Curial) ist die ganze Woche geöffnet, dienstags bis samstags von 11 bis 23 Uhr, sonntags und montags bis 20 Uhr. Montags bleiben die Künstlerateliers geschlossen. Tel. 0033-1/53 35 50 00, www.104.fr. Metro-Linie 7, Haltestelle Riquet Parc de la Villette: Das 19. Arrondissement lohnt auch wegen der Cité des Sciences et de l’Industrie (www.cite-sciences.fr). Die Ausstellungen, das Planetarium und das Aquarium sind dienstags bis samstags von 10 Uhr bis 18 Uhr geöffnet, sonntags bis 19 Uhr. Ebenfalls im Parc de la Villette befindet sich die Cité de la Musique mit vielseitigem Konzertangebot. Metro-Linie 5, Haltestelle Porte de Pantin Auskunft: Maison de la France, Tel. 09001-57 00 25, www.franceguide.com
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Fotos: ©Edouard Caupeil
Im Pariser Nordosten hat das Kulturzentrum »Centquatre« eröffnet. Künstler aus aller Welt lassen sich hier bei der Arbeit zuschauen VON KARIN FINKENZELLER
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Geht’s noch? Fahren viele Deutsche jetzt nicht mehr in Urlaub?
Diese Angst kursiert in der Branche, die im September noch sehr gut verdiente. »Ich bekomme verzweifelte Anrufe«, sagt Stephan Busch, Präsident der Allianz selbständiger Reiseunternehmen. »Die Leute sagen: Unser Reisebüro ist auf einmal wie leer gefegt.« Dass die Wirtschaftslage manche Deutsche in ihren Ferienplänen beeinflusst, dafür spricht die »Reiseanalyse 2008«. Für diese Studie unterteilte die Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen die Befragten in zwei Gruppen: solche, die glauben, dass es bergauf geht, und solche, die eine Flaute erwarten. Die Ergebnisse offenbaren eine Kluft: Von den Optimisten gaben drei Viertel an, sie wollten bald verreisen. Von den Pessimisten sagte das nur jeder Zweite. Jeder Fünfte dieser Gruppe wollte sich noch nicht festlegen. Offenbar geben viele Deutsche in unsicheren Zeiten ihre Reisepläne zwar nicht auf. Sie legen sie aber auf Eis, bis sie wissen, wie sich die Konjunktur entwickelt. Und dennoch: Dramatisch ist die Lage nicht. Die meisten Zauderer werden wohl doch noch einen Urlaub buchen. Bislang ließen sich die Deutschen von keiner Krise die Reiselust verderben. Selbst auf dem 11. September 2001 sei nur ein kurzer Einbruch gefolgt, sagt Karl Born, Tourismusforscher an der Hochschule Harz. Nach den ersten grauen Wintertagen stiegen die Buchungszahlen wieder an. »Zumindest ein großer Sommerurlaub ist fest im Jahresplan verankert«, sagt Born. Im Zweifelsfall sparten die Leute dann lieber während des Urlaubs. Sind Wochenendtrips bald out?
Gut möglich. Anders als der große Sommerurlaub hat die Kurzreise zwischendurch wenig Tradition. Von ihr
dürften sich besorgte Deutsche am ehesten trennen. Das Modell »Wochenendtrip« ist in mehrfacher Hinsicht in Bedrängnis. Die Billigflieger, die einen günstig zum Shoppen nach Mailand oder zur Party nach Mallorca brachten, sind nicht mehr richtig billig. Zudem setzt sich wohl die Einsicht durch, dass solche Kurztrips zu stressig sind. In der letzten Zeit deutet sich ein Gegentrend an: Die Deutschen dehnen ihren Haupturlaub wieder etwas aus. Zweit- und Drittreisen sind weniger gefragt. Wie sehr die Finanzkrise diesen Trend verstärkt, wird man im nächsten Frühjahr wissen. »Unsere Kunden reagieren zeitverzögert«, sagt der Reiseunternehmer Busch. »Wer seinen Urlaub schon mit Frau, Kindern und Arbeitgeber abgesprochen hat, sagt ihn ja nicht einfach ab.« Sind Luxusurlaube nun weniger gefragt?
Nein. Das sagt zumindest die Branche. Studiosus etwa, bei dem eine Dreiwochentour schon mal 6000 Euro kostet, spürt nach eigenen Angaben keine Auswirkungen der Finanzkrise. Die Klientel reagiere kaum auf Wirtschaftsflauten. Wichtiger sei die Frage, ob gerade in einem Urlaubsland eine Bombe hochgegangen ist. Auch TUI berichtet, dass in Krisenzeiten die teuren Angebote weiter gut liefen. Ein Einbruch sei eher bei den günstigeren Reisen zu verzeichnen. Eine Beobachtung, die der Tourismusforscher Karl Born stützt. Seiner Ansicht nach wird die Krise einen Trend verstärken, der seit einigen Jahren feststellbar ist: Das Mittelfeld bricht weg. Auf der einen Seite gibt es einen Markt für maßgeschneiderte Edelreisen, der jeglicher Krise trotzt. Auf der anderen Seite wächst die Zahl der Menschen, die beim Urlaub auf jeden Cent achten – aus Sparsamkeit oder Not.
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Und was ist mit den Geschäftsreisen?
Wird jetzt wenigstens das Fliegen billiger?
Reisen jetzt weniger Ausländer nach Deutschland?
Hier dürfte sich einiges wandeln. Die Betriebe werden stärker auf Reisespesen achten. »Sie werden genau überlegen, wer Business Class fliegen darf und bei wem auch ein Bahnticket reicht«, sagt Klaus Laepple, Präsident des Bundesverbandes der deutschen Tourismuswirtschaft. »Und vielleicht auch überlegen, ob man nicht die eine oder andere Reise ganz einsparen kann.« Schon jetzt verzeichnet Lufthansa einen »deutlichen Rückgang bei den Vorausbuchungen von Geschäftsreisenden«, heißt es aus dem Unternehmen. Laut Laepple trifft das Sparprogramm auch die Hotellerie. SeinePrognose: 5-Sterne-Häuser werden Kunden verlieren, weil Firmen seltener bereit sind, Geld für Designerbett und Marmorbad auszugeben. Profitieren werden 4-Sterne-Hotels, die saubere, nette Zimmer anbieten – günstig genug für die Firmenkasse, schick genug fürs Prestige.
Ja – aber wohl nur vorläufig. Im Moment profitieren Fluggäste von den sinkenden Kerosinpreisen. Lufthansa etwa senkte bereits die Treibstoffzuschläge um drei Euro auf der Kurz- und fünf Euro auf der Langstrecke. Dennoch ist die Lage heikel. Der Luftverkehr spürt stärker als andere Branchen den Wirtschaftsabschwung. Die Auslastung der Lufthansa-Flugzeuge sank schon im September um 2,5 Prozent. Setzt sich dieser Trend fort, müssen schon bald Flugzeuge am Boden bleiben. Auch bei den Billigfliegern steigt der Druck, sich zusammenzuschließen und damit Kosten zu sparen. Die Folge: Das Angebot an Plätzen verknappt sich. »In den vergangenen Jahren haben die Kunden enorm vom scharfen Wettbewerb profitiert«, sagt Michael Engel, geschäftsführender Vorstand beim Bundesverband der Deutschen Fluggesellschaften. Die Ticketpreise sind seit Mitte der neunziger Jahre stark gesunken. Zuletzt aber zogen sie wieder an. Engel erwartet, dass die Tickets noch teurer werden, wenn es weniger Konkurrenz gibt.
Nicht unbedingt. Zwar kämen weniger Besucher aus den USA, sagt Hedorfer. Der Rückgang beträgt zwei Prozent, bis Jahresende könnten es fünf Prozent sein. Auch die Briten kommen seltener. Das heißt aber nicht, dass nun massenweise Zimmer leer bleiben. Zum einen zieht es mehr Asiaten und Osteuropäer ins Land. Hedorfer erwartet hier einen Zuwachs von fünf Prozent. Vor allem aber dürfen die Hoteliers auf mehr Gäste aus den Nachbarländern hoffen. Bei Niederländern etwa, ohnehin die wichtigste auswärtige Besuchergruppe, sind Deutschland-Reisen gerade gefragt. Im ersten Halbjahr 2008 kamen von dort zehn Prozent mehr Besucher als noch ein Jahr zuvor. Und diese Klientel, die gerne im eigenen Wagen anreist, wird weiter wachsen, wenn das Fliegen teurer wird.
Gibt es auch Profiteure der Krise?
Ja. Dem Last-Minute-Sektor könnte die Verunsicherung nutzen. »Gerade Familien mit mehreren Kindern warten in Krisenzeiten oft bis zu allerletzten Minute«, sagt Karl Born. Sie wollen erst einmal schauen, wie viel Geld in der Haushaltskasse bleibt. Ist dann der Herbst verregnet, der Nachwuchs quengelig, greifen sie zum Last-MinuteAngebot. »Ein Veranstalter, der in letzter Minute die Kinderzuschläge senkt, könnte also gut dastehen.« Auch All-inclusive-Urlaube sind laut TUI derzeit sehr gefragt. »Die Reise muss gar nicht günstig sein. Wichtiger ist, dass sie kalkulierbar ist.«
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Reisen die Deutschen jetzt mehr im eigenen Land?
Das muss sich noch zeigen. An sich ist DeutschlandUrlaub gerade sehr beliebt. Mecklenburg-Vorpommern etwa wird »gebucht wie verrückt«, sagt der TUI-Sprecher Michael Blum, auch außerhalb der Badesaison. In den ersten sieben Monaten des Jahres zählte das Statistische Bundesamt etwa drei Prozent mehr Übernachtungen aus dem Inland als ein Jahr zuvor. In der letzten Zeit allerdings schwächt sich der Binnentourismus etwas ab. Verlässliche Zahlen lägen auch hier erst im Frühjahr vor, sagt Petra Hedorfer von der Deutschen Zentrale für Tourismus.
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Müssen die touristischen Anbieter sich sorgen?
Ja – wenn sie Investitionen planen. Gerade für kleine oder mittelständische Firmen werde es schwieriger, Kredite zu erhalten, sagt Klaus Laepple. Anträge, die vor ein paar Monaten problemlos bewilligt worden seien, stünden auf einmal infrage. Das treffe auch Anbieter, die lange auf dem Markt sind. Für Busreiseveranstalter etwa werde dies ein harter Winter, weil die Gewinnspannen bescheiden seien und günstige Kredite für den Kauf neuer Busse wichtig. Schwerer noch wird es für neue Projekte. Manches lang geplante Hotel könnte nun an den Kreditvorgaben scheitern. »Wir müssen aufpassen, dass wir nicht unsere Zukunft als Tourismusstandort verspielen«, sagt Laepple.
MITARBEIT: CLAAS TATJE
Illustration: Anne Lueck für DIE ZEIT
Weniger Geschäftsreisen, mehr Last-Minute-Trips: Wie sich die Bankenkrise auf den Tourismus auswirkt VON COSIMA SCHMITT
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»Kein Problem für die Truppe« Dem Kommissarbefehl gehorsam, ermordete die Wehrmacht 1941/42 Tausende gefangene Politoffiziere der Roten Armee
Zu den lang beschwiegenen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs gehört der sogenannte Kommissarbefehl der deutschen Wehrmacht vom 6. Juni 1941. Ihm zufolge waren alle Kommissare der Roten Armee nach ihrer Gefangennahme sofort zu »erledigen«, das heißt zu erschießen. Dieser Mordbefehl, so stand bisher selbst in seriösen Darstellungen zu lesen, sei nur selten ausgeführt worden; nicht mehr als einige Hundert Menschen seien ihm bis zu seiner Aufhebung im Juni 1942 zum Opfer gefallen. Doch wie hoch die Bilanz des Schreckens tatsächlich war, hat jetzt der junge Mainzer Historiker Felix Römer erstmals ermittelt – sein Buch über eines der finstersten Kapitel der Militärgeschichte ist soeben erschienen
OFFIZIERE der 217. Infanteriedivision am 20. Juni 1941 bei einer Besprechung. Rechts: Ein gefangener Kommissar wird verhört. Das Foto entstand am 22. Juni 1941 bei Vištytis (Wystiten) in Litauen
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s ist nun wirklich soweit!« So begann Oberstleutnant Gerhard Kegler Punkt neun Uhr vormittags seine Rede. Es war der 20. Juni 1941, ein strahlender Sommermorgen, nahe der ostpreußischen Ortschaft Hochmühlen, im Aufmarschgebiet an der Ostfront. Kegler hatte die Bataillonskommandeure und Kompaniechefs seines Infanterieregiments 27 zusammengerufen, um ihnen die letzten Instruktionen für den unmittelbar bevorstehenden Angriff auf die Sowjetunion zu erteilen. Einer seiner Offiziere, Oberleutnant d. R. Theodor Habicht, notierte die denkwürdige Rede in seinem Tagebuch. Nach der Bekanntgabe des Angriffstermins kam »der Alte« schnell darauf zu sprechen, was im kommenden Krieg anders sein sollte. »Dieser Krieg«, so lesen wir in Habichts Protokoll, »ist – im Gegensatz zu den bisherigen Feldzügen – als ausgesprochenster Weltanschauungskrieg zu betrachten, als Zusammenprall der äußersten Extreme: Nationalsozialismus – Bolschewismus.« Es sei damit zu rechnen, dass der Kampf »dementsprechend von den Russen (Juden) auch mit der äußersten Grausamkeit und Hinterhältigkeit« geführt werde. Mit dieser zu »erwartenden Kampfweise der Russen« begründete der Kommandeur die »außergewöhnlichen Vorsichtsmaßnahmen und Vollmachten«, die er seinen Offizieren anschließend erteilte: »Jeder Offizier ist berechtigt, ohne Verhandlung Erschießungen vornehmen zu lassen.« Ein beispielloser Freibrief, der sowohl für das Vorgehen gegen die politischen Kommissare der Roten Armee als auch für Repressalien gegen die Zivilbevölkerung galt. Die »Dezimierung« und das »Niederbrennen von Ortschaften als Strafmaßnahme« dürfe jedoch nur von Bataillonskommandeuren aufwärts veranlasst werden. Das Thema der »politischen Kommissare« hob Habicht in seinem Tagebuch hervor, indem er das Stichwort unterstrich und mit einem vielsagenden Ausrufezeichen versah. Ansonsten scheint die Versammlung die Ausführungen des Kommandeurs über die neuen radikalen »Vollmachten« ohne erkennbare Regungen aufgenommen zu haben. Am Ende der Ansprache gab es nur ein »allgemeines Hallo und Hurra!«. Was Oberstleutnant Kegler hier an seine Unterführer weitergab, war eine Kurzform jener »Führererlasse«, die später als »verbrecherische Befehle« in die Geschichte eingehen sollten: der Kriegsgerichtsbarkeitserlass und die Kommissarrichtlinien. Sie trugen unmittelbar dazu bei, dass der von Hitler befohlene »Kreuzzug gegen den Bolschewismus« zu dem wurde, was er bis heute ist: der größte, blutigste, grausamste und folgenreichste Krieg in der Geschichte der Menschheit. Das große Morden im Osten verschlang auf russischer Seite 27 Millionen Menschenleben, auf deutscher über 3 Millionen. Das Schlachtfeld und die besetzten Gebiete wurden zum Schauplatz wesentlicher Abschnitte des Holocausts und zahlreicher weiterer beispielloser Verbrechen, in denen das deutsche Heer von Anfang an eine Hauptrolle spielte. Hitler hatte seine Generäle bereits im Frühjahr 1941 darauf eingeschworen, dass der Krieg gegen den bolschewistischen Erzfeind als »Vernichtungskampf« geführt werden müsse, der die »Anwendung brutalster Gewalt notwendig« mache. Die diensteifrigen Juristen und Generalstäbler im Oberkommando des Heeres (OKH) und im Oberkommando der Wehrmacht (OKW) gossen seine Weisungen in der Folgezeit in schriftliche »Führererlasse« von höchster Geltung. Der Kriegsgerichtsbarkeitserlass vom 13. Mai 1941 erlaubte »kollektive Gewaltmaßnahmen« gegen ganze Ortschaften. Zugleich ermächtigte er jeden einzelnen Offizier, verfahrenslose Exekutionen von »verdächtigen« Zivilisten anzuordnen. Er bildete damit die Grundlage der deutschen Gewaltpolitik gegen die Zivilbevölkerung. Nicht nur die Verantwortlichen in OKW und OKH, sondern auch die meisten Truppenführer hielten den Terror für das einzige Mittel, um der eroberten Gebiete schnell Herr zu werden – und so Stalin im Blitzkrieg zu besiegen.
Fotos: Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg/Breisgau; ullstein (r.)
Auch die 23. Infanteriedivision mit dem ehrwürdigen IR 9 ist dabei Die Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare vom 6. Juni 1941 machten es den deutschen Kampftruppen zur Pflicht, sämtliche an der Front gefangen genommenen Politoffiziere, die in den sowjetischen Einheiten zur Überwachung der Soldaten eingegliedert waren, sofort »zu erledigen«. Daneben sah der Befehl die Erschießung jedes zivilen sowjetischen Parteifunktionärs vor, gegen den auch nur der leiseste Verdacht einer »feindlichen Haltung« vorlag. Der Kommissarbefehl stellte in erster Linie ein ideologisch motiviertes Mordprogramm zur Vernichtung der »Träger der feindlichen Weltanschauung« dar. So sollte der Zusammenbruch der Sowjetunion beschleunigt werden. Während sich der Kriegsgerichtsbarkeitserlass zumindest in Teilen noch auf das Völkerrecht stützte und in Kontinuität zu früheren Praktiken bei der Bekämpfung irregulärer Kombattanten stand, konnte der Kommissarerlass nichts dergleichen beanspruchen. Kaum ein Völkerrechtsverstoß war so offensichtlich wie dies: die systematische Tötung regulärer, uniformierter Kriegsgefangener. Noch nie zuvor waren deutschen Soldaten so unverhohlen und in diesem Umfang von Staats wegen derartig planmäßige Kriegsverbrechen befohlen worden. Umso ungewisser war es, wie das Heer mit diesem Mordbefehl umgehen würde.
Nr. 45 DIE ZEIT
VON FELIX RÖMER
Viele Veteranen und die Apologeten des deutschen Militärs beteuern bis heute, dass die Truppe die Durchführung der Richtlinien einhellig abgelehnt hätte. Die Frage entwickelte sich nach 1945 zu einem der umstrittensten Themen der neueren deutschen Geschichte – ging es dabei doch nicht zuletzt um die Rolle der Wehrmacht im NS-Staat insgesamt. Bis in die siebziger Jahre dominierte eine Version der Ereignisse, in der sich die verklärende Vergangenheitspolitik der frühen Bundesrepublik fortsetzte. Die Schuldigen machte man in OKW und OKH aus. Den Fronteinheiten hingegen stellten Publizisten wie Heinrich Uhlig (in seiner Studie Der verbrecherische Befehl von 1965) pauschale Persilscheine aus: »Viele Kommandeure haben den ›Kommissar-Befehl‹ nicht nur stillschweigend, sondern offen sabotiert, und die Truppe ignorierte ihn in den meisten Fällen.« Erst gegen Ende der siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre entlarvten die Historiker Christian Streit und Jürgen Förster diese Darstellung als Mythos. In ihren bahnbrechenden Beiträgen zeigten sie anhand zahlreicher Beispiele aus den deutschen Mi-
missarbefehls höchstens eine untergeordnete Rolle. Überdies blieben die skeptischen Kommandeure ohnehin in der Minderheit. Die meisten Befehlshaber nutzten ihre weitreichenden Handlungsspielräume nicht dazu aus, zumindest für eine graduelle Abschwächung der Befehle zu sorgen. Manche weiteten das Mordprogramm sogar noch aus. So wies der Oberbefehlshaber der 11. Armee Generaloberst Eugen Ritter von Schobert seine Männer an, nicht nur sämtliche gefangenen Politoffiziere der Roten Armee, sondern grundsätzlich auch alle »politischen Kommissare der Zivilverwaltung kurzerhand zu erschießen«, obwohl dies gar nicht verlangt war. Gleich am ersten Tag des »Unternehmens Barbarossa«, am 22. Juni 1941, begannen an der Ostfront die Exekutionen. Hiervon konnte sich selbst ein Diplomat wie der Legationsrat Josef Schlemann überzeugen, der den Feldzug als Vertreter des Auswärtigen Amts im Stab der 9. Armee miterlebte. Nach fünf Kriegstagen resümierte er: »Die Frage der politischen Kommissare findet eine gründliche Erledigung. Alle festgenommenen pol. Kommissare werden sofort erschossen.«
noch nicht von der Division gefangen genommen« werden konnten, da »sie entweder geflohen« seien »oder bis zu ihrer Vernichtung« gekämpft hätten. Jene, die dennoch in deutsche Gefangenschaft gerieten, entledigten sich rechtzeitig ihrer Rangabzeichen und Personalpapiere, »so dass sie nicht mehr vom gemeinen Mann zu unterscheiden« waren, wie der Nachrichtenoffizier einer Panzerdivision bereits im Juli 1941 beklagte. Mit dieser Überlebensstrategie hatten viele Kommissare zumindest vorläufig Erfolg. Denn die zunehmend überforderten und immer weiter dezimierten deutschen Frontverbände verfügten nicht über die Kapazitäten, um die getarnten Politoffiziere in den amorphen Gefangenenmassen ausfindig zu machen. Hinzu kam, dass der Erlass den Fronttruppen ohnehin untersagte, besondere »Such- und Säuberungsaktionen« anzustrengen, um sie nicht von ihren eigentlichen Aufgaben abzuhalten. Einen beträchtlichen Teil der Kommissare ereilte ihr Schicksal daher erst in den rückwärtigen Gefangenenlagern, wo Abwehroffiziere und SS-Kommandos aufwendige »Selektionen« durchführten. Und so mag denn die Beteuerung vieler Vete-
litärakten, dass ein beträchtlicher Teil der Einheiten an der Ostfront tatsächlich Erschießungen gefangengenommer Politoffizieren durchgeführt hatte. Dennoch kam die Kontroverse nie zum Abschluss. Noch im Jahre 2004 lehrte der Gebhardt, das maßgebliche Handbuch für alle Studenten der Geschichte, es wären bloß »mehrere hundert Gefangene auf Befehl einzelner Offiziere erschossen« worden. Eine vielsagende Einschätzung, nachdem in der Forschungsliteratur bereits annähernd eintausend Exekutionsmeldungen zitiert worden waren und außer Frage stand, dass selbst diese Zahlen längst nicht das ganze Ausmaß des Mordens widerspiegelten. Eine umfassende Untersuchung unterblieb bis in jüngste Zeit, obwohl die deutschen Militärakten seit Ende der sechziger Jahre zugänglich waren. Dies ist jetzt nachgeholt worden. Die Auswertung der Unterlagen sämtlicher Armeen, Korps, Divisionen und Regimenter, die 1941/42 an der Ostfront eingesetzt waren, schafft nun weitreichende Klarheit. Die Umsetzung des Mordbefehls begann bereits, als die Waffen noch schwiegen. Denn schon während der Planungsphase des Feldzugs zeigte sich – so wie im Infanterieregiment 27 –, dass die große Mehrheit der Truppenführer nicht daran dachte, sich den völkerrechtswidrigen Befehlen zu widersetzen. Von beinahe 60 Prozent aller Kommandobehörden des Ostheeres liegen eindeutige Belege darüber vor, dass sie die »Führererlasse« an ihre Truppen weitergegeben haben. Das ist ein hoher Prozentsatz angesichts der Überlieferungslücken, der Konzentration der Akten auf die späteren Kriegsereignisse sowie der Tendenz, diese Vorgänge aus den Unterlagen auszusparen. Der tatsächliche Grad der Konformität mit den Befehlen dürfte bei über 90 Prozent gelegen haben. Dabei boten sich den Kommandeuren durchaus Alternativen. Einige Befehlshaber entschlossen sich einzuschreiten. So empörte sich General John Ansat, Kommandeur einer Infanteriedivision, dass seine Soldaten »keine Henkersknechte« seien, und schränkte den Erlass durch reglementierende Befehlszusätze ein. Er untersagte seinen Truppen, solche Erschießungen vorzunehmen. Zugleich befahl er jedoch, die Politoffiziere zumindest auszusondern und an »andere Stellen« wie die Feldgendarmerie oder die SS-Kommandos auszuliefern, die dann die fälligen Exekutionen übernehmen sollten. Ein typischer Fall: Die begrenzten Interventionen mündeten in der Regel in arbeitsteilige Verfahren ein, die letztlich nichts am Endziel der Vernichtungspolitik änderten und ihre Realisierung sogar erleichterten. Der vereinzelt belegte Widerwille gegen den Befehl rührte vor allem vom traditionellen Selbstverständnis der »fechtenden Truppe« her. Die Übertragung von »Polizeiaufgaben« auf die Kampfverbände galt manchem Truppenführer als ehrenrührige Zumutung. Außerdem befürchtete man negative Auswirkungen auf die Disziplin, sobald die Truppen in einen »Erschießungstaumel« verfallen würden, wie selbst der besonders führertreue Generalfeldmarschall Walther von Reichenau zu bedenken gab. Juristische oder humanitäre Einwände indes spielten selbst für die Kritiker des Kom-
Der Nachrichtenoffizier der Panzergruppe 3, Major Lindner, verbuchte in seinen Unterlagen bis Anfang August 1941 bei den unterstellten Divisionen bereits 170 Erschießungen und bemerkte: »Die Durchführung bildete kein Problem für die Truppe.« Dies zeigte sich auch im Infanterieregiment 27, als ein Spähtrupp des I. Bataillons Ende Juni einen bewaffneten Zivilisten und einen Kommissar aufgriff. Einer der Offiziere beobachtete die Szene ohne Rührung, als der Kommandeur »beide sofort erschießen« ließ: »Der Russe hält stoische Ruhe dabei, der Kommissar geht in die Knie und winselt. Aber es hilft ihm nicht.« Auch Eliteverbände wie die 23. Infanteriedivision, zu deren Truppen das traditionsreiche Potsdamer Infanterieregiment 9 zählte, nahmen bei der Umsetzung des Befehls den Gleichschritt des Ostheeres auf. Am Gefechtsstand der Division traf Ende Juni 1941 ein Gefangenentransport mit einem Sowjetkommissar ein. Der Nachrichtenoffizier der Division, Rittmeister von Albert, erklärte dem Mann nach kurzem Verhör, »daß er als politischer Kommissar und Vertreter des bolschewistischen Systems für die gemeine und hinterhältige Art der russischen Kriegführung verantwortlich gemacht werden« müsse und dass er erschossen werde. Kurz darauf bellten draußen die Gewehre des Exekutionskommandos.
ranen, den Befehl nie befolgt zu haben, durchaus zutreffen, erhielten doch viele Einheiten nie die Gelegenheit dazu. Indes: Je weiter vorn die Verbände kämpften und je heftiger die Gefechte waren, die sie austrugen, je mehr Gefangene sie in kurzer Zeit machten, desto häufiger kamen sie in solche Situationen, und desto höher fiel in der Regel auch die Mordbilanz aus. Nur wenige Offiziere widersetzten sich im Moment der Entscheidung dem Befehl. So verschonte der Kommandant eines Gefangenenlagers im Bereich der Heeresgruppe Mitte einige Politoffiziere. Entgegen den späteren Legenden vom Befehlsnotstand trug ihm dies nicht mehr als den Tadel seiner Vorgesetzten ein, die rügten, dass die »an den Tag gelegte Weichheit falsch am Platze« sei. Wer seine Skrupel nicht überwinden konnte, wählte – wie General Ansat – meist den Ausweg, die Kommissare »nach hinten« abzuschieben, wohl wissend, was sie dort erwartete. All dies geschah nicht allein aus blindem Gehorsam. Motor der Morde war vor allem das weithin geteilte dämonisierende Feindbild. »Hetzer«, »Unterdrücker«, »Henker«: In den Augen der deutschen Soldaten personifizierten die Kommissare nicht nur das Gewaltregime des Bolschewismus, sondern auch den Schrecken der Ostfront. Die zähe, angeblich heimtückische Kampfweise der Rotarmisten, aber auch alle Völkerrechtsverletzungen vonseiten des Feindes, der sich nun an gefangenen Deutschen rächte, führte man auf die »Verhetzung« und den »Terror« durch die Politoffiziere zurück. Viele gaben den Kommissaren sogar die Schuld an den beispiellosen deutschen Verlusten. Je mehr die Soldaten die Erschießungen als legitime Vergeltungsaktionen auffassten, umso weiter schwand ihr Unrechtsbewusstsein. Das Mordprogramm endete erst, als Hitler im Juni 1942 dem wiederholten Drängen seiner Generäle nachgab, den Erlass aufzuheben. Man hatte jedoch nicht die Stimme des Gewissens wiederentdeckt, sondern vollzog nur eine opportunistische Kehrtwende. Denn tatsächlich hatte die Nachricht von den Erschießungen den heftig gewordenen Widerstand der Roten Armee noch verstärkt und dem Ostheer schwer geschadet. Dem militärischen Erfolg aber musste jetzt, nach dem Scheitern der Blitzkriegsstrategie, an der Front alles andere untergeordnet werden. Der Kommissarbefehl war nicht das größte Verbrechen der Wehrmacht. Die Beteiligung regulärer Verbände am Holocaust, die Repressalien gegen die Zivilbevölkerung und die Verantwortung der Armee für das Sterben von über drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen stellen die Morde an den Kommissaren schon quantitativ weit in den Schatten. In kaum einem Bereich aber wirkte die Armee so unmittelbar, aktiv und umfassend an der Realisierung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik mit wie bei der Umsetzung dieses Befehls. Dies zeigt, dass sie längst zu einer tragenden Säule des Regimes geworden war.
S.102
SCHWARZ
Jedes Unrechtsbewusstsein ist verloren gegangen Von fast allen Verbänden, die an der Ostfront kämpften, ist belegt, dass sie den Kommissarbefehl befolgt haben. Berichte über entsprechende Mordaktionen liegen von allen 13 Armeen, sämtlichen 44 Armeekorps und über 80 Prozent der knapp 150 deutschen Frontdivisionen vor. Unter Einbeziehung zusätzlicher Indizienfälle erhöht sich die Quote auf der Divisionsebene sogar auf über 90 Prozent. Ein desillusionierender Befund, nachdem die bislang vorliegenden Quellen deutlich niedrigere Zahlen ergeben hatten. Insgesamt sind in den Unterlagen des Ostheeres fast 4000 Exekutionen an Politoffizieren und Funktionären aktenkundig geworden. Diese gesicherte Mindestsumme übertrifft alle bisherigen Schätzungen bei Weitem. Die tatsächliche Opferzahl muss aufgrund der Überlieferungslücken allerdings noch deutlich höher veranschlagt werden. Vieles spricht dafür, dass sich die Gesamtzahl der Opfer auf eine hohe vierstellige oder knapp fünfstellige Ziffer beläuft, das heißt an oder um die zehntausend Tote. Allerdings betraf diese mörderische Bilanz nur etwa ein Zehntel der Kommissare der Roten Armee. Wie die Wehrmachtverbände aus nahezu allen Frontabschnitten berichteten, fielen die Politoffiziere selten lebend in deutsche Hände. Viele entzogen sich rechtzeitig dem Zugriff, kämpften selbst in aussichtsloser Situation bis zum Letzten oder begingen sogar Selbstmord. Umso mehr galt dies, nachdem die Erschießungen auf sowjetischer Seite bekannt geworden waren. So musste selbst ein Verband wie die WaffenSS-Division Das Reich nach beinahe zwei Monaten Krieg melden, dass »kommunistische Kommissare
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Der Autor ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Mainz. Sein Buch »Der Kommissarbefehl – Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront 1941/42« ist im Verlag Ferdinand Schöningh erschienen (666 S., Abb., 44,90 €)
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Inhalt
45 Titel Unter Investoren
Veruschka und ihre Liebe zur Verkleidung
Bisher hatte Redakteurin Heike Faller die Finanzteile der Zeitungen immer achtlos beiseitegelegt – bis sie sich im Januar unter die Spekulanten begab. Es folgte ein Crashkurs, über den sie nun auch ein Buch schreibt. Es erscheint nächstes Jahr bei DVA
Autorin Christine Lemke-Matwey lernte Vera von Lehndorff in Masuren kennen. Als Veruschka war diese das Topmodel der Sechziger. Auch heute treffen sich beide ab und zu in Berlin. Keiner erkennt von Lehndorff – selbst unverkleidet und nicht verdoppelt wie oben
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Bei Issey Miyake in Tokyo
Brötchenholen mit Olli Dittrich
Der Designer Issey Miyake ist berühmt für seine Plisseekleider. In Miyakes Atelier in Tokyo erfuhr Redakteur Tillmann Prüfer, dass es die sehr asiatische Mode ohne westliche Ingenieure nicht geben würde – sie wird von deutschen Maschinen gefaltet
Autor Jörg Böckem führt oft Protokoll für unsere Träume, diesmal war der Weg zum Interview ungewöhnlich kurz. Als wir ihn baten, den Traum des Komikers Olli Dittrich aufzuzeichnen, antwortete Böckem: »Gern, den treffe ich öfter morgens beim Brötchenholen«
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Diese Woche auf www.zeitmagazin.de Finanzkrise Martin Spechts düstere Fotografien von den Schauplätzen des Crashs – eine Galerie Veruschka Vor 30 Jahren widmete das ZEITmagazin Deutschlands berühmtestem Model einen Titel Moderne Schnitzeljagd Beim Geocaching gehen Schatzsucher mit GPS-Geräten auf die Jagd
Fotos ––– Veruschka Self Portraits by Vera Lehndorff & A. H. Ilse; Hiroshi Iwasaki; Mathias Bothor
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ZEIT MAGAZIN
24.10.2008 17:51:01 Uhr
Harald
Martenstein ermuntert seinen Sohn zum Rebellieren
Mein Sohn lebt jetzt für ein halbes Jahr in Australien. Er geht dort zur Schule. Die Gastfamilie hat eine Menge Kinder und eine Motorjacht. Der Mann ist irgendwie Glasermeister. Die Frau macht was mit Medien. In die USA wollte mein Sohn nicht, weil er Angst hatte, bei christlichen Fundamentalisten zu landen. Im Juni ist er abgeflogen, im Oktober wird er 17, an Weihnachten kommt er zurück und spricht Englisch wie Crocodile Dundee. Jedes Wochenende fährt die gesamte Gastfamilie zum Hochseefischen hinaus auf den Ozean. Mein Sohn wird bereits seekrank, wenn er längere Zeit ein Aquarium beobachtet. Die Familie sagte, dass er die Regeln befolgen muss. Regel Nummer eins in dieser Familie ist, dass am Wochenende Riesenmuränen und weiße Haie gefangen werden und dass keiner an Land zurückbleibt. No one is left behind. Nach dem ersten Wochenende auf See hat mein Sohn angefangen, christlichen Fundamentalismus mit milderen Augen zu sehen. Beim Beten hat er sich auch noch nie übergeben müssen. Jetzt gab es auch das Problem mit dem Gemüse. Diese Familie isst nur Salat und Gemüse, jedes Mitglied bekommt bei jeder Mahlzeit genau ein Schüsselchen davon. Die weißen Haie fangen sie nur, sie essen sie nicht. Zucker, Fleisch und Fett sind streng verboten. Mein Sohn hat immer heimlich Hamburger und Schokoriegel gekauft. Schon in seinem ersten Brief schrieb er, dass er mehr Geld braucht, wegen der Hamburger. Auch die Gastmutter schrieb. Mein Sohn habe nachts in der Küche vier Schüsseln Vollwert-Cornflakes gegessen, anschließend ein ganzes Brot. Er esse zu viel, er halte sich nicht an die Regeln, er sei nicht gut erzogen. Er sei rebellisch. Vom ersten Tag an habe er rebelliert. Er schlafe am Sonntag bis 12 Uhr, statt ins Museum zu gehen, obwohl sie es ihm gesagt habe. Sie hat ihm eine Liste von Sehenswürdigkeiten gegeben, jeden Sonntagvormittag soll er eine besichtigen und dann davon berichten. Er will aber schlafen, surfen und nichts berichten. Nachdem er ausgeschlafen hat, steht er auf und surft bis zum Abend, offenbar mit einer Freundin. Über die Freundin schreibt mein Sohn nichts. In seinem
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zweiten Brief schrieb er, dass er noch mehr Geld braucht. Die Frau schrieb, er esse heimlich Zucker. Immer wieder. Nachts in der Küche. Mein Sohn schrieb, dass die Frau Wutanfälle bekommt, wenn er Zucker isst. Er braucht Geld für Zucker. Ich habe Wut auf diese Frau bekommen. Zucker ist doch völlig legal. Dann fing sie an, nicht mehr mit ihm zu reden. Wenn sie etwas von ihm wollte, schrieb sie ihm Briefe. In einem Brief stand, dass er seinen Müll nicht ordentlich trenne. Ich dachte: Mülltrennen – typisch deutsch. In Wirklichkeit sind wir Deutschen beim Mülltrennen relativ locker. Mein Sohn solle von nun an am Abendbrottisch jeden Abend vor der Familie ein Detail seiner Persönlichkeit schildern und zur Diskussion stellen. Zum Beispiel, warum er so viel Zucker isst. Mein Sohn antwortete, das werde er nicht tun. Er ging ins Bett und schlief extra lange. Am Nachmittag surfte er. Nachts aß er Zucker und schrieb eine Mail. Er brauche mehr Geld. Mein Sohn ging zu der Austauschagentur und sagte, dass er eine neue Familie haben will. So geschah es. Mein Sohn schreibt, er braucht noch mehr Geld, weil er sich jetzt ein neues Surfbrett kaufen will. Er ist ein Hippie, ein Rebell. Der Kollege, der neulich im Feuilleton über die angepasste Jugend geschimpft hat, die nichts mehr will, sollte meinen Sohn sehen! Er isst Zucker. Er schläft. Er trennt den Müll nicht. Das finde ich gut und schicke immer mehr Geld. Denn das will er.
» Die australische Gastmutter schrieb, mein Sohn esse zu viel und halte sich nicht an die Regeln«
Illustration Jörn Kaspuhl ––– Zu hören unter www.zeit.de/audio
22.10.2008
9:41:14 Uhr
Das Tier im Mittelpunkt
45 Dackel in St. Petersburg Foto von Jörg Koopmann
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23.10.2008
9:09:16 Uhr
Deutschlandkarte
Elektroautos Wo sind sie zugelassen? Flensburg
Kiel Rostock Lübeck Neubrandenburg Bremerhaven
Schwerin
Hamburg
Bremen Lüchow
Barnim
Wolfsburg
Berlin Potsdam
Hannover Osnabrück
Duisburg
Hildesheim
Bielefeld
Münster
Magdeburg Cottbus
Dortmund
Halle
Göttingen
Leipzig
Kassel
Düsseldorf
Jena
Eisenach
Köln
Erfurt
Gera
Aachen
Chemnitz
Dresden
Zwickau
Bonn Koblenz
Coburg
Wiesbaden Frankfurt
Zahl der Elektroautos pro Zulassungsbezirk
Mainz Darmstadt
Saarbrücken
Regensburg
Karlsruhe Stuttgart
Ingolstadt Passau
Böblingen Ulm
Augsburg München
Freiburg Rosenheim
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Nürnberg
Mannheim
Böblingen: 68 Stuttgart: 26 Barnim: 25 München: 24 Aachen: 23 Berlin: 19 Köln: 19 Nürnberg: 19 Hamburg: 17 Hannover: 15
Bamberg Würzburg
Konstanz
Kempten
Infografik Ole Häntzschel ––– Quelle Kraftfahrt-Bundesamt
24.10.2008 16:35:04 Uhr
Worte der Woche ... die leider nicht gesagt wurden
»Freibier für alle!« Schauspieler Peter Sodann, Kandidat der Linkspartei für das Amt des Bundespräsidenten, fordert nicht nur Gefängnishaft für Josef Ackermann »Außer für Reiche natürlich!« Oskar Lafontaine, Chef der Linkspartei, zum selben Thema
»Typisch.« Gerhard Schröder, Altbundeskanzler, zum selben Thema
»Das Niveau wäre zu hoch geworden.« Dieter Bohlen, Pop-Produzent, zum Rauswurf des neuen Jurors Max von Thun bei »Deutschland sucht den Superstar«, der Schauspieler ist und auch in einer Band singt
»L’industrie, c’est moi.« Nicolas Sarkozy, französischer Staatspräsident, zu seinem Vorschlag, angesichts der Finanzkrise wichtige Industriezweige zu verstaatlichen
»Ich könnte ihm ein paar Tipps geben. Gegen Geld.« Heather Mills, Exfrau von Paul McCartney, zur bevorstehenden Scheidung von Madonna und Guy Ritchie
»Muss ich jetzt zum Linienrichter?« Berkant Göktan, Stürmer des TSV 1860 München, der wegen Kokainkonsums entlassen wurde
»Die Länge ist nicht entscheidend.« Daniel Craig, 007-Darsteller, zu seinem neuen Film, der kürzer ist als alle James-Bond-Filme zuvor
Deutschlandkarte – die Analyse Elektroautos geht es wie dem Fernsehsender Arte. Sie werden geliebt, aber selten gesehen. Auf der Karte steht jeweils ein Autosymbol für ein Auto in der Wirklichkeit. Im ganzen Land sind nur 1436 Elektroautos zugelassen. Als der Ölpreis auf Rekordhöhe war, schien es, als werde der Elektro- den Verbrennungsmotor bald ablösen, von »Revolution« war die Rede. Unerwähnt blieb, dass der Markt für diese Autos gerade schrumpfte, von sehr klein auf sehr, sehr klein. Zugelassen wurden: 20 Autos im Jahr 2006, 12 im Jahr darauf, 5 bislang in diesem. Fünf! Die meisten Elektroautos stammen aus der Zeit des Ökoidealismus – und aus dem Schwarzwald. Dort gab in den Neunzigern einen Autobauer namens Hotzenblitz, einen Star der Automobilmessen. Die großen Autobauer forschten ein wenig (daher die höheren Zahlen in Stuttgart, München, Köln), zu einem Serienmodell schafften sie es nie. Es bremste sie wohl die Einsicht, dass die Deutschen einfach keine Autos mögen, die leise und brav sind. Matthias Stolz Illustrationen ––– Frank Nikol
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Ich gegen den Dax Kann ich mein Geld in zwölf Monaten verdoppeln? Mit dieser Frage verabschiedete sich unsere Kollegin Anfang des Jahres. Sie reiste zu den internationalen Schauplätzen der Finanzwelt, setzte auf äußerst riskante Investitionen – und machte mitten im Crash ihre größten Gewinne Von Heike Faller
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Fotos Axel Hoedt
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Im Londoner Bankenviertel, am Ende der schlimmsten Börsenwoche seit 1929
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n einem Abend im April stand ich mit einem Finnen, der mir als »ultrareich« vorgestellt worden war, am Flughafen von Kopenhagen. »Große Krisen bergen die Gefahr, dass viele ihr Geld verlieren«, sagte er, ganz sachlich, als wir in der Check-in-Schlange warteten. »Und dass einige wenige viel Geld gewinnen.« Ich hatte ihm gerade erklärt, warum ich hier war: Anfang des Jahres hatte ich mich unter die Spekulanten begeben mit dem Ziel, einen Geldbetrag, maximal 20 000 Euro, zu verdoppeln. Nicht aus Geldgier, sondern weil mir das Streben nach Profit einfach der beste Reiseführer schien durch die wilde Welt des entfesselten Kapitalismus. Ich wollte Märkte und Messen besuchen und Börsen obskurer Länder. Ich wollte die Welt durchkämmen und mich dabei nur von einem Prinzip leiten lassen: dem der Gewinnmaximierung. Über das, was ich unter Fondsmanagern und Spekulanten erlebte, wollte ich ein Buch schreiben. Als ich mit dem Finnen am Flughafen stand, waren wir auf dem Weg in den Nordirak, zusammen mit dem schwedischen Manager eines Fonds namens »Babylon«, der als erster nach dem Krieg in irakischen Aktien investiert hatte. Das Land ist reich, wird langsam sicherer, die Aktienkurse lagen am Boden – das war, zusammengefasst, die Idee. Außerdem gebe es, so wurde mir erklärt, kaum eine Börse, die so abgeschnitten sei von den weltweiten Finanzströmen wie die irakische, was bei der Krise im Westen, die bereits in der Luft lag, natürlich ein Vorteil sei. Der Finne schien mein Vorhaben weder lächerlich noch größenwahnsinnig zu finden. »Verdoppeln«, sagte er. »Verdoppeln. In einem Jahr. Okay. Lass mich nachdenken.« Dann schloss er die Augen und lenkte seine Energien offenbar in den Teil des Gehirns, der für riskante Finanzanlagen zuständig war. Schließlich sagte er: »Ich kenne eine Papiermühle in Nordfinnland. Sie ist extrem unterbewertet. Sie hat ernste Probleme. Der Kurs ist extrem gesunken. Wenn sie überlebt, sind fünfzig Prozent Rendite möglich. Für hundert Prozent brauchtest du Leverage. Kennst du Leverage?« Ich nickte stolz. Leverage ist die Kunst, durch Schuldenmachen seine Rendite zu steigern. Früher hatte ich geglaubt, dass nur Arme Schulden haben. Aber unter Spekulanten wurde mir klar, dass die Reichen die größten Schuldner sind. Das Konzept des Leveragings war mir im März begegnet, als die amerikanische Investmentbank Bear Stearns nur durch eine Zwangsverheiratung vor der Pleite bewahrt werden konnte: Sie hatte (wie fast alle Banken und Hedgefonds)
Fremdkapital zu billigen Zinsen aufgenommen in der Hoffnung, mit dem fremden Geld mehr zu erwirtschaften, als sie dafür bezahlen musste. Leverage, zu Deutsch Hebelwirkung, entsteht dann, wenn die Rendite die Schuldzinsen übersteigt. Steigen die Zinsen oder sinkt die Rendite, dann kann daraus über Nacht ein Bankrott werden. (Das billige Geld der letzten Jahrzehnte, das die Banken dazu einlud, Kredite aufzunehmen, hat diese Praxis gefördert – weshalb jetzt immer öfter Alan Greenspan für die Krise verantwortlich gemacht wird, der den Leitzins über Jahre niedrig gehalten hatte. Ich habe mein halbes Leben in einem »Zinstal« verbracht, aber das beginne ich, wie viele, erst jetzt zu begreifen.) Damals am Flughafen von Kopenhagen lernte ich meine Anfängerlektion Kapitalismus: Wer sein Geld verdoppeln möchte, schafft dies nicht durch Cleverness oder Fleiß. Er muss dafür vor allem ein hohes Risiko eingehen. Risiko und Rendite sind im Kapitalismus auf so existenzielle und tragische Weise verbunden wie siamesische Zwillinge: Eins kann nicht ohne das andere. Wer investiert, setzt sein Geld, wie beim Roulette, für einen bestimmten Zeitraum dem Lauf des Schicksals aus. Das gilt übrigens auch für Oma-Anlagen. Sie gehen selten pleite, aber sie können pleitegehen, und Sparbuchzinsen sind nicht, wie ich das seit den Weltspartagen meiner Kindheit geglaubt hatte, der Lohn fürs brave Sparen, sondern der (geringe) Lohn der (geringen) Unsicherheit. Wer beim Roulette sein Geld auf eine Zahl setzt, hat eine Chance von 1 : 37, das 36-Fache seines Einsatzes zurückzubekommen. Wer sein Geld auf Rot oder Schwarz setzt, verdoppelt seinen Einsatz mit einer Wahrscheinlichkeit von nahezu fünfzig Prozent. Wer es aufs Bankkonto legt, der bekommt nur drei Prozent, aber dafür gehen Banken auch nur einmal oder zweimal pro Jahrhundert bankrott. Hohes Risiko – hoher Gewinn; kleines Risiko – kleiner Gewinn. Es ist das Grundgesetz des Kapitalismus, an diese einfache Tatsache sollte man sich halten. Auch wenn in den letzten Jahren selbst vergleichsweise vorsichtige Banker wie Josef Ackermann gehofft haben mögen, mit »innovativen Finanzinstrumenten« die siamesischen Zwillinge getrennt zu haben. N
och vor neun Monaten konnte ich keinen Wirtschaftsteil lesen, weil ich nach höchstens drei Sätzen an einer mir unbekannten Vokabel hängen blieb. Ich hätte nicht erklären können, was einen Hedgefonds von einem braven Deka-Fonds unterscheidet. Ich verstand nur ansatzweise, warum alle Welt auf die »Zinserhöhungen« oder »Zinssenkungen« des »Zentralbankvorsitzenden« wartete,
und immer wenn ein Politiker über eine Abschwächung des Wirtschaftswachstums klagte, spürte ich einen leisen Widerstand, weil mir nicht klar war, wozu die Wirtschaft eigentlich immer weiter wachsen musste. Ging es uns nicht auch so schon gut genug? Wie viele Leute war ich »im Kapitalismus« groß geworden, ohne je eines seiner Sakramente empfangen zu haben: Ich habe noch nie einen Kredit aufgenommen, noch nie »Produktionsmittel« besessen, erst spät mein Geld »für mich arbeiten lassen«: Das war vor vier Jahren, als ich die erste Investitionsentscheidung meines Lebens fällte. Damals habe ich, mehr aus einem Gefühl heraus, meine Ersparnisse in Edelmetalle gesteckt. Zwei bayerische Bankrebellen, die zu dieser Zeit bei einer kleinen Sparkasse arbeiteten, hatten mich auf die Idee gebracht. Der Westen sei unrettbar verschuldet, erzählten sie, Greenspan »pumpe« seit Jahren mehr Geld in die Wirtschaft, als Amerika erarbeite, es drohten Übertreibungen, Bankenpleiten und früher oder später eine Inflation. Das war 2004. Die beiden Propheten, die mir das verrieten, arbeiteten damals bei den Vereinigten Sparkassen Oberpfalz, Neustadt an der Waldnaab, Vohenstauß. Sie waren kurz zuvor im FAZ-Wirtschaftsteil (den ein Kollege gelesen hatte) dadurch aufgefallen, dass sie in einer Zeit großer Kursverluste mit ihrem »Musterdepot« unglaubliche Gewinne erzielt hatten. Sie hießen Christian Wolf und Uwe Bergold und sprachen davon, dass gegen all jene Geißeln nur Gold helfe, von alters her die Ersatzwährung der Menschheit. Ich konnte natürlich nicht beurteilen, ob das stimmte. Aber mir gefiel, dass sie bayerisch sprachen und dass sie ein Angebot aus Frankfurt abgelehnt hatten, weil sie sich nicht dem »Herdentrieb« der Anzugträger unterwerfen wollten, der die Jasager belohne, solange sie nur Fehler machten, die alle machten. Herrrdentrrieb, sagten sie, mit böse grollendem r. Ihr Büro war ebenerdig. Ich sah aus dem Fenster. Mit Blick auf Felder und Wälder und einem netten Sparkassendirektor im Rücken konnte man offenbar weitsichtigere Entscheidungen treffen als in einem Bankenhochhaus in Frankfurt. Ich kaufte mir Gold, Silber, Palladium, Platin in Barren und Münzen und schichtete diese vorsichtig in ein Kästlein, das ich in einem Schließfach der Sparkasse deponierte. Als Geheimnummer wählte ich eine Zahl, die ich mir gut merken konnte: 1929. So wie damals, hatte man mir gesagt, würde die Welt aussehen, wenn ich eines Tages wiederkäme, um meine Schätze abzuholen. Als ich Jahre später auf den Goldpreis blickte, hatten sich meine Ersparnisse verdoppelt. Das gab mir das Selbstvertrauen – auch ohne detaillierte Kenntnisse von KursGewinn-Verhältnissen –, Geld an den Märkten verdienen zu können. Anscheinend
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Zu Gast im Handelsraum der Londoner Investmentfirma SVS Securities
Der Eingang des Bürogebäudes – eine Säule der Finanzwelt
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Der Chefhändler der Firma SVS. An turbulenten Tagen betreibt er »Range Trading«: Kaufen und schnell wieder verkaufen
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hatte ich zumindest ein gutes Händchen in der Auswahl von Finanzberatern. Als ich Anfang dieses Jahres mein Experiment der Geldvermehrung begann, spekulierte ich also, geprägt von den beiden Goldpropheten, darauf, Geld an einer Katastrophe zu verdienen. Das mag sich unsympathisch anhören, aber es erschien mir nicht unmoralisch, mein Geld in Anlagen zu stecken, deren Wert in Krisenzeiten steigen würde. Gibt es einen Grund, zu verarmen, nur weil andere verarmen? Sollten diesmal die Banken ihr Geld verlieren. Ich würde Kuchen essen. B
ereits im Sommer 2007 schienen sich die apokalyptischen Prognosen der Bayern zu bewahrheiten. Deutsche Landesbanken bekamen ernste Liquiditätsprobleme, nachdem ihre Bilanzen von amerikanischen Hypothekenpapieren kontaminiert worden waren. Von Inflation war die Rede. Der Goldpreis kletterte stetig seinem neuen Rekord entgegen. Ich entnahm den Wirtschaftsteilen, die ich nun immer flüssiger lesen konnte, dass die US-Immobilienwerte sanken, was ein Problem war, weil sie eigentlich als Sicherheit hatten dienen sollen für
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Darlehen, die auf dem Weg der »Verbriefung« handelbar gemacht und weltweit verschickt worden waren. Und ich lernte, dass diese Verbreitung jener Schuldscheine (die mittlerweile auch Laien als Collateralized Debt Obligations oder CDOs kennen) das Risiko nicht streute, sondern wie eine Viruskrankheit die ganze Welt ansteckte. Im November 2007, kurz bevor mein Spekulantenjahr begann, war ich mit Wolf und Bergold auf der Goldmesse in München verabredet, um das weitere Vorgehen zu besprechen. »Denken Sie nicht, dass ich einen Teil meiner Gewinne diversifizieren sollte?«, fragte ich sie, als ich endlich zu ihnen vorgedrungen war. Parallel zum Goldpreis waren die beiden in der öffentlichen Wertschätzung stark gestiegen. Anzugmänner zupften und zerrten an ihnen wie rumänische Waisenkinder an potenziellen Adoptiveltern. »Diversifizieren ist immer gut«, sagte Wolf. »Aber beim Gold ist das Signal zum Ausstieg noch nicht da. Fundamental spricht alles für einen krassen Anstieg. Wenn wir uns in einem Jahr wiedersehen, wird eine Menge passiert sein.« Wenn Diversifizieren »immer gut« ist, war die Frage nur: Was, außer Gold, würde in einem zusammenbrechenden Finanzsys-
tem noch gut laufen? Hätte ich Anfang des Jahres bereits gewusst, wie man von sinkenden Bankkursen profitiert, hätte ich es vielleicht getan. Aber damals beherrschte ich diesen Trick noch nicht. Mangels besserer Ideen kaufte ich Call-Optionsscheine auf Gold und Goldminen, das sind »Finanzprodukte«, die überproportional von Kurssteigerungen profitieren. Nach meinem Besuch in Kurdistan kaufte ich außerdem, überzeugt von der »Irak-Story«, Aktien eines Hotels und einer Bank in Bagdad. Und ich ging eines Tages mit 7500 Euro in der Tasche ins Spielkasino, um mich gegen die Gefühle der Gier und der Angst zu desensibilisieren, die man angeblich im Griff haben muss, wenn man Geld an den Märkten verdienen will. (Ich behielt sie im Griff.) Meine Spekulantenkarriere war gerade ein paar Monate alt, als mein Katastrophenszenario nach und nach Wirklichkeit wurde. Trotzdem lag ich summa summarum 2500 Euro im Minus. Wie konnte das sein? Seit Jahren war mir eingebläut worden, dass Gold von Krisen profitiere, nun aber sank sein Preis. Wie in einem schlechten Krimi tauchten mit einem Mal neue Faktoren auf, die das Geschehen beeinflussten und von denen anfangs keine Rede gewesen war. Plötzlich hieß es, der Goldpreis hänge nicht nur mit dem
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Vertrauen in die Finanzmärkte zusammen, sondern auch mit dem Ölpreis, der zu jener Zeit bereits wieder im Sinken begriffen war (und der seinerseits mit hunderttausend, sich gegenseitig beeinflussenden Faktoren zusammenhing). Meine Verwirrung erreichte ihren Höhepunkt an dem Tag, an dem der Goldpreis um neun Euro abstürzte, was damit erklärt wurde, dass auch der Ölpreis gesunken sei, was wiederum damit erklärt wurde, dass die Firma Chevron eine Pipeline in Nigeria wieder in Betrieb genommen habe, wodurch das Angebot erhöht worden und somit der Preis gefallen sei. Hä? Ich geriet in eine wochenlange Phase der Lähmung. Je mehr ich über die Märkte wusste, desto klarer wurde mir, was ich alles nicht wusste. Und dass Leute, die sich seit Jahren mit der Materie beschäftigten, genauso ratlos waren wie ich. In der Financial Times, die ich mittlerweile täglich las, vertraten die einen jene, die anderen die gegenteilige Meinung, die dritte Fraktion wog beide Meinungen ab. Finanzmänner neigen nicht zu großspurigen Aussagen über die Zukunft. Wer in seinem Portfolio ständig sieht, wie oft er falsch gelegen hat, lernt schnell, den eigenen Vorstellungen zu misstrauen. So machohaft die Fondsmanager, die ich kennenlernte, sich geben mochten: Wenn man sie nach der Zukunft fragte, hatten sie alle etwas auffallend Demütiges, Mürbes, Vorsichtiges. Wie Männer eben, die schon viele Niederlagen erlitten haben. Im August bekam ich Beileidsmails von meinen neuen Freunden. »Musste neulich an Dich denken«, schrieb der Irak-Fonds-Manager. »Sind keine einfachen Marktbedingungen für ein Projekt wie Deines.« Ich rief den Finnen an: Konnte es denn wirklich sein, dass die Bankenkrise schon vorbei war? »Manche denken das. Andere haben Angst, dass wir das Schlimmste noch nicht gesehen haben«, sagte er düster. »Ein Großer könnte sich dieses Jahr noch verabschieden.« »Ein Großer?« »Eine große Bank.« »Also bleibe ich in Gold?« »Wenn ich du wäre, würde ich jetzt wirkliche Investitionen machen. In solide Unternehmen mit einem guten Geschäftsmodell.« »Ich glaube dir, Juha«, sagte ich, »jedenfalls was mein privates Geld angeht. Aber was mein Buchprojekt angeht, da habe ich einfach nicht mehr jahrelang Zeit.« »Hör auf zu spekulieren und mach langfristige, solide Investments. Aktien von Unternehmen, die du gut kennst, solide Firmen. Warte auf eine wirklich schlimme Woche, wenn es die Märkte durchschleudert, und dann rein in den Markt.« »Es gibt keine Unternehmen, die ich richtig gut kenne, Juha.«
Er schwieg. »Glaubst du denn, es schleudert die Märkte noch mal durch?«, fragte ich. »Es gibt Menschen, die das glauben«, sagte er geheimnisvoll. »Glaubst du, es wird bald passieren?« »Keiner kennt den Tag, Heike.« M
arktteilnehmer können ihre Entscheidungen nicht allein auf der Grundlage von Informationen treffen«, schreibt George Soros, einer der erfolgreichsten lebenden Spekulanten, der im Lauf dieses Jahres immer mehr zu meinem Vorbild wurde. Das Wissen der Handelnden sei immer unvollständig, sie neigten zu Fehlurteilen. Eigentlich wollte Soros damit das herrschende Paradigma vom perfekten Markt infrage stellen, der die Dinge besser regle als zum Beispiel der Staat. Mich befreite er damit von dem Zwang, alles verstehen zu müssen, ehe ich kaufte. »Wenn man sehr rational ist und organisiert handelt«, sagte er einmal, »ist es schwieriger, reich zu werden, als wenn man fantasievoll und dynamisch ist. Wir leben nicht in einer perfekten Welt. Deshalb ist es nicht schlecht, wenn man selbst auch nicht so perfekt ist.« Wer würde sich da nicht wiedererkennen? Wer investiert, muss sich klarmachen, dass seine Entscheidung immer auch eine Glaubensfrage ist, weil man niemals alles wissen kann. Und selbst wenn man mit seiner Einschätzung eigentlich richtiglag, kann man im Timing danebenliegen und in den Jahren des Darbens Mut und Geld verlieren. Falls sich also, wie in meinem Fall, die Dinge anders entwickelten, als man geglaubt habe, erklärte mir ein Fondsmanager, müsse man sich deshalb nur eine Frage stellen: »Hat sich an meinen Grundannahmen etwas geändert?« Falls nicht, gelte es vor allem: Haltung zu bewahren. Ich stellte mir also die Gretchenfrage. Hatte sich an meinen Annahmen etwas geändert? Die Antwort war: nein. Ich glaubte weiterhin daran, dass alles noch viel schlimmer werden würde. Warum? Bauchgefühl. Im August kaufte ich mir also ein Portfolio zusammen, mit dem ich Geld an Katastrophen und Krisen der Finanzwelt verdienen würde. Ich nannte es mein »Portfolio Miserabilis«. Es bestand aus Aktien von börsennotierten Pfandleihketten in England und Amerika, mit denen es in einer Krise ja nun wirklich aufwärtsgehen müsste, sowie einer Goldmine, weil ich von der Goldstory trotz aller Rückschläge nicht loskam. In der Zwischenzeit hatte ich zudem gelernt, wie man von fallenden Aktien profitieren kann. Ich hatte sogenannte Put-Optionen gekauft, das sind Papiere, die steigen, wenn der Kurs – das Underlying –, auf den sie gesetzt haben,
fällt. Auf diese Weise wettete ich gegen verschiedene Banken sowie gegen den britischen Aktienindex FTSE, weil ich gelesen hatte, dass der Wertverfall britischer Immobilien erst noch so richtig losgehen würde. Des Weiteren hatte ich noch Puts auf Versicherungen gekauft. Ein pensionierter Bankmann hatte mich auf die Idee gebracht. »Haben Sie schon mal von CDS gehört, Credit Default Swaps?«, hatte der silberhaarige Gentleman zu mir gesagt, ein ehemaliger Deutschland-Chef einer amerikanischen Bank, der so nett war, mir hin und wieder ein bisschen Nachhilfe zu geben. Das war im Sommer, und ich hatte zu diesem Zeitpunkt gerade mal gelernt, was CDOs waren. CDS kannte ich noch nicht. »Das sind Kreditausfallversicherungen«, sagte er, während wir in einem Berliner Café Sahnetorte mampften. »Und wer bekommt jetzt als Nächstes Probleme?«, fragte ich in der Hoffnung auf neue Anlageideen. »Überlegen Sie sich einfach mal«, sagte er, »wer Credit Default Swaps bereitstellt.« Versicherungen! M
ein Portfolio Miserabilis war gerade ein paar Tage alt, als an einem Wochenende Mitte September über die Zukunft der angeschlagenen Investmentbank Lehman Brothers verhandelt wurde. Den Montagmorgen verbrachte ich – in der Gewissheit, dass Lehman über Nacht einen Käufer gefunden hatte und meine Wette mal wieder nicht aufgegangen war – beim Zahnarzt in Charlottenburg und blätterte in der Financial Times. Neben mir telefonierte ein Typ, der plötzlich in meine Richtung sagte: »Lehman ist pleite.« Die lachsfarbene FT, die mir seit einem halben Jahr immer aus irgendeiner Tasche guckte, wurde von Männern im Allgemeinen so gedeutet, dass sie mich, halb flirtend, um einen Aktientipp bitten konnten. Meistens musste ich sie enttäuschen. Seitdem ich unter die Spekulanten gegangen war, steckte ich so tief in den Märkten, dass eine harmlose Frage bei mir einen zehnminütigen, ZeugenJehovas-artigen Vortrag über den drohenden Kollaps des Dollars, das Ende der Finanzwelt, die Geldmenge M3 und das Jahr 1929 triggerte. An diesem Tag, beim Zahnarzt, hob ich nur kurz den Daumen, als ich von der Lehman-Pleite hörte. Der Mann neben mir telefonierte mit einem Geschäftspartner in London. »Hier hat offenbar jemand gegen Lehman gewettet«, sagte er und ging raus, weil er im Gegensatz zu mir offenbar nicht von den Weltläuften profitierte und erst mal eine rauchen musste. Ich hielt zwar keine Puts auf Lehman, aber die Tatsache, dass die Regierung sich
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entschlossen hatte, die Investmentbank nicht zu retten, konnte nur bedeuten, dass die Aktionäre auch das Vertrauen in sämtliche anderen Finanzwerte verloren hatten. Die Börse, auch das hatte ich gelernt, reagiert in Zeiten von Panik selten differenziert, sondern nimmt gleich alle in Sippenhaft. Und so war es auch. Als ich am Nachmittag dieses schwarzen Montags die Kurse überprüfte, war mein Portfolio Miserabilis dank der Puts innerhalb einer Woche um 800 Euro gestiegen. Die Gewinne auf den Aktienindex, 500 Euro, kassierte ich. Die Banken behielt ich. Ich ging weiter davon aus, dass alles noch schlimmer werden würde. Und tatsächlich kam am Tag darauf die amerikanische Riesenversicherung AIG in Schwierigkeiten. E
nde September flog ich nach London, um das Ende dieser fürchterlichsten Börsenwochen seit dem Crash von 1929 mitzuerleben. Es war acht Uhr morgens, und die Sonne schien weiß auf die gebeinfarbenen Fassaden des Londoner Finanzdistrikts. Ich stand am Ausgang der U-Bahn-Station Bank und beobachtete Männer in Nadelstreifen und Frauen in Kostümen der Größe Zero, wie sie die letzten Stufen ans Licht nahmen und in ihre Büros hasteten, vorbei an einem Zeitungsverkäufer, dessen Schlagzeilen sie schon kannten: »Zentralbanker schlagen zurück«, stand auf der Titelseite der Financial Times. Am Abend zuvor hatte die britische Finanzbehörde das Shortselling für 29 Aktien aus dem Finanzbereich verboten, also das Spekulieren auf deren fallende Kurse. Dank des neuen Gesetzes wussten nun auch die Leser von Boulevardzeitungen, wie eigentlich das Wunder funktionierte, Geld an fallenden Kursen zu verdienen: Spekulant leiht sich eine Aktie von großem Investor und zahlt dafür eine Gebühr. Dann verkauft er das Papier in der Hoffnung, es später, nachdem die Preise gefallen sind, billiger zurückkaufen (und zurückgeben) zu können. Die Differenz ist des Spekulanten Gewinn. Und natürlich trägt er mit seinen Verkäufen dazu bei, den Preis weiter zu drücken. »Jetzt bluten die Hedgefonds«, schrieb eine Boulevardzeitung. (Konventionellen Fonds war das Selling nur in gewissen Grenzen erlaubt. Deshalb wurden vor allem die offshore, also in unregulierten Südseeparadiesen registrierten Hedgefonds für die Kursstürze verantwortlich gemacht.) Ich war in London mit dem Manager einer kleinen Investmentfirma verabredet, der sich bereit erklärt hatte, mich ein paar Tage beim Handeln zuschauen zu lassen. Die Firma, SVS Securities, verkaufte irgendein neuartiges »Finanzprodukt«, mit dem vor allem Privatanleger von »Kursdifferen-
zen« profitieren konnten. Ich verstand nicht genau, welch ein Konstrukt das sein sollte, war aber dankbar, dass es in so einer Woche in der »City« überhaupt Leute gab, die mit mir reden wollten. Das Büro war im Erdgeschoss eines zweistöckigen Altbaus, umstellt von Bürohochhäusern. Torben Friis, der Manager, holte mich am Empfang ab. Im Vorbeigehen öffnete er für mich kurz die Tür zum »Trading Floor«: Ich sah junge Männer in weißen Hemden, die stehend telefonierten, Geschrei, Gewusel. Dann schloss er den Raubtierkäfig schnell wieder, und wir gingen in einen Park um die Ecke, um die Ereignisse des noch neuen Tages zu besprechen. »Geld ist wie Wasser, es findet immer einen Weg zu laufen«, sagte er zum Shortselling-Verbot, mit dem verhindert werden sollte, dass den Bankaktien weiter Kapital entzogen wurde. Torben war Däne, und er bestand darauf, deutsch mit mir zu sprechen, was sich bei Dänen immer ein wenig kindlich anhört. Mir war es recht, so konnte er zumindest nicht in Fachjargon verfallen. »Seit heut Nacht gibt es blöde Regel von die Behörde«, erklärte er das neue Gesetz. »Ich weiß«, sagte ich. »Ich habe auch gegen Banken gewettet.« Er grinste anerkennend. »Du bicht auch short?« »Na ja, nicht in großem Stil«, sagte ich und erzählte ihm von meinem Portfolio Miserabilis. Trug ich mit meinen Put-Optionen denn tatsächlich eine Mitschuld an den fallenden Kursen? »Möglich«, sagte Torben. Musste auch ich verkaufen? »Alle Short-Positionen muss bis Dienstag geschlossen werden. Kann sein, du bekommst E-Mail von deine Bank, dass sie muss leider deine Opchion verkaufen. Ist wie immer: gut für Bank als Mittelmann, schlecht für die Kunde.« Bei meinen Gesprächen mit Finanzmännern hatte ich noch keinen getroffen, der nicht voller Kritik für »das System« gewesen wäre. Die Banker: inkompetent, gierig, arrogant; die Zentralbank: eine Gelddruckmaschine; Greenspan: an allem schuld; das Geld selbst: zunehmend wertlos. Als ich begonnen hatte, mich auf die Märkte zu begeben, hatte mich diese Selbstzerfleischung überrascht. Mittlerweile fand ich sie plausibel. Die meisten Leute sprechen schlecht über die eigene Branche, schließlich wissen sie am besten, was alles schiefläuft und wie es besser laufen könnte. Wenn nur endlich irgendwer auf sie hören würde. Am Vorabend war ich mit meinen Puts 20 Prozent im Plus gewesen. Dass ich ausgerechnet in einem Moment verkaufen sollte, in dem es, dank des neuen Gesetzes, mit den Märkten – kurzfristig? – aufwärts- und mit meinen Optionen abwärtsging, war tatsächlich nicht in meinem Interesse. Torben ZEIT MAGAZIN
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saugte gedankenverloren an seinem Kaffeebecher. Er trug einen braunen Anzug und an den Füßen eine Kreuzung aus Budapestern und Cowboystiefeln: Sie hatten die Lochnähte von Budapestern, liefen aber vorne spitz zu. Ich wusste nicht, ob er einfach nur einen ausgefallenen Geschmack hatte oder ob sein Outfit etwas Rebellisches, Außenseitermäßiges signalisieren sollte. Er ließ sich einen kurzen Bart stehen, hatte klare blaugraue Augen und einen offenen, fast unschuldigen Blick. »Financhystem ist vielleicht kaputt«, sagte er. Im Raubtierkäfig war die Stimmung gut. Dank des Shortselling-Verbots und eines neuen Rettungsplanes des US-Finanzministers stiegen die Kurse wieder. Torbens Chefhändler hatte seine sechs Mitarbeiter angewiesen, einzusteigen und nach wenigen Stunden wieder zu verkaufen. Er hieß Tim, und er strahlte. »Wir machen heute Range Trading«, sagte er. »Rein – raus, rein – raus. Bis jetzt hat es ziemlich gut funktioniert. Wir haben seit heute Morgen für unsere Kunden etwa 360 000 Pfund gemacht.« Es war elf Uhr vormittags. »Den Gewinnen nach war heute vielleicht sogar unser bester Tag. Wir waren heute Morgen long in Finanzwerten«, sagte er. »Ich bin ja leider short«, sagte ich. »Kein Problem. Der Aufschwung wird sich wieder legen«, sagte Tim. »Ist nur eine kurze Rally. Ich glaube nicht, dass der Markt schon seinen Boden erreicht hat. Kann sein, dass es Anfang nächster Woche erst mal aufwärtsgeht, aber früher oder später …« Er schüttelte den Kopf. »… wird alles zusammenbrechen?« »Nun, der Konsens ist: ja. Das Schlimmste ist noch nicht vorbei.« Aber fürs Erste stiegen die Kurse. Dem amerikanischen Kongress war gerade das 700-Milliarden-Dollar-Hilfspaket für die Banken vorgelegt worden. Woher nehmen die Amerikaner eigentlich dieses Geld? Diese Frage stellte ich Rob Hain, der in London eine »Fonds-Boutique« betreibt. Er lachte: »Indem sie es drucken. Man nennt das Inflation.« Das Thema war mir, dank der beiden Bayern, natürlich schon öfter begegnet. Es gibt eine Schule der Ökonomie, die glaubt, dass Inflation entsteht, wenn die staatlich ausgegebene Geldmenge stärker wächst als das Bruttosozialprodukt. Wenn also mehr Geld da ist als Waren. Das eine abzüglich des anderen ergibt die Geldmenge M3. (Es gibt natürlich auch andere Denkrichtungen: Keynesianer zum Beispiel rechnen eher mit einer Deflation.) »M3 steigt seit Jahren krass«, hatten die beiden Bayern immer gesagt. »Dann zahlen die Kleinen.«
»Es gibt kein schlimmeres Gift für den sozialen Kitt als Inflation«, sagte Hain, als wir in London bei Starbucks Kaffee tranken. »Keiner weiß, wo sie herkommt, am Ende werden Spekulanten oder andere Länder verantwortlich gemacht, und sie trifft die Armen am stärksten.« Dann sagte er eindringlich: »Reservieren Sie Ihr letztes Kapitel für das Thema Inflation.« Ein paar Tage später, bevor die G 8 mir mit einem weiteren Rettungspaket meine Strategie verhageln konnten, verkaufte ich meine Puts. Alles in allem hatte ich seit der Lehman-Krise 1400 Euro verdient. W
irtschaftskrisen sind nicht gut für den Kopf, selbst wenn man zu den Krisengewinnlern gehört: In diesen Herbstwochen sehe ich überall Zeichen des Untergangs, vielleicht weil das Gehirn versucht, im Alltag eine Entsprechung für die abstrakte Katastrophe zu finden, von der ich täglich lese. Zurück in Berlin, will ich in England anrufen und komme nicht durch. Im Supermarkt geht die Tür nicht auf, als ich hinauswill. Aus dem S-Bahnhof Hackescher Markt fährt kurz nach Mitternacht eine S-Bahn, ein Waggon ist von außen versiegelt, drinnen brennt das Licht, und die Sitze sind mit einer weißen Staubschicht überzogen. Ich gehe weiter, und auf der Treppe nach unten steht ein einsamer alter Koffer mit Holzleisten, der aussieht, als hätte ihn jemand vor langer Zeit hier stehen lassen, 1929 vielleicht. Als ich später nach Hause komme, sitzen im Treppenhaus Marienkäfer, die kaum noch vom Fleck kommen, und ich weiß nicht mehr, ob es so ist, dass Marienkäfer im Winter sterben, oder ob dieses Phänomen irgendwie auf das Ende von etwas hindeutet, das Ende eines langen, großen, wunderbaren Wohlstandszyklus. Mein Leben lang habe ich Katastrophen so weit wie möglich ignoriert, getragen vom Urvertrauen der Generation Golf, dass die da vorne am Steuer schon alles richtig machen werden. Nun setzt mir nicht nur die tägliche Überdosis an lachsfarbenen Horrornachrichten zu, sondern auch die Dissonanz zwischen diesen Meldungen und dem, was ich sehe. Überall heißt es, dass es noch ein wenig dauern wird, bis wir die Krise spüren, bis das Virus von der »Finanzindustrie« auf die »Realwirtschaft« überspringen wird, bis die Kredite teurer werden und die gesunkene Einkaufslibido der Leute sich auf Produktion, Arbeit, Gesundheit, Wahlentscheidungen auswirken wird. Noch sitze ich im Café Einstein mit einem befreundeten Paar, wir essen Fisch an geschäumtem Gemüse, und ich verstehe nicht, wieso uns daran »das Finanzsystem«
in Zukunft hindern sollte. Wieso können nicht, denke ich, einfach alle ihre Arbeit machen wie bisher? Die Leute, mit denen ich esse, sind wohlhabend. Sie haben eine Villa und ein kleines Unternehmen. Sie sind beunruhigt, wollen meine Meinung hören, weil sie denken, ich verstünde etwas von diesen Dingen, da ich schon letztes Jahr ab und zu vom Banken-Armageddon gesprochen habe. »Ich bleib in den Aktien«, sagt er, der sich seit Jahrzehnten um sein Geld kümmert und von diesen Dingen sehr viel mehr Ahnung hat als ich. »Daimler, VW, das verschwindet doch nicht einfach in einer Weltwirtschaftskrise.« Ich habe nicht gehört, ob das am Ende des Satzes ein Ausrufezeichen war oder ein Fragezeichen, und hebe nur die Schultern, womit ich sagen will: Wer weiß das schon? Die beiden schauen mich alarmiert an. Ich muss lachen und sage: »Ich hab doch auch keine Ahnung, Leute.« Später an diesem Montag steigen die Kurse wieder: Zinssenkungen und ein »Aktionsplan« der G 8-Regierungen zeigen Wirkung. Mein Gefühl sagt mir, dass hier Feuer mit Feuer bekämpft wird. War nicht das überschüssige Geld genau das Problem? Und wenn die Inflation kommt, was wäre dann zu tun? Ich ertappe mich bei dem Gedanken, mir nächstes Jahr eine Eigentumswohnung zu kaufen, einfach nur um meine Ruhe zu haben. Aber dann fällt mir ein, dass diese Wohnung dann in der Hauptstadt eines verfallenden Industriegiganten der westlichen Welt stehen würde und dass auch Eigentumswohnungen ihren Wert verlieren können. Das Schlimme am Investieren ist, dass es nie aufhört. Das ist auch der Grund, vermute ich, warum ich noch nie von einem Multimillionär gehört habe, der sich mit, sagen wir, 20 Millionen zufriedengegeben und seine Zeit den Kindern oder einem wohltätigen Zweck gewidmet hätte. Es ist ein Unglück des Menschen, dass man seine Zufriedenheit immer nur an sich selbst messen kann, denke ich, und deshalb sind die Wünsche der meisten Menschen grenzenlos, und deshalb hängen Glück und das Gefühl von Sicherheit oder Optimismus nur zu einem so geringen Grade von dem ab, was man hat, sondern von dem, was man gestern hatte. Und ich vermute, dass ich, wenn ich nur ein wenig weiterdenken könnte, etwas sehr Profundes über die condition humaine begreifen würde, über den Zen-Weg der Geldvermehrung. Aber ich kann nicht weiterdenken, ich muss weiterhandeln, muss neue Puts kaufen, von dem Geld, das gerade frei geworden ist, denn die Gelegenheit ist günstig, und bevor das Jahr zu Ende geht, will ich im Plus sein.
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»Ich wollte Fußballer werden wie Uwe Seeler. Als Komiker lernte ich ihn kennen«
Olli Dittrich
Ich habe einen Traum
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Olli Dittrich,
Stecker einer Verlängerungsschnur war mein Mikrofon. Mein jüngerer Bruder Markus saß auf seinem Kinderstühlchen an einem Beistelltisch und spielte dazu die imaginäre Orgel. Erste Single mit 18. Dann 20 Jahre lang Songs geschrieben, mit Oldiekapellen über Land getingelt. Bierzelte, Stadtfeste, auf Schiffen zum Tanz aufgespielt. 130 Auftritte im Jahr. Ende der Achtziger schien mein Traum, mit eigenen Songs Karriere zu machen, wahr zu werden. Als ich meinen ersten Soloplattenvertrag unterschrieb, dachte ich: »Jetzt geht’s endlich aufwärts!« Aber das Album wurde nicht auf Anhieb ein Erfolg, die Plattenfirma gab mir drei Monate nach der Veröffentlichung den Laufpass. Eine große Niederlage für mich. Ich hatte alles in diesen Traum investiert, jahrelang komponiert und Demos aufgenommen, einen sicheren Job dafür aufgegeben. Unveröffentlichte Songs hatte ich nun zigfach, die wanderten alle in eine Kiste und wur-
den nicht mehr angerührt. Ich hatte meine Perspektive, meine Motivation, meinen Lebensinhalt verloren. Stattdessen fing ich an, kleine lustige Hörspiele aufzunehmen. Zunächst als eine Art heitere Beschäftigungstherapie, als Ablenkung. Ich hatte ja mein Vierspurgerät und Zeit. So habe ich mein komödiantisches Talent entdeckt. Die Hörspiele habe ich verfilmt und herumgeschickt. Aus Spaß. Auf diese Weise kam ich an Wigald Boning und mit ihm zur Sendung RTL Samstag Nacht. Mein Traum, auf der Bühne erfolgreich zu sein, wurde mit spielerischer Leichtigkeit wahr. Diese Erfahrung hat mich sehr geprägt. Heute, 20 Jahre danach, habe ich wieder ein Album mit eigenen Songs aufgenommen. Und jetzt ist es das Richtige zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Mein wahrer Traum. Und der Traum, Fußballprofi zu werden, den ich so früh begraben musste? Dass mein großes Idol von damals, Uwe Seeler, bei Dittsche in der Pommesbude zu Gast war, hat mich dafür mehr als entschädigt.
Aufgezeichnet von Jörg Böckem ––– Foto Mathias Bothor ––– Zu hören unter www.zeit.de/audio
51, geboren in Offenbach am Main, wuchs in Hamburg auf. Anfang der neunziger Jahre wurde der Musiker und Komiker als eine Hälfte des Duos »Die Doofen« an der Seite von Wigald Boning populär. Für seine Sendungen Dittsche – das wirklich wahre Leben und Blind Date erhielt Dittrich den Grimme-Preis. Als Musiker hat er kürzlich das Album 11 Richtige veröffentlicht
Manchmal muss man sich von seinen Träumen verabschieden, damit sie wahr werden können. Zwei große Lebensträume haben mich seit meiner Kindheit begleitet: der Traum von einer Karriere als Profifußballer und der Traum, als Musiker berühmt zu werden. Als Siebenjähriger spielte ich für den TSV Niendorf, später beim TuS Alstertal. Ich wollte so werden wie Uwe Seeler, der beste Mittelstürmer der Welt. Mit 16 bekam ich dann Knie- und Rückenprobleme, konnte nicht mehr trainieren wie vorher und musste die Fußballstiefel in die Ecke stellen. Im selben Jahr spielte ich zum ersten Mal in einer Band, und ein Traum löste den anderen ab, die Musik rückte in den Mittelpunkt. Denn schon als kleiner Junge war ich fasziniert gewesen von der Vorstellung, auf der Bühne zu stehen und Lieder zu singen. In den sechziger Jahren saß ich jeden Sonntag um 17.15 Uhr vor dem Radio und hörte die NDR Schlagerparade. Udo Jürgens war einer meiner Helden. Ich sang lippensynchron seine Lieder mit, der
Germany’s first Topmodel Unter dem Namen Veruschka war Vera Gräfin Lehndorff in den sechziger Jahren ein Star. Heute lebt sie zurückgezogen mit fünf Katzen in Berlin-Weißensee Von Christine Lemke-Matwey
»Blow Up« Der Film von 1966 machte Veruschka berühmt (mit David Hemmings als Szenefotograf)
Foto ––– Arthur Evans
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eruschka und Penn. Diesen Sommer hat sie ihn noch einmal aufgesucht, in New York, den überlebensgroßen alten Mann der Fotografie. Irving Penn, 91, den alle nur Penn nennen und der nie viel gesprochen hat. Ikone also trifft Ikone, Jahrzehnte nach ihrer glamourösen gemeinsamen Zeit und ganz unsentimental, der Sache, der Arbeit wegen. Vera von Lehndorff alias Veruschka ist auf das Treffen gut vorbereitet. Penn will ein Bild von ihr machen. Eine Art Gemälde stellt sie sich vor, wie es in der imaginären Ahnengalerie der Grafen von Lehndorff-Steinort hängen könnte, jenes ostpreußischen Adelsgeschlechts, dem sie entstammt. Vera Gottliebe Anna von Lehndorff, besser bekannt als die »nackte Gräfin« oder Veruschka, neben den ehrwürdigen Physiognomien der Grafen Ahasverus, Carl Meinhard oder Carol, das hätte etwas. Würde Familienbande knüpfen, die längst nicht mehr existieren. 1944 wurden die Lehndorffs von den Nazis enteignet, Veras Vater Heinrich gehörte zum Widerstand, fand nach dramatischer Flucht am 20. Juli in Plötzensee den Tod. Die jahrhundertealten Kunstschätze des Besitzes: geplündert, geraubt, in alle Winde zerstreut. Schloss Steinort/Sztynort in Masuren ist heute bloß noch eine traurige Ruine. Dies alles und noch viel mehr erzählt Veruschka an jenem Sommertag in New York. Penn schweigt, und sie redet und redet, auch darüber, dass sie während des Shootings gerne einen Ohrring der Mutter in der einen und Manschettenknöpfe des Vaters in der anderen Hand halten möchte. Nicht dass diese Dinge zu sehen sein sollten, aber sie seien wichtig. Sekunden, Minuten, Stunden vergehen, irgendwann sprengt Penn die Stille, zwei Silben wie ein Tribunal: »Bullshit.« Die Arbeit kann beginnen. Ein Affront, das Aus? Vera Lehndorff, so will sie am liebsten angesprochen werden, zuckt mit den Achseln. »Einem wie Penn konnte man mit eigenen Ideen nie kommen.« Einen wie Penn habe man mit eigenen Ideen nie verführen können. Wir sitzen in Berlin im Café Einstein Unter den Linden, es geht um ihr Buch. Die inzwischen fast 70-Jährige ist nach wie vor eine Erscheinung. Tritt sie mit ihren Stirnbändern und Off-Designer-Klamotten zur Tür herein, drehen
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die Menschen sich unwillkürlich nach ihr um. Erhebt sie ihre Stimme – dieses unerhört tiefe, androgyn-knarzende Organ –, scheinen alle anderen für einen Moment zu verstummen. Eine Frau, die kein Mineralwasser bestellen und keinen Fahrschein abstempeln kann, ohne nicht Boheme, verkrachte Hochadeligkeit und soziale Fürsorge zu verströmen. Ein schwieriger, misstrauischer, warmer, weicher Mensch, der es im Alltag gewiss nicht leicht hat. An Tieren und Obdachlosen, sagt sie, habe sie noch nie vorbeigehen können. Was aus dem Shooting bei Penn wurde? »Darüber möchte ich nicht sprechen.« Zwei Abzüge des Bildes gibt es, einer gehört ihr, den hat sie gut verwahrt. Es sei viel Tod darauf zu sehen. Mode ist seit je das Geschäft mit der Vergänglichkeit. Und der Angst. Ganz gleich, ob man heute wirklich so sein will wie Kate Moss oder nur ein bisschen so aussehen: Die Vorstellung, dass Models ein Leben führen, das nicht so kleinmütig, krümelig und nichtig ist wie das eigene, tröstet. Bedeutet ein Stück Nichtsterben. Veruschka kennt beide Seiten dieses Spiels. Die Dialektik ihrer Person, jene exzentrische Zweiheit von Ego und Alter Ego, der sie ihren Erfolg, aber auch ihr seelisches, mentales Überleben verdankt, erlaubt es ihr: Akteurin zu sein und Zuschauerin, Inbegriff des deutschen Fotomodells in den sechziger und siebziger Jahren und doch auch Künstlerin. Sie ist ihr eigenes Medium, immer schon, eine Sichselbstausdenkerin, jemand, der jedes Make-up, jedes Scheinwerferlicht nutzt, um sich darin zu verflüchtigen. Das Buch, das Vera Lehndorff nun über ihr Leben als Veruschka veröffentlicht hat, zeigt von Penn, mit dem sie doch so viel gearbeitet hat, nur ein einziges Foto: Veruschka wearing lucite hairrings, New York, 1966. Ein Stillleben irgendwo zwischen Space-Age und Nesthäkchen, das Blondhaar zu einer Art Kaffeewärmer drapiert, drei bunte Haarreife, die nichts halten, sondern selbst gehalten werden, die Wimpern smaragdgrün und wie Fächer so flauschig und groß. Eine perfekte Komposition. Und das perfekte, ideal junge Gesicht dazu: Kindchenstirn, Stupsnase, Schmollmund. Nur die erns-
Veruschka als Salome Auf diesem Selbstporträt hält sie statt des Hauptes von Johannes dem Täufer ihren eigenen Kopf in der Hand – eine Büste
Vera von Lehndorff wurde 1939 in Königsberg/ Ostpreußen geboren, wuchs in Bayern auf und studierte Malerei. In den sechziger Jahren erfand sie ihr Alter Ego Veruschka. An der Seite von Meisterfotografen wie Richard Avedon und Irving Penn zehrte sie vom Image der kühlen deutschen Adligen. Die meisten der abgebildeten Fotos haben wir dem Buch Veruschka entnommen (Assouline Publishing Inc., New York), das jetzt erscheint
Fotos ––– Franco Rubartelli; Veruschka Self Portraits by Vera Lehndorff & A. H. Ilse
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Unberührbar und aufreizend: Veruschka 1971 (oben links) und 1966 in »Blow Up« (rechts)
Vera als Veruschka: Das Model rauchend im Hotelzimmer (linke Seite)
ten blauen Augen blicken, als hätten sie längst mehr von der Welt gesehen und nicht das Allerschönste. »Don’t look into the future, be now and be happy«, lautete Diana Vreelands Veruschka-Spruch. Die legendäre Chefredakteurin der amerikanischen Vogue, die 1989 starb, war ihr Wegbereiterin, Wegbegleiterin, Ratgeberin in fast allen Lebenslagen. »Eine Spirituosenfirma wollte einmal einen Veruschka-Wodka auf den Markt bringen und hat mir dafür viel Geld geboten, wirklich unanständig viel Geld. Ich bin zu Vreeland hin, weil ich nicht wusste, was ich machen sollte. Sie sagte, sehr typisch: Sei irrsinnig lange irrsinnig schwierig – und dann cancel das Ganze. So war’s dann auch.« Veruschkas Ungeschicklichkeit im Geschäftlichen aber bleibt: Wie man sich (richtig) verkauft, hat sie bis heute nicht gelernt. Copyrights an Bildern beispielsweise besaß sie nicht, Geld war oft ein Problem. Die frühen Sechziger in der New Yorker VogueRedaktion müssen vor Kreativität nur so geblubbert haben. Ihre Helden: Mick Jagger, Cher, Twiggy und Andy Warhol. Ihre Fotografen: Irving Penn, Richard Avedon, Helmut Newton, Peter Beard. Man trifft sich zum Lunch mit Jackie Kennedy im Colony Club, wo natürlich auch Truman Capote herumlungert. Auf Diana Vreeland folgt Grace Mirabella, die ganze Welt trägt Miniröcke und Go-go-Boots, Models klauen Pelzmäntel und nehmen Drogen. So richtig, schreibt Mirabella später einmal, wusste niemand etwas mit sich anzufangen. In diese irisierende Offenheit hinein stolpert 1960 ein Mädchen aus Deutschland. Es nennt sich Vera, ist 1,83 Meter groß und dünn und hat kaum Chancen. Alle Kleider sind für ihre schlaksigen Gliedmaßen zu kurz, nackte Frauenknie gelten (noch) als hässlich, und ihr Babyface passt überhaupt
nicht zum Rest des Giraffenkörpers. Wenige Monate zuvor, in einem Renaissancepalast in Florenz, war die Design- und Malereistudentin als Model entdeckt worden. »Einmal gesehen, unvergesslich« legt sie sich als Motto für ihr Amerika-Debüt zurecht. Ein Flop. Ein Jahr später ist Vera wieder da – als Veruschka. Eine mysteriöse, herb-zarte Blondine mit Wurzeln irgendwo zwischen West und Ost (sehr nah an Russland, heißt es, und schon läuft es allen Kalten Kriegern eisig über den Rücken). Die Aristokratie, die Unnahbarkeit in Person. Bald eilt ihr ein Ruf wie Donnerhall voraus. Agenten, Designer, Fotografen, Couturiers wollen ihre Bilder sehen. »Wozu?«, pflegt Veruschka zu antworten. »Ich weiß, wie ich aussehe. Mich interessiert, wie Sie mich sehen.« Sie arbeitet mit den Großen der Branche, schmückt die einschlägigen Titelblätter. Als Sphinx und auf Safari, das Rifle lässig im Nacken. Als Langbein-Luder, rauchend an eine nicht eben erotische Heizkörperverkleidung gelehnt. Oder als Fee, als Fabelwesen in einem Puderrausch aus Pink und Bleu. Bizarre, Exotic, Six Feet, Veruschka – the Girl Everybody Stares At titelt Life 1967. Das ist der Durchbruch. Metamorphose geglückt. Manche dieser Bilder mag sie heute noch, andere nicht so, schwierig zu sagen. »Die Auswahl für das Buch war eine Tortur. Ich wusste ja gar nicht, wie viele Fotos es von mir gibt! Dann die Rechte und wen man alles fragen muss und dieser grässliche Kampf mit dem Layout!« Das Einstein-Tischchen wackelt bedrohlich, schon wieder guckt das halbe Café. 128 Seiten mit 63 Illustrationen, das Ganze im nachtschwarzen Leinenschuber 35 Zentimeter mal 43 Zentimeter, limitierte Auflage, sehr edel. Vera Lehndorff setzt ihre Lesebrille auf, blättert, sucht. Zeit für das Vorher-nachher-Spiel: Ein
Fotos ––– Veruschka Self Portraits by Vera Lehndorff & A. H. Ilse; Pier Luigi; Arthur Evans
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Dschungelfrau Veruschka als Wesen aus einer surrealen Welt
Veruschka for President 1998 inszenierte sie sich als erstes schwarzes US-Staatsoberhaupt
Unser Covergirl Das ZEITmagazin vor 30 Jahren
paar Fältchen hat sie natürlich, die Augen sind kleiner geworden, müder, und an den Händen sieht man das Alter immer zuerst. Und doch wirkt sie merkwürdig gefeit, fast wie imprägniert gegen den Verfall, ihr Teint schimmert porzellanhaft, durchsichtig, als warte er auf etwas. Auf eine Streicheleinheit oder die nächste schützende Maske. Vor drei Jahren ist Veruschka mit sieben Katzen von New York nach Berlin-Weißensee gezogen, von den sieben leben heute noch fünf. Nach einer privaten Beautyfarm hört sich das nicht an. Hinter ihr liegt ein bewegtes Leben. Die kleine Vera wächst mit Mutter und drei Schwestern zunächst in Flüchtlingslagern auf, später auf einem Bauernhof im Chiemgau. Das Verhältnis der Nachkriegsgesellschaft zu den Männern des 20. Juli ist ambivalent, als »Mörderkind« wird sie geschnitten, hält es in keiner Schule lange aus. Sie geht nach Italien, um Kunst zu studieren, wird 1959 entdeckt, lebt in den USA, in Paris und wieder in Italien, reist durch die ganze Welt. Und erfindet eines Tages Veruschka. Eine strategische Tat? Lehndorff wägt die Worte, spricht langsam. »Nein, vielmehr der einzige Ausweg, nicht immer nur in mir gefangen zu sein.« Veruschka sprengt die Grenzen des Vera-Schicksals, die Grenzen des Geschlechts, des Selbst und der Mode, indem sie sich zum Objekt erklärt, zum Modell ihrer Fantasien. Sie lebt die Rimbaudsche Rätsel-
formel »Ich ist ein anderer«, und zwar wortwörtlich und am eigenen Leib. Veruschka auf dem legendären Jungle-Look-Cover der Vogue, Veruschka, die mit zwei Szenen und einem einzigen Satz in Michelangelo Antonionis Blow Up endgültig zum Superstar wird (»I thought you were in Paris?« – »I am in Paris«), Veruschka als Salome mit dem eigenen (!) Kopf in der Hand, Veruschka, die Wilde, die Melancholische: Ihre Virtuosität liegt darin, so banal das klingt, immer sie selbst zu sein. Weil sie viele ist und nur viele sein kann und eine jede und einen jeden und ein jedes ihres öffentlichen Ichs heilig innig ernst nimmt. »A romantic girl«, schwärmt der Fotograf Richard Avedon 1972, und überhaupt: »the most beautiful woman in the whole world«. Was ihre Bilder auch sagen, indem sie sind, was sie sind: Ja, die Modeszene ist so, wie alle immer behaupten. Jeden Tag flattert ein neues buntes Fähnchen im Wind, und wen schert’s, solange die Projektionsfläche stimmt. Dass Veruschkas Subversivität über kurz oder lang als Dolchstoß begriffen werden würde, war klar. Je tiefer sie sich zu Beginn der siebziger Jahre in ihre anderen Identitäten einspinnt, in Charaktere und Figuren, Tiere und Pflanzen, desto frostiger reagiert die Branche. In dieser Zeit arbeitet sie an der Differenz zwischen Körper und Hülle, Verhüllung und Nacktheit. Die ersten Bodypaintings entstehen und wenig später
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– da hat Veruschka sich bereits mit dem Künstler Holger Trülzsch nach Bayern zurückgezogen – die Mimikry Dress Art. Alle Kleider malt sie sich jetzt direkt auf die nackte Haut, ebenso Hintergründe und Interieurs. Als ergieße sich ihre Physis förmlich in die jeweilige Umgebung. Als bemächtige diese sich ihrer. Was indes immer erkennbar bleibt und stört, ist ihr Gesicht. Dieses Gesicht, das »Ich, Veruschka!« sagt und jedes Auge fängt. Auch auf Franco Rubartellis berühmt gewordenem Stein-Bild, auf dem ihr kahler, kalter, kreidiger Kopf mit geschlossenen Augen wie ein Kiesel unter Kieseln ruht. Ein Mord. Ein Leichenfund. Eine makellose Versteinerung. Der Körper in seinen Teilen, einmal verscharrt, vergessen, achtlos liegen gelassen, zur Materie verdammt. Wahre Schönheit aber, so die Botschaft dieses Bilds, vergeht nie: weil sie sich längst von jeder sterblichen Hülle abgelöst hat. Mit Installationen wie diesen nimmt Veruschka Abschied vom Modeldasein. Selbst unter berufenen Händen habe sie sich zum Schluss nur mehr als »Kleiderständer« gefühlt. Die Bilder des Buches sind zwischen 12 und 40 Jahre alt und wirken, trotz ihrer fallweise strengen Ästhetik, klassisch frisch. Und seltsam: Die aus den sechziger Jahren muten oft wie aus den siebziger Jahren an, die aus den Siebzigern mehr wie aus den frühen Achtzigern, und die Serie Veruschka Self Portraits, entstanden von 1992 bis 1996, könnte glatt als neu durchgehen. Arbeiten, die Zeit fühlen, die Zukunft ahnen. Hat Vera Lehndorff heute umgekehrt ein Alter, das für Veruschka nicht infrage kommt? Sind der Auflösung von Identitätsgrenzen selbst Grenzen gesetzt, natürliche Grenzen, die mit einem Nachlassen der physischen Spannkräfte und Appetitlichkeiten zu tun haben? Lehndorff schüttelt verständnislos den Kopf. »Natürlich nicht! Sonst hätte es Veruschka ja nie gegeben. Der Körper hat in der Kunst immer recht, jedenfalls solange man nicht ausschließlich damit beschäftigt ist, sein Leben hinzukriegen.« Im Herbst 2007 ist sie zum ersten Mal nach 63 Jahren wieder ins alte Ostpreußen gereist, demnächst nimmt sie in Olsztyn/Allenstein an einem deutsch-polnischen Symposium zur Rettung von Schloss Steinort/Sztynort teil. Sie arbeitet an ihrer Autobiografie und wird 2009 in Warschau ausstellen. Das klingt ganz gut nach Hinkriegen. Für eine der augenfälligsten Fotografien im Buch hat Vera Lehndorff beim Verlag streiten müssen. Mode und Politik mochten sich noch nie. Das Bild stammt aus den Self Portraits von Andreas Hubertus Ilse und spannt einen weiten Bogen: Von Veruschkas erster Reise nach Afrika Mitte der Sechziger, wo sie sich eines Tages Schuhcreme ins Gesicht schmierte (»Die Schwarzen müssen mich für verrückt gehalten haben«), bis zum 4. November 2008, dem amerikanischen Wahltag. Ein wahrhaft königlicher Farbiger thront da im piekfeinen Dolce-&-Gabbana-Zwirn auf einem mit Blumen und Gazellenköpfen verzierten Stuhl und nimmt die Menschheitsgeschichte ins Visier. Der Titel? The First African American President. Veruschka als Barack Obama, man glaubt es nicht. Manchmal ist es fast unheimlich, so hellsichtig zu sein.
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Isseys Odyssee Im Alter von sieben Jahren verlor er seine Eltern durch die Atombombe von Hiroshima. Seitdem beschäftigt Issey Miyake sich nur noch mit schönen Dingen – und wurde Japans bekanntester Modedesigner Von Tillmann Prüfer
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Issey Miyake, 70, liebt Stühle – wie diese hier, auf denen er sich in Tokyo fotografieren ließ
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ssey Miyake quält eine Erinnerung so sehr, dass er nicht über sie reden mag, und niemals erzählt er von jenem Sommermorgen. Hoch über der Stadt brummte ein Flugzeug. Die Stadt war Hiroshima. Sekunden später verbrannte Issey Miyakes Familie im Atomfeuer. Issey nicht. Er war an diesem Vormittag nicht zu Hause. Issey war damals sieben. Heute ist Issey Miyake 70 Jahre alt. Wer ihn trifft, wird von den Menschen, die ihn umgeben, gebeten, nicht nach diesem Tag zu fragen. Diesen Tag gebe es nicht für Issey Miyake. Er habe ihn aus seinem Leben ausgeschlossen. Vielleicht muss man von zwei Isseys ausgehen. Der eine starb am 6. August 1945 in Hiroshima. Der andere wurde an diesem Tag geboren. Dieser zweite Issey lebt in einer besseren Welt – in der niemand sterben muss, wo die ganze Zeit das Leben, der Mensch, die Zukunft gefeiert werden. Wo alles voller Möglichkeiten ist. Wo niemand im Atomfeuer sterben muss. Es ist eine Welt voller Frieden und Vergebung. In dieser Welt darf man ihn, wenn man viel Glück hat, besuchen. Issey Miyake ist einer der bekanntesten japanischen Mode-Designer. Er ist Wegbereiter von vielem, was heute als asiatischer Stil gefeiert wird. Er erfand die grotesken Silhouetten, die beispielsweise Rei Kawakubo für ihre Marke Comme des Garçons aufgriff. Den meisten ist er jedoch in Form eines kleinen kegelförmigen Fläschchens bekannt: L’Eau d’Issey, Issey Miyakes Parfüm. In seinem zweiten Leben ist Issey Miyake ein freundlicher Mann, dem man sein Alter nicht ansieht, man sähe es ihm noch weniger an, hätte er nicht diesen grauen Oberlippenbart, der versucht, seine spitzbübische Mimik im Zaum zu halten. Es gibt wenige Momente, in denen Issey Miyake nicht lächelt. Auch jetzt, als er seinen Gast durch eine Ausstellung im Tokyo Midtown Garden führt, die er selbst kuratiert hat. Sie soll das Design der Zukunft beschreiben und heißt XXIst Century Man. Der Zukunftsmann, das ist immer noch Miyake. Drei eigene Werke hat er zu der Ausstellung beigetragen. Das erste ist eine mehr als zehn Meter große Drachenfigur aus Papier, umtanzt von acht Mädchen, die ebenfalls aus Papier und Draht modelliert sind. »Der Drachenmythos symbolisiert für mich, wie wir zur selben Zeit in Freude und Gefahr leben«, sagt er. In einem anderen Raum hat er Sessel aufgebaut, die aussehen wie riesige Puschel, aus Papierstreifen sind. Abfall, der bei Miyakes Kleidungsproduktion entsteht. Schon immer habe es ihn gestört, dass er das ganze Papier wegwerfen müsse, also macht er nun Möbel daraus. Schließlich zeigt er Kleidung, die von einem Staubsauger inspiriert wurde. Miyake war so begeistert von einem Vakuumsauger, den James Dyson entworfen hatte, dass er das Design sogleich zur Vorlage machte, um Jacken und Hosen zum Thema »Wind« zu entwerfen. Die Kleidungsstücke sehen aus wie für eine Mondmission gemacht. Befremdlich unförmig – und trotzdem wie die Zukunft. Alles, was Miyake gemacht hat, war futuristisch und hat erst einmal befremdet.
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Selbst sein Parfüm hat zunächst Verwirrung gestiftet. »Es war das Schwierigste für mich, einen Duft zu entwerfen.« Ein Duft, sagt er, hat ein anderes Publikum als die Mode. »Die meisten Leute, die dein Parfüm kaufen, kennen deine Mode gar nicht. Sie wissen nichts über dich, und trotzdem umgeben sie sich mit einem Stück von dir.« Er erzählt, dass es schwer gewesen sei, einen japanischen Duft zu schaffen, weil Düfte in Japan sehr unüblich gewesen seien. Sich zu parfümieren galt lange als aufdringlich. Er selbst sei einmal nicht in ein Restaurant eingelassen worden, weil er einen Duft aufgetragen hatte. Wie sollte das Parfüm also riechen, wurde er von den Duft-Kreateuren gefragt: »Nach Wasser.« Und als die verblüfften Aromaspezialisten weiterfragten, mit welcher Farbe es vergleichbar sein solle, sagte der Designer: »Weiß.« Weiß und Wasser waren die Bestandteile einer einfachen Botschaft: »Ich wollte, dass die Menschen sich mit dem Element benetzen, das unser Leben bedeutet.« Wieder lacht Miyake. Das ist eine der lustigen Geschichten zu Issey Miyakes Parfüm. Wenn man noch etwas wartet, dann erzählt er eine weniger lustige. Miyake hatte fest vor, sein Parfüm in einen Flakon von Shiro Kuramata abzufüllen. Mit Kuramata hatte er zusammen in Tokyo studiert. Er war der einflussreichste Möbeldesigner in Japan. Er entwarf Plexiglassessel, in die Rosen eingelassen waren, spickte Zementböden mit buntem Glas und baute Schränke, die verdreht waren, als seien sie betrunken. Heute werden seine Entwürfe für zigtausend Euro bei Sotheby’s gehandelt. Einen Flakon hatte Kuramata noch nie entworfen. Er war begeistert von der Idee und machte sich sofort an die Arbeit. Er präsentierte einen Würfel, in den eine kugelförmige Sphäre eingelassen war, gekrönt von einem blauen Stöpsel. Doch so wie Kuramata nie darauf achtete, wie zweckdienlich seine Designs waren, war auch dieses Fläschchen völlig unpraktisch. Man konnte darauf keinen Zerstäuber setzen, es war schwer und teuer, der Kugelbauch konnte viel zu wenig Parfüm aufnehmen. Beim Hersteller Beauté Prestige International, einem Unternehmen, das der Kosmetikkonzern Shiseido eigens für Issey Miyakes Duft gegründet hatte, fiel der Entwurf durch. Stattdessen wählte man einen spitzen Kegel, dessen Form an den Eiffelturm erinnerte. Tatsächlich wurde L’Eau d’Issey ein unglaublicher Erfolg. Das Parfüm wurde der Inbegriff des reinen, puristischen Duftes. Es wurde sogar bekannter als sein Schöpfer. Seit mehr als 15 Jahren zählt es zu den 20 beliebtesten Düften weltweit. Damit ist L’Eau d’Issey eine Ausnahmeerscheinung. Allein in Deutschland kommen jährlich knapp 200 neue Parfüms auf den Markt, nur fünf Prozent überleben die ersten zwei Jahre. Der Duft überflügelte sogar seinen Schöpfer. Während L’Eau d’Issey vielen ein Begriff ist, weiß heute kaum noch jemand, wie Issey Miyake selbst aussieht – oder dass er überhaupt ein lebender Mensch ist, nicht nur eine Marke. Mit Kuramata konnte Miyake nie wieder zusammenarbeiten. Kurz bevor der Duft auf den Markt
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Issey Miyake Der Modedesigner wurde 1938 in Hiroshima geboren. Nach dem Studium verließ er Japan und arbeitete in Paris und New York. 1970 gründete er in Tokyo das Miyake Design Studio. 1992 präsentierte er seinen Duft L’Eau d’Issey (links: Sonderedition von Shiro Kuramata)
kam, starb Kuramata plötzlich, im Alter von 56 Jahren. Der verschmähte Flakon war eine der letzten Arbeiten, die er fertiggestellt hatte. Den Tod seines Freundes konnte Issey Miyake schwer verwinden. Er will nicht, dass der Tod ihn wieder einholt. Seine ganze Existenz, seine ganze Arbeit ist eine Flucht ins Leben. Für ihn geht es um die Freiheit von Körper und Geist. Den Geist lernte er in Paris kennen. 1965 zog er in die Modemetropole, arbeitete unter anderem beim Couture-Haus Givenchy. Dann kam 1968. »All dieses Streben nach Freiheit, die Offenheit, die Diskussionen haben mich fasziniert«, sagt er. Er arbeitete in New York und in London, bevor er 1970 nach Tokyo zurückkehrte. Von dort aus machte er seine Entwürfe berühmt. Miyake verzichtete auf klassische Modenschauen. Er setzte auf fantasievolle Inszenierungen, präsentierte seine Kleider in einem Tokyoter Parkhaus und mit tanzenden Models, um den Fluss der Lebensenergie darzustellen. In der asiatischen Tradition steht der Stoff im Zentrum der Mode, nicht die Figur. Dieses Selbstverständnis brachte der Japaner in den Westen. Miyake ließ Models über den Laufsteg staksen, die in wilde Textilplastiken gehüllt waren. Tüll umwaberte ihre Körper. Mal schienen sie in geometrische Formen gegossen, mal sahen sie aus wie Samurais. Der Japaner machte aus Menschen Kunstwerke. Er war der Erste, der das Skulpturale in die Mode brachte. Während westliche Mode-Designer den Körper in den Mittelpunkt ihrer Entwürfe stellten und bemüht waren, den Menschen, der die Kleidung trug, möglichst vorteilhaft erscheinen zu lassen, war für Miyake der menschliche Körper nicht der Gegenstand, sondern nur das Medium der Mode. Statt wie die westlichen Designer die Körperlinien nachzuzeichnen oder zu betonen, durchbrach er sie. Seine Kleider bestehen aus rechteckigen Formen, aus aneinandergereihten plissierten Kreisen, und immer lässt er dem Träger etwas Freiheit, wie seine Stücke zu tragen sind. Viel Aufsehen erregte er 1988 mit einer Ausstellung in Paris: Puppen aus dünnem Draht trugen Kleider aus Ölpapier und Ponchos aus Baumrinde und Filz. Eine solche Verbindung von Mode und Kunst hatte man in der Stadt der Couture noch nicht gesehen. Noch mehr aber interessierte er sich für die Stofftechnik. In Japan gibt es eine lange Tradition, Stoffe zu falten. Miyake entdeckte diese Technik für das 20. Jahrhundert neu. Er entwarf Kleider, die ihre Form nicht durch den Schnitt, sondern durch eine Faltung bekamen. Es handelte sich um leichte Polyesterstoffe, die kunstvoll gefalzt und dann gebügelt wurden. So entstanden Kleider, die immer wieder ihre Form finden, auch wenn sie in einer Handtasche zusammengeknüllt wurden. Die Architektin Zaha Hadid ist noch heute eine erklärte Miyake-Verehrerin, genau wie die berühmte Modekritikerin Suzy Menkes. Der Mann, der so viel zur Mode beigetragen hat, sagt von sich selbst, dass er sich aus Mode überhaupt nichts macht: »Ich lese keine Modezeitschriften.« Er interessiere sich nur für Design – und für Menschen: »Ich wollte immer mit den Menschen
zusammenarbeiten, die meine Kleider tragen.« Issey Miyakes großes Thema ist die Beziehung zwischen Körper und Stoff. Für ihn ist es eine weiche Beziehung. »Mit harten Dingen kann ich nichts anfangen«, sagt er. Selbst als er in Zusammenarbeit mit den Designern der Gruppe Memphis Einrichtungsgegenstände entwarf, konzentrierte er sich auf Tischdecken. Miyake hat sich auch nie für den saisonalen Wandel der Kollektionen interessiert, sondern immer nur seine eigenen Konzepte weiterentwickelt. »Ich kann einfach nichts noch einmal machen, was ich schon gemacht habe.« Bei Miyake gab es nicht immer wieder einen neuen Style, es gab ein neues Prinzip. So wie »A Piece of Cloth«, sein letzter großer Coup als aktiver Mode-Designer. Bei diesem Verfahren rattert aus einer Maschine ein komplettes Kleid, dessen Maße die Kundin vorgegeben hat. Miyake will sich nicht mehr damit aufhalten, Kollektionen zu gestalten. Vor acht Jahren hat er die Prêt-à-porter-Linie abgegeben, sie wird heute von Dai Fujiwara gestaltet. Derweil sucht Miyake immer wieder die Zusammenarbeit mit anderen Kunstgattungen, kooperiert mit dem Architekten Tadao Ando und mit William Forsythe, bis 2004 Choreograf des Frankfurter Balletts. Zwar ist die Modemarke Issey Miyake heute im Westen wenig beachtet. Miyakes Einfluss in Japan jedoch ist immens. Viele junge Designer wie Tsumori Chisato und Kosuke Tsumura haben in seinem Unternehmen gelernt – und nutzen das Vertriebsnetz von Issey Miyake. Er ist der Mittelpunkt eines Netzwerkes von Modeschöpfern, Gestaltern und Architekten. Und wenn man Issey Miyake trifft, hat man den Eindruck, er fange gerade erst an. Und trotzdem holt ihn immer wieder der Tod ein. So war es im Juni 1989: Mehr als 20 Jahre nachdem er in Paris die Freiheit gesehen hatte, sah er in Peking ihr Gegenteil. Nach einer Reise durch die Mongolei endete sein Zug in der chinesischen Hauptstadt. Statt seinen Flug nach Osaka zu nehmen, entschied er sich, noch ein paar Tage in Peking zu verbringen. Es war die Woche, in der die Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens niedergewalzt wurden. 1800 Demonstranten wurden getötet. Mehr sagt Miyake nicht darüber. Nichts davon, was er gesehen hat. Nicht, ob er Angst gehabt hat. Er kann über solche Dinge nicht reden. »Es ist noch einmal so etwas passiert«, sagt er. »Es war, als ich einen neuen Store in New York aufmachte.« Der Laden war drei Straßen vom World Trade Center entfernt. »Wir wollten das Geschäft am 12. September 2001 eröffnen.« – »Haben Sie denn den Einschlag der Flugzeuge gehört?« – »Ich habe es gesehen«, sagt Issey Miyake. In seinen Augen ist für einen Moment Erschütterung. Dann lächelt er wieder. Und beginnt von Stühlen zu erzählen. Er habe 40 Stück. In seiner Wohnung sei kaum Platz. Vor Kurzem hat Issey Miyake eine Sonderedition von L’Eau d’Issey auf den Markt gebracht. Mit dem Originalflakon von Shiro Kuramata. Das Ding ist viel zu teuer in der Herstellung, viel zu schwer, mit viel zu wenig Parfüm im Bauch. Das sind die kleinen Siege der Freiheit. Die kleinen Siege über den Tod. ZEIT MAGAZIN
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(Von links oben im Uhrzeigersinn) China White von Nasomatto aus Italien riecht wie ein Windstoß über der Chinesischen Mauer. 30 ml ca. 100 Euro
Daisy von Marc Jacobs riecht nicht nach Gänseblümchen, aber dafür wie ein Kindereis: ein Bällchen Erdbeer, zwei Bällchen Vanille. 100 ml ca. 80 Euro
skarb ist das polnische Wort für Schatz: Der Duft von Humiecki&Graef aus Köln kostet auch ungefähr so viel. 100 ml ca. 149 Euro
Oranger Alhambra von Armani Privé riecht, wie wir uns den Duft von Giorgio Armanis Kindheit vorstellen: nach Orangenblüten. 100 ml ca. 120 Euro
bijou von Comme des Garçons riecht wie ein Bonbon, und der Flakon sieht auch so aus: ganz süß. 50 ml ca. 65 Euro
fragrance von Badgley Mischka aus Los Angeles riecht wie eine HollywoodDiva der vierziger Jahre – dass Clark Gable das nicht mehr erleben darf! 100 ml ca. 118 Euro
Nie waren Düfte von Designern so wertvoll wie heute – wer braucht da noch Kleidung?
Achten Sie auf die Nase
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Redaktionelle Mitarbeit Judith Innerhofer ––– Foto Straulino ––– Model Mona / M4 ––– Haare / Make-up Ulla Kornelius / closeup-agency ––– Postproduction Elektronische Schönheit ––– Dank an Quartier 206
Atelierbesuch
Dan Perjovschi lebt in Bukarest und stellt in den wichtigsten Museen der Welt aus. Berühmt ist er für seine Strichmännchen, die er an Wände malt
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Foto ––– Carioca Studio
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Dan Perjovschi gestaltete im Sommer die zehn Meter hohe Wand im Foyer des Museum of Modern Art in New York. Er bedeckte sie mit unzähligen Männchen, Panzern und Amerika-Flaggen. Perjovschi ist 1961 im rumänischen Sibiu geboren, sein Talent wurde bereits unter Ceauşescu gefördert. Er studierte an der Kunsthochschule in Iaşi und wird heute als Aufsteiger international gefeiert
Mit Dan Perjovschi spielt wieder ein Rumäne in der globalen Kultur mit. Für viele war da bisher nur Dracula – bis Perjovschi kam und mit dem dicksten Edding, den es zu kaufen gibt, seine Karikaturen in die Foyers und auf die Fassaden der großen Museen der Welt zeichnete, dass sie aussahen wie riesige vollgekritzelte Schreibtischunterlagen. Sein Atelier liegt im Zentrum von Bukarest. Staub, überall. An den Wänden Regale, die sich unter der Last von Ausstellungskatalogen biegen, die Dan Perjovschi und seine Frau von ihren vielen Auslandsreisen mitgebracht haben. ZEIT MAGAZIN
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In der Mitte steht ein langer Tisch, an dem er in den kargen wie euphorischen Jahren nach Ceauşescus Sturz mit Freunden saß, und sie darüber debattierten, wie eine gerechte Gesellschaft aussehen sollte. Ein Blick aus dem Fenster zeigt, was daraus geworden ist: Der Rohbau eines Hochhauses ragt über die SanktJoseph-Kathedrale hinaus. Bukarests Bebauungsplan erlaubt hier nur sechs Stockwerke. Dem Bauherrn war es egal. Es gab einen Baustopp, und das Gerippe wurde zum Symbol der Selbstherrlichkeit von Rumäniens neuer Wirtschaftselite. Dan Perjovschi öffnet eine Thermoskanne mit Kaffee, den er von zu Hause mitgebracht hat. Seine Bescheidenheit fällt auf in der Kunstwelt, die sich in der kapitalistischen Überflussgesellschaft eingenistet hat. Sie hat Perjovschi zu einem ihrer Stars erklärt: Platz zwei des aktuellen Capital-Kunstkompasses, der die Aufsteiger des Jahres misst. Hinter Bruce Nauman. Vor Polke und Gerhard Richter. Und trotzdem: dieses sperrmüllmöblierte Atelier. Trotzdem oder gerade deshalb: seine selten und garantiert selbst geschnittenen Haare, dazu trägt Perjovschi einen Vollbart. Der alte Ost-Dissidentenstil. Er lehnt jeden Luxus ab, sogar jede Form der Zerstreuung. Nicht mal aus gutem Essen macht er sich etwas. »Im Kommunismus lernt man, alles zu essen«, sagt er lachend, abwinkend. Und als man ihn fragt, ob er gern tanze, weil seine Gesten so geschmeidig sind, schaut er fast ein wenig erschrocken. Heftiges Kopfschütteln: »No dancing!« Sein einziges Vergnügen, sagt er, bestehe darin, an einer Wand zu zeichnen. Er zieht einen kleinen Block aus seiner Tasche. Ohne den verlässt er nicht das Haus. »Ich jage meine Motive auf der Straße«, sagt er und lacht – wohl auch, weil die Jagd das Lieblingshobby der neureichen Rumänen ist und schon deshalb für ihn im Grunde tabu. Doch er unternimmt seine Jagdausflüge im Linienbus. In Köln hat er 2005 ein Strichmännchen gefunden, das durch das O im Wort Job rutscht. Ein paar Jahre später, im nach dem 11. September paranoiden New York, ließ er sich zu einem Männchen inspirieren, das der Freiheitsstatue unter den Rock schaut. Er setzt sich mit seinem Block auch in Cafés, Parks oder vor einen Fernseher irgendwo auf der Welt, wo ihm ein Museum wieder eine weiße Wand überantwortet hat. »Zufallsrecherchen«, sagt er, um ein Gespür zu bekommen für die Stimmungen der Zeit. Seine weltpolitischen Bezüge unterscheiden ihn von vielen anderen Künstlern aus dem ehemaligen Ostblock wie etwa den Malern der Leipziger Schule, die ihre Herkunft vor sich hertragen. Hier knüpft nicht einer, wie auch immer, an den sozialistischen Realismus an. Hier mischt sich einer ein, der aus einer Ecke der Welt stammt, aus der sonst nur billige Arbeit kommt. Typisch rumänisch, sagt Perjovschi, sei nur sein Humor, die Distanz, die er zum Politischen wahre. Ohne die hätte er Ceauşescus Diktatur nicht ausgehalten. Schon den Kommunisten war sein Talent aufgefallen, da war er zehn. Er kam in eine Kunstklasse. Sie hätten dort nichts als Stillleben gemalt, erzählt Perjovschi, zwölf Jahre lang. »Auf Französisch heißt Stillleben nature morte. So war auch der Zustand des Landes in den achtziger Jahren: tote Natur.«
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Die öde Ausbildung habe ein Gutes gehabt: »Mediokres schüttelt man leicht ab.« Dass er, als der Zwang zum Stillleben aufgehoben war, mit Filzstiften Strichmännchen auf blanke Wände zu malen begann, sei eine Kostenfrage gewesen: Nichts ist billiger. Die meisten rumänischen Künstler haben sich in jenen Jahren auf eine moderne Art von Ikonen verlegt. »Früher musste auf jeder Vernissage ein Pope sein, jetzt ist es ein DJ«, sagt Perjovschi, und man spürt seine Ablehnung für die postkommunistischen Moden. Der verbindlich wirkende Mann hat auch eine strenge Seite. Unbeirrt malte er Männchen, obwohl er erst 2004 einen Galeristen fand, der ihn vertrat. Er hatte einen Zweitjob: Karikaturist für die Oppositionszeitung 22. Ein bisschen erinnert seine Kunst auch an eine Veredlungsstrategie für Karikaturen. Er bläst seine meist politischen, oft lustigen Zeichnungen zu Wandgröße auf. Perjovschi malt live. Macht was los in den Museen. Das macht ihn so populär: Wenn er auf seiner Hebebühne steht, mal hierhin fährt und mal dorthin, um eine Zeichnung aus seinem Block auf die Wand zu übertragen, dann bestaunen ihn die Besucher, wie Wanderer einen Freeclimber bestaunen. Sein Atelier ist also im engeren Sinne außer Betrieb. Er trifft darin Kuratoren. Oder er kommt zum Lesen her, wenn es im Sommer in seiner Plattenbauwohnung unerträglich heiß ist, er wohnt dort zur Miete. Perjovschi hat nicht viel Geld gemacht, obgleich fast jedes Museum eine Wandmalerei von ihm will und sein Terminkalender dem Tourneeplan einer Popband gleicht: New York, Moskau, Sydney, Salzburg. Doch Perjovschi entzieht seine Kunst dem Markt: Sie wird nicht verkauft. Sie wird gelöscht. So will es das Konzept. Nach ein paar Wochen werden die Wände übermalt. Barbara Nolte
Projects 85: What happened to us, 2007 Ausstellungsansicht im Museum of Modern Art, New York
Courtesy ––– Galerija Gregor Podnar, Berlin / Ljubljana
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Kunstmarkt Die große Preisfrage dieses Herbstes: Zahlt jemand 60 Millionen Dollar für diesen außergewöhnlichen Malewitsch?
» Malewitsch hat gezeigt, dass es noch etwas anderes gibt. Das ist die Irritation. Kunst als Gegen-Position zur Macht«
»Suprematistische Komposition« von Kasimir Malewitsch, 1927
Max Frisch Der Schweizer Schriftsteller (1911 bis 1991) war einer der großen deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts
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Kasimir Malewitsch ist der große Überraschungsgast dieses Herbstes. Zunächst überraschte der Suhrkamp Verlag mit einem nachgelassenen Vorlesungsmanuskript von Max Frisch, das in Anlehnung an den großen russischen Suprematisten den Titel Das Schwarze Quadrat trägt. Und dann kündigte Sotheby’s an, dass am 3. November in New York Malewitschs berühmte Suprematistische Komposition aus dem Jahre 1927 versteigert wird – und zwar geschätzt auf atemraubende 60 Millionen Dollar. Diese Summe ist umso spektakulärer, als sie mit einem Paukenschlag eine neue Form der Kunstmarktfinanzierung einführt: Neben dem Bild findet sich im Katalog das Symbol zweier Halbkreise. Es steht, so erläutert Sotheby’s, dafür, dass es bereits ein »unwiderrufliches Gebot« zu dem unteren Schätzpreis für den Malewitsch gibt. Nachdem also die Banken momentan als solvente Garantiegeber ausgefallen sind, versuchen die Auktionshäuser offenbar, Privatpersonen durch Vorgebote und anschließende Gewinnbeteiligung zu ködern. Vermutlich wird erst nach dem 5. November mehr Licht in diese neue Auktionspraxis kommen – vorausgesetzt, dass sich die beiden Halbkreise dann wirklich zu einem Rund schließen, also der Garantiegeber auch noch bei der Auktion über jene 60 Millionen verfügt, die er bei der Drucklegung des Kataloges of-
fenbar für sein Eigen hielt. Ansonsten würden die Halbkreise auseinanderfliegen wie die Rechtecke auf Malewitschs Meisterwerk und der Kunstmarkt für moderne Kunst gleich mit. Wer sich Malewitsch auf ganz andere Weise nähern und sich zur Abwechslung einmal eine Stunde lang nicht mit der Finanzkrise und ihren Folgen beschäftigen will – der lese zur Beruhigung Max Frisch. Im Schwarzen Quadrat entwirft der Schweizer Dichter vor Studenten in New York auf knappstem Raum eine Art poetisches Manifest. Und dafür wählt er mit Malewitsch einen Säulenheiligen, der seinem Werk geistesverwandt ist, in seinem erbarmungslosen Streben zum Letzten (siehe Abbildung oben) und seiner Kühle, die die Wärme nur noch aus dem Märchen kennt (siehe etwa Homo Faber). Frisch beschreibt, warum das Schwarze Quadrat in der Sowjetunion mit ihrer offiziell biederen Staatskunst jahrzehntelang versteckt gehalten wurde – weil das »Volk sonst gesehen hätte, daß es noch etwas anderes gibt«. Das allein sei die Irritation großer Kunst: dass es sie gibt. »Kunst«, so schreibt Frisch, »als Gegen-Position zur Macht.« Am Abend des 5. Novembers, wenn in New York der Hammer dreimal geschlagen hat, werden wir wissen, ob Malewitsch auch eine Gegenposition zum – kriselnden – Markt sein kann. Florian Illies
Fotos ––– akg-images; Sotheby’s
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Volvo C70 D5 Summum
Handtaschen
Auto
Stil
Wolfgang Lechner lernt einen Schweden kennen, der ihn überrascht
Tillmann Prüfer fragt, warum Frauen riesige Taschen lieben
Unter den Schweden gibt es solche und solche. Wir kennen zum Beispiel den Ikea-Elch. Der gibt seinen Möbeln komische Namen, wirft Weihnachtsbäume aus dem Fenster, und irgendwie haben wir den Verdacht, dass er sich jedes Mal hemmungslos besäuft, wenn er an billigen Alkohol kommt. Dann gibt es den Kommissar Wallander. Der verzweifelt gern an der Schlechtigkeit der Welt, ist ein bisschen bärbeißig, ein bisschen wortkarg, immer ein wenig depressiv und eigentlich ein ganz, ganz Weicher. Und schließlich gibt es den Schweden vom Typ Volvo. Der ruft fröhlich »Hej!«, wenn er uns auf der Langlaufloipe in Lappland überholt, dann schnürt er weiter, und abends in der stuga lernen wir ihn erst richtig kennen: als freundlichen, kultivierten Menschen. Er prahlt nicht, er säuft nicht, er rülpst nicht, er ernährt sich gesund. Er ist vernünftig bis auf den Grund seines Herzens und bringt dabei das Kunststück zustande, nicht spießig zu sein. Er hat Stil, aber er ist nicht langweilig. Und genau so ist der C70. Man saß ja schon in einigen Cabrio-Coupés als Autotester, in amerikanischen, japanischen, französischen, deutschen. Und immer hatten sie irgendwo dieses too much: seitliche Luftschlitze, die nur Fake waren. Plastikteile im Cockpit, die sich als matt poliertes Aluminium gerierten. Am C70 ist alles echt. Und nichts zu viel. Dabei hat er schon in der Serienausstattung alles, was das Einsteigen bequem und das Fahren sicherer macht, ABS, Bremsassistent, Tempomat bis hin zu einer Taste, mit deren Hilfe sich das geöffnete und im Kofferraum verstaute Dach so weit anheben lässt, dass man darunter bequem ein, zwei Koffer verstauen kann. Denn der C70 will kein Spaßauto sein, das einen zur Entscheidung »offen oder mit Gepäck?« zwingt. Er ist eine vollwertige Reiselimousine, bietet bei geschlossenem Dach auch mal Platz für einen Kleinumzug und ist dabei noch nett zu jenen drei Menschen, die im Fond Platz nehmen müssen. Bei offenem Verdeck und eingesetztem Windschott ist auch eine Autobahnfahrt mit Tempo 140 noch eine komfortable Sache: Noch immer hört man jeden Ton aus den sechs Lautsprechern der Stereoanlage, noch immer kann man sich in normaler Lautstärke unterhalten. Etwa darüber, dass dieses Auto auf den letzten 300 Kilometern keine 20 Liter Sprit geschluckt hat. Oder darüber, wie schön es wäre, mit ihm mal so richtig weit zu reisen. Vielleicht quer durch Schweden bis nach Lappland.
Technische Daten Motorbauart: 5-Zylinder-Diesel-Motor Leistung: 132 kW (180 PS) Beschleunigung (0–100 km/h): 9,0 s Höchstgeschwindigkeit: 225 km/h CO ² -Emission: 174 g/km Durchschnittsverbrauch: 6,6 Liter Basispreis: 43 730 Euro
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Seit Jahren werden die Handtaschen von Saison zu Saison größer. Und immer wenn man denkt, nun könnte es ein Ende haben mit dem Wachstum, schwellen sie noch ein wenig mehr an. Erst waren sie so groß, dass man eine Bowlingkugel darin unterbringen konnte, dann nahmen sie die Maße von Einkaufstüten an. Auf den jüngsten Schauen in Mailand präsentierte D&G schließlich ein Monster, das selbst die voluminösen, englisch tote genannte Riesentaschen des vorigen Jahres wie Beutelchen erscheinen lässt: eine Art Seesack, in dem man, wenn nicht einen Wal, so doch einen Tümmler verpacken könnte. Warum sollte die moderne Frau einen Meeressäuger durch die Fußgängerzone schleppen? Und falls sie das nicht vorhaben sollte – warum dann solche Taschen? Accessoires, die voluminöser sind als ihre Besitzerin und in denen man sich ohne Navigationsgerät nicht zurechtfinden kann, können nicht gut sein. Gerne wird argumentiert, dass große Taschen die Frauen, die sie tragen, umso zierlicher erscheinen lassen. Nach dieser Logik müsste auch jede Frau, die Ottfried Fischer umarmt, aussehen wie ein Topmodel. In Wirklichkeit sehen Frauen, die Ottfried Fischer umarmen, aber aus, als würden sie dazu gezwungen. Das haben sie mit den Trägerinnen der Riesentaschen gemeinsam. Diese Frauen tragen schwer an ihrem Leben. Derzeit ist in der Mode überall die Rede davon, dass die erwachsene, stolze Frau wiederentdeckt wird. Diese Frau braucht zuallererst eine Tasche, die nicht schwerer ist als sie selbst. Wann also platzt die Taschenblase? Vielleicht können dazu die Modelle beitragen, die die Münchner Designerin Ayzit Bostan für den Lederwarenhersteller Bree entwickelt hat. Das schönste Stück davon ist eine Tasche, die gerade groß genug ist für ein bisschen Geld, ein bisschen Rouge und ein bisschen Hausschlüssel. Mehr muss niemand bei sich haben. Und die blitzend-blinkende Kette, mit der man sich das Bree-Modell über die Schulter hängen kann, sorgt dafür, dass die Trägerin trotzdem auffällt. Dazu besteht die Tasche aus zwei Lederhüllen, die zum Schließen übereinander geschoben werden. Das ist hübsch raffiniert und verhindert, dass einem jemand unbemerkt in die Tasche greifen kann. In Zeiten der Wirtschaftskrise ist das ein nützliches Detail.
Wolfgang Lechner ist ZEITmagazin-Redakteur ––– Foto Volvo
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In dieser Saison eine Seltenheit: Kleine Handtasche von Bree von Ayzit Bostan, 310 Euro
Foto ––– Peter Langer
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7.
Für die meisten Situationen hat jemand Regeln aufgestellt, die uns das Leben erleichtern würden – wenn wir sie befolgten. Ich erinnere nur an die Mahnungen, beim Gähnen die Hand vor den Mund zu halten. Auch lebensrettende Maßnahmen sind uns überliefert. Zum Beispiel der Rat, sich bei einer Atombombenexplosion eine Aktentasche auf den Kopf zu legen. Aber unvernünftig, wie wir sind, schlagen wir solche Ratschläge in den Wind. Etwa das weltfremde Gebot: »Du sollst nicht begehren deines Nachbarn Weib.« Warum wir Gemüse blanchieren sollen, will ich hier erklären: Blanchieren bedeutet, ein landwirtschaftliches Produkt für kurze Zeit in kochendes Wasser zu werfen. Wie eine Tomate, deren Haut daraufhin platzt, sodass man sie bequem enthäuten kann. Was blanchiert die fortgeschrittene Hausfrau sonst noch? Da ist erstens der beliebte Kohl. Kaum jemand kocht einen Kohlkopf im Ganzen. Er wird in seine Blätter zerlegt. Und diese werden blanchiert. Das heißt, sie werden in sprudelndes Salzwasser getaucht. Zwei bis fünf Minuten, je nachdem, um welche Sorte es sich handelt und wie dick sie sind. Wirsing zum Beispiel
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Wolfram Siebecks 10 Gebote Gemüse blanchieren!
Wirsing wird delikater, wenn die Blätter für kurze Zeit in kochendes Salzwasser getaucht werden. Dann die Strünke entfernen und die Blätter weiter verarbeiten!
lässt sich am besten zu einer feinen Gemüsebeilage verarbeiten. Nach drei bis vier Minuten wird er aus dem Wasser gefischt. Beißt man ein Stück ab, könnte man meinen, er sei schon gar. Er ist aber bestenfalls al dente (was bei Gemüse kein Vorzug ist). Nun schneidet der Hausmann die dicken Strünke aus den einzelnen Wirsingblättern und diese auf ein praktisches Format zurecht. Auf einem Küchentuch dürfen die Blätter ihre Feuchtigkeit verlieren. Dann geht es ab in die Pfanne. Das Blanchieren bewirkt, dass das Gemüse danach nur noch sehr kurze Zeit braucht, bis es richtig gar ist. Außerdem beseitigt das Blanchieren die Muffigkeit des Kohls und seine durch chemische Düngung bewirkte Bitternis. Bei Lauch und Sellerie kann es sein, dass ich sie nicht blanchiere, sondern sofort gar dünste, wenn ihr Eigengeschmack nicht abgeschwächt werden soll. Teltower Rübchen, grüne, gelbe und dicke Bohnen aber kommen immer zuerst ins kochende Salzwasser. Alle bereits erschienenen Gebote auf www.zeitmagazin.de
Foto ––– Oliver Schwarzwald
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Die großen Fragen der Liebe (11)
Muss ich ihre Möbel schön finden?
Jürgen und Ella sind zusammengezogen. Dazu haben sie ihre Haushalte zusammengelegt. Jürgen hat in seinem Junggesellen-Leben auf seine Einrichtung nicht sehr viel Wert gelegt. Deswegen ist sein Mobiliar etwas ramschig. Außerdem hat Ella mehr Geschmack, wie sie selbst immer wieder feststellt. Bei der Einrichtung übernimmt sie die Federführung. Dies führt schließlich dazu, dass die gemeinsame Wohnung voll mit Ellas Möbeln ist, während Jürgens Ausstattung im Keller oder sogar auf dem Wertstoffhof landet. »Du hast ja mein ganzes Vorleben entsorgt«, stellt Jürgen betreten fest. »Entschuldige mal, du wirst ja nicht verlangen wollen, dass ich mit dir zwischen Sperrmüll lebe«, hält Ella dagegen. »Du kannst froh sein, dass du nicht mehr in einem Schrotthaufen leben musst.« Sechs Monate später zieht Jürgen aus.
Wolfgang Schmidbauer antwortet: Menschen hängen an ihrem vertrauten Gehäuse meist mehr, als sie es selbst wissen. Jürgen und Ella sind der Versuchung erlegen, die Konfliktpotenziale zu verleugnen, die in dieser Zusammenführung unterschiedlicher Welten stecken. Zusammenziehen ist nicht nur romantisch, es ist auch ein Kräftemessen. Mein Tipp: Behandeln Sie Ihren Partner wie einen Gegner, der versucht, in Ihr Territorium einzudringen. Kämpfen Sie, wenn er versucht, Ihnen Ihre Vorstellung vom Wohnen wegzumissionieren. Liebende müssen lernen, Stil und Schrullen des anderen zu respektieren. Jeder soll seinen eigenen Raum nach seinem (Nicht-)Geschmack füllen dürfen. Nur über die gemeinsamen Räume wird zusammen entschieden. Ansonsten bleibt dem im Territorialkampf Unterlegenen nur der Guerillakrieg.
Wolfgang Schmidbauer, 67, ist einer der bekanntesten deutschen Paartherapeuten, von ihm erschien »Mobbing in der Liebe«, Gütersloher Verlagshaus 2007
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Spiele Logelei
Lösung aus Nr. 44 Waagerecht: A 873 D 169 G 48 H 5917 I 147537 M 6693 P 11 Q 97 R 71 S 31 Senkrecht: A 841 B 784 C 357 D 19 E 61 F 97 J 531 K 313 L 711 M 69 N 67 O 97
Ina (68) schreibt an Professor Knusi: »Ich habe bisher noch nie beim Lotto gewonnen. Neulich habe ich aber erfahren, wie meine persönliche Glückskombination aussehen muss: Da 3 meine Lieblingszahl ist, müssen genau 3 Zahlen ein I enthalten, 3 ein N und 3 ein A (wenn man sie ausschreibt). Außerdem müssen genau 3 Zahlen durch 3 teilbar sein, 3 der Zahlen müssen Primzahlen sein, und zusammen sollen alle Zahlen 3 mal 3 (also 9) Ziffern haben. Und schließlich muss die Summe aller Zahlen mein Alter ergeben, nämlich 68. Als ich das erfahren habe, war ich zunächst überglücklich. Inzwischen habe ich jedoch etliche Stunden damit verbracht, nach einer Kombination aus sechs verschiedenen Zahlen zwischen 1 und 49 zu suchen, die alle Bedingungen erfüllt – ohne Erfolg. Ich weiß jetzt nicht mehr weiter. Können Sie mir helfen?« Professor Knusi hat den Brief einfach seinem Assistenten Flusi in die Hand gedrückt, und der sitzt nun auch schon seit Stunden da und grübelt. Können Sie den Armen erlösen? Hinweis: Die Zahl 1 ist keine Primzahl.
Sudoku Füllen Sie die leeren Felder des Quadrates so aus, dass in jeder Zeile, in jeder Spalte und in jedem mit stärkeren Linien gekennzeichneten 3 x 3-Kasten alle Zahlen von 1 bis 9 stehen. Mehr solcher Rätsel finden Sie im Internet unter www.zeit.de/sudoku
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Logelei und Sudoku ––– Zweistein
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Um die Ecke gedacht Nr. 1935
WAAGERECHT: 6 Weder laub- noch nadelwaldtypisch, eher auf Wiese oder Matte geschlagen 11 Wo … nottun, können Worte nicht helfen (Sprichwort) 15 Eckiges Muster plus Folgenfolge: So was zu fertigen, erhält etliche 11 waagerecht 18 Ward flugs mit Plan bekannt, in vergangenen Phasen des Technikerlateins 19 Im Busch-Werk heißt er Hans 20 Weiß grad nicht, wo sein Kalender steckt, der mit den vielen versäumten Terminen 21 Mosersche Art, Wein zu konsumieren – das lag am Reblaus-Vorleben 22 Zählt zum Musikwunsch, wenn jemand den Degrees lauschen möchte 23 Keine … schuf die Natur, denn taschenlos, ohne Taschen in den Pelzen, kommen wir zur Welt (H. Heine) 26 Berglandestypisch: in Eifelstädtchen unschwer zu entdecken 27 Gelegenheit, ein spezielles Jacket auszuführen 29 Häufig Thema auf dem Basar, nicht selten Objekt von Familienstreit 32 Ermittlerproblem: Man hat … und lauter Leute, die überhaupt nichts … 33 Das Fortrücken in der Kalenderjahrzahl macht wohl den Menschen, aber nicht die … reifer (J. P. Hebel) 35 Nicht lang genug, um Postament zu werden: recht wenig Hülle für untenrum 37 Liegen bereit, einen Teil des Güterverkehrs zu kanalisieren 39 Nicht der richtige Wetterbericht für Skiurlaubsplaner 41 Denken ist interessanter als Wissen, aber nicht als … (Goethe) 42 Eine Idee aus dem Gedankenflug der Brüder Montgolfier 43 Philosoph, von Gewässer umgeben: Die geht gerade nicht am Rund vorbei 44 Der Staat, dessen King Gitarre spielte
SENKRECHT: 1 Türsteher soll’s gern: Wie machen Nichtstuer auf sich unaufmerksam? 2 Geht hier mit geschäftlichem Treiben, da mit Einkehr einher 3 Post-Moderne insbesondere auf der E-Schiene 4 Auf den kommt’s an, denn klug macht er 5 Mit Racine verbunden wie mit Anouilh 6 Wer … im Ofen hat, dem schenkt man gern ein Stück Kuchen (Sprichw.) 7 Hosenbodenorientierte Unterrichtsunterstützung, nach alter Lehrmeinung 8 Finger sind fürs Auf-, Augen fürs Ab- zuständig 9 Man kann einiges … auf dem Berggipfel oder im Dunkel der Nacht 10 Die halbe Tierwelt – Kunststück auf zwei Beinen 11 Weltenbummlern recht: alles, was so ist 12 Es war eine am Wörthersee, die war die Schönste im Strandcafé 13 Schon eine Art Kernstadt, als Stadtkern, aus vergangenen Herrschaftszeiten 14 Gipfeletappe auf der Abi-Tour 16 Daraus die Blue Shoes der Rock ’n’ Roller 17 Isegrims Vetter, gern bei Grimbart zu Gast 24 Nie ist mir was …, sagen Publizitätgierige und basteln am nächsten Skandälchen 25 Action beim 27 waager. 28 Insbesondere als Hauptstadtbewohner sehr auf der Höhe damals 30 In unserem Stammbaum aufgeführt, doch kaum mit unserem Namen 31 Erster Erster in der Villa Hammerschmidt 33 Für Herde oder Rotte nichts Gutes: die an den Hacken zu haben 34 Die eine fließt weit höher rhein als die andere 36 Fremdes Plappern, läuft meist hinaus auf Tastenklappern 38 Ein hungriger … läuft schneller als ein sattes Rennpferd (Sprichw.) 40 Von Rossen vorwärts durchtrabt, wie vom Sänger beim Schwager vorn bemerkt Kreuzworträtsel ––– Eckstein
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Lösung aus Nr. 44 WAAGERECHT: 6 LOCKEN 9 SCHWEIGEN 14 MACHT 16 RICHTER 18 KASTOR und Polydeukes 20 HAESCHER (»Die Bürgschaft«) 21 STARTEN 22 CROUTONS 24 ATELIER 25 CHESTER in Orchester 27 OUTFIT 29 EINIG 30 »links, ZWO, drei, vier« 32 AIRE-daleterrier 33 TALISMAN 35 Zarah LEANDER 36 HOLUNDER 39 ANPREISEN 40 REN 41 TALENT 42 STANGEN 43 EINGELEGT SENKRECHT: 1 KOCHREZEPT 2 GERSTE (»...morgen brau ich ...«) 3 ACHE in B-ache-ntstehung 4 TIKAL in ver-tikal 5 INTERNA 6 LAECHELN 7 CHAOS 8 NICO Rosberg 9 SCHNORREN (»Hast(e) ma(l) ein ...«) 10 WESTFALEN 11 ERTEILUNG 12 ESTE 13 KONTINENT 15 TEUTONEN (»furor teutonicus«) 17 TRATTORIA 19 ARIES = Widder (lat.) 23 »Schuld und SUEHNE« 26 RIESE 28 TINTE aus Galläpfeln 31 WARAN 32 ADIGE = Etsch (ital.) 34 MEL(anie) B(rown), C(hisholm) 37 DALI 38 REGE Soeben erschienen: Eckstein, »Um die Ecke gedacht«, Band 16, 66 Kreuzworträtsel aus der ZEIT, ScherzVerlag, 15 Euro
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23.10.2008 13:45:36 Uhr
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Lebensgeschichte 8 7 6 5 4 3 2 1
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Lösung aus Nr. 44 Welcher schwarze Schlag eroberte Material? Nach dem Springeropfer 1...Sf3+! gab Weiß schon auf, weil er bei 2.gxf3 Dg5+ den Turm d2 verliert
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»Wenn man Bill Hook trifft – einen unauffälligen, freundlichen Mann –, würde man nicht vermuten, dass sein Leben eine einzige, verzehrende Leidenschaft für Kunst, Schach und Spielbanken war«, schreibt der US-amerikanische Groß meister Lubosh Kavalek im Vorwort zu Hooks sehr unterhaltsamer Autobiografie Hooked on Chess. Ebenso wenig kann ich, der auf Olympiaden viel Zeit mit ihm verbrachte, glauben, dass dieser Gentleman par excellence jahrelang – arm, abgerissen und obdachlos – auf Parkbänken und dem Boden von New Yorker Schachcafés schlief. Ich weiß nicht, ob der mittlerweile 83-jährige Bill auch bei der Schacholympiade in Dresden (vom 12. bis 25. November) das Spitzenbrett der Britischen Jungfraueninseln besetzen wird, doch sicher ist, dass er schon an insgesamt 16 Schacholympiaden teilnahm. Der englische Großmeister Jonathan Speelman spricht von ihm als »Father of the Olympiad«, und der russische Weltklassespieler Peter Swidler sagte bei ihrer Begegnung: »Ah, here comes the legend!« In New Yorker Schachcafés spielte der Zocker Bill Blitzpartien gegen Bobby Fischer, den er anfangs vermöbelte, und Stanley Kubrick, dem schließlich der Einsatz zu hoch wurde. Und er gewann bei der New York State Championship 1951 gegen Marcel Duchamp, der selbst zwei Mal für Frankreich bei Schacholympiaden spielte. Bill war sicher nach Duchamps Geschmack: »Nicht alle Künstler sind Schachspieler, aber alle Schachspieler sind Künstler.« Mit welch stillem Zug spann Hook als Weißer ein Mattnetz um den König Duchamps?
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In seiner Geburtsstadt »mit ihren weißen Häusern am Ufer, die das Meer in einem weiten Halbkreis umarmt«, spiegelten sich die kulturellen und politischen Widersprüche des europäischen Bürgertums zwischen zwei Jahrhunderten. Ihrem weltoffenen und dynamischen Mikrokosmos blieb er zeit seines Lebens verbunden. Sein Vater, ein wohlhabender Glaswarenhändler, begrüßte den Neugeborenen mit dem Ausruf: »Heute hat sich mein Vermögen um eine Million vermehrt!« Er gab ihm einen Namen mit, der aus zwei Welten stammte, und sorgte dafür, dass er sich in zwei Kulturen heimisch fühlte. Die Hoffnungen des eleganten jungen Mannes auf eine akademische Ausbildung erfüllten sich nicht: Sein Vater hatte sich durch Großzügigkeit und eine Fehlspekulation ruiniert. Der Not gehorchend, wurde aus dem verhinderten Studenten mit einer unglücklichen Liebe zum Theater ein fleißiger und disziplinierter Auslandskorrespondent in einer Großbank. Gerade 28 Jahre alt, zog er eine deprimierende Lebensbilanz: »Meine Unzufriedenheit mit mir und den anderen könnte nicht größer sein. Das finanzielle Problem wird immer akuter, ich bin weder zufrieden mit meiner Gesundheit noch mit meiner Arbeit, noch mit all den Leuten, die mich umgeben.« Grund war auch das Scheitern künstlerischer Projekte, schon bei den ersten Entwürfen diagnostizierte er selbst eine »Verworrenheit der Idee«. Als er zum ersten Mal wagte, an die Öffentlichkeit zu gehen, unter einem provozierenden Pseudonym, interessierte sich kaum jemand für die subtile Anatomie eines überflüssigen, untauglichen Mannes, der an seinen Träumen von Reichtum und Liebe zugrunde geht. Bitter sprach er von »Schund, der mir schwer im Magen liegen wird«. Nach der Hochzeit mit einer dreizehn Jahre jüngeren Frau aus dem industriellen Bürgertum widerstand er einige Jahre den Lockungen seiner Schwiegereltern, in das florierende Familienunternehmen einzutreten. Ein zweiter künstlerischer Fehlschlag bewog ihn, sein Doppelleben aufzugeben und sich hinfort ausschließlich den Geheimnissen korrosionsfester Schiffslacke und ihrem Verkauf zu widmen. Die Zweifel an sich, seine »Frösche«, betäubte er mit einer akzeptierten Sucht. Es war sein Englischlehrer, der ihn aus der künstlerischen Resignation erlöste. Von ihm ermutigt, machte sich der intellektuelle Grandseigneur nach einer Pause von mehr als zwanzig Jahren wieder ans Werk und vertiefte sein Lebensthema: das Scheitern des élan vital an den Bedingungen einer mittelmäßigen bürgerlichen Existenz. Aus ironischer Distanz beobachtete er die kleinen lächerlichen Anlässe, die die Handlungen der Menschen bestimmen. In seinen letzten drei Lebensjahren genoss er einen »goldenen Sonnenuntergang«. Er wurde berühmt, aber nicht populär; kokett sah er sich als »Knoblauchzehe in der Küche von Leuten, die Knoblauch nicht ausstehen können«. Wer war’s? Lösung aus Nr. 44 Der Architekt Ludwig Mies van der Rohe (1886 bis 1969) stammte aus Aachen, begann seine Architektenkarriere in Berlin, war 1930 bis zu dessen Schließung Direktor des Bauhauses Dessau und emigrierte 1938 nach Chicago. Er baute u. a. den Barcelona-Pavillon (1929), die Crown Hall in Chicago (1956) und die Neue Nationalgalerie in Berlin (1967)
Schach Helmut Pfleger ––– Lebensgeschichte Wolfgang Müller
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Impressum Redaktionsleiter Christoph Amend Textchefin Tanja Stelzer Art-Direktorin Katja Kollmann Creative Director Mirko Borsche Berater Florian Illies Redaktion Jörg Burger, Wolfgang Büscher, Heike Faller, Dr. Wolfgang Lechner (besondere Aufgaben), Christine Meffert, Ilka Piepgras, Tillmann Prüfer (Stil), Jürgen von Rutenberg, Dr. Adam Soboczynski, Matthias Stolz, Carolin Ströbele (Online) Fotoredaktion Michael Biedowicz (verantwortlich), Usho Enzinger Gestaltung Nina Bengtson, Jasmin Müller-Stoy Mitarbeit Tobias Timm, Annabel Wahba, Andreas Wellnitz (Bild) Autoren Anita Blasberg, Marian Blasberg, Carolin Emcke, Matthias Kalle, Harald Martenstein, Wolfram Siebeck, Jana Simon, Günter Wallraff Produktionsassistenz Margit Stoffels Korrektorat Mechthild Warmbier (verantwortlich) Dokumentation Mirjam Zimmer (verantwortlich) Herstellung Wolfgang Wagener (verantwortlich), Oliver Nagel, Frank Siemienski Druck Broschek Tiefdruck GmbH Repro Twentyfour Seven Digital Pre Press Services GmbH Anzeigen DIE ZEIT, Matthias Weidling Empfehlungsanzeigen GWP media-marketing, Axel Kuhlmann Anzeigenpreise ZEITmagazin, Preisliste Nr. 2 vom 1. 1. 2008 Anschrift Verlag Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg; Tel.: 040/32 80-0, Fax: 040/32 71 11; E-Mail:
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Am Samstag ging das ZEIT-Scrabble-Turnier 2008 zu Ende, und im ZEITmagazin von kommender Woche werden Sie erfahren, wer es gewonnen hat. Die heutige Spielsituation soll Ihnen ein wenig Wettkampfatmosphäre vermitteln. Die Partie könnte sich durchaus bei einem Turnierspiel entwickelt haben, nämlich dann, wenn es auf beiden Seiten nicht wirklich gut gelaufen ist. Da heißt es, Ruhe zu bewahren und vor allem so abzulegen, dass eine verwertbare Kombination von Buchstaben auf dem Bänkchen verbleibt. Nicht einfach, besonders wenn man bedenkt, dass jedem Spieler pro Zug eine Richtzeit von drei Minuten vorgegeben ist. Und wenn man dann noch vor einer derartigen Buchstabenkombination sitzt, wähnt man sich mit einer höheren Kraft im Unreinen. Aber immerhin sind über 40 Punkte möglich. Wie?
Dreifacher Wortwert
Dr. Adam Soboczynski:
Doppelter Wortwert
Früher war alles besser (19) Peter Sodann
Dreifacher Buchstabenwert Doppelter Buchstabenwert
IM NÄCHSTEN HEFT Lösung aus Nr. 44 76 Punkte gab es für das Partizip ABTRETEND auf 13C–13K. 26 (13 x 2) Punkte entfielen auf das Lösungswort, hinzu kam die Prämie von 50 Punkten. – Es gelten nur Wörter, die im Duden, »Die deutsche Recht-schreibung«, 24. Auflage, verzeichnet sind, sowie deren Beugungsformen. ScrabbleRegeln unter www.scrabble.de
Mit Freunden reist der Fotograf Ryan McGinley jeden Sommer durch die USA und kommt mit seinem ganz persönlichen Amerikabild zurück. Wir zeigen das Ergebnis seiner jüngsten Erkundungen – in unserem Fotografie-Heft
Scrabble Sebastian Herzog ––– Foto Ryan McGinley
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Auf eine Zigarette mit
Helmut Schmidt über Volksparteien heute und seine Bindung an die SPD
»Soziale Ungerechtigkeit habe ich schon als Kind erlebt« Lieber Herr Schmidt, spätestens seit dem Wahldebakel der CSU wird in Deutschland das Ende der Volksparteien ausgerufen. Ist das auch eine dieser furchtbaren Übertreibungen, die Sie immer wieder beklagen? Bisher hat noch niemand, der diesen Satz nachgeplappert hat, definiert, was er mit »Volkspartei« meint. Das könnten wir doch schnell leisten: Eine Volkspartei ist eine schichten- und altersübergreifende Interessenvertretung und Identifikationsinstanz. Das würde dann zum Beispiel auch für die Grünen und die Linke gelten, die wären auch Volksparteien – und wir hätten viele davon. Neue Studien belegen das: Die Linkspartei ist weder eine reine Ost- noch eine Prekariatspartei. Wie würden Sie denn eine Volkspartei definieren? Ich würde das Wort nicht benutzen, weil es mehrdeutig ist. Seit den sechziger Jahren waren wir es gewohnt, dass nur drei Parteien im Bundestag vertreten waren, diese Konstellation haben die meisten im Blick, wenn sie von Volksparteien reden. Vorher saßen mehr Parteien im Parlament, und heute ist das wieder so. Das ist überall dort in Europa ein normales Ergebnis, wo Verhältniswahlrecht gilt. Wahr ist aber auch, dass die Zustimmung für die großen Tanker SPD und CDU dramatisch abgenommen hat. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass mit Brandt, Strauß oder Kohl Personen an der Spitze standen, die eine große Überzeugungskraft hatten. In dem Maße,
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in dem die Wirkung von Führungspersonen abnimmt, sinkt auch die Stimmenzahl für die großen Parteien. Alle, die Sie genannt haben, hatten Charisma. Das finden Sie ja neuerdings problematisch … Nein, Charisma ist eine Gabe. Aber die hatte auch Hitler. Ohne Moral und ohne Vernunft kann charismatische Ausstrahlung eine Gefahr sein. Persönliche Ausstrahlung spielt natürlich in jeder Demokratie eine Rolle. Wahrscheinlich ist das in unserem deutschen Falle auch eine Frage der Generation. Die heutige Führungsgeneration ist in normalen Zeiten aufgewachsen, ohne Krieg, ohne Gestapo, ohne Auschwitz, ohne Gulag, ohne Stasi. Normale Zeiten bringen normale Führungspersonen hervor. Gott sei Dank leben wir in normalen Zeiten! Warum ist der junge Helmut Schmidt nach dem Krieg zur Volkspartei SPD gegangen – und nicht etwa zur CDU? Als ich Sozialdemokrat wurde, war die SPD keine Volkspartei im heutigen Sinne, sondern im Wesentlichen eine Partei des Proletariats. Sie kam auf 27 oder 28 Prozent der Wählerstimmen. Der Aufstieg hat dann bis an die Schwelle der siebziger Jahre gedauert, in denen die SPD kontinuierlich auf mehr als 40 Prozent kam, weil ihr die Öffnung zur Mitte gelungen war. Nun kam der junge Helmut Schmidt ja aus keinem Proletarier-Elternhaus, und er studierte. Warum also SPD?« Aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit. Die soziale Ungerechtigkeit hatte ich schon als Kind miterlebt. War da zum Beispiel die Erfahrung, dass Ihre spätere Frau nicht studieren sollte, weil ihre Eltern das Schulgeld nicht aufbringen konnten? Ja, aber es war nur ein kleiner Teil der erlebten sozialen Ungerechtigkeit. Wo haben Sie die in Ihrer Jugend am anschaulichsten beobachten können? Bei meinen Großeltern, bei den Eltern meiner Frau, bei Eltern von Schulkameraden. Meine Großeltern väterlicherseits wohnten in einer Kate in Hamburg-Barmbek. Da hatten vier Familien hinten im Garten gemeinsam ein Plumpsklo, und in der Wohnung gab es kein fließendes Wasser. Das waren normale Lebensumstände. Würden Sie denn, wenn Sie heute ein junger Mann wären, wieder in die SPD eintreten? Sehr wahrscheinlich ja. Die rechtliche und finanzielle Sicherung des Sozialstaats wird mich bis ans Lebensende beschäftigen. Die FAZ hat Ihnen neulich ein schönes Kompliment gemacht und Sie als »Ein-Mann-Volkspartei« bezeichnet. Gefällt Ihnen das? Nein.
Das Gespräch führte Giovanni di Lorenzo ––– Foto Ulrich Perrey / dpa
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ANNA CAROLINE ECKL,
Bachelor und Master, wohin man schaut: Drei Viertel aller Studiengänge sind auf die neuen Abschlüsse umgestellt. Fast genauso schnell wie ihre Zahl wächst der Unmut, noch funktionieren viele Programme nicht so, wie sie sollten. Und auch der internationale Austausch hat trotz Studienreform in ganz Europa seine Tücken.
Die Liebe zur Physik brach sich bei Anna Caroline Eckl in der 13. Klasse Bahn – da erst entschloss sie sich, das Fach zu studieren. Spontan, wie sie sagt: »Weil ich plötzlich das Gefühl hatte, mir würde etwas im Leben fehlen, wenn ich es nicht täte.« Was sie mit ihren Physikkenntnissen später mal machen will, weiß sie noch nicht genau. »Lehrerin werde ich nicht«, sagt sie. »Die Forschung würde ich nicht ausschlagen. Aber ich kann mir auch Bereiche vorstellen, die nicht direkt mit Physik zu tun haben, in der Unternehmensberatung oder im Wissenschaftsjournalismus.« Seit der 5. Klasse hat sie nebenher Geige gespielt, später kam der Gesang dazu, »aber ich wäre nie so weit gegangen, das auch zu studieren«. In Landsberg am Lech aufgewachsen, studiert sie jetzt in ihrer Geburtsstadt München.
Auf acht Seiten berichten wir von Hürden, aber auch von den Ideen, sie zu beseitigen. Dazu stellen wir sechs Studenten vor, sie alle sind Stipendiaten in einem der großen Studienwerke
Auswärtspunkte zählen wenig Die Idee europaweit gültiger Leistungsnachweise klingt so gut. Doch nach dem Auslandssemester kommt der Kampf mit der Bürokratie
Sauber abgerechnet Das European Credit Transfer System (ECTS)
entstand Ende der achtziger Jahre, fast ein Jahrzehnt bevor der Begriff »Bologna-Prozess« erfunden war. Die Punkte wurden von Professoren ersonnen, die Studenten die Anrechnung ihrer Auslandssemester erleichtern wollten. Zwischen den am Studentenaustauschprogramm Erasmus beteiligten Unis funktioniert das System auch bis heute weitgehend reibungslos: Sie bescheinigen ihren Studenten die erbrachten Studienleistungen in Kreditpunkten, die europaweit denselben Wert haben. Erst durch die Hochschulreform wandelte sich das ECTS, was sich auch in seinem Namen bemerkbar machte: Offiziell steht ECTS jetzt für European Credit Transfer and Accumulation System. Es geht also nicht mehr nur um den Transfer von einer Hochschule an die andere, sondern seit sämtliche Abschlüsse auf Bachelor und Master umgestellt werden, ist das ECTS zur entscheidenden Rechnungseinheit für Studienleistungen schlechthin geworden: Für 30 Stunden Arbeit bekommt der Student einen Punkt. Eine große Chance und Herausforderung zugleich – wenn Fachbereiche ihre Studiengänge ECTS-tauglich machen, müssen sie ganz neu über die Strukturierung der Inhalte diskutieren: Wie viele ECTS-Punkte verdient ein Vorlesungsmodul? Ist es in der vorgesehenen Zeit tatsächlich zu schaffen, und wie viele Veranstaltungen sollte man in ein Semester packen? Kurzum: Die Kreditpunkte führen zu einer sinnvolleren Studienorganisation und, hoffentlich, einer besseren Studierbarkeit. Doch seit bei der hochschulinternen ECTSPlanung nicht mehr der Auslandsaustausch im Vordergrund steht, leidet seine internationale Vergleichbarkeit. Das Problem ist endlich erkannt: Die Europäische Union entwirft neue Regeln für die Notenvergabe, das BolognaZentrum der Hochschulrektorenkonferenz arbeitet an praxisnahen Empfehlungen zur Anerkennung ausländischer ECTS-Punkte.
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enn Rüdiger Jütte sich über den Stand der Studienreform informieren möchte, muss er nur in seinem Posteingang nachschauen. Derzeit findet er dort besonders viele E-Mails. Es sind die Hilferufe deutscher Studenten. Mit jeder Menge bestandener Klausuren und Hausarbeiten im Gepäck kehren sie zurück von ihrem Auslandsjahr in Edinburgh, Mailand oder Kopenhagen und fallen aus allen Wolken: Alles nichts wert in der Heimat. Die Gleichwertigkeit sei nicht gegeben, urteilen die Prüfungsausschüsse in gnadenlosem Amtsdeutsch. Aber es gibt doch Bologna!, schreiben die verzweifelten Studenten dann an Rüdiger Jütte, Referatsleiter für Äquivalenzen und Anerkennung bei der Hochschulrektorenkonferenz (HRK). Der kann oft nur die Achseln zucken: Die Sache mit der Äquivalenz sei eben leider doch komplizierter als die bloße Addition von Kreditpunkten. »Es gibt da keine letzte Sicherheit.«
Die Studenten sind der Gunst ihrer Professoren ausgeliefert Ein ernüchternder Satz, wenn man bedenkt, mit welchen Vorsätzen die Bologna-Reform an den Start gegangen ist. Neben den neuen Abschlüssen Bachelor und Master galt das Versprechen akademischer Reisefreiheit als eine ihrer Zauberformeln. Ein Versprechen mit vier Buchstaben: ECTS. Die Abkürzung steht für European Credit Transfer System und soll eine gemeinsame europäische Währung für Studienleistungen sein. In ECTS-Kreditpunkten ausgedrückt, sollen sie vom Ausland problemlos an die heimische Uni transferiert werden können. Doch die Realität sieht immer noch anders aus: Viel zu oft sind die reisefreudigen Studenten Bittsteller ohne Rechte, der Gunst ihrer Professoren ausgeliefert, die mit einer verweigerten Unterschrift ganze Studienpläne über den Haufen werfen. Und das Bitterste ist: Viele Rückkehrer ahnen nichts von den Problemen, sie haben auf die BolognaHochglanzbroschüren vertraut. Bernhard Kempen, Präsident der Professorenvereinigung Deutscher Hochschulverband (DHV), zürnt: »Durch ECTS werden systematisch falsche Hoffnungen geweckt.« Mit der Kritik am ECTS wachsen die Zweifel am einzigen Grundpfeiler des Bologna-Prozesses, der bislang vom Sturm verschont geblieben ist. So erreicht das bereits ernste Imageproblem der Hochschulreform
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eine neue Dimension – was umso ärgerlicher ist, weil längst erste Erfolge der Reform sichtbar werden und viele Schreckensmeldungen über Abbrecherquoten, Planungschaos und grenzenlosen Stress für die Bachelorstudenten übertrieben waren. Jetzt aber nehmen die Bologna-Kritiker auch die Idee der international einheitlichen Kreditpunkte aufs Korn, die als Inbegriff von Einfachheit und Transparenz galt. Das Grundprinzip des ECTS ist schnell erklärt: Ein dreijähriges Bachelorstudium besteht aus 180 ECTS-Punkten, 30 pro Semester. Jeder Punkt soll einer Arbeitsbelastung von 30 Stunden für den Studenten entsprechen. Für ein Vorlesungsmodul mit 4 Punkten müsste er also 120 Stunden arbeiten, für sein Studium 5400 Stunden. Theoretisch. Denn bislang fehlt eine europaweit einheitliche Regelung, wie sich studentische Arbeitsstunden überhaupt messen lassen – ohne dass die Eitelkeit der Professoren für Verzerrungen sorgt oder die Selbstüberschätzung der Studenten, die nach ihrem Arbeitsaufwand befragt werden. Hinzu kommt, dass etwa die Briten einen ECTS-Punkt schon für 20 Stunden hergeben, die Schweden für 26 bis 27 Stunden: Das ECTS täuscht eine riskante Pseudogenauigkeit vor. Denn zu viele Uni-Hopper glauben so, dass die Anerkennung ihrer Studienleistungen nur noch Formsache sei, und verzichten auf zusätzliche Absprachen. Ein Fehler, denn längst nicht alle Hochschulen, auch nicht die großen, haben detaillierte Abkommen miteinander, was die gegenseitige Anerkennung angeht. Wenn kein sogenanntes Learning Agreement zwischen Student, Gast- und Heimatuni geschlossen wurde, ist bei der Anrechnung selbst dann schnell Feierabend, wenn Inhalt und ECTS-Punktzahl der betreffenden Kurse übereinstimmen. Immerhin: Die heimischen Professoren können Gnade walten lassen. Doch der Vorteil gegenüber der Vor-ECTS-Ära ist gleich null. Das äußerst erfolgreiche Erasmus-Austauschprogramm, das jedes Jahr fast 25 000 deutsche Studenten an Europas Hochschulen sorgenfrei studieren lässt, beweist, wie reibungslos Learning Agreements und feste Hochschulkooperationen funktionieren. Meistens zumindest. Denn selbst die können irgendwann nicht mehr helfen: dann nämlich, wenn beispielsweise ein Mathe-Grundkurs in Edinburgh von den Lernzielen her identisch ist mit dem Mathe-Grundkurs in Berlin, aber mit nur drei ECTSPunkten eingetragen ist – im Gegensatz zu vier in
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Berlin. Spätestens dann winken selbst die kooperativsten Prüfungsausschüsse ab. »Genau das ist die Stelle, wo die Pseudogenauigkeit von ECTS nicht nur nichts verbessert hat, sondern zu einer Verschlechterung geführt hat«, sagt DHV-Präsident Kempen. »Früher konnten wir Professoren die Regelungslücken ausnutzen und einen Schein ausstellen. Diese Möglichkeit ist uns jetzt genommen.«
Jede Hochschule hat ihre eigene Version der neuen Abschlüsse entwickelt Noch größer wird die Verwirrung, wenn die Studenten die Hürde der generellen Anrechnung geschafft haben und die im Ausland erzielten Zensuren in die heimische Skala umrechnen lassen wollen. Um die unterschiedlichen Notensysteme kompatibel zu machen, greifen die ECTS-Schöpfer auf einen Leistungsvergleich zurück. Beispiel Mathekurs: Die Edinburgher Uni gibt an, der deutsche Gast habe zu den besten zehn Prozent der Studenten gehört. Doch worauf bezieht sich die Angabe? Auf den Kurs, aufs Fach oder die Hochschule? Und allein auf dieses Studienjahr oder die letzten drei? Die EU will die vergangenen zwei Jahre zum Minimalstandard machen; wenn die Hochschulen erst mal alle Noten ihrer Studenten in ein Computersystem eingegeben hätten, sei dies ja außerordentlich leicht zu handhaben, heißt es. Doch Studenten fürchten um den Schutz ihrer Daten, Universitäten den Aufwand der Datensammlung. ECTS – außer viel Bürokratie nichts gewesen? Volker Gehmlich ist einer der Väter des ECTS. Ihn ärgern all die Vorwürfe an das System, die jetzt erhoben werden. »Die Kreditpunkte waren immer als eine Orientierungsgröße gedacht, als Richtwerte für die rein quantitative Arbeitsbelastung der Studenten. Sie sollen eine Hilfe sein, mehr nicht.« Entscheidend für eine Anrechnung sei die Qualität einer Lehrveranstaltung, dokumentiert durch Lernergebnisse. »Natürlich können die Hochschulen immer noch genauso selbstständig über die Anrechnung entscheiden wie vor ECTS«, sagt der Osnabrücker BWL-Professor. Anderes habe auch nie jemand behauptet. »Professoren können sogar aus drei ausländischen vier heimische Credits machen, wenn sie wollen.« Womöglich ist der Grund für das Imageproblem des ECTS tatsächlich ein Missverständnis. Als Orientierungshilfe im internationalen Austausch ist es unverzichtbar, zudem wäre
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VON JAN-MARTIN WIARDA
der Umbau der Studiengänge ohne die Kreditpunkte undenkbar gewesen (siehe Kasten links). Doch wer ist schuld an dem Missverständnis, haben die Reformfans in ihrer Euphorie wirklich überzogene Erwartungen geweckt? Bernhard Kempen sagt, Bund, Länder und Hochschulrektoren hätten die Professoren mit ihrer Bologna-Rhetorik überflutet und dann bei der Umstellung allein gelassen. »So haben sich die Hochschulen zu Einzelkämpfern entwickelt mit selten kompatiblen Versionen der Reform.« Volker Gehmlich sieht das anders: »Das Problem ist, dass wir Deutschen keine Unsicherheit mögen. Viele Fachbereiche haben lieber starre Regeln bei der Anerkennung eingeführt, anstatt flexibel zu sein.« »Die ganze Debatte bringt nichts, wenn wir nicht an der Idee von Bologna festhalten«, sagt Wilfried Müller, Rektor der Uni Bremen und Vizepräsident der HRK, die unter Bologna-Gegnern häufig das Feindbild schlechthin ist. »Erst durch ECTS ist das Bewusstsein entstanden, dass die Anerkennung kein Willkürakt der Professoren sein sollte. Jetzt müssen wir daran arbeiten, dass das System in der Praxis besser funktioniert.« Und plötzlich ist der HRK-Vertreter ein Herz und eine Seele mit dem Professorengewerkschafter, dessen Verband vielen Hochschulrektoren als der notorische Bremser gilt: Kempen will eine europaweite Harmonisierung der Studienmodulgrößen, einen Abgleich der Inhalte und neue Kooperationsverbünde zwischen den Hochschulen. Eine Forderung, der auch der ECTS-Experte Gehmlich zustimmt. »Wenn wir eine gemeinsame Modulgröße hätten, wären wir viele Probleme los.« Vielleicht ist das die Chance in der Krise: BolognaFans und -Gegner sehen ein, dass sie im Interesse der Studenten aufeinander zugehen müssen. Sowenig das ECTS sein Versprechen bislang eingelöst haben mag, als Ideal unbegrenzter akademischer Reisefreiheit hat es nichts von seiner Strahlkraft eingebüßt.
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Wo studieren? Das CHEHochschulranking hat 250 Universitäten getestet www.zeit.de/hochschulranking
Foto (Ausschnitt): Michael Herdlein für DIE ZEIT; www.herdlein.de
21, Studienstiftung des deutschen Volkes, studiert im 3. Semester Physik in München
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GEFRAGT KAI SCHÖPE, 21,
Studienstiftung des deutschen Volkes, studiert im 5. Semester Latein und Philosophie in Berlin
Die Elite zögert Auch Frankreich hat seine Probleme mit der Studienreform
Ausgerechnet Latein ausgesucht hat sich Kai Schöpe aus der Nähe von Münster – das Fach, das schnellstmöglich abzuwählen in der Schule zum guten Ton gehörte. Er studiert mit Lehramtsoption, kann sich aber auch vorstellen, an der Uni zu bleiben. Als Lateinlehrer werde er sicher einen Job finden, meint er. »Die Schülerzahlen für Latein steigen. Viele Schüler sagen, sie hätten noch nie so gut deutsche Grammatik erklärt bekommen wie in Latein.« Außerdem sei die Sprache wegen ihrer integrativen Wirkung sehr geschätzt, schließlich gehörte auch die Türkei mal zum Römischen Reich.
Foto: privat
HARALD SCHRAEDER, 42, ist Bologna-Experte bei der Französischen Hochschulrektorenkonferenz CPU
Kann die Wirtschaft diese Arbeitsplätze denn überhaupt garantieren? SCHRAEDER: Der Abschluss ist mit den Unternehmen entwickelt worden. Die Studienplätze integrieren Praxis und Theorie, vergleichbar mit dualen Studiengängen in Deutschland. Und die sind ja auch erfolgreich. ZEIT: In Deutschland soll Bologna auch die Abbrecherzahlen senken – geklappt hat das bisher nur teilweise. Wie ist das in Frankreich? SCHRAEDER: Hier sind die Abbrecherzahlen ebenfalls nach wie vor hoch, vor allem wegen der fehlenden Selektion bei Studienbeginn. ZEIT: Auch vor dem Masterstudium gibt es keine Auswahl, wie soll das funktionieren? SCHRAEDER: Dafür ist der Master zweigeteilt: Nach der Hälfte wird ausgewählt, wer weitermachen darf. Die Selektion findet also nach insgesamt vier Jahren Studium statt. ZEIT: Das hat mit Bologna aber nichts zu tun. SCHRAEDER: Ja, und es gibt immer wieder Überlegungen, das zu ändern. Aber sobald es konkret wird, drohen Streiks. Die Studenten feilschen um jedes Studienjahr ohne Selektion, ähnlich wie in Deutschland. Da war der Widerstand ja auch besonders groß, wo bestimmte Prozentzahlen genannt wurden. ZEIT:
INTERVIEW: JUDITH SCHOLTER
Foto (Ausschnitt): Sabine Gudath für DIE ZEIT; www.sabinegudath.de
In Deutschland tobt gerade mal wieder der Streit um Bologna. Wie geht Frankreich mit der Reform um? HARALD SCHRAEDER: Die Universitäten haben vollständig umgestellt, aber die Grandes Ecoles, die spezialisierten Hochschulen, haben die Reform nur halbherzig mitgemacht. Sie haben das ECTS-System eingeführt, ohne einen Bachelorabschluss anzubieten. ZEIT: Die Eliteschmieden hinken hinterher? Fast wie die führenden deutschen technischen Universitäten, die zunächst bremsten. SCHRAEDER: Die deutschen Ingenieure haben sich aber nach anfänglichem Widerstand doch für die Reform entschieden. Die Ecoles dagegen, darunter auch die Ingenieurschulen, weigern sich aus fachlichen Gründen bis heute, einen Abschluss nach drei Jahren anzubieten. Sie behaupten, dem System schon genügend zu entsprechen. Ich aber glaube: Französische Studenten sind künftig klar im Nachteil und weniger mobil, wenn sie keinen Abschluss auf Bachelorniveau haben. ZEIT: Davon abgesehen, fiel den Universitäten die Umstellung relativ leicht? SCHRAEDER: Ja, allerdings entsprach die Studienstruktur Bologna schon einigermaßen. Während Deutschland den Bachelor erst einführen musste, gab es dieses Niveau – die Licence – in Frankreich schon lange. Es hatte sich aber auf dem Arbeitsmarkt nicht durchgesetzt. Darum führte man eine Licence professionelle ein, die nicht direkt zum Masterstudium berechtigt, das betrifft etwa 20 Prozent der Studienplätze. Eine radikal andere Lösung als in Deutschland. ZEIT: In Deutschland wird über den Zugang zum Master erbittert gestritten. Gab es auch Proteste gegen die Licence professionelle? SCHRAEDER: Keineswegs. Wer eine Licence professionelle macht, kann danach direkt in den Beruf einsteigen. Für viele ist das reizvoll. DIE ZEIT:
Die Rechnung kommt im Alter Wenn Wissenschaftler von einem Land ins andere umziehen, riskieren sie ihre Rentenansprüche. Viele bleiben daher lieber zu Hause
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it Kanada fing alles an, irgendwann in den Achtzigern war das, und Dagmar Meyer stand kurz vor ihrem Abitur. Sie legte es in einer kanadischen Highschool ab – und kommt seither nicht mehr los vom Reiz des Fremden. In sieben Ländern von den Philippinen bis nach Spanien lebte die Wissenschaftlerin für längere Zeit, heute arbeitet sie in Irland. »Am Anfang«, sagt die 41-Jährige, »denkt man einfach nur an seine Projekte und findet die Reisen spannend.« Inzwischen denkt sie vor allem an den Papierkram. Stapelweise füllen allein ihre Versicherungs- und Rentenunterlagen die Aktenordner, die sie bei jedem Umzug mit im Koffer hat. Vor dem gleichen Problem stehen Tausende Wissenschaftler. Die Sozialsysteme sind in jedem Land anders aufgebaut. Ein gemeinsames Gerüst, das einen problemlosen Umzug von einem Staat in einen anderen ermöglichen würde, gibt es nicht. Es ist schon frappierend: Alle reden davon, wie wichtig die internationale Mobilität in der Wissenschaft ist. In der Praxis aber stolpern diejenigen, die ihre akademischen Freiheiten auch nutzen, über die bürokratischen Hürden des Sozialstaats.
Der Brief vom Amt war 16 Seiten lang Es sind nicht nur Wissenschaftler, die unter den engen Beschränkungen leiden – aber sie sind besonders stark betroffen. Geht etwa ein Manager ins Ausland, wird er meistens von seiner heimischen Firma entsandt, deshalb kann er auch bei den alten Versicherungsunternehmen bleiben. Wenn aber ein Forscher den Ruf einer ausländischen Universität annimmt, wird er rein juristisch zu deren Mitarbeiter und muss sich deshalb vor Ort versichern. Geht er einige Jahre später wieder in ein anderes Land, enden diese Verträge automatisch, und er muss sich um eine neue Absicherung kümmern. »Für die Mobilität von Forschern ist das derzeit das größte Hindernis überhaupt«, sagt Michael Hartmer, Geschäftsführer des Deutschen Hochschulverbandes, der Berufsvertretung von Wissenschaftlern. Besonders heikel ist die Situation in der Pensionskasse. Während sich eine Krankenversicherung relativ einfach wechseln lässt, summieren sich bei der
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Alterssicherung nach und nach viele verschiedene Ansprüche aus den unterschiedlichen Ländern. »Als Arbeitnehmerin muss ich natürlich meine Pflichtbeiträge in ein meist staatliches System einzahlen«, sagt Dagmar Meyer. »Und dann gibt es die Zusatzversicherung, die häufig auch staatlich gefördert ist – aber eben wieder nur in dem Land, in dem der Versicherungsvertrag besteht.« Für sie ist da schon einiges an Papierkram zusammengekommen, denn der bürokratische Aufwand ist gewaltig. »Als ich auf meiner Post-Doc-Stelle in Frankreich war, habe ich ein ganzes Jahr gebraucht, bis ich die Papiere auseinandersortiert hatte«, erinnert sie sich. Sie rechnete zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil herum, sie kalkulierte die Ansprüche aus alten Verträgen, sie suchte sich das beste Angebot für eine private Zusatzversicherung aus, sie musste die steuerlichen Aspekte im französischen System erst einmal verstehen. Und dann war da noch dieser Brief aus Deutschland, wo sie vorher als Beamtin gearbeitet hatte: Sechzehn Seiten war er lang, dicht beschrieben mit kurzen Sätzen voller Substantive und endlosen Zahlenkolonnen und Formeln. In dem Schreiben war aufgeschlüsselt, welche Rentenansprüche sie zwischen ihren viele Auslandsaufenthalten in der Heimat angesammelt hat. »Da habe ich jahrelang Mathematik studiert und sogar promoviert«, sagt Dagmar Meyer, »aber verstanden habe ich den Brief nicht.« Gerhard Duda kennt das Problem. Er arbeitet in Bonn bei der HRK und ist Experte für internationale Forscherkarrieren. Seit drei Jahren beschäftigt er sich mit den europäischen Sozialversicherungssystemen. »Wer sich damit länger auseinandersetzt, erkennt, warum die ganze Angelegenheit in der Praxis so schwierig ist«, sagt Duda – und trotzdem stößt auch er immer wieder auf Fragen, zu denen er keine Antwort kennt. »Es ist zwar in der Europäischen Union vieles harmonisiert worden, aber gerade die Alterssicherungssysteme sind immer noch Ländersache«, sagt er. Einige Länder bauen auf eine stabile staatliche Grundrente, anderswo spielt nur die private Zusatzvorsorge eine Rolle. Bei so vielen verschiedenen Regelungen kann selbst die EU nichts vereinheitlichen. Es würde allerdings auch nicht besonders viel helfen, denn der Europäische Hochschulraum, der im Zuge der Bologna-Reform entstanden ist, hat 46 Mitgliedsländer. Dazu zählen auch Staaten wie Kasachstan,
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die Ukraine oder die Schweiz – und die sind allesamt keine EU-Mitglieder. Wenn deshalb Forscher in fremden Ländern arbeiten, dann sind es heute vor allem junge Wissenschaftler. »Wer noch am Anfang seiner Karriere steht, macht sich über die Rente nicht so viele Gedanken. Gestandene Professoren aber lassen sich so kaum ins Ausland locken«, sagt Michael Hartmer vom Hochschulverband. Besonders kompliziert wird das System dann, wenn ein Professor in Deutschland verbeamtet war. Dann nämlich verliert er häufig seine aufgesparten Rentenansprüche komplett, wenn er kündigt. »Da wären großzügigere Regelungen eine große Hilfe«, sagt Michael Hartmer. Denn damit der angepeilte europäische Hochschulraum wirklich funktioniert, sind es gerade die erfahrenen Fachleute, die gebraucht werden.
Aus sieben Staaten kleckert Geld herein »Was den Forschern am meisten bringen würde, ist ein zuverlässiges und schnelles Informationssystem«, sagt HRK-Präsidentin Margret Wintermantel. Spezielle Mobilitätszentren und speziell geschulte Fachkräfte in den Hochschulen könnten den Wissenschaftlern helfen, ihre Alterssicherungsansprüche zu berechnen und die beste Lösung für ihren nächsten Auslandsaufenthalt zu finden. »Wenn jemand für einige Jahre ins Ausland geht, dann ist das eine große Lebensentscheidung. Da genügt es nicht, wenn man sich nur per Internet informieren kann«, sagt Wintermantel. Bis jetzt scheitern solche Informationsangebote vor allem an der Geschwindigkeit. Bekommt ein Forscher eine gut dotierte Professur an einem ausländischen Institut angeboten, hat er meistens zwei Wochen Bedenkzeit. »Als ich meiner Familie bis dahin nicht sagen konnte, welche finanziellen Konsequenzen die Entscheidung hat«, sagt ein deutscher Wissenschaftler, »haben wir uns dagegen entschieden – die Unsicherheit ist einfach zu hoch, gerade wenn man Kinder hat.« In den USA fällt den Wissenschaftlern ein Ortswechsel leichter. Der Grund dafür ist ein Verband mit dem komplizierten Namen Teachers Insurance and Annuity Association – College Retirement Equities Fund. Er geht zurück auf den Beginn des 20. Jahrhunderts, als der Mäzen Andrew Carnegie für die
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VON KILIAN KIRCHGESSNER
schon damals mobilen Forscher ein einheitliches Fondssystem geschaffen hat. In welchem US-Bundesstaat auch immer die Wissenschaftler forschen, bleibt ihnen ihr alter Ansprechpartner bei der Rentenversicherung erhalten. So einfach sind die Lösungen in Europa nicht. Bei der EU arbeitet schon seit Jahren eine Expertengruppe an einem Ausweg aus der vertrackten Situation. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Zusatzversicherungen. »Bei den gesetzlichen Systemen klappt die Mitnahme ins Ausland schon jetzt, die Systeme arrangieren sich unterANZEIGE
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einander. So etwas auch für die Zusatz- und Betriebsrenten zu erreichen, das muss eines der Ziele sein«, sagt Gerhard Duda von der HRK. Ein einheitliches europäisches System allerdings, da ist er sicher, wird es so schnell nicht geben. Das dürfte allein schon an der Versteuerung scheitern: In einigen Ländern werden die Rentenbeiträge bei der Einzahlung besteuert, anderswo erst bei der Auszahlung – und überhaupt bleibt zu klären, in welchem Land welche Steuern fällig werden. Auf Dagmar Meyer, die deutsche Wissenschaftlerin mit ihrer Stelle in Irland, kommen alle diese Fragen noch zu. »Ich werde meine Rente in kleinen Portionen aus mehreren Ländern beziehen, das weiß ich«, sagt sie. Was sie allerdings noch nicht weiß, ist, wie hoch ihre Rente dann eigentlich sein wird.
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Auf nach Cristuru! Warum wollen deutsche Studenten nicht nach Osteuropa? An der Gültigkeit der Abschlüsse liegt es nicht VON MARC HASSE
DER BESONDERE TIPP
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die Ängste zwar noch groß; Experten befürchteten die Abwanderung von Fabriken und Schwarzarbeit. Doch nun zeigt sich: »Made in Germany« ist im Osten gefragt, der Handel boomt. Besonders stark wächst der Export nach Rumänien und Bulgarien, die erst seit 2007 zur EU gehören: Im ersten Halbjahr 2008 lagen die deutschen Ausfuhren in diese Länder rund 27 Prozent über dem vergleichbaren Vorjahreszeitraum. Ähnlich gute Exportzahlen werden für Polen, Ungarn und Russland gemeldet. In der Summe ist der osteuropäische Markt für deutsche Unternehmen bereits lukrativer als der Handel mit den USA. Für Absolventen mit Osteuropakenntnissen öffnen sich somit viele Türen zu einem wachsenden Arbeitsmarkt.
Bisher zieht es deutschen Studenten allerdings hauptsächlich aus biografischen Gründen nach Osteuropa, etwa weil sie dort Verwandte oder Freunde haben. Das gilt auch für Helena Bähr. Ihre Beziehung zu Rumänien begann schon nach dem Abitur, als sie für zehn Monate in Cristuru Secuiesc, einem Städtchen in der rumänischen Provinz, als Freiwillige mit Heimkindern arbeitete und dort viele Freundschaften schloss. »Damals habe ich das Land lieben gelernt«, erzählt die Studentin. Als sie später ihr Masterstudium plante, sei ihr schnell klar geworden, dass sie noch einmal nach Rumänien gehen würde. Ganz ohne Karrierekalkül habe sie ihre ungewöhnliche Ortswahl allerdings nicht getroffen. »Ich wollte bewusst nicht dort studieren, wo alle studieren«, sagt sie und meint westeuropäische Metropolen. »Ein Studium in Rumänien ist ein Hingucker auf dem Lebenslauf; das hebt einen aus der Masse hervor.« Dafür nimmt sie auch Unzulänglichkeiten im Universitätsalltag in Kauf. »Zum Beispiel bekamen wir erst eine Woche vor Semesterbeginn einen Stundenplan – und der bestand dann aus einem Word-Dokument mit drei Absätzen. Eine Literaturliste gab es gar nicht.« Oder die Bürokratie: Bei organisatorischen Fragen müsse sie teilweise stundenlang über den Campus laufen auf der Suche nach Antworten. Doch das habe auch sein Gutes: »Ich lerne dadurch, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und flexibel zu sein.« Mit der Qualität der Lehre sei sie bisher aber ganz zufrieden. »Die Dozenten kommen überwiegend aus der Praxis und sind deshalb auf dem aktuellen Stand.« An Förderungsmöglichkeiten für einen Aufenthalt in Osteuropa mangelt es nicht: Viele Universitäten bieten auch für Rumänien und Co. Erasmus-Stipendien an, bei denen die Studiengebühren übernommen werden; der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) unterstützt deutsche Studenten bereits seit 2002 durch die »Go east«-Initiative mit Zuschüssen für Praktika und Sprachkurse in Osteuropa und vergibt zusätzlich bis zu einjährige Stipendien, die sich nach dem jeweiligen Studienvorhaben richten. »Trotzdem erhalten wir nur wenige Bewerbungen«, sagt Peter Hiller, Leiter des DAAD-Referats für Moldawien, Rumänien und die Ukraine. Das liege vor allem an Sprachbarrieren. So werde etwa die Lehre an ukrainischen Universitäten in der Regel auf Russisch abgehalten, Amtssprache sei dagegen meist Ukrainisch. »Für Ausländer ist dieser Mischmasch eine besondere Herausforderung.« Allerdings: »An ukrainischen Universitäten gibt es ganz hervorragende natur- und ingenieurwissenschaftliche Studiengänge – es ist deshalb besonders schade, dass diese Angebote von deutschen Studenten so wenig genutzt werden.« Deutlich besser sei die Studiensituation in Rumänien, sagt Peter Hiller. Etliche Hochschulen dort böten inzwischen englisch- und deutschsprachige Studiengänge an. Allein an der Babes-Bolyai-Universität in Cluj-Napoca, an der auch Helena Bähr studiert, gebe es 16 deutschsprachige Studiengänge, von Biologie bis Wirtschaft. Helena Bährs Masterstudiengang im Fach Werbung wird auf Englisch und Rumänisch abgehalten. »Ich komme gut zurecht«, erzählt die Studentin, die zweimal pro Woche zum Rumänischunterricht geht. Das erste Jahr ihres Aufenthalts finanziert sie durch ein DAAD-Stipendium. Im zweiten Jahr wird sie die Studiengebühren – etwa 700 Euro pro Jahr – und die Lebenshaltungskosten selbst tragen müssen. Darum mag sie sich jetzt aber noch nicht sorgen, sie schaut lieber optimistisch in die Zukunft. Sie ist ja in Rumänien.
JOSEPH AKINO, 23, Böckler-Stiftung, studiert im 3. Semester Internationales Management in Düsseldorf
Als sogenannter unbegleiteter minderjähriger Flüchtling und ohne Deutschkenntnisse kam Joseph Akino vor sechs Jahren aus dem Sudan. Weil er hier viel Hilfe erfuhr, hatte er zunächst vor, einen sozialen Beruf zu ergreifen und als Erzieher oder Krankenpfleger zu arbeiten. Sein Betreuer im Flüchtlingszentrum ermutigte ihn nach den ersten Praktika, sein Fachabitur zu machen. Er schaffte es, und auch seine Berufspläne hat er mittlerweile geändert. »Um ein Hilfsprojekt hinzubekommen, braucht es Menschen mit Kapital«, sagt er. »Das möchte ich zu erschließen helfen, damit vielen Bedürftigen geholfen werden kann.« Von seiner Familie fehlt bis heute jede Spur.
Tipps und Termine Im viersemestrigen Masterprogramm Biomedical Engineering (M. Eng.) an der FH Aachen geht es darum, Konzepte aus dem Ingenieurbereich auf wissenschaftliche und praktische Probleme aus Biologie und Medizin zu übertragen. Es stehen fünf Vertiefungsrichtungen zur Auswahl. www.fh-aachen.de/biomedmaster.html Innenarchitektur in Europa
Die HfT Stuttgart bietet den International Master of Interior Architectural Design (IMIAD) an. Der konsekutive Studiengang baut auf einem nationalen oder internationalen Bachelorabschluss oder Diplom auf,
Teile des Studiums finden in Partnerhochschulen in Edinburgh, Lahiti und Lugano statt. . www.hft-stuttgart.de Baumanagement, berufsbegleitend
Die Hochschule Augsburg richtet sich mit dem Studiengang Baumanagement an Architekten, Bauingenieure und Ingenieure verwandter Disziplinen mit mindestens zweijähriger Berufspraxis, die bereits Führungsaufgaben haben oder anstreben. Das Masterstudium ist berufsbegleitend auf fünf Semester angelegt. Mit einer virtuellen Lernplattform kann ortsunabhängig von den Präsenzseminaren gelernt werden. www.hs-augsburg.de/baumanagement
Rasantes Wachstum
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ZEIT-GRAFIK/Quelle: HRK-Hochschulkompass
Medizintechnologie international
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Nr. 45 DIE ZEIT
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Foto (Ausschnitt): Matthias Jung für DIE ZEIT; www.jungfoto.de
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s ist die Aufbruchstimmung, die Helena Bähr mitreißt; die ihr ein Gefühl gibt, das sie aus Deutschland nicht kennt. »Hier wird man noch gebraucht«, sagt sie und meint damit kein soziales Engagement, sondern berufliche Perspektiven. »Hier ist noch nicht jede Marktlücke besetzt, noch nicht alles erfunden, hier kann man auch als Einsteiger wirtschaftlich etwas bewegen.« Bis vor Kurzem lebte die 24 Jahre alte Studentin in Dresden, absolvierte dort ein Bachelorstudium in Medienforschung. Nun studiert sie in der rumänischen Stadt Cluj-Napoca. In zwei Jahren will sie hier ihren Master im Fach Werbung machen. Nun ist Rumänien nicht gerade berühmt für kosmopolitisches Flair und gehobenen Lebensstil. Die meisten Deutschen verbinden das Land noch immer mit Armut und technischer Rückständigkeit. Helena Bähr kommentiert trocken: »Keine Sorge, es gibt hier fließendes Wasser, ich muss keine Not leiden.« Nun ja, schön sei Cluj-Napoca mit seinen vielen Plattenbauten nicht unbedingt. »Von Äußerlichkeiten lasse ich mich aber nicht stören«, sagt die Studentin und erzählt lieber vom herzlichen Empfang an der Universität, von den neuen Freunden, die sie schon gewonnen habe, von der optimistischen Stimmung unter den jungen Leuten in der Stadt. Man darf Helena Bähr durchaus als Pionierin bezeichnen. Für die meisten ihrer deutschen Kommilitonen sind Länder wie Rumänien nämlich akademisches Niemandsland. Gerade einmal zehn Prozent aller deutschen Studenten im Ausland zog es 2007 nach Osteuropa – kaum mehr als nach Australien und Ozeanien. Die meisten Studenten bleiben lieber in Westeuropa; die beliebtesten Länder für ein Auslandsstudium sind Frankreich, Großbritannien, Spanien und Italien. Dabei gibt es mindestens zwei gute Gründe für ein Studium im Osten. Erstens: Immer mehr osteuropäische Länder treten dem Bologna-Raum bei, in dem Studienleistungen durch das European Credit Transfer System (ECTS) vergleichbar sein sollen. Zu den neuen osteuropäischen Mitgliedern zählen neben Rumänien auch Polen, Litauen, Ungarn, Russland und seit Kurzem die Ukraine und die Republik Moldau. Wer beim Studium in diesen Ländern Leistungsnachweise erbringt oder einen Abschluss erwirbt, hat mit der Anerkennung in Deutschland oder anderen Länder in der Regel keine Probleme und kann von einer Hochschule zur anderen wechseln – auch grenzüberschreitend. Zweitens: Osteuropa gehört seit einigen Jahren zu den wichtigsten Wirtschaftsregionen für deutsche Unternehmen. Vor der EU-Osterweiterung waren
DIE ZEIT
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Bachelor & Master
30. Oktober 2008 DIE ZEIT Nr. 45
Wer auf Bachelor studiert, hat es besser Ja, sagt CHRISTOPH PLOSS, weil ich das Studium effektiv planen kann
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ein Studium ist ein Fulltimejob – und das ist vollkommen okay so. Schließlich habe ich mich bewusst dafür entschieden, und meine beiden Fächer machen mir Spaß. Ich muss weder bis mittags schlafen noch fünf Kneipentouren pro Woche unternehmen. Das fänden die Steuerzahler, die meine Ausbildung zu großen Teilen finanzieren, ja auch sicherlich nicht so lustig. Dass man neben der Lernerei zu nichts anderem mehr kommt, seit das europäische Studiensystem eingeführt wurde, stimmt nicht. Sicher: Man muss seine Tage schon effektiv planen – aber mit etwas Zeitmanagement gelingt es auch im straff organisierten Bachelorstudium, seinen Interessen und Verpflichtungen nachzugehen. Neben einem Studentenjob bleibt mir jedenfalls immer noch ausreichend Zeit, um ein politisches Mandat auszuüben, nebenbei Sprachen zu lernen und Sport zu treiben. Ich besuche kulturelle Veranstaltungen, gehe regelmäßig joggen und treffe meine Freunde auch mal auf ein Bierchen – ohne dass meine Noten oder Nerven darunter zu leiden hätten. Die Konzeption der neuen Studiengänge gefällt mir auch deshalb so gut, weil sie enge Bezüge zur Arbeitswelt vorsehen. Ein sechswöchiges Praktikum, das ich gerade absolviere, ist in mein Studium schon integriert und bringt mir wertvolle Kreditpunkte ein. Sogenannte ABK-Kurse schulen uns in Projektmanagement und anderen berufsqualifizierenden Fähigkeiten – speziell für Geisteswissenschaftler. Und meine Noten fließen vom ersten Semester an in die Endnote ein. Das erzieht uns Bachelorstudenten zu einer stringenten und zielorientierten Arbeitshaltung – und macht uns meiner Meinung nach vielen Diplom- und Magisterstudenten überlegen. Wenn jemand behauptet, dass wir ein Schmalspurstudium absolvieren, kann ich nur lachen. Die Hamburger Universität hat
die Bologna-Vorgaben jedenfalls gut für uns umgesetzt. Meine Kurse und Seminare sind nach wie vor streng wissenschaftlich ausgerichtet. Innerhalb der Pflichtmodule habe ich etliche Wahlmöglichkeiten, die mir eine individuelle Studienausrichtung ermöglichen. Und letzten Endes soll der Bachelor ja auch nur ein erster berufsqualifizierender Abschluss sein. Ich habe mehrere Freunde, die nach drei Jahren froh sind, ein Traineeprogramm in der Wirtschaft zu belegen, schon erstes eigenes Geld zu verdienen. Später wollen sie weiterstudieren. In ernsthafte Konkurrenz zu den Absolventen der »alten« Studiengänge treten erst einmal nur die fertigen Masterstudenten – und die können auf dem Arbeitsmarkt mehr als nur mithalten. Wer sich nach sechs Semestern und reiflicher Überlegung auf ein Fachgebiet spezialisieren und dieses zwei weitere Jahre vertiefen konnte, muss sich im Berufsleben nicht verstecken. Und bis ich die ersten Bewerbungsgespräche führe, werden die europäischen Abschlüsse schon akzeptierter sein als die vorherigen. Auch in Sachen Mobilität bin ich zufrieden mit dem neuen System: Wenn ich weiter gute Noten schreibe, kann ich zum Masterstudium nach Berlin wechseln. Und einen dreimonatigen Italienaufenthalt lege ich direkt nach der Bachelor-Thesis ein. Passt doch alles. Mein Fazit? Wer ein Ziel vor Augen hat, muss sich von den aktuellen Debatten über die angeblichen oder tatsächlichen Unzulänglichkeiten des neuen Systems nicht verrückt machen lassen – und sollte einfach selbstbewusst seinen Weg gehen.
Pro
Christoph Ploss, 23, studiert im fünften Semester Geschichte und Politik auf Bachelor an der Universität Hamburg
Nein, sagt ALEXANDRA IVANOVA, weil ich wie ein Kleinkind behandelt werde
Pro & Contra Der Bachelor hat in den vergangenen Monaten viel Prügel einstecken müssen: Der neue Studienabschluss führe zu einer permanenten Überlastung der Studenten, einer sinnlosen Paukerei im Akkord, immer nur bis zur nächsten Prüfung. Bologna-Kritiker haben auch den passenden Ausdruck für diese ihrer Meinung nach neue Art des Studierens gefunden: »Lern-Bulimie«. Die europäischen Hochschulreformer dagegen erhoffen sich von dem neuen Abschluss und seinem großen Bruder, dem Master, ein logischer aufgebautes, schnelleres Studium und sinkende Abbrecherquoten. Jüngsten Zahlen zufolge liegen die Quoten in einigen neuen Studiengängen allerdings sogar über den traditionellen Abschlüssen. Sind das nur die typischen Kinderkrankheiten, wie die Verantwortlichen behaupten? Oder offenbart sich da bereits das Scheitern der Bologna-Ideale? Bei den deutschen Studenten jedenfalls ist die Akzeptanz der Studienreform nach den zahlreichen Negativmeldungen der vergangenen zwei Jahre drastisch zurückgegangen. Während Bachelorabsolventen ihr Studium noch 2007 laut Hochschul-Informations-System (HIS) wohlwollender bewerteten als diejenigen traditioneller Studiengänge, offenbart der jüngste Studierendensurvey im Auftrag des Bundesbildungsministeriums andere Trends: Gerade einmal 36 Prozent der befragten Studenten befürworten zurzeit noch einen Hochschulabschluss nach nur sechs Semestern. Dass man als Bachelorabsolvent gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt habe, glaubt in der repräsentativen Umfrage entsprechend nur eine Minderheit von 12 Prozent. Kann da trotzdem noch jemand ernsthaft behaupten, dass der Bachelor der bessere Studienabschluss ist? Ein Pro und Contra von zwei jungen Menschen, die es wissen sollten: Bachelorstudenten aus Hamburg und Frankfurt. Und was meinen Sie? Diskutieren Sie mit im Internet unter www.zeit.de/campus/bachelorstreit
AUFGEZEICHNET VON KATJA BOSSE
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I
ch kann nichts selbst entscheiden. Ich werde behandelt wie ein Kleinkind. Und ich habe einen schlechten Ruf. Wir sind ein kleines Fach, aber ein Orchideenzuchtverein sind wir nicht. Es beginnt mein drittes Semester Japanologie an der Frankfurter Goethe-Universität. Meinen Abschluss soll ich in zwei Jahren machen, dann darf ich mich eine Bachelorette nennen und bin 22 Jahre alt. Insgesamt habe ich nur sechs Semester an der Uni, und damit ich das niemals vergesse, wird mir das ständig vor Augen geführt: »Sie haben nur diese drei Jahre, Sie müssen da alles rausholen!« Ich hole zum Beispiel meinen Stundenplan aus dem Internet raus. Der wird ohne mich zusammengestellt und ist Pflicht, wenn ich in Regelstudienzeit weitermachen will. Verpflichtend ist auch die Anwesenheit, weshalb ich mir weder tolle Pausentage noch freie Morgen organisieren kann; ich kann eigentlich gar nichts selbst organisieren. Ich bin neidisch auf die Magister, die so etwas wie »Japanische Prekariatsliteratur im Rahmen wirtschaftspolitischer Neuerungen« studieren können. Bei mir heißt das »Einführung in …«. Ich werde immerzu nur oberflächlich eingeweiht. Den Rest kann ich mir irgendwoher selbst zusammensuchen. Mich macht es wütend – wenn schon entmündigen, dann bitte so, dass ich am Ende in irgendetwas wirklich gut bin. Wir aber sollen mit unserem Abschluss genauso viele Vokabeln können wie Magistranden, die wichtigsten Theorien kennen, die Sprache beherrschen und mindestens ein Praktikum gemacht haben. Tatsächlich mache ich meine Praktika in den Semesterferien. Große Rucksackreisen werden weiter aufgeschoben. So heißt es für mich stets Japanologie only, Studium generale bleibt fachidiotisch peripher. Ich probiere, in meiner Freizeit ein bisschen mehr zu lesen, mehr kennenzulernen, mich umzusehen. Wenn ich dann aber eine
Vorlesung absitzen muss, die mich nicht die Bohne interessiert, ist es mir schade um die vergeudete Zeit. Ich habe ja noch das Glück, in Frankfurt zu wohnen. Kommilitonen pendeln stundenlang. Statt eines Hobbys wählen sie dann wohl eher einen Job. Die meisten, so auch ich, um das Geld für einen Japanaufenthalt zu sparen. Früher hatte man die Chance, ein Stipendium des DAAD zu bekommen. Der hat sich aber noch nicht auf Bachelor umgestellt. Ich kann also momentan nur privat nach Japan. Wir sollten aber dringend ins Ausland, heißt es. Unser Image ist nämlich ziemlich schlecht. Manche Lehrende sagen uns nach, wir seien desinteressierter, unselbstständiger, unmotivierter als Magistranden. Und auf dem Arbeitsmarkt unbeliebter. Verlage, zum Beispiel, zögen die alten Abschlüsse vor. Ein Bachelor sei für sie zu oberflächlich. Vielleicht bin ich mit einem Master mehr wert? Ich würde gerne einen machen, aber letzten Endes entscheiden darüber meine Noten aus dem Bachelorstudium. Von wegen entspannteste Zeit im Leben – jede Prüfung zählt. Den Masterabschluss dranhängen zu wollen macht mich jedoch wieder älter als den Regelzeitmagistranden. Ob mich noch irgendjemand nimmt? Sie stellen uns nur weiter unter Druck. Unter diesem Druck, Zeitdruck und Erfolgsdruck, probiert man einen neuen Typ Mensch hervorzupressen, der zu allem Ja sagen soll. Früher war nicht alles besser. Aber vielleicht ein bisschen passender. Man kann Japanologie eben nicht in drei Jahren erlernen. Vielleicht klappt das mit Physik oder Wirtschaft. Viel Glück!
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Alexandra Ivanova, 20 Jahre, studiert im dritten Semester Japanologie auf Bachelor an der Universität Frankfurt
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Bachelor & Master
30. Oktober 2008 DIE ZEIT Nr. 45
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TAM THANH LUONG, 19,
Studienstiftung des deutschen Volkes, studiert im 3. Semester Ethnologie und Kulturwissenschaften in Berlin
Ihr Vater ging als Gastarbeiter in die DDR und holte seine Familie 1992 nach. Die in Hanoi geborene Tam Thanh wohnte in Bitterfeld und Leipzig, bevor sie zum Studium nach Berlin zog. Sie hatte auch von drei anderen Unis Zusagen, »aber Berlin ist schon was Einzigartiges, sehr aufregend, auch nach einem Jahr noch«. Mit ihrem Faible für Theater, Museum, Singen und Tanzen fühlt sie sich hier bestens aufgehoben. Später will sie »in Richtung Entwicklungshilfe gehen oder in Deutschland benachteiligten Kindern helfen«.
Foto (Ausschnitt): Sabine Gudath für DIE ZEIT; www.sabinegudath.de
Europa liegt in Südafrika D reißig Credit-Points hat Ulrike Lorenz von ihrem Auslandssemester in Stellenbosch, Südafrika, mit nach Hause gebracht. 30 europäische Kreditpunkte wohlbemerkt, die sie direkt für ihren Master in Global Studies anrechnen lassen konnte. Was hat Südafrika mit der europäischen Hochschulreform zu tun, in deren Zentrum die neuen Studienabschlüsse Bachelor und Master stehen – und dazu eben ECTS-Kreditpunkte, die den Transfer von einer Universität an die andere, von einem europäischen Land ins andere, erleichtern sollen? Eine Menge, denn es ist eine europäische Reform, doch sie hat auch ihre weltweiten Seiten: Vier Semester, drei Studienorte, zwei Kontinente – das ist normal bei den Masterstudiengängen, die über das Programm Erasmus-Mundus der Europäischen Union gefördert werden, ein spezielles und einzigartiges Programm, das den Bologna-Raum über die Grenzen Europas hinaus erweitert. Bei Ulrike Lorenz’ Studiengang zum Beispiel arbeiten vier europäische Hochschulen eng mit Partnern in Südafrika, Kanada, China, Indien und den USA zusammen. Vier Semester dauert dieser nichtkonsekutive Master. Während der ersten beiden hat Lorenz in Leipzig Globalgeschichte, sozialwissenschaftliche Thesen zur Globalisierung und Methoden der Globalisierungsforschung gelernt. »Ich hatte nur sehr wenig Zeit herausfinden, wie ich dieses ausufernde Studienfach für mich greifbar machen konnte.« Im dritten Semester sammelte sie Daten für ihre Masterarbeit, die sie im vierten in Wien geschrieben hat. Bibiana Cortés hat für ihr Joint Degree in Europäischem Recht nach dem Start in Hannover im dritten Semester drei Monate an der Jiao-Tong-Universität in Shanghai verbracht. Das war faszinierend, sagt sie: »In China unterscheidet sich die Kultur in allen Lebensbereichen wirklich komplett.« Außer im europäischen Recht hat Cortés zudem Einblicke in das chinesische Rechtssystem bekommen. Eigentlich sind Erasmus-Mundus-Programme für exzellente Bachelorabsolventen aus aller Welt ausgelegt, aber auch Europäer können sich für die Programme bewerben – und müssen die gleichen Anforderungen erfüllen. Der Andrang ist groß: Aus 1000 Bewerbern können sich zum Beispiel die Universitäten in Leipzig, Wien, dem polnischen Wrocław und die London School of Economics and Political Science Studenten für ihre insgesamt 70 Plätze aussuchen. Englisch ist selbstverständlich Unterrichtssprache.
Wer weg will vom Kontinent, findet auch anderswo europäische Abschlüsse VON JOACHIM BUDDE
Unter Zeitdruck Mit Ungeduld erwarten die Hochschulen die Neuauflage des Erasmus-Mundus-Programms. Die erste Phase ist 2010 zu Ende. Zwar läuft laut Deutschem Akademischen Austauschdienst noch alles nach Plan, den Unis aber werde die Zeit langsam knapp, sagt Matthias Middell, Professor am Leipziger Institut für Kulturwissenschaft und Koordinator des Masterprogramms Global Studies. »Das Europäische Parlament hat die Dringlichkeit nicht verstanden.« Je länger die Verabschiedung auf sich warten lasse, umso mehr gerieten im Jahr 2009 die Entscheidungen über die Auswahl der Bewerber unter Zeitdruck. Die Universitäten haben großes Interesse an Erasmus-Mundus, weil das Programm ihnen Spitzenstudenten aus aller Welt und zusätzliches Geld bringt. Für Nichteuropäer ist es besonders attraktiv, sie bekommen Stipendien von 1600 Euro im Monat, zudem werden Studiengebühren bis zu 5000 Euro erstattet. Künftig könnten auch EU-Bürger für ihre Stationen in Europa Stipendien erhalten. Promotionsstudiengänge sollen ebenfalls gefördert werden. Für die Hochschulen eine Erleichterung: Sie sollen Partner aus der ganzen Welt leichter einbinden können.
Viele Studiengänge der Inserenten finden Sie zusätzlich auch auf
www.zeit.de/campus
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»Wir können aus der Weltliga der Absolventen wählen«, sagt der Leipziger Professor Matthias Middell, Koordinator des Masterprogramms Global Studies. Darin stehen die Programme in Konkurrenz zu Spitzenhochschulen in den USA, Australien oder Großbritannien. 2005 wurde Erasmus-Mundus aufgelegt; heute werden 120 Masterprogramme gefördert. Erasmus-Mundus ist mit großzügigen Stipendien für die außereuropäischen Gäste verbunden, bei denen die Teilnehmer aus Europa bisher leer ausgehen. Doch auch Ulrike Lorenz und Bibiana Cortés haben Geld aus dem Programm bekommen: Mit 3100 Euro wurden ihre Aufenthalte außerhalb der EU unterstützt – immerhin. Und eine Verbesserung ist in Sicht (siehe Kasten). Während beim normalen Erasmus-Programm die Anerkennung der Leistungen im Ausland oft erheblich davon abhängt, wie sehr sich der einzelne Student auf den Auslandsaufenthalt vorbereitet und wie hartnäckig er sich durch die Widerstände an den Hochschulen kämpft, hat er es bei Erasmus-Mundus leichter. Das liegt besonders daran, dass die Lehrenden der beteiligten Hochschulen eng zusammenarbeiten und sich mehrmals im Jahr treffen. Als eine der Ersten im Programm musste Bibiana Cortés der chinesischen Verwaltung noch erklären, wie viel die europäischen Credit-Points wert sind. Der Grund: In China erhalten die Studenten für eine Vorlesung mit zwei Stunden pro Woche nur halb so viele Punkte wie hierzulande, allerdings müssen sie jedes Semester auch nur halb so viele einbringen. Und jetzt ist das dort bekannt. Ulrike Lorenz ist noch immer von ihrer Entscheidung für Stellenbosch überzeugt. Dort hat sie nicht nur die Lernkultur Südafrikas, sondern vor allem die afrikanische Perspektive auf die Auswirkungen der Globalisierung kennengelernt. »Man bekommt einen anderen Blick, wenn man afrikanische Zeitungen liest, mit Leuten spricht, die dort aufgewachsen sind, und Zeit hat zuzuhören.« Am wertvollsten findet sie aber die Kontakte zu den Kommilitonen aus der ganzen Welt, zu denen sie einen sehr guten Draht aufgebaut hat. »Wenn ich etwas über Vorgänge in Asien wissen möchte, rufe ich einen Kollegen in Japan an.« Ihr Netzwerk hat Ausläufer auf jeden Kontinent. 2007 hat Ulrike Lorenz ihren Master an der Uni Wien gemacht, doch Südafrika und vor allem die Universität in Stellenbosch haben sie gepackt: Noch dieses Jahr wird sie wieder dorthin aufbrechen. Dann stehen sechs Monate Forschung an – für ihre Promotion.
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30. Oktober 2008 DIE ZEIT Nr. 45
Latein am Ende?
Bohnenzähler Eine Hamburger Hochschule bietet den Bachelor »Coffeemanagement« an
Lehramtsstudenten wählen gern ein Drittfach. Das wird jetzt schwerer
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Wozu braucht man Coffeemanager? Die Branche boomt. Seit 1996 ist die Nachfrage nach Rohkaffee um 18 Prozent gestiegen. Die Preise klettern kontinuierlich. Gleichzeitig hat der Fachkräftemangel die Branche erreicht. Das liegt vor allem daran, dass den Betriebswirten, die von der Uni kommen, branchenspezifische Kenntnisse fehlen. ZEIT: Zum Beispiel? KNAPPE: Agrarökonomie, internationales Handelsmanagement, vor allem Logistik. Die meisten BWL-Studenten spezialisieren sich auf Marketing oder Personal. Logistik gilt als unattraktiv, weil mathelastig. Aber genau das brauchen die Kaffeeunternehmen. Jedes Jahr fehlen allein 1500 Akademiker im Bereich Logistik. ZEIT: Da schafft Ihr Studiengang Abhilfe? KNAPPE: Für die Kaffeebranche ja. Neben einem normalen BWL-Grundlagenstudium in den ersten beiden Semestern lernen unsere Studenten den gesamten Weg des Kaffees von der Plantage bis in die Porzellantasse oder den Pappbecher, mit allen dazugehörigen Arbeitsschritten. Wir wollen keine Spezialisten für einen DIE ZEIT:
MIRKO KNAPPE:
MIRKO KNAPPE leitet die Northern Business School (NBS) in Hamburg
CHRISTOPH ROHDE, 23,
Evangelisches Studienwerk, studiert im 3. Semester Wirtschaftswissenschaften in Witten-Herdecke
Christoph Rohde ist am Bodensee aufgewachsen. Ohne ein Wort Französisch zu sprechen, studierte er zunächst zwei Semester Französische Sprache, Kultur und Literatur in Frankreich. »Das hatte ich unterschätzt, die erste Zeit war sehr hart.« Er interessiert sich für Weltwirtschaft und internationale Politik und kann sich vorstellen, in die Politik zu gehen. Vorher will er noch in Mexiko studieren.
INTERVIEW: BASTIAN BERBNER
Foto {Ausschnitt): Matthias Jung für DIE ZEIT; www.jungfoto.de
Foto: privat
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Bachelor & Master
GEFRAGT
einzigen Arbeitsschritt wie Rösterei, Verpackung oder Verkostung ausbilden, sondern Generalisten, die die Zusammenhänge sehen. Wir haben einen Studenten, der Einkäufer in Tansania war, ein anderer hat Marketing für Tchibo gemacht, wir haben aber auch Abiturienten. ZEIT: Die Initiative kam aus der Wirtschaft? KNAPPE: Einzelne Unternehmer aus der Branche und der Deutsche Kaffeeverband haben einen solchen Studiengang angeregt. Unsere Studenten werden von Firmen vorgeschlagen und angemeldet. Tchibo hat eigens eine Taskforce gegründet, um Kandidaten für das Studium im Unternehmen ausfindig zu machen. ZEIT: Also haben sich die Kaffeeunternehmen ihren eigenen Personalrekrutierungsstudiengang geschaffen? KNAPPE: Es handelt sich um einen normalen staatlich anerkannten Studiengang. Sicher, es gibt neben Hochschullehrern auch Dozenten aus Unternehmen, die den Personalbedarf im Hinterkopf haben. Sie lehren, was sie von ihren Mitarbeitern fordern. Jene Studenten, die bereits in einem Unternehmen arbeiten, sehen das Studium eher als eine intensive Fortbildung an.
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s geht hier um die sogenannten kleinen Fächer, vielleicht muss Karl Boyé die Lage deshalb ein bisschen dramatisieren. Er spricht von einem »politisch verordneten Korsett«, von »Gängelung«, von einer »Schmalspur-Ideologie, die mit dem hochrangigen Wert der akademischen Freiheit nicht vereinbar« sei. Boyé ist Sprecher des Deutschen Altphilologenverbands, einer Vereinigung, die sich für Latein und Griechisch einsetzt. Glaubt man seinem Verband, dem als Verstärkung in dieser Sache weitere AltertumsOrganisationen beistehen, dann ist die Lehre von Latein und Griechisch in ihrer Existenz bedroht. Schuld daran soll die Bologna-Reform sein. Aber der Reihe nach. Bisher konnten Lehramtsstudenten neben zwei Hauptfächern parallel ein drittes Fach belegen – und dieses nach dem bestandenen ersten Staatsexamen mit einer Erweiterungsprüfung abschließen. Eine Möglichkeit, die durchaus gefragt war: Von den knapp 29 000 Lehramtsstudenten, die vergangenes Jahr nach alter Studienordnung studierten und einen Abschluss für das Lehramt an Gymnasien oder Realschulen anstrebten, belegten fünf beziehungsweise dreizehn Prozent ein drittes Fach. Das neue Bachelor- und Mastermodell ist jedoch ausschließlich als Ein- oder Zweifachstudium angelegt. Die Folge: In Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Schleswig-Holstein, wo die Reform bereits umgesetzt wurde, ist das parallele Studium eines dritten Faches für das Lehramt an Gymnasien und Realschulen nicht mehr eingeplant. Zwar sieht die Kultusministerkonferenz in ihren Bestimmungen für die neuen Studienabschlüsse nicht zwangsläufig eine Beschränkung vor: »Mindestens zwei Fachwissenschaften« müssten angehende Lehrer studieren, heißt es dort. In den Ländergemeinsamen Strukturvorgaben für die neuen Studiengänge, die auch für die Lehrämter gelten, wird jedoch die maximale Arbeitsleistung der Studenten begrenzt – auf 30 Kreditpunkte pro Semester, 180 für den Bachelor- und noch einmal maximal 120 für den Masterabschluss. Die Anforderungen für zwei Lehramtsfächer, für das erziehungswissenschaftliche Studium und das Schulpraktikum passen in diesen Rahmen von sechs beziehungsweise zehn Semestern gut hinein – für ein drittes Fach bleibt aber schlichtweg keine Zeit mehr. »Besonders leistungsfähige Studenten, die Schwung und Kraft haben, ein zusätzliches Fach zu studieren, werden blockiert«, kritisiert nun Karl Boyé. Indirekt werde sich das nachteilig auf die kleinen Fächer auswirken, vor allem auf Latein und Griechisch. Zwar können diese beiden Fächer sowie andere »Underdogs« wie Russisch, Chinesisch oder Informatik auch in den neuen Studiengängen in der Regel weiterhin als Erst- oder Zweitfach studiert werden. »Die meisten Lehramtsstudenten werden sich unter diesen Bedingungen aber für Mainstreamfächer entscheiden«, glaubt Christiane Reitz, Vorsitzende der
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Mommsen-Gesellschaft und Lateinprofessorin. In der Folge könnten Latein und vor allem Griechisch für das Lehramtsstudium bedeutungslos werden. Das werde sich auf den Schulunterricht auswirken und den bereits jetzt vorhandenen Mangel an Latein- und Griechischlehrern noch verstärken. Das Problem habe in seinen Folgen auch eine gesellschaftliche Dimension, sagt Reitz: »Das ist ein Kulturverlust, der hier eintritt.« Unterstützung bekommt sie von politischer Seite. »Latein und Griechisch haben in der humanistischen Bildung einen sehr hohen Stellenwert«, sagt Renate Rastätter, bildungspolitische Sprecherin der Grünen im Landtag von Baden-Württemberg. »Zumindest für einen Teil der Schüler sollten diese Fächer erhalten bleiben.« Was also tun? Das Dreifächerstudium soll weiterhin möglich sein, fordert die Altertums-Initiative um Karl Boyé und Christiane Reitz und plädiert für Sonderregelungen. Wer von Anfang an ein drittes Fach studieren wolle, für den solle sich die maximale Regelstudienzeit von derzeit zehn Semestern auf Antrag um mindestens vier Semester verlängern; die Grenze für ECTS-Punkte bis zum Masterabschluss – derzeit 300 – müsse entsprechend nach oben verschoben werden. Dies zu entscheiden sei Sache der Hochschulen und Kultusministerien der einzelnen Bundesländer, heißt es im Bologna-Zentrum der Hochschulrektorenkonferenz. Der Bologna-Rahmen sehe jedenfalls keine Einschränkung zusätzlicher Studienleistungen vor, sagt Projektleiter Peter Zervakis: »Es geht vielmehr darum, dass die Hochschulen ihren Spielraum zur Gestaltung von Struktur und Dauer stärker als bisher nutzen.« Konkret: Wer als Lehramtsstudent freiwillig zusätzliche Veranstaltungen in einem dritten Fach belegen wolle, könne das weiter tun und bekomme die Studienleistungen auch bescheinigt. Inwieweit die Scheine für ein weiterführendes Studium anerkannt würden und ob damit letztlich ein eigener Masterabschluss erworben werden könne, entscheide die jeweilige Universität. Für die Anerkennung zusätzlicher Studienabschlüsse im Lehramt sei letztlich das jeweilige Kultusministerium zuständig. So weit, so kompliziert. Entsprechend uneinheitlich präsentiert sich die Lage. In vier Bundesländern wird das Dreifächerstudium wohl weiter möglich sein: Bayern, Baden-Württemberg, das Saarland und Sachsen-Anhalt stellen zwar auf modularisierte Lehramtsstudiengänge um, bleiben aber beim Staatsexamen als Abschluss und bei der Möglichkeit, ein drittes Fach durch eine Erweiterungsprüfung abzuschließen. Jene Länder, die ihre Lehramtsstudiengänge schon auf das Bachelor-Master-Modell umgestellt haben, sollten entweder zum Staatsexamen zurückkehren oder eben Sonderregelungen schaffen, fordert die Altertums-Initiative um Boyé und Reitz. Dass Ersteres geschieht, darf man getrost bezweifeln. Letzteres wäre zumindest möglich.
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[email protected] Einsendeschluss: 30.11.2008
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Bitte vormerken: Das nächste Spezial Bachelor & Master erscheint in den ZEIT CHANCEN vom 14. Mai 2009.
Beratung und Verkauf DIE ZEIT Frank Murken 20079 Hamburg Tel.: 040/3280463 Fax: 040/3280472
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Bachelor & Master
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Eine Oper in sechs Semestern Die Bayerische Theaterakademie lebt gut mit dem Erbe ihres Gründers August Everding – und hält wenig von einem Schauspieler mit Bachelorabschluss
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usdrucksvoll spielen und Texte deklamieren, das reicht längst nicht mehr auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Heute verlangen Theaterregisseure unbedingten Körpereinsatz. »Schauspieler müssen beinahe schon Akrobaten sein«, sagt Michael Ibers, Aikido-Meister und Träger des sechsten Dan-Grades. In den Räumen der Bayerischen Theaterakademie im Münchner Prinzregententheater unterweist er zehn junge Schauspielschülerinnen und -schüler in der Kunst des japanischen Kampfsportes. »Für Kampfszenen ist das, was wir hier üben, besonders gut geeignet«, sagt Ibers. Es gehe aber nicht nur darum, richtig zu fallen, ohne sich dabei zu verletzen. Sondern auch darum, seine Mitte zu finden, Geist und Körper zu öffnen. »Wenn man langsam besser wird, reduziert man immer mehr. Man kommt zum Wesentlichen. Das ist bei einem erfahrenen Schauspieler nicht anders.« Bis dahin ist es für die jungen Teilnehmer des Diplomstudiengangs Schauspiel an der Theaterakademie August Everding allerdings noch ein weiter Weg. Zunächst sind sie froh, überhaupt dabei sein zu können. Alle haben sie ein mehrstufiges Auswahlverfahren hinter sich, das es mit jedem Assessment-Center in der freien Wirtschaft aufnehmen kann. 600 bis 800 junge Leute aus dem deutschsprachigen Raum bewerben sich jedes Jahr für die begehrten Studienplätze. Nur zehn werden schließlich aufgenommen. »Ich habe hier endlich das Gefühl, dort angekommen zu sein, wo ich schon immer hinwollte«, sagt die 22-jährige Evgenjia Rykova aus München. Ein Stockwerk höher üben Sonja Isemer (23) und Franziska Herrmann (22) bereits für das Absolventenvorsprechen. Nach vier
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Jahren Studium und zahlreichen Auftritten in Schauspielinszenierungen der Theaterakademie sollen sie Intendanten, die eigens von der Akademie eingeladen werden, eine Kostprobe ihres Könnens geben. Das Studium sei hart gewesen, aber sehr effektiv, sagt Sonja Isemer. »Es gab Phasen, wo ich mich gar nicht traute, über die Bühne zu laufen. An anderen Tagen kann man dann nicht schnell genug aufstehen, um endlich spielen zu können.« Vor ihrem Auftritt beim Absolventenvorsprechen ist der jungen Darstellerin nicht bang. »Ich will gut rüberkommen. Aber ich will mich nicht anbiedern«, sagt Sonja Isemer. Vertrauen in die eigenen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten, das gehört ebenso zu den Fähigkeiten, die die jungen Mimen während ihres Studiums lernen müssen.
Tom Waits und Johann Strauß im Prinzregententheater Auch Klaus Zehelein, dem Präsidenten der Bayerischen Theaterakademie und Leiter des Diplomstudiengangs Dramaturgie, mangelt es nicht an Selbstvertrauen. Zehelein war von 1991 bis 2006 Intendant der Stuttgarter Staatsoper, die unter seiner Leitung mehrmals von der Fachzeitschrift Opernwelt zum »Opernhaus des Jahres« gekürt wurde. 2006 engagierte ihn der damalige bayerische Kultusminister Hans Zehetmair für den Chefposten an der Theaterakademie. Mit ihm zog endlich Kontinuität in dem Haus ein, das seit dem Tode von Akademiegründer August Everding innerhalb weniger Jahre vier Präsidenten hatte kommen und gehen sehen. Mit besonderem Stolz erfüllt Zehelein die Tatsache, dass seine Thea-
terakademie von der Rezensentin der Neuen Zürcher Zeitung dieses Jahr für den begehrten Titel eines »Opernhauses des Jahres« nominiert wurde. »Dabei sind wir ja gar keine richtige Oper mit einem festen Ensemble«, sagt Zehelein. Zentrum der Akademie, die 1993 von dem legendären Theaterimpresario August Everding gegründet wurde, ist das Prinzregententheater im Münchner Stadtteil Bogenhausen mit seinen drei technisch voll ausgestatteten Bühnen. Mit neun Studiengängen (Schauspiel, Regie, Operngesang, Musical, Dramaturgie, Bühnenbild und Bühnenkostüm, Maskenbild, Lichtgestaltung sowie Theater-, Filmund Fernsehkritik) ist die Akademie die größte deutsche Ausbildungsstätte für Bühnenberufe. Den offiziellen Status einer Hochschule besitzt sie nicht. Eingeschrieben sind die mehr als 200 Studierenden bei einem der akademischen Kooperationspartner: der Münchner Musikhochschule, der Ludwig-Maximilians-Universität, der Akademie der Bildenden Künste oder der Hochschule für Fernsehen und Film. Sogenannte Produktionspartnerschaften gibt es mit den drei Münchner Staatstheatern, verschiedenen Profiorchestern sowie weiteren Bühnen im In- und Ausland. Das Besondere an der Theaterakademie ist die Vielfalt der Studiengänge und deren räumliche und inhaltliche Verbindung. An der geplanten interdisziplinären Neuproduktion der Oper The Fairy Queen des Barockkomponisten Henry Purcell etwa wirken allein vier Studiengänge mit: Operngesang, Schauspiel, Musical und Maskenbild. Für eine Neuschaffung des Librettos hat man den Schriftsteller Durs Grünbein gewonnen.
VON GEORG ETSCHEIT
In dem prächtigen klassizistischen Theatergebäude, das einmal Richard Wagner als Festspielstätte dienen sollte, drängen sich die Studenten vor dem offiziellen Semesterbeginn. »Wir brauchten dringend neue Räume«, sagt Zehelein. Ein Anbau sei schon geplant, nur das Geld sei noch nicht bewilligt. Im Akademiestudio probt gerade der Regiediplomand Moritz Schönecker seine Diplomproduktion, Die Stadt der Blinden von José Saramago. Im Opernstudio sind Schauspielstudenten unter Leitung von Regisseur und Studiengangsleiter Jochen Schölch intensiv mit der Neuproduktion des Black Rider von Tom Waits beschäftigt. Und im Großen Haus läuft gerade die Kostümprobe für die Oper Wiener Blut von Johann Strauß in der Fassung für sechs Klaviere. Wie die jungen Sängerinnen und Sänger auf der Bühne singen und agieren und echten Wiener Schmäh zum Besten geben, das wirkt schon sehr überzeugend.
Ein Kunststudium in Modulen, wie soll das gehen? Zehelein legt Wert darauf, dass es hier keineswegs um Studententheater gehe. »Alle Regisseure und Dirigenten, die mit unseren Studierenden arbeiten, sind angesehene Profis.« Auch die Orchester wie das Münchner Kammerorchester oder das Rundfunkorchester des Bayerischen Rundfunks sind alles andere als Laienensembles. Und vor leeren Rängen muss auch niemand singen, spielen und tanzen. Denn die Karten für die insgesamt 36 Akademieproduktionen pro Jahr in München und Umgebung und bei den regelmäßigen Gastspielen verkaufen sich gut. Seit Kurzem gibt
INGENIEURWISSENSCHAFTEN
es auch ein eigenes Abonnement für ausgewählte Produktionen. Obwohl die Theaterakademie mit ihren 15 Jahren noch recht jung ist, stehen demnächst große Veränderungen bevor. Alle Diplomstudiengänge müssen auf die neuen internationalen Bachelor- und Masterabschlüsse umgestellt werden. Zehelein fragt sich, wie man einen künstlerischen Studiengang, bei dem es nicht zuletzt um Persönlichkeitsentwicklung geht, in einzelne »Module« aufspalten könne, die am Ende eines jeden Semesters abgeprüft werden müssten? »Ich fürchte, dass dann alle nur noch für die Prüfungen arbeiten und die Kreativität auf der Strecke bleibt«, sagt er. Das zeigten erste Erfahrungen aus dem bereits laufenden Bachelorstudiengang Maskenbild. Zehelein drückt auch die Frage, wie sich etwa ein Schauspieler mit Bachelorabschluss von einem mit dem Master in seinen Qualifikationen unterscheiden kann. »Soll der Bachelor ans Provinztheater, der Master nur an die großen Bühnen?«, fragt der Akademiepräsident. »Da streift man gelegentlich schon den Unsinn.« Auch die enge Lehrer-Schüler-Bindung bei künstlerischen Berufen stehe einem der Ziele der Bologna-Reform, die internationale Vergleichbarkeit und Durchlässigkeit akademischer Ausbildungsgänge zu verbessern, entgegen. »Wer einmal seinen Lehrer gefunden hat, wird sicher nicht freiwillig wechseln.« In jedem Fall wollen Zehelein und sein Team verhindern, dass mit der Reform ökonomische Kategorien in der künstlerischen Ausbildung die Oberhand gewinnen. »Marktgängigkeit«, sagt Zehelein, »ist ein Begriff, der dem Theater völlig fremd ist.« a www.zeit.de/audio
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30. Oktober 2008 DIE ZEIT Nr. 45
Tipps und Termine
Stiftung der deutschen Wirtschaft, studiert im 5. Semester Musik und Deutsch und im 3. Semester Latein in Potsdam
Foto [M]: Sabine Gudath für DIE ZEIT; www.sabinegudath.de
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Bachelor & Master
CHRISTIN TELLISCH, 21,
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Der Master of International Taxation (M.I.Tax) an der Uni Hamburg ist für Steuerberater gedacht, die Mandanten auf dem Gebiet der Besteuerung grenzüberschreitender Beziehungen betreuen, außerdem für Absolventen des Schwerpunktes Steuerwesen. Der Studiengang ist vollständig auf die Internationale Besteuerung fokussiert, integriert Fragestellungen der Internationalen Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, des Steuerrechts und der Finanzwissenschaft und führt in zehn ausländische Steuerrechtssysteme ein. Die Studiengebühren liegen bei 9500 Euro. www.m-i-tax.de
Christin Tellisch macht Musik, seit sie denken kann. Jetzt studiert sie Orgel, Klavier und Gesang. Ihr Traum ist, ihre Begeisterung jungen Leuten zu vermitteln. Darum hat sie sich für ein Bachelorstudium auf Lehramt entschieden und ist aus dem südbrandenburgischen Bad Liebenwerda nach Potsdam gezogen. Seit Jahren musiziert sie auch für den guten Zweck und organisiert Benefizkonzerte für ein Sozialprojekt im peruanischen Bergwald, das sie zu Schulzeiten kennengelernt hat. Seitdem war sie mehrmals dort, in diesem Jahr hat sie die Jugendlichen im Waisenhaus sogar fünf Wochen lang unterrichtet. »Ich finde es bewundernswert, was ganz normale Menschen dort in Eigeninitiative bewirkt und geschaffen haben.«
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Literaturwissenschaft Deutsch-Russisch
Das Masterprogramm »Literaturwissenschaft International: Deutsch-russische Transfers« stellt den Erwerb interkultureller Kompetenzen in den Mit-
telpunkt. Die Universität Freiburg im Breisgau entwickelte zusammen mit der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften (RGGU) das Curriculum. Das Studienprogramm wird parallel in Freiburg und in Moskau angeboten. Für die Studenten beider Standorte sind obligatorische Auslandssemester vorgesehen. Für das Auslandssemester in Moskau ist eine DAAD-Förderung bewilligt. www.slavistik.uni-freiburg.de Masterprogramme finden
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Wodurch unterscheiden sich Privatschul- und Internatspädagogen von Lehrern, die an staatlichen Schulen tätig sind? Sind sie engagierter? Oder motivierter? Wohl kaum, meinen Fachleute. Aber sie haben bessere Chancen, ein persönliches Verhältnis zu ihren Schülern aufzubauen. Krüger Internat und Schulen Foto: Schloss Neubeuern
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Anzeigenspezial des Zeitverlags
JOBMESSEN DIE JOBMESSE FÜR NATURWISSENSCHAFTLICHE UND TECHNISCHE FACH- UND FÜHRUNGSKRÄFTE
Jobmotor Healthcare Kaum hatten wir am Konjunkturaufschwung Gefallen gefunden, droht schon wieder die nächste Rezession. Doch mehrere gute Gründe sprechen dafür, dass die Healthcare-Branche gegenüber den Turbulenzen auf dem Finanzmarkt einigermaßen immun sein könnte. So werden auch bei der Jobmesse T5 Futures am 13. November in München Angebot und Nachfrage in gewohnter Weise zusammentreffen.
»Die medizinische Biotechnologie in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren als Jobmotor erwiesen«, sagt Frank Mathias, Vorstandsmitglied der MediGene und Vorsitzender der VFA Bio, der Interessengruppe für Biotechnologie im Verband Forschender Arzneimittelhersteller. Trotz der weltweiten Finanzkrise könne die Branche optimistisch in die Zukunft schauen: »Bei der VFA Bio gehen wir davon aus, dass die medizinische Biotechnologie von der Krise weitaus weniger betroffen sein wird als viele andere Wirtschaftsfelder.« Dafür gibt es gleich mehrere gute Gründe. So hat der Gesundheitssektor weltweit hohe Priorität und ist deshalb nicht allzu konjunkturabhängig. Außerdem wird die Mehrzahl biotechnologischer Arbeitsplätze in Deutschland von großen Unternehmen angeboten, die nicht kurzfristig von externen Kapitalspritzen abhängen. Mathias: »Für die kleinen Biotechnologieunternehmen könnte es sogar vorteilhaft sein, wenn es für Finanzinvestoren wieder attraktiver wird, ihr Geld in aussichtsreiche Produktentwicklungen zu stecken statt in den Handel mit schwer einschätzbaren Finanzkonstrukten.« Das Fazit des Biotech-Experten: »Wer heute beruflich in die medizinische Biotechnologie einsteigt, kommt in eine gereifte Branche
mit höchstem technologischen Knowhow, hohem Internationalisierungsgrad und zukunftsfesten Einsatzgebieten.« Eine aktuelle Studie der Boston Consulting Group (BCG) im Verbandsauftrag zeigt: Mehr als 4.000 Arbeitsplätze haben die 371 in der medizinischen Biotechnologie in Deutschland tätigen Unternehmen allein 2007 geschaffen, ein Plus von 14 Prozent auf 34.000. Das lässt sich auf die Healthcare-Branche insgesamt übertragen. Mehr als 3.000
Mehr als 3.000 Mitarbeiter werden gesucht Mitarbeiter suchen allein die 23 Aussteller auf der 16. T5 Futures am 13. November in München. Die Jobmesse wendet sich vor allem an Ingenieure, Informatiker und Naturwissenschaftler, aber auch an Mediziner, Pharmazeuten und technische Assistenten. Und zwar sowohl an Absolventen wie an Doktoranden und Berufserfahrene. Von der letzten Veranstaltung im Juni in Düsseldorf war Gerold Krischker, Head Employer Branding bei Sandoz, sehr angetan: »Wir waren zum ersten Mal dort. Das Ergebnis hat uns überrascht: Die T5 Jobmesse schafft es tatsächlich, berufserfahrene Kandidaten
anzusprechen. Wir haben konkrete Bewerbungen auf offene Positionen bekommen.« Auf der Jobmesse in München wird Sandoz wieder vertreten sein – an einem Gemeinschaftsstand mit dem Schwesterunternehmen Hexal. Auch Barbara Frett, Personalleiterin Fort Dodge Veterinär, war »erstaunt über den Zulauf an passgenauen Kandidaten. Wir haben einige Bewerbungen mitgenommen und wollen in München wieder dabei sein.« Nicht nur bei Ingenieuren, auch bei Naturwissenschaftlern ist das Angebot an Fachkräften derzeit gering, die Nachfrage hoch. Beide Berufsgruppen gehören zu den Spitzenverdienern. Bei Forschung und Entwicklung liegt die Pharmaindustrie auf dem vierten Platz hinter der Automobil-, Elektronik- und Chemischen Industrie. Weil die Healthcare-Branche wächst, bietet sie Aufstiegschancen – und damit auch auf ein höheres Einkommen. Führungskräfte können in den Branchen Pharma und Life Sciences 50.000 bis über 150.000 Euro verdienen. Die Spannbreite bei den Fachkräften reicht von 40.000 bis 120.000 Euro. Zu diesen Ergebnissen kommt die Karriereberatung Kienbaum in einer Studie. Die zeigt außerdem: Die Gehälter in den Bereichen Pharma und Life Sciences stiegen von April 2006 bis April 2007 um 3,9 Prozent. Gute Gehälter – gute Besserung!
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Die T5 Jobmesse findet am Donnerstag, 13. November, von 10 bis 16 Uhr im Holiday Inn Munich City Centre, Hochstraße 3, 81669 München statt. Die T5 Jobmesse ist eine geschlossene Veranstaltung. Interessenten müssen sich vorher online anmelden. Die Anmeldebestätigung dient als Eintrittskarte. www.t5-futures.de Aussteller auf der T5 Jobmesse: Admedes, Baxter, Bosch, Eurofins, Fort Dodge, Hexal, Innovex, INP Greifswald, Kendle, Linde Gas, Marvecs, MKM, M-Source, Pharmexx, Roche, Ratiopharm, Olympus, Sandoz, Siemens, Servier, Swiss Caps, TRION Pharma, Zeiss
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SEMINARPLANER Fortsetzung von Seite 85
MITARBEITERFÜHRUNG
MEDIATION
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Konstanzer Schule für Mediation Marktstätte 15, 78462 Konstanz Tel: 07531 / 819430
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Ziel der Praunheimer Werkstätten gemeinnützige GmbH (pw°) ist es, Menschen mit geistiger Behinderung in unsere Gesellschaft zu integrieren – kein Mensch mit Behinderung soll aus Frankfurt wegziehen müssen. Betreuung und Wohnen, Ausbildung und Beschäftigung sollen benachteiligten Menschen helfen, ein normales Leben wie möglich zu führen. In drei Werkstätten in Frankfurt am Main bietet die pw° 780 Beschäftigungsplätze für geistig behinderte Frauen und Männer, bzw. Betreuung in angegliederten Tagesförderstätten. In fünf Wohneinrichtungen, durch ambulant betreutes Wohnen, sozialpädagogische Familienhilfe und Integrationsassistenz für behinderte Schüler garantiert sie zudem Betreuungsangebote im gesamten Stadtgebiet für mehr als 300 Personen. Für unsere Werkstatt in Frankfurt-Fechenheim suchen wir zum nächstmöglichen Zeitpunkt den/die
Die Niedersächsische Landesmedienanstalt (NLM) betreibt in Zusammenarbeit mit dem Bürgerrundfunk an sechs Standorten Niedersachsens so genannte multimediamobile für die Qualifizierung von Lehrern/Lehrerinnen und Pädagogen/-innen der außerschulischen Jugendbildung. Für den Betrieb des multimediamobils für die Region Südost-Niedersachsen sucht die Niedersächsische Landesmedienanstalt
Leiter/in Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM)
eine/n medienpädagogische/n Mitarbeiter/-in
Die vielseitige und anspruchsvolle Leitungsfunktion erfordert ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein, Eigeninitiative, Verhandlungsgeschick und die Fähigkeit, Mitarbeiter zu führen und zu motivieren. Sie bietet gute Entfaltungsmöglichkeiten in einem gestaltungsfähigen, interessanten und ausbaufähigen Aufgabenbereich. Das Spannungsfeld zwischen den Erfordernissen des Rehabilitationsauftrages und denen eines Produktions- und Dienstleistungsbetriebes, der gegenüber der gewerblichen Konkurrenz bestehen muss, erfordert eine starke Persönlichkeit mit der Fähigkeit zur Integration. In der Werkstatt erhalten aktuell 326 Menschen mit geistiger Behinderung Anleitung, Betreuung und Förderung ihrer Kompetenzen. Hierfür stehen Ihnen insgesamt 51 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den unterschiedlichsten beruflichen Fachrichtungen zur Seite. Voraussetzung für die Aufgabe sind ein Fachhochschulabschluss betriebswirtschaftlicher Fachrichtung sowie mehrjährige Berufserfahrung – idealerweise in vergleichbaren Einrichtungen –, kfm. Kenntnisse und Leitungserfahrung. Für das Arbeitsverhältnis gelten die Tarifregelungen des Öffentl. Dienstes (TVöD ) in der für die Stadt Frankfurt am Main gültigen Fassung. Ihre Bewerbung mit Angabe Ihrer Einkommenserwartung richten Sie bitte unter Angabe der Ausschreibungsnr. 53/2008 bis zum 15.11.2008 an die Praunheimer Werkstätten gGmbH Mitglied in Krautgartenweg 1 60439 Frankfurt am Main
für den Standort Salzgitter. Die/der medienpädagogische Mitarbeiter/-in betreut das mobile Medienkompetenzzentrum. Sie/er stellt Kontakt zu Schulen, zu Einrichtungen und zu potentiellen Multiplikatoren her, plant und koordiniert Qualifizierungsmaßnamen und führt sie durch. Sie/er vermittelt der Zielgruppe den Umgang mit Multimedia-, Video- und Audio-Software sowie technisches Grundlagenwissen, erarbeitet gemeinsam mit den Lehrenden Konzepte für Projektarbeit und Unterrichtsvorhaben und berät und unterstützt die Lehrenden. Gesucht wird eine Person mit pädagogischer Hoch- oder Fachhochschulausbildung und einer Multimedia-Ausbildung oder entsprechenden beruflichen Kenntnissen und praktischen Erfahrungen, mit der Fähigkeit zu eigenständigem Arbeiten in den oben beschriebenen Aufgabenbereichen sowie Führerschein Klasse B. Die Anstellung ist zunächst befristet bis zum 31.3.2014. Die Einstellung soll zum 1.2.2009 oder früher erfolgen. Die Stelle ist nicht teilzeitgeeignet. Die Vergütung erfolgt in Anlehnung an den TVL, Entgeltgruppe 10. Ihre schriftliche Bewerbung mit den üblichen Unterlagen richten Sie bitte bis zum 21.11.2008 an die Niedersächsische Landesmedienanstalt (NLM), Abteilung Bürgerrundfunk und Medienkompetenz, Seelhorststraße 18, 30175 Hannover.
Die Hansestadt Lübeck sucht zum 01.05.2009
eine hauptamtliche Stadträtin (Senatorin) bzw. einen hauptamtlichen Stadtrat (Senator) für den Fachbereich Planen und Bauen. Die Hansestadt Lübeck, zweitgrößte Stadt Schleswig-Holsteins, ist ein unmittelbar an der Ostsee gelegenes Produktions- und Dienstleistungszentrum mit ca. 214.000 Einwohnerinnen/Einwohnern. Als bedeutende Hafenstadt verfügt die Hansestadt Lübeck über den größten deutschen Ostseehafen und den größten Fährhafen Europas. Die reichhaltige historische Bausubstanz und das einzigartige Altstadtensemble wurden 1987 von der UNESCO in den Rang einer Welterbestätte erhoben. Es besteht ein Gestaltungsbeirat, der bei großen Bauvorhaben von vielen Seiten Anregungen entgegennimmt. Der Fachbereich umfasst derzeit die Bereiche Stadtplanung, Bauordnung, Gebäudemanagement, Verkehr, Stadtgrün und Friedhöfe sowie Gebäudereinigung. Änderungen des Aufgabenbereiches im Rahmen einer Neuorganisation der Stadtverwaltung bleiben vorbehalten. Die Amtszeit beträgt 6 Jahre, eine Wiederwahl ist möglich. Die Besoldung richtet sich nach der Besoldungsgruppe B 4 / B 5 LBesO. Die hauptamtliche Stadträtin / Der hauptamtliche Stadtrat ist dem Bürgermeister direkt unterstellt und wird zur Beamtin auf Zeit / zum Beamten auf Zeit ernannt. Die Wahl erfolgt gemäß § 67 der Gemeindeordnung SH, der derzeitige Stelleninhaber bewirbt sich um eine Wiederwahl. Gesucht wird eine qualifizierte Persönlichkeit, die für dieses Amt die erforderliche Eignung, Befähigung und Sachkunde besitzt, zum Zeitpunkt der Ernennung das 27. Lebensjahr vollendet und am Wahltag das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Kommunikativer Führungsstil und team- und projektorientiertes Arbeiten werden ebenso vorausgesetzt wie die Fähigkeit, Belange des Fachbereiches gegenüber der Politik und der Öffentlichkeit überzeugend zu vertreten. Die vielfältigen Anforderungen der Aufgabe erfordern umfangreiche Erfahrungen in Führungspositionen einer Kommunalverwaltung sowie fachliche Kenntnisse des gesamten Themenspektrums des Fachbereichs. Wünschenswert wären ein abgeschlossenes Hochschulstudium z. B. im Fachbereich Architektur / Stadtplanung oder eine vergleichbare Qualifikation sowie mehrjährige Berufserfahrung im Bereich der Stadtplanung. Eine Wohnsitznahme in der Hansestadt Lübeck wird erwartet. Die Wahl erfolgt durch die Lübecker Bürgerschaft (Stadtvertretung) im Meiststimmenverfahren. Vorbehaltlich der Rechtskraft des Beschlusses des Gemeindewahlausschusses vom 29.09.2008 setzt sich die Bürgerschaft wie folgt zusammen: SPD 18, CDU 15, Die Linke 7, Bündnis 90/Die Grünen 7, Bürger für Lübeck 7, FDP 5, Lübecker BUNT 1 (fraktionslos). Das Vorschlagsrecht steht dem Bürgermeister, den Fraktionen und den einzelnen Mitgliedern der Bürgerschaft zu. Die Hansestadt Lübeck verfolgt das Ziel der beruflichen Gleichstellung von Frauen und Männern auf der Grundlage des Frauenförderplans. Da die Hansestadt Lübeck eine Erhöhung des Frauenanteils anstrebt, werden qualifizierte Frauen ausdrücklich aufgefordert, sich zu bewerben. Die Hansestadt Lübeck ist bemüht, das ehrenamtliche Engagement ihrer MitarbeiterInnen zu fördern. Erfahrungen und Fähigkeiten aus ehrenamtlicher Tätigkeit, die als Qualifikation anhand des Stellenanforderungsprofils von Bedeutung sind, werden bei der Stellenbesetzung berücksichtigt. Schwerbehinderte BewerberInnen werden bei gleicher Eignung bevorzugt berücksichtigt. Bewerbungen werden unter dem Kennwort „Senatorin/Senator“ innerhalb von drei Wochen nach Erscheinen dieser Anzeige erbeten an die Hansestadt Lübeck – Der Bürgermeister – Personal- und Organisationsservice Fischstraße 2–6, 23552 Lübeck Das Einverständnis für die Weiterleitung der Bewerbung an die in der Lübecker Bürgerschaft vertretenen Fraktionen und einzelne Mitglieder der Bürgerschaft wird vorausgesetzt.
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Das Dynamikum ist das erste Science Center in Rheinland-Pfalz. Unter dem Leitmotiv „Bewegung“ lädt dieses „Mitmachmuseum“ an 150 interaktiven Experimentierstationen zum unmittelbaren Erfahren und Erleben naturwissenschaftlicher Phänomene ein. Ausgeschrieben wird zum nächstmöglichen Zeitpunkt die Position:
Koordinator Wissenschaft und Pädagogik (m/w) des „Dynamikum“-Science Center Pirmasens in Vollzeittätigkeit, befristet auf die Dauer von 2 Jahren. Die spätere Übernahme in ein Dauerarbeitsverhältnis ist möglich. Nähere Angaben zu dieser anspruchsvollen Tätigkeit erhalten Sie im Internet unter www.dynamikum.de. Wir freuen uns auf Ihre aussagekräftige schriftliche Bewerbung unter Angabe Ihrer Gehaltsvorstellung. Diese richten Sie bitte bis zum 15.11.2008 an: Dynamikum Pirmasens e.V., Geschäftszimmer, Fröhnstraße 8, 66954 Pirmasens Wir weisen darauf hin, dass die eingereichten Bewerbungsunterlagen grundsätzlich nicht zurückgesandt werden.
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SCHLOSS HAGERHOF BAD HONNEF Staatlich genehmigtes privates Gymnasium mit Realschulzweig und Internat für Jungen und Mädchen
Wir stellen ein:
Lehrkräfte mit 1. und 2. Staatsexamen für das Lehramt am Gymnasium und der Gesamtschule, Lehrbefähigungen in Spanisch, Englisch, Deutsch (jeweils mit beliebigem Beifach). Die Einstellungsbedingungen entsprechen denen des Regelschulsystems (I. und II. Staatsexamen), Planstellenvergabe ist möglich. Die Einstellungen erfolgen zum 01.02.2009 bzw. 01.08.2009. Wir sind eine reformpädagogisch ausgerichtete staatl. anerkannte Schule in einer wunderschönen Umgebung, die nach den Prinzipien der Montessori-Pädagogik arbeitet und zwei besondere Profile aufweist: Leistungsstützpunkt Basketball sowie Musik- und Musicalschule. Das Gymnasium mit angeschlossenem Internat besteht seit fast 50 Jahren. Vor zwei Jahren wurde zusätzlich eine Realschule eingerichtet, die sich noch im Aufbau befindet. Gymnasium und Realschule wachsen und wachsen, wir freuen uns über den großen Erfolg. Zur Zeit besuchen knapp 600 Schülerinnen und Schüler unsere beiden Schulen. Zur Verstärkung unseres engagierten Kollegenteams suchen wir Lehrerpersönlichkeiten, die Ihren Beruf als Berufung verstehen und eine kindorientierte Pädagogik leben wollen. Sollten Sie mit zu den Pädagoginnen und Pädagogen gehören, – die einen anderen Weg im Umgang mit Kindern, Jugendlichen und Lernen gehen wollen, – die selbstbewusst und sicher und innovativ und engagiert auf der Suche nach einem kindund jugendgerechten Bildungsweg sind, – die Alternativen zu Lernstandserhebungen und zentralen Abschlussprüfungen kennen und umsetzen können und – die außerdem noch eine Montessori-Ausbildung erworben haben oder bereit sind, diese zu erwerben (Diplom oder/und Zertifikat), dann senden Sie bitte bis 1. Dezember 2008 Ihre vollständigen Bewerbungsunterlagen (gerne auch online) an
Schloss Hagerhof Dr. Gudula Meisterjahn-Knebel, Menzenberg 13, 53604 Bad Honnef Telefon 0 22 24 - 9 32 50, Fax 0 22 24 - 93 25 25, www.hagerhof.de,
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Auf dem Campus tut sich was! ZEIT CAMPUS ist das Hochschulmagazin der ZEIT und richtet sich an motivierte, hochqualifizierte und talentierte Studierende und Absolventen. Erreichen Sie damit Ihre Nachwuchsführungskräfte von morgen! Im Zusammenspiel mit dem Online-Portal www.zeit.de/campus bietet ZEIT CAMPUS beste Erfolgsaussichten für Ihr crossmediales Hochschulmarketing. IVW-geprüft: 97.392 verkaufte Exemplare (III/08) Erscheinungstermin
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Deutschlands große meinungsbildende Wochenzeitung
Die Auflage der ZEIT wächst kontinuierlich und erreicht heute 480.000 Exemplare wöchentlich. Damit ist sie die größte überregionale Qualitätszeitung in Deutschland. Im Zeitverlag und in der Redaktion arbeiten gegenwärtig rund 300 Mitarbeiter. Die academics GmbH ist eine Tochtergesellschaft der ZEIT. Sie betreibt den marktführenden Online-Stellenmarkt für Karrieren in der Wissenschaft im deutschsprachigen Raum und agiert u. a. als Dienstleister für DIE ZEIT im Verkauf von Print- und Online-Anzeigen. Wir suchen dort für die Verkaufsleitung des Hochschulteams einen versierten, qualifizierten und engagierten
Senior Media Consultant (w/m) für die Anzeigenbereiche »Stellenmarkt Lehre und Forschung« und »Hochschulmarketing« Ihre Aufgabe • Sie sind verantwortlich für die Beratung und Akquisition der Print- und Online-Anzeigen –
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für den Stellenmarkt Lehre und Forschung sowie für die wachsenden Marktplätze des Hochschul- und Wissenschaftsmarketings – und für deren erfolgreichen und kompetenten Ausbau in der ZEIT sowie in ihren Magazinen und Online-Portalen. Durch regelmäßige Beratungs- und Verkaufsgespräche intensivieren und erweitern Sie die Kundenkontakte zusammen mit Ihrem Team und verstehen es, den Markt aktiv und innovativ durch Direktmarketing- und Kundenbindungsmaßnahmen zu betreuen. Sie verkaufen crossmediale Mediaprodukte, konzipieren neue Produktideen und setzen diese erfolgreich um. Sie haben die Leitungs- und Personalverantwortung für Ihr Team sowie die Umsatzverantwortung der zu betreuenden Märkte. Sie berichten an die Salesmanagerin des Gesamtbereichs.
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erfahrungen aus einem Verlag, einer Kommunikations- oder Mediaagentur mit. Dabei sind Erfahrungen mit einer Klientel aus dem Bildungs- oder Wissenschaftsbereich eine gute Basis. Darüber hinaus besitzen Sie ein ausgeprägtes Beratungs- und Verkaufstalent und kennen idealerweise die deutsche Bildungs- und Wissenschaftslandschaft sowie ihre entsprechenden Trends und Entwicklungen. Ferner zeichnet Sie eine hohe Online-Affinität aus, und Sie bringen gute Kenntnisse in den Bereichen CRM, Verkaufsreporting und -analysen mit. Sie denken und handeln jederzeit kunden- und umsatzorientiert, erkennen Markttrends und können diese in erfolgreiche Produktangebote umsetzen. Sie überzeugen durch eine engagierte und selbstständige Arbeitsweise und verfügen über ausgeprägtes Verhandlungsgeschick, eine konzeptionelle Denkweise, Organisationstalent, Kreativität und Führungskompetenz. Sehr gute Englischkenntnisse sind aufgrund des auch internationalen Kundenkreises notwendig. Belastbarkeit und ein hohes Maß an Reisebereitschaft runden Ihr Profil ab.
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Die Naturschutzjugend (NAJU) im NABU ist mit rund 75.000 Mitgliedern Deutschlands größter Jugendumweltverband. Zum nächstmöglichen Termin suchen wir für unsere Bundesgeschäftsstelle in Berlin
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Ihre Aufgaben: – Organisation des gesamten Betriebs der Bundesgeschäftsstelle – Leitung des Mitarbeiterteams der Bundesgeschäftsstelle – Verantwortung für die Gesamtfinanzen des NAJU-Bundesverbands – Finanzmittelakquisition für den NAJU-Bundesverband – Außenvertretung des NAJU-Bundesverbandes – enge Zusammenarbeit mit den Landesverbänden der NAJU, dem bundesweiten ehrenamtlichen Aktivenkreis sowie dem ehrenamtlichen Bundesjugendvorstand Sie sind eine hoch motivierte Persönlichkeit mit Hochschulabschluss und mindestens drei Jahren Berufserfahrung in leitender Position und verfügen über Kenntnisse der Organisation und Arbeitsweise von NGOs, insbesondere im Umweltbereich. Des Weiteren haben Sie folgende Qualifikationen: – exzellentes Organisationsvermögen – einschlägige Erfahrung in der Finanzmittelakquisition – herausragende Kommunikationsfähigkeit, überzeugendes Auftreten und Verhandlungsgeschick – hohe soziale Kompetenz – hohe Einsatzbereitschaft auch zu Wochenendarbeit Wir bieten Ihnen ein kreatives und abwechslungsreiches Arbeitsfeld, die Herausforderung der Arbeit in einem lebhaften Jugendumweltverband und eine leitende Position in einem dynamischen, hoch engagierten und vor allem jungen Team der Bundesgeschäftsstelle. Es ist eine Vollzeitstelle und ist zunächst auf zwei Jahre befristet. Eine Verlängerung ist vorgesehen. Die Vergütung erfolgt in Anlehnung an TVöD (E11/1). Bei Fragen zu der ausgeschriebenen Stelle können Sie sich gerne an Frau Christine Sauer telefonisch unter (030) 284 984 1901 wenden. Bitte senden Sie Ihre aussagekräftige, schriftliche Bewerbung mit den üblichen Unterlagen und mit einem frankierten Rückumschlag an die: Naturschutzjugend im NABU, Bundesgeschäftsstelle, z. Hd. Frau Christine Sauer, Charit´ estraße 3, 10117 Berlin. Bitte keine E-Mail-Bewerbungen. Bewerbungsschluss ist Mittwoch, 19.11.2008. (Datum des Poststempels)
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30. Oktober 2008 DIE ZEIT Nr. 45 Altenkesseler Straße 17 66115 Saarbrücken Telefon: 0681 - 9762 840 E-Mail:
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VolkswirtIn, BetriebswirtIn, EnergiewissenschaftlerIn Sie besitzen einen Hochschulabschluss, umfassende Erfahrungen in der wissenschaftlichen Projektarbeit und sehr gute Englischkenntnisse. Ihre Arbeitsgebiete umfassen neben dem energiewirtschaftlichen Instrumentenmix (EEG, KWK-G, EWärmeG, Emissionshandel etc.) auch grundlegende Fragen zur Liberalisierung der Energiewirtschaft (Regulierung, Teilmärkte) sowie Schnittstellenthemen zwischen Technik und Wirtschaft (Smart Metering, Netzmanagement). Wir erwarten von Ihnen ein hohes Maß an Teamfähigkeit, eine sehr gute Ausdrucksfähigkeit in Schrift und Wort und sicheres Auftreten. Die Vergütung entspricht dem TVL mit den üblichen Sozialleistungen. Der Arbeitsvertrag wird zunächst auf 2 Jahre befristet mit der Möglichkeit auf unbefristete Übernahme. Bitte richten Sie Ihre Bewerbung mit den üblichen Unterlagen an die Geschäftsleitung der IZES gGmbH.
In Koblenz findet im Jahr 2011 als überregionales Großereignis die Bundesgartenschau statt. Mit dem Bau sowie mit der Vorbereitung und Durchführung der Gartenschau wurde die Bundesgartenschau Koblenz 2011 GmbH beauftragt. Außergewöhnliche Aufgaben erwarten Sie! Sind Sie dabei und wirken Sie an der Gestaltung einer Ausstellung mit, die für ungewöhnliche Ideen und Visionen offen ist.
> Mitarbeiter/-in im Veranstaltungsbereich Ihre Hauptaufgabe ist die Mitarbeit an der Planung, Konzeption und Umsetzung des Veranstaltungs- und Kulturprogramms der Bundesgartenschau. Hierzu zählt auch die Akquise von Beteiligten für das Kulturprogramm, der Abschluss von Auftrittsvereinbarungen, die Budgetüberwachung sowie die Betreuung der Künstler. Zur Erfüllung der Aufgaben verfügen Sie über fundierte Kenntnisse des Veranstaltungs-/Eventmanagements. Sie haben sehr gute PC-Kenntnisse (MS-Office) und eine selbständige, erfolgsorientierte Arbeitsweise. Idealerweise waren Sie bereits projektbezogen für ein Festival oder Ähnliches tätig. Eigenständiges Arbeiten sowie Kommunikations- und Teamfähigkeit sind dabei für Sie selbstverständlich. Die Durchführung einer Gartenschau ist kein alltägliches Projekt. Es fordert besonderes Engagement und die Lust, extrem zielorientiert zu arbeiten. Besondere Bedeutung erhält deshalb die Arbeit in einem leistungsorientierten Team, bei dem die Freude an der Arbeit und am gemeinsamen Projekt im Vordergrund steht. Die Tätigkeit ist zeitlich bis zum 31.12.2011 begrenzt. Wenn Sie dies als Chance für Ihre berufliche Zukunft werten, senden Sie bitte Ihre umfassenden Bewerbungsunterlagen unter Angabe Ihres Eintrittstermins sowie Ihrer Gehaltsvorstellungen bis spätestens 21. November 2008 an: Bundesgartenschau Koblenz 2011 GmbH Kastorpfaffenstraße 21, 56068 Koblenz Telefon 02 61 / 70 20 11; www.buga2011.de
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Das Deutsche Historische Institut Paris, ein Forschungsinstitut der öffentlichrechtlichen Stiftung Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland DGIA, sucht zum nächstmöglichen Zeitpunkt eine/n
Historikerin/Historiker für das Fachreferat »Zeitgeschichte nach 1945« sowie den Aufbau und die Betreuung einer Nachwuchsforschergruppe. Voraussetzungen: hervorragend abgeschlossenes Promotionsverfahren in neuerer und neuester Geschichte, möglichst zu einem Thema mit Frankreichbezug, gute Kenntnisse der französischen Sprache und Forschungserfahrung in Frankreich. Erwartet wird der Entwurf für den Aufbau eines neuen Forschungsschwerpunktes am Institut, der neben dem eigenen Arbeitsvorhaben die Auswahl und Betreuung weiterer Nachwuchswissenschaftler umfasst. Die wissenschaftliche Anleitung von Stipendiaten bzw. einer Nachwuchsforschergruppe sowie die enge Zusammenarbeit mit deutschen und französischen Kollegen gehören ebenso zu ihren Aufgaben wie die Organisation wissenschaftlicher Veranstaltungen und die Mitarbeit an den allgemeinen Institutsaufgaben. Die Vergütung erfolgt nach Entgeltgruppe 13 TVöD/Bund zuzüglich Auslandsdienstbezügen nach den Bestimmungen des öffentlichen Dienstes. Die Stelle ist befristet für die Dauer von 3 Jahren zu besetzen. Die Stiftung fördert die Gleichstellung von Frauen und Männern. Bewerbungen unter Beifügung von Zeugnissen, Lebenslauf, Schriftenverzeichnis sowie Beschreibung des geplanten Forschungsprojekts (Umfang max. 5 Seiten) sind bis zum 15.12.2008 (Poststempel) zu richten an die Direktorin des DHI Paris: Prof. Dr. Gudrun Gersmann, Deutsches Historisches Institut Paris, Hˆ otel Duret de Chevry, 8, rue du Parc-Royal, FR-75003 Paris, FRANKREICH
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HOCHSCHULVERWALTUNG
Kontakt Ihre Ansprechpartnerin zum Thema Personalmarketing an Hochschulen ist: Andrea Brandhoff Tel.: 040/32 80 396
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Das Departement Bau, Umwelt- und Geomatik D-BAUG, sucht per 1. März 2009 oder nach Vereinbarung einen/eine
Studienleiter/in MAS-Programm Raumplanung Sie sind verantwortlich für die operative Leitung und die Weiterentwicklung der erfolgreichen, berufsbegleitenden Nachdiplomausbildung in Raumplanung (www.masrp. ethz.ch). Dazu gehören die Konzeption, die Koordination, die Durchführung, die Evaluation und Weiterentwicklung von Aus- und Weiterbildungsangeboten, die Überwachung der Ressourcen sowie die Pflege guter Beziehungen zu Studierenden und Dozierenden inner- und außerhalb der ETH, zu Vertreter/innen von Verbänden, Behörden, und Unternehmen sowie zu den Medien. Sie verfügen über ein abgeschlossenes Hochschulstudium in einer der Raumplanung nahe stehenden Disziplin, Sprachen D, E und F, Promotion erwünscht. Berufserfahrung im In- und Ausland sowie Erfahrungen im Lehrbereich runden das Profil ab. Die Stelle setzt Selbständigkeit, Leistungsbereitschaft und Fähigkeit zur interdisziplinären Zusammenarbeit, Team- und Kommunikationsfähigkeit. Wir bieten Ihnen die Möglichkeit, sich in einem innovativen Bereich des Weiterbildungsmanagements zu betätigen und sich in Fragen der Raumentwicklung zu vertiefen. Auskünfte erteilen Ihnen gerne der Delegierte für das MAS-Programm Raumplanung, Herr Prof. Dr. Bernd Scholl, Tel. +41 (0)44 633 30 03, oder der derzeitige Studienleiter, Herr Peter Keller, Tel. +41 (0)44 633 29 94. Wir bevorzugen Online-Bewerbungen unter www.jobs.ethz.ch. Ihre schriftlichen Unterlagen mit dem Stellencode HAWI915 senden Sie bitte an: ETH Zürich, Herr Hans-Peter Widmer, Human Resources, Postfach, 8092 Zürich
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WISSENSCHAFTLICHE MITARBEITER
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Das Karriereportal der Wissenschaft von:
Das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) Gemeinsame Einrichtung von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung sucht ab sofort eine(n)
Wissenschaftliche/n Mitarbeiter/in (Ärztin/Arzt / Gesundheitswissenschaftler/in) in Vollzeit (Teilzeitarbeit ggf. möglich) zunächst befristet auf 2 Jahre. Die Vergütung erfolgt nach Haustarif (analog TVöD). Arbeitsschwerpunkte: EbM sowie Projekte in der Erstellung / Koordination von medizinischen Leitlinien. Voraussetzungen: Abgeschlossenes Studium der Medizin, Zusatzqualifikation in Public Health, Epidemiologie wünschenswert, Interesse an wissenschaftlichem Arbeiten, gutes Englisch in Wort und Schrift, Teamgeist und überdurchschnittliches Engagement. Gewünscht: Interesse an Evidenzbasierter Medizin, HTA, ärztlichem Qualitätsmanagement, Kenntnisse in MS-Office. Geboten: Moderner Arbeitsplatz in einem dynamischen Umfeld. Möglichkeiten zur fachlichen Weiterbildung und Promotion. Flexible Arbeitszeitregelung und gute Sozialleistungen. Für weitere Auskünfte stehen wir Ihnen unter Telefon 030 4005 2500 gerne zur Verfügung. Ihre aussagekräftigen Bewerbungsunterlagen richten Sie bitte an den Leiter des ÄZQ Prof. Dr. Dr. med. G. Ollenschläger Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin Wegelystraße 3/Herbert-Lewin-Platz 10623 Berlin E-Mail:
[email protected] http://www.azq.de
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0931/6001758 Sie möchten Ihre Anzeige elektronisch übermitteln und haben noch Fragen? Dann rufen Sie uns gern an. Informationen zum Datenversand per ISDN, per E-Mail oder auf Datenträger erhalten Sie gern über unsere o. g. Service-Nummer.
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FÖRDERER DER WISSENSCHAFT
Promotionskolleg „Die Produktivität von Kultur – Die Kultur- und Kreativwirtschaft unter den Bedingungen globalisierter Mediennetzwerke“ Im Rahmen des von der Hans-Böckler-Stiftung und der Ruhr Universität Bochum eingerichteten Promotionskollegs sind ab dem 01.07.2009 acht Promotionsstipendien für eine Laufzeit von maximal drei Jahren zu folgenden Forschungsschwerpunkten zu vergeben: Kulturalisierung der Ökonomie mit Blick auf Binnenstrukturen der Kultur- und Kreativwirtschaft Partizipative Produktionsformen, Netzwerkeffekte und die Entfaltung der „Prosumer“-Kultur Paradigmatische Funktionen von Informations- und Erfahrungsgütern für andere Bereiche der Ökonomie Beziehungen zwischen Kultur- und Kreativorganisationen und ihrer Umwelt Medialisierung von Arbeit und Kommunikation in der Kulturund Kreativwirtschaft Das Kolleg wird getragen von: Prof. Dr. Vinzenz Hediger, Institut für Medienwissenschaft Prof. Dr. Ludger Pries, Fakultät für Sozialwissenschaft Sowie durchgeführt in Kooperation mit Prof. Dr. Michael Hutter, WZB, Berlin Über die Stipendien wird nach den Richtlinien des BMBF und den Förderungskriterien der Hans-Böckler-Stiftung entschieden. Bewerber und Bewerberinnen müssen einen überdurchschnittlichen Studienabschluss sowie ein ausgeprägtes gewerkschaftliches oder gesellschaftspolitisches Engagement nachweisen. Die Bewerbungsunterlagen finden Sie unter: http://www.boeckler.de/473.html Die Bewerbungsunterlagen sind zusammen mit einem Expos´ e (ca. 10 Seiten), in dem das geplante Vorhaben skizziert und in das Forschungsprogramm des Kollegs eingeordnet wird, bis zum 15.01.2009 zu senden an: Prof. Dr. Vinzenz Hediger Institut für Medienwissenschaft Ruhr Universität Bochum Universitätsstraße 150 44780 Bochum Nähere Informationen können Sie zudem beim Sprecher des Kollegs, Prof. Dr. Ludger Pries erhalten. Das Gesamtkonzept des Kollegs kann im Internet unter folgender Adresse eingesehen werden: (http://www.produktivitätvonkultur.de)
Ausschreibung von 3 Promotionsstipendien: Von der Hans-Böckler-Stiftung sind im Rahmen einer Nachwuchsforschergruppe „Ausgrenzungsrisiken junger Erwachsener im Übergang in die Arbeitsgesellschaft“ der Universität Kassel, Fachbereich Sozialwesen ab dem 01.07.2009 drei Promotionsstipendien zu vergeben. Die Themenschwerpunkte: – Junge Migranten und Migrantinnen zwischen Jugendhilfe und Arbeitsvermittlung – Junge Elternschaft zwischen traditionellen Geschlechterarrangements und neuen Aushandlungsdynamiken – Ethnographische Studie zur Begleitung und Sanktionierung junger Menschen auf den Schnittstellen Arbeitsvermittlung, Straffälligenhilfe, Psychiatrie und Jugendhilfe Nähere Informationen finden Sie unter: http://cms.uni-kassel.de/index.php?id=7792 Die Laufzeit der Stipendien beträgt max. 3 Jahre. Über die Stipendien wird nach den Auswahl- und Förderungskriterien der Hans-Böckler-Stiftung entschieden. Bewerberinnen und Bewerber müssen einen überdurchschnittlichen Studienabschluss (mindestens Note ,gut‘) sowie ein gewerkschaftliches oder gesellschaftspolitisches Engagement nachweisen. Vollständige Bewerbungsunterlagen bitte bis zum 15.01.2009 an: Prof. Dr. Mechthild Bereswill, Universität Kassel, Fachbereich Sozialwesen Arnold-Bode-Straße 10, 34127 Kassel Hinweise zur Bewerbung und entsprechende Unterlagen finden Sie unter: http://www.boeckler.de/459.html
Das Department of Germanic & Slavic Languages der Vanderbilt University, Nashville/TN vergibt zum Herbst 2009
vier Promotionsstipendien (Ph.D.)
STELLENGESUCHE
im Bereich Neuere Deutsche Literatur und Kultur. Stipendien in Höhe von $ 22.500 jährlich werden für max. fünf Jahre gewährt, Studiengebühren und Krankenversicherung übernommen. Exzellente KandidatInnen können für zusätzliche Stipendien vorgeschlagen werden (je $ 6.000–10.000 jährlich für max. fünf Jahre). Beteiligung an Lehre und Forschung ist Bedingung. Informationen unter www.vanderbilt.edu/german. Bewerbungsvoraussetzungen sind ein abgeschlossenes Studium (B.A., M.A. bzw. Äquivalent) und überdurchschnittliche Studienleistungen. Bewerbungen sind bis spätestens 25. Januar 2009 unter www.vanderbilt.edu/gradschool einzureichen, einschl. Studienzeugnissen, Lebenslauf, Ergebnissen des TOEFLTests, ca. 20-seitiger Arbeitsprobe, dreier ausführlicher Gutachten sowie eines Schreibens, das die Bewerbung begründet und Studienpläne darstellt.
Philosophin mit Universitätsabschluss sowie Bachelor in Business Administration 30 Jahre, fließend Deutsch, Englisch, Russisch und Ukrainisch beherrschend sucht eine neue Herausforderung im geisteswissenschaftlichen Bereich ZA 92684 DIE ZEIT, 20079 Hamburg
Organisator / 48 Jahre Industriekaufmann/Diplommusiklehrer mit effizientem wirtschaftl. Denken und Handeln; auslands und personalerfahren sucht neue Herausforderung
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Für Fragen stehen der Director of Graduate Studies, Christoph Zeller,
[email protected], und der Chair des Departments, Dieter Sevin,
[email protected], gerne zur Verfügung.
DOKTORANDEN
Stellengesuche 6 Zeilen 20 mm / 45 mm Preis: € 61,88
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8 Zeilen 30 mm / 45 mm Preis: € 92,82
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Anzeigenschluss jeweils Di, 14 Uhr
10 Zeilen 20 mm / 91,5 mm Preis: € 123,76
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