Antonio Cho Das Gespenst des Individualismus Ich jedenfalls möchte wohl tatsächlich, glaube ich, Tyrann werden, am liebsten über alle Menschen, wenn aber nicht, über möglichst viele. Aber auch du, glaube ich, und alle anderen Menschen möchten dies gerne, vielleicht aber noch lieber ein Gott sein. Theages (12 jährig) im Dialog mit Sokrates (unechter „Platon-Dialog“)
... Ebenso wenig ist die Kollektivität eine Möglichkeit und ein Mittel, die Ichsucht zu befriedigen. Leopold von Wiese, 1964
Der Individualismus setzt einen Gebrauch der Freiheit voraus, indem das Subjekt macht, was es will und was ihm nützlich erscheint, indem es selbst „die Wahrheit“ dessen, was ihm beliebt, „festlegt“: Es duldet nicht, dass andere von ihm etwas im Namen einer objektiven Wahrheit „wollen“ oder fordern. Es will einem anderen nicht auf der Grundlage der Wahrheit „geben“, es will nicht zu einer „aufrichtigen“ Hingabe werden. Der Individualismus bleibt somit egozentrisch und egoistisch. Papst Johannes Paul II., 1994
Am Anfang war die Unterwerfung Was kann ich als Einzelne oder als Einzelner gegen die übermächtigen Verhältnisse, in denen ich lebe, ausrichten? Das ist die Urerfahrung der Individuen in der Menschheitsgeschichte, die immer auch eine Geschichte der kulturell vielfältigen Gestaltungen der Unterwerfung der Einzelnen unter die Diktatur von Gemeinschaft und Gesellschaft ist, Gestaltungen die von den äußeren Lebensformen bis in die seelischen Tiefen der einzelnen Persönlichkeiten reichen. Dagegen stand und steht die Kultur der Auflehnung, der Unbotmäßigkeit, des Ungehorsams, ja der Emeute: des Aufstands und Aufruhrs, der Empörung, der Revolte, des Streiks und der Verweigerung – ein zunehmender Anspruch auf Selbstbestimmung und Autonomie der Individuen. Die schlimmste Ketzerei wider den heiligen Geist der ewigen Wahrheit ist jedoch der Anspruch der Einzelnen, jede und jeder für sich, die alleinige und letzte Instanz zu sein, die bestimmt, welchen Wert oder Unwert irgendwelche Dinge des Lebens und Ereignisse dieser Welt für sie oder für ihn haben. Das schlimmste Vergehen wohl zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte war, ist und wird sein, der Gemeinschaft seinen Dienst zu versagen – schlimmer noch als Mord, Vergewaltigung, Folter, Raub, falls diese im Dienste des Kampfes für irgendeine Gemeinschaft stehen. Zwar gibt es heute Völker- und Menschenrechte, die solches kriminalisieren und garantieren sollen, dass jeder Mensch nach seinen persönlichen Ansprüchen leben kann. Doch der Egoist wird in der Hölle braten, und die Rechtschaffenen denken heimlich oder sagen es offen: „Recht geschieht ihm...“, denn am jüngsten Tage wird die Siegermacht der ewigen Wahrheit und der Werte der Gemeinschaft über die Hybris der Eigenartigen, Einzigartigen und ihre hochmütige Selbstbestimmung zu Gerichte sitzen – obgleich dies die weltlichen Instanzen der Gesellschaft zumeist schon vorher getan haben.
Solipsismus – Narzissmus Mir geht nichts über Mich. Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, 1844
Wir sehen auch im groben einen Gegensatz zwischen Ichlibido und Objektlibido. Je mehr die eine verbraucht, desto mehr verarmt die andere. Sigmund Freud, Zur Einführung in den Narzissmus, 1914
Hat je ein Philosoph ernsthaft an die Variante im erkenntnistheoretischen Gedankenspiel geglaubt: „Es gibt nur mich, und alle anderen sind ausschließlich Produkte meiner Phantasie“? Der Begriff des „Solipsismus“, ein absurder, aber philosophisch unwiderlegbarer Jux, war wie geschaffen dafür, auch jenem Gesichtspunkt im Ethikdiskurs, der allein die Autorität des Einzelnen über Wert und Unwert anerkennt, zum vornherein den Geruch des Absurden zu verleihen oder gar den des Monströsen, Teuflischen. Dabei müsste ein Solipsist, wenn es ihn denn gäbe, der selbstgenügsamste Mensch auf Erden sein. Das wussten im 17. Jahrhundert schon Dichter wie Jakob Balde (1604-1664) und Angelus Silesius (1624-1677 / „Cherubinischer Wandersmann“, 1674), für welche die Selbstliebe in mystischer Selbstschau zum Selbstgenügen führt. Doch geht es hier nicht um philosophische Terminologie, sondern um Bilder für die Abgründe und Anhöhen der menschlichen Seele. Bereits für den Kirchenvater Augustinus (354-430) gilt die Selbstliebe („amor sui“) als der Anfang aller Sünden und die Wurzel allen Übels („De civitate Dei“ / „Vom Gottesstaat“, 413-26) und auch für den Mystiker Meister Eckhardt (1260-1328) ist die „eigenminne“ wie alles Eigene des menschlichen Willens als Fremdes zu betrachten und zu verneinen, damit sich Gottes Liebe in ihm entfalten kann; die Hinwendung zu sich aber ist die Hinwendung zur Finsternis („Predigten 6“ / 1313-22). Die „amor sui“ oder „amor privatus“ hält von der Nachfolge Christi ab; frei sein heißt, nichts selbst sein wollen (Thomas von Kempen [1379-1471, „Nachfolge Christi“, 1420). Zuvor schon haben italienische Franziskaner dargelegt, dass der Mensch im Sündenfall den wahren „ordo amoris“ („Liebesordnung“) umgekehrt hat, indem er sich in Selbstliebe selber umarmt und an die Stelle des Schöpfers setzt. Um wieder allen Menschen in Liebe verbunden sein zu können, bedarf es der Vernichtung des Selbst und des Selbsthasses (Iacopone da Todi [1230-1306]: Le Laude, Nr. XLIII, 9-12). Außerhalb des christlichen Mythos finden sich solche Perspektiven noch früher ausgeprägt im asiatischen Buddhismus. Die Tradition des Augustinus und der Mystik setzt sich über die Jahrhunderte hinweg fort in der Rede von „amor propio“, „amor di sé“, „propria carità“ (Dante, 1265-1321), „amer soi meismes“, „amour propre“, „amour de soi“, „eygen lieb“, „philautia“ (Spinoza, 1632-1677), „self-love“ (Francis Bacon, 1561-1626), und wie das Gift der Selbstliebe auch immer genannt wird. Das Schreckgespenst von Ichsucht, Selbstsucht, Egoismus, Egozentrik, Ichbezogenheit, Selbstbesessenheit, ja der Ich-Trunkenheit in Lieblosigkeit und Sichversagen, scheint auch noch den Kulturkritiker Sigmund Freud (1856-1939) bewegt zu haben, als er für die kindliche Entwicklung einen „primären Narzissmus“ postulierte, in dem die Liebe zu sich und zu anderen sich konkurrieren würden. „Seelische Gesundheit“ wird zu großen Teilen nach dem Maß der Reifung zur Gemeinschaftstauglichkeit und der gesellschaftlichen Bedürfnisse definiert. „Egoismus“ und „Narzissmus“, vorerst und bis heute durchaus im disqualifizierenden Wortgebrauch, lösen im 20. Jahrhundert das Wort „Selbstliebe“ ab. Der Colditzer Psychiater, Kriminal-Anthropologe und Rassenhygieniker, Paul Näcke (der 1907 auch Karl Mays Geisteszustand begutachten musste) hat den Begriff „Narzissmus“ („Die sexuellen Perversitäten in der Irrenanstalt“, 1899) als „Selbstverliebtheit“ und „schwerste Form des Autoerotismus“ in die psychologische Literatur eingeführt. Narziss als Symbol der Selbstliebe zu betrachten, war schon ein Einfall des Philosophen Francis Bacon; doch erst das 19. Jahrhundert (vor allem die Epoche der Décadence) stilisierte die Figur des Narziss zum Symbol des Lebensgeizes und des (negativ gesehenen) Egoismus. Für die vorherigen Jahrhunderte war Narziss vor allem ein Beispiel für hoffnungslose Liebe, für ein durch Illusion getäuschtes Opfer. Doch die antike Sage lässt sich auch anders interpretieren; etwa als Bild von der Tragik der Selbsterkenntnis des leidenschaftlich Liebenden: „Lieben – ich muss es und schauen; doch was ich
erschaue und liebe, / Kann ich nicht greifen: den Liebenden hemmt eine mächtige Täuschung. / ... / Ach, ich bin es ja selbst! ich merk es, mein Bild ist mir deutlich! / ... / Oh, wenn ich doch vom eigenen Leib mich zu trennen vermöchte!“ (Ovid / 43v.u.Z.-ca. 17: Metamorphosen, III/446 ff) Nicht Selbstliebe ist das Fatum, sondern die tödliche Unerträglichkeit der Erkenntnis, dass die Verschmelzung von Eigensein und Welt für immer Illusion bleibt. Die Abwehrmechanismen der gesellschaftlichen Angst vor den Ansprüchen von Eigensein sind auch im Unbewussten der großen Denker und Forscher verinnerlicht. Beim Gegenstand des „Ich- oder Selbstgefühls“ wird die ängstliche Sorge um sich mit der Liebe zu sich verwechselt. Der schöne Jüngling Narkissos wird von der Göttin Artemis nicht wegen irgendwelcher „Selbstliebe“ mit der drohenden Verzweiflung über die Erkenntnis, dass sein Geliebter nur sein Spiegelbild ist, bestraft, sondern für seine Ablehnung aller Liebe der Männer und Frauen, seine eigenwillige Verweigerung der Hingabe. Außerdem wäre der heutigen psychopathologischen Terminologie entgegen zu halten, dass sogenannt „narzisstisch Gestörte“ nicht „in sich selber verliebt“ sind, sondern an ihrer extremen Abhängigkeit von Zuwendung und Wertschätzung durch andere, an einer tiefliegenden Verlustangst, leiden. Der Wahn, als etwas Besonderes Beachtung finden zu müssen, die zwanghafte Beschäftigung mit der eigenen Großartigkeit, mit Phantasien grenzenlosen Erfolges, Macht, Glanz, Schönheit, idealer Liebe dienen lediglich der Abwehr drohender Angst vor Geltungs- und Identitätsverlust. Selbstverständlich geht mit der zwanghaften Beschäftigung, wie sehr ich bei anderen (!) zur Geltung komme oder nicht, ein Mangel an Einfühlungsvermögen, nagender Neid, eine krasse Anspruchshaltung und eine übermäßige Empfindlichkeit gegenüber aller Kritik einher – doch die Diagnose müsste lauten: (Selbst-) Angst, nicht (Selbst-) Liebe. Der Kult um das „Ego“ verdeckt nur die zwanghaft ängstliche Sorge um die eigene Position; es sind Formen, Gestaltungen der Angst vor dem Nichtsein, vor dem Ein-Nichts-sein, vor dem kränkenden Ausschluss aus der Gemeinschaft. In Bezug auf die ängstliche Sorge um mich oder um andere wäre Freuds Feststellung wohl zutreffend: „Je mehr die eine verbraucht, desto mehr verarmt die andere.“; wenn sie von ihrem Autor im Kontext seiner Triebtheorie auch etwas anders gemeint ist. Doch der moralischen Belehrung, dass die Kollektivität kein Mittel sei, die Ichsucht zu befriedigen, bedarf Eigensein nicht. Wofür soll „die Gesellschaft“ denn da sein, wenn nicht mir zuhanden? Selbst in einer Zeit, in der immer mehr Einzelne, vor allem in der Anonymität der Großstädte, an seelischer Isolation leiden, besteht das Weltproblem keineswegs in Horden von Egoisten, die nur danach trachten, ihre eigenen Bäuche vollzuschlagen. Machen wir uns nichts vor: die Einzelnen haben immer das Nachsehen, es sei denn, sie wären mächtig (d.h. reich) genug, sich weniger um gesellschaftliche Diktate kümmern zu müssen. Aber nur ganz wenige sind so mächtig. Und selbst ihre Macht ist klein gegenüber der Macht der Gesellschaft. Wird die „Würde von Eigensein“ auf die Throne der Herrscher über alle Ethik erhoben, so hat dies nichts zu tun mit Verherrlichung der seelischen Not jener, welche, aus zwanghafter Sorge um sich, unfähig sind, auch für andere zu sorgen. In der Realität des Lebens lässt sich das Gegenteil beobachten: Je souveräner die sich eigene Person in sich selbst ruht, desto differenzierter erscheint auch ihr Sinn für die Not anderer.
Die Verderbnis des Individualismus Dass kein Herr auf Erden sein soll, denn nur einer ist Herr, Christus selbst! Joseph Priestley, 1769 individualistischer englischer Dissidenterprediger, Entdecker des Sauerstoffs
Auf dieser Welt müssen das Vormachtsstreben, die Arroganz und der Egoismus ausgerottet werden. Fidel Castro 1998
Es geht hier nicht um eine Verteidigung des historischen Begriffs vom Individualismus, der ursprünglich (Claude-Henri de Saint-Simon / 1760-1825) in seiner negativen Bedeutung gegen die aufklärerische Idee
des Gesellschaftsvertrages (die politische Herrschaft als selbst geschaffenes Rechtsverhältnis, dem man sich freiwillig unterwerfe) gerichtet war. Die Unterwerfung unter den „Gesellschaftsvertrag" geschieht ja nicht freiwillig, sondern erzwungen, denn die Einzelnen sind zuerst einmal in eine Gesellschaftsordnung hinein geboren, die sie nicht gewählt haben. Natürlich ist Einsicht in Notwendigkeit der Anpassung möglich. Doch das Verhältnis von Individuum und Staat ist kein Vertrag, sondern ein Machtverhältnis, in das man ohne eigenes Zutun geworfen ist. Dem Staat geht weder ein friedlicher, noch ein kriegerischer Naturzustand ursprünglich freier Einzelner voran, „der Mensch“ ist nicht frei geboren. Nicht nur in der „bürgerlichen“ Gesellschaft (wie Karl Marx [1818-83] unterstellt), sondern in jeder Gesellschaft ist der Einzelne unfrei, darum kann es nicht um „die Freiheit“ gehen, sondern um Freiräume selbstbestimmter Lebensgestaltung. Positiv gewendet wird der „Individualismus“ in der Aufklärungsphilosophie vorerst zum Begriff der Befreiung des Individuums aus den absolutistischen und klerikalen Bindungen und schließlich zum Inbegriff des Willens, den Interessen, Bedürfnissen und Rechten des Individuums Vorrang vor denen der Gesellschaft zu geben. Eine nicht repräsentative Stippvisite in die jüngere Geschichte der Angst vor dem Individualismus: • Anfang des 19. Jhs. wird der Individualismus-Begriff zum Schreckgespenst stilisiert, als widernatürliches Zerreißen des Zusammenhangs von individuellem Gewissen und öffentlicher Meinung („Doctrine de Saint-Simon“, später auch bei Isidore-Marie-AugusteFrançois-Xavier Comte / 1798-1857, „Catéchisme positiviste“, 1852). Noch beim französischen Staatsdenker und Politiker Alexis de Tocqueville (1805-1859), erscheint das Wort „Individualismus“ nur mehr moralisch abwertend, als Gefahr, dass die Masse isolierter Individuen dem Despotismus eines Diktators erliegen könnten („De la démocratie en Amérique“, 1835) – womit er, so wie er es meint, wohl nicht so unrecht hat. Später aber, von England ausgehend, wurde der Begriff „Individualismus“ zur Grundlage des Liberalismus. • Kritik kam dann wieder von den Gemeinschaftsromantikern vor allem gegen die vom Individuum her konstruierten Staats- und Wirtschaftssysteme („Laissez faire, laissez passer, le monde va de lui-même“ / „Lasst, machen, lasst gehen, die Welt funktioniert von selbst“ / Schlagwort des wirtschaftlichen Liberalismus im 18. und 19. Jahrhundert). • Individualismus wird gebrandmarkt als anti-humanistische Loslösung von der Gesellschaft, • als entgegengesetztes Extrem zum Kollektivismus / Sozialismus. • Der Individualismus verstehe den Menschen als bloße Summe der einzelnen Menschen ohne innere Einheit, Gesellschaft sei dann nur ein System utilitaristischen Interessenaustausches (ohne ideale Werte). • Die Kritik Friedrich Nietzsches (1844-1900), der darin uneingestandenermaßen z.T. auf Max Stirner (1806-1856) zurückgreift, ist schon differenzierter. Bei ihm ist es nicht die Angst vor dem Individualismus, sondern ein Belächeln. Er verachtet den tugendhaften Menschen, der „nur Mensch“ (als allgemeines Schema) ist und keine „Person“ [die Unterscheidung stammt von Stirner, welcher statt Person „Ich“ sagt], er habe seinesgleichen, und solle nicht einzeln [Stirner: einzig] sein: „Der Individualismus ist eine bescheidene und noch unbewusste Art des ‚Willens zur Macht’; hier scheint es dem einzelnen schon genug, freizukommen von einer Übermacht der Gesellschaft ... was er erkämpft, das erkämpft er nicht sich als Person, sondern sich als Vertreter einzelner gegen die Gesamtheit ... der Sozialismus ist bloß ein Agitationsmittel des Individualismus ... was er will ist nicht die Sozietät als Zweck des einzelnen, sondern Sozietät als Mittel zur Ermöglichung vieler einzelnen ... der Anarchismus ist wiederum bloß ein Agitationsmittel des Sozialismus ... er zieht die Mutigen, die Gewagten auf seine Seite, selbst noch im Geistigsten. Trotz alledem: der Individualismus ist die bescheidenste Stufe des Willens zur Macht.“ Für Nietzsche soll diese Treppe vom Herdenschaf zur gemeinsamen Befreiung, dann zu den Vorrechten, der Rangordnung und schließlich der „alleinigen Macht“ des Stärkeren führen. Der Individualist der Gleichberechtigungs-Kampfgemeinschaft bleibt
„ein kleines, liebes, absurdes Schaf mit Hörnern“. (GW Bd. III, 604ff / Schlechta-Ausg.) Das sind kraftvolle Worte, aber jenseits des Mitlebens in real existierenden Machtverhältnissen gesprochen.
Vive les libertins! Je le soupçonne encore d'être un peu libertin: Je ne remarque point qu'il hante les églises. Molière: Tartuffe (V.524f), 1669
live the life you love T-Shirt-Aufdruck, 1997
Jedem gesellschaftlichen Diktat seine Häresie. Doch die Gesellschaft schenkt dir nichts; zum libertinus, dem freigelassenen Sklaven, musst du dich schon selber machen, denn deine Freiheit wird dir von niemandem gegeben. „Libertin“ beginnt als Schimpfname, mit dem man Häretiker belegt. So beschimpfte Calvin (1509-1564) die Wiedertäufer als üble Bande von Libertins (1545: „Contre la secte phantastique et furieuse des Libertins, qui se nomment Spirituels“ / „Wider die versponnene und tobende Sekte der Libertins, die sich Geistliche nennen“), denn sie beanspruchten Glaubensfreiheit, wollten Gott überall in der Natur sehen, betrachteten die bestehenden Religionen als rein politische Erfindungen und postulierten, die Kirche könne nur aus bewusst Freiwilligen bestehen. Da haben die katholischen Apologeten auch nicht zugewartet, flugs all jene, deren religiöse und moralische Verhaltensweisen von der römischen Rechtgläubigkeit abwichen, als Libertins zu schmähen.
Epicuri de grege porcorum Ibi nullus timet mortem, sed pro Baccho mittunt sortem. Primo pro nummata vini; ex haec bibunt libertini ... [Keiner fürchtet hier den Tod, sondern spendet sein Vermögen Bacchus. Als erstes auf die an Wein reiche Schenke trinkt das lockere Volk ...] Carmina Burana, In taberna, 13. Jh.
Damit war auch schon die Idee der Libertinage geboren, vorerst als kleines Monster des ausschweifenden Übermaßes an moralischer und religiöser Freiheit, bald aber auch als elitäre Überzeugung von der Notwendigkeit eines Doppellebens nach dem Motto: „Intus ut libet, foris ut moris est“; für sich privat oder im Zirkel der Eingeweihten huldigte man einer Freizügigkeit, welche der Öffentlichkeit, in der man sich den herrschenden Sitten entsprechend gibt, verborgen bleiben soll. Die Selbstironie des römischen Dichters Horaz (65-8 v.u.Z.), welcher sich, als Liebhaber des Weins und der Frauen, „epicuri de grege porcorum“ (ein „Schwein aus der Herde Epikurs“ / Episteln, Buch 1, 4,16 / 20 v.u.Z.), nennt, wird von den Moralpriestern zur Beschimpfung verkehrt. Der Libertin glaubte weder an den Kultus, noch an die Dogmen der römischen Religion, entzog sich den Vorschriften der Kirche, den Regeln der Gemeinschaft und als Schriftsteller zugleich den Normierungen der Sprache. So wurde im Frankreich des 17. Jahrhunderts die Libertinage zum Privileg von Aristokraten, die sich damit auch gegen die staatliche Zentralisierung auflehnten. Immer stärker sollte der Begriff des Libertin die Abweichung von der sozialen Norm kennzeichnen: intellektuell als den Atheisten, den Gottlosen, den Freidenker; moralisch als wollüstig, dem Wein und den abwegigsten sexuellen Vergnügungen ergeben, ohne jedes Maß; und schließlich gesellschaftlich als den Vagabunden oder gar Banditen. Im Sprachschatz des 18. Jahrhunderts fluktuierte die Bedeutung der „Libertinage“ zwischen Mondänität und sozialer Ausschließung, Sinnlichkeit und Intellektualität. Selbst die Aufklärung – gewissermaßen als Zeitalter der Vernunft gemäß den Bedürfnissen des Kollektivs – vermochte vom Image der Libertinage als Inbegriff des Bösen nicht ganz abzusehen. Ihre moralischen Maßstäbe waren nun geprägt vom Diktat des sozial Nützlichen und der Libertin verfiel der
Kritik am ausschweifenden Leben und an den „Sonderrechten“ des verkommenen Adels; im Namen der Natur, zu welcher die Sexualität zwar gehört, wurden Kreuzzüge gegen die Selbstbefriedigung und den Horror der Geschlechtskrankheiten geführt. Doch wurde der Bedeutungsgehalt des „Libertin“ zunehmend ambivalent. Indem sich die Revolution für die moralische Regeneration stark machte, verstrickte sie sich damit auch in Widersprüche zum eigenen Freiheitsideal. Verbreiteten die Revolutionäre Pamphlete gegen die „Vie privée, libertine et scandaleuse...“ (das „private, zügellose und skandalöse Leben“) von Königshaus und Adeligen, donnerte Jean Paul Marat (1743-93), dass die „libertins crapuleux“ („schändlichen Libertins“) zu bestrafen seien, wurde derselbe Marat nach Ablösung der Jakobinerherrschaft von den Termidorianern zum perfekten Epikureer und Apostel der Libertinage mutiert, während das Regime der Termidorianer von den Montagnards des Directoire der Rückkehr zu Verderbtheit und Libertinage bezichtigt ward. Aber die Revolution ist auch unter dem Schlagwort der Ablehnung der Libertinage durchgeführt worden – „Libertinage“ nicht mehr als Widerstand gegen das Diktat der Normen, als intellektueller Nonkonformismus und sexuelle Befreiung verstanden, sondern als sexuelle Perversion, als Verschwendungssucht der Aristokratie, als Nutzlosigkeit des Klerus und als Gewalttätigkeit des Volkes. Die Rolle, welche die Sittenskandale auch in den zeitgenössischen politischen Kämpfen spielen und mit deren Hilfe die Medien um ihre Auflagen kämpfen, zeigt, mit welcher Lüsternheit auch die heutigen Menschen Skandalberichte konsumieren.
Land des Wahns Der Aufruhr ... ist keineswegs ein moralischer Zustand und dennoch muss er der permanente Zustand einer Republik sein... Marquis de Sade, La philosophie dans le boudoir (anonym), 1795
Doch der Zwiespalt der moralischen Entrüstung, ihre offenkundige oder verdeckte Bigotterie, betrifft nicht nur den Bereich der Sexualität, weit darüber hinaus wurzelt er im Zwiespalt zwischen dem Bedürfnis nach freier Selbstbestimmung und dem Bedürfnis nach Geborgenheit in der Unterwerfung unter die gesellschaftlichen Konventionen. Selbst ein erklärter Libertin wie Donatien Alphonse François Marquis de Sade (1740-1814) war nicht frei davon. Als Phantast der Wollust und des Bösen, der sexuellen Despotie, wandte er die herrschende Tugendlehre einfach in ihr Gegenteil: „Die Tugend des richtig denkenden Menschen ist die, jeden möglichen Genuss zu erreichen und jeden möglichen Wunsch zu befriedigen.“ – zugleich aber forderte er die aufgeklärte, egalitäre Gesellschaft. In der Glut der Revolte des Abnormen formen sich neue Normen. So wird später der französische Dichter Arthur Rimbaud (185491) programmatisch verkünden: Der Dichter „ist die zur Norm werdende Abnormität... der große Kranke, der große Verbrecher, der große Verfemte – und der höchste aller Wissenden“ („Lettres du voyant“ / „Seher-Brief“ an Paul Demeny, 1871). Der selbsternannte Chevalier de Seingalt, Giacomo Girolamo Casanova (1725-98, „Histoire de ma vie“), erklärte das Französische zur Sprache der Libertinage, die schließlich für ganz Europa zum französischstämmigen, zugleich erschreckenden und faszinierenden Mythos geworden ist. Die Idee der Libertinage stellt den Lustgewinn der einzelnen Person über die gesellschaftlichen Zwänge, verworfen werden die Ordnungen und Vorschriften, welche stets den Fluss und die Impulse des unmittelbaren Lebens blockieren. Schon Jean-Jacques Rousseau (1712-78) war von der notwendigen Unversöhnlichkeit zwischen Ich und Welt überzeugt – Psychopathen sind manchmal hellsichtiger, als die allzu sehr im Gefängnis der Normalität Eingesperrten. „Lieber gehasst als normal zu sein“, das ist, ob bewusst oder nicht, bereits ein Aspekt der Logik der Libertins; eine Einstellung, die man auch bei den Dichtern des folgenden Jahrhunderts wieder findet, den „poètes maudits“ („verfemten Dichtern“), wie Paul Verlaine (1844-96 / „Les Poètes Maudits“, 1884) sie unter einem Begriff von Alfred Comte de Vigny (1797-1863 / in „Stello“, 1832) beschreibt: Dekadenz als Literatur- und Lebensform. Über den objektiv unüberbrückbaren Zwiespalt zwischen Ich und Welt gibt es eine subjektive Brücke: die Phantasie. Sie allein bringt das Glück: „Das Land des Wahns ist auf dieser Welt das einzige, das
bewohnt zu werden lohnt...“ (Rousseau, 1761 / VI,8). Für Denis Diderot (1713-84 / „L’Encyclopédie“, 1751ff) ist die Phantasie die lenkende Kraft des Genies: „Wahr und Falsch sind nicht mehr Unterscheidungsmerkmale des Genies.“ Das Genie ist der Einzelne gegenüber der Gesellschaft; er hat das Recht zur Wildheit; seine faszinierenden Fehler werden zu Funken des Schöpferischen, das im Adlerflug seiner Ideen Häuser baut, die keine Vernunft beziehen würde. Seit der Antike bis zu Lessing und Kant wollten die Philosophen und Dichter Erkenntnis, Ethik und Ästhetik in eine einheitliche Ordnung fügen und das Außerordentliche des Genies an die Kontrollwerte des Wahren und Guten binden. Diderot dagegen verweist darauf, wie häufig (wenn auch unerklärlich) Immoralität und Genialität, gesellschaftliche Untauglichkeit und geistige Größe, zusammentreffen (z.B. „Le Neveu du Rameau“, 1762).
Die Heiligkeit des Bösen Gloire et louange à toi, Satan, dans les hauteurs Du Ciel, où tu régnas, et dans les profondeurs De l'Enfer, où, vaincu, tu rêves en silence! Fais que mon âme un jour, sous l'Arbre de Science, Près de toi se repose, à l'heure où sur ton front Comme un Temple nouveau ses rameaux s'épandront! [Ehre und Lob dir, Satan, in den Höhen des Himmels, wo du herrschest, und in den Tiefen der Hölle, wo du besiegt im Schweigen träumst! Gib, das meine Seele einst unter dem Baum der Erkenntnis nahe bei dir ruht, zur Stunde, da über deiner Stirn gleich einem neuen Tempel sich seine Zweige ausbreiten werden!] Baudelaire, Les Litanies de Satan (Les Fleurs du Mal / CXX), 1853
„Dans tous les pays du monde l'enfantillage est maître et l'on nomme scandale l'infraction publique aux lois qu'il a forgées“ („In allen Ländern der Erde regiert die Kindischkeit, und den öffentlichen Verstoß gegen die Gesetze, die sie geschmiedet hat, nennt man Skandal“), schrieb Louis Aragon (1897-1982 / „Le Libertinage“, 1924), einige Jahre bevor er der Kommunistischen Partei beitrat. Im Geiste des Surrealismus postulierte er „le scandale pour le scandale“ („den Skandal um des Skandals willen“). Schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts wollte Charles Baudelaire (1821-67), was die Surrealisten in unseren Zwanzigerjahren dann fortsetzten: eine Kunst, die der kreativen Phantasie entspringt. Der göttlich diabolische Marquis de Sade wurde wieder entdeckt, dieser Seiltänzer über dem Abgrund zwischen der Phantasie und der Realität der Herrschaft des Bösen, dessen Werk dem Skandalon verpflichtet ist. Baudelaire machte aus dem Abnormen, dem Armseligen, Verfallenden, Bösen, Nächtlichen und Künstlichen (im Sinne der Kunst) ein Faszinosum. Im Gefolge seiner Ästhetik des Hässlichen wurde die Abnormität zum Beweggrund modernen Dichtens. Seine „Fleurs du Mal“ („Blumen des Bösen“, 1857) bezeichnete er als „Erzeugnis des Hasses“, geschrieben aus der „leidenschaftlichen Lust am Widerstand“ und mit dem „aristokratischen Vergnügen zu missfallen“. Die Kluft in der Seele des Dichters zwischen der satanischen Selbstbehauptung und der verborgenen Sehnsucht nach himmlischem Behaustsein ist in der Lebensrealität unüberbrückbar. Sein „Ekel am Wirklichen“, welches die Leiden der Individuen an diesem Konflikt nur zudeckt und beschönigt, wirft ihn immer wieder zurück in die Welt der Phantasie, in den Traum um des Traumes willen – die himmlische Heimat bleibt leer, am Ende wartet nur der sinnlose Tod, das Nichts. Träumend wünschte er sich „rotgefärbte Wiesen, blaugefärbte Bäume“. Rimbaud dichtete von solchen Wiesen; der Surrealismus zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg wird diesen über das Wirkliche triumphierenden Traum zum Programm erheben.
Das Böse und das Absurde Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Jesus am Kreuz
Ein ursprüngliches, sozusagen natürliches Unterscheidungsvermögen für Gut und Böse darf man ablehnen ... Das Böse ist also anfänglich dasjenige, wofür man mit Liebesverlust bedroht wird; aus Angst vor diesem Verlust muss man es vermeiden. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (VII), 1930
Der Begriff des „Bösen“ gehört zum Wortschatz der Leidenschaften und nicht der Skepsis, denn vernünftig ist er nicht bestimmbar. Im Kosmos der Leidenschaften wird die Macht des Bösen zum Symbol der Würde von Eigensein. Das Böse, die Niedertracht, ist der Gegenpol im Spannungsfeld zwischen dem Willen von Eigensein, und den Forderungen von Gemeinschaft und Gesellschaft – es ist das Symbol für die radikale Absage an diese Forderungen, das Symbol der Selbstbehauptung des Ich gegen die immer wieder meine Grenzen infragestellende Sturmflut der Anmaßungen der anderen. Ist diese Feststellung absurd? Ja – sie ist ebenso absurd wie die „Würde von Eigensein“, widersinnig, unlogisch, die Grenzen des diskursiven Verstandes überschreitend. Die Absurdität unserer Selbstbehauptung als Einzige, in deren Leidenschaften allein Werte begründet und vernichtet werden, ist seit Baudelaire, den Surrealisten und der französischen Existenzphilosophie immer wieder herausgestellt und bis zum heutigen Tage durch Schwalle ethischer Diskurse wieder zugedeckt worden. Das Absurde scheint in deinem Lebensgefühl auf, wenn du, so oft du Gott anrufst, nur Schweigen erntest, wenn du nach dem Sinn des Lebens fragst, dein Schicksal beschwörst und keine Antwort erhältst. Als Existenzweisen des Ekels und der Langeweile erfährst du es nach Jean-Paul Sartre (1905-80 /„Der Ekel“, 1938 / „Das Sein und das Nichts“, 1943), da alle Versuche, die freie Subjektivität rational zu begründen und das ihr begegnende Seiende philosophisch abzuleiten, vergeblich sind. In der Revolte gegen die deine Freiheit einschränkenden Lebensbedingungen erfährst du, nach Albert Camus (1913-60 / „Der Mensch in der Revolte“, 1951), das Absurde schließlich als Bejahung deines eignen Lebens und des Lebens aller anderen: die gemeinsame Absurdität aller Existenzen führe zur Solidarität – denn für uns alle gebe es nur einen obersten Wert: das Leben. Doch hier entgleitet Camus ins Abstrakte. „Das Leben“ der Menschen ist eine Mystifizierung; es gibt nur mein Leben und dein Leben... und das ist nie dasselbe; auch Solidarität in der Absurdität ist mehr Wunsch oder ethisches Postulat als Realität. Doch „das Böse“ ist nicht als Inbegriff alles Leidens, aller Unbilden des Lebens gemeint, obwohl es in Tortur, Mord und Krieg nichts als Elend bringt, Leben schändet und vernichtet. Das Böse ist der Aufstand gegen das Gesetz; so wie die Figur des Satans in der jüdisch-christlichen Mythologie zum Widersacher Gottes, der das Gesetz verkörpert, wird. Die Gesetze der Religionen sind Ausdrucksformen versuchter Gesellschaftsordnungen, die nicht nur mit brachialer Gewalt durchgesetzt werden, sondern sich durch Mystifizierung und Heiligung in psychischen Machtstrukturen behaupten können, ob wir diese nun Rechtschaffenheit, Gewissen oder Überich der Persönlichkeit nennen – als öffentliche Moral schließlich etabliert die Massenpsyche wieder den objektiven, handgreiflichen und psychischen Terror der Gemeinschaft gegen die Leidenschaften von Eigensein. Bis heute gilt das Böse als das Gottwidrige, als Abweichung von der Bestimmung des Menschen, die von Gott oder von „der Natur“ gesetzt worden ist. Anderseits wird von den Apologeten des Bösen oft gerade die Natur zum rechtfertigenden Vorbild erklärt: „Der Mord ist das oberste Gesetz der Natur... durch den Mord tritt sie täglich in ihre Rechte ein, die ihr die Fortpflanzung raubt“, lässt de Sade („Historie de Justine ou les Malheurs de la Vertu“, 1797) den grausamen Mönch Sylvestre zu Justine sagen. Der de Sade'sche Libertin fordert die uneingeschränkte Autonomie selbst im Entscheid über Leben und Tod der anderen. Das Böse ist aber etwas anderes als der biologisch-psychische Aggressionstrieb, das „sogenannte Böse“ (Konrad Lorenz, 1963); es ist kein Abkömmling eines Todestriebes, und es ist auch nicht das Böse um des Guten willen, wie die Ermordung von Tyrannen und die Propaganda der Tat enragierter Anarchisten; es ist ebenso wenig das Böse aus der Verzweiflung rasender Eifersucht oder aus dem
Gefangensein im Gesetz der Sippenhaft – nein, es ist das Böse um des Bösen willen, das scheinbar sinnlos Böse, das doch, ob erkannt oder unerkannt, die Behauptung des Individuums gegen das Gesetz der Gemeinschaft beinhaltet. Auch der rachsüchtige Gott quält die Menschen, um sich, mit der Peitsche seiner Willkür deren Eigenwillen brechend, als absoluter, einziger Herrscher über Gut und Böse darzustellen. Gleich einem sich unablässig wiederholenden Ritual beschwört der Marquis de Sade in seinem Werk die Szenen sexueller Ausschweifungen und ungeheuerlichster Brutalität – was damit gemeint ist, legt er etwa der Figur des Herzogs von Blangis in den Mund: „Ich bin völlig sicher, dass es nicht das Objekt der Ausschweifung ist, das uns reizt, sondern die Idee des Bösen“ („Die hundertzwanzig Tage von Sodom oder die Schule der Auschweifung“, 1785/hg.1904). Sie ist der Inbegriff der Wollust. Doch nicht die Realität, sondern die Phantasie ist der Tummelplatz der Leidenschaft des Bösen um des Bösen, um der Selbstbehauptung des Individuums gegen die Arroganz des Guten der Gemeinschaft willen. Die Faszination des Bösen lebt nicht zuletzt vom unterdrückten Aufstand gegen die Tyrannei des Guten – heute präsentiert sie sich nicht nur in der Literatur, sondern vermittelt durch Tagespresse und elektronische Medien als knisternde Mischung aus geiler Abscheu und sensationslüsterner Jagd nach den latest news auf dem Markt der Berichte über alte und neue Kriegsverbrecher, Kinderschänder, Vergewaltiger, TerroristInnen, Serienmörder ... In der Pose des Bürgerschrecks schreibt André Breton (1896-1966) im „Zweiten Surrealistischen Manifest“ (1930): „Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings soviel wie möglich in die Menge zu schießen. Wer nicht wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeit bestehenden elenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen – der gehört eindeutig selbst in diese Menge ...“ Der Surrealismus sucht die Würde von Eigensein im absoluten Nonkonformismus, worin er dem 1916 in Zürich ins Leben gerufenen Dadaismus folgt. „Dada ist die lachende Gleichmütigkeit, die mit dem eigenen Leben Erhängen spielt, ohne Mitverantwortung an dem europäischen Schwindel“, schreibt 1921 der Berliner Dadaist Raoul Hausmann (1868-1971); womit die Dada an das Ironieverständnis Nietzsches anknüpft: „... einstweilen ist die Komödie des Daseins sich selber noch nicht ‚bewusst geworden’ – einstweilen ist es noch immer die Zeit der Tragödie, die Zeit der Moralen und Religionen“ (Nietzsche /GW Bd. II, 34 / Schlechta-Ausg.). Die lachende Gleichmütigkeit jedoch fehlt so manchem der alten und neuen Libertins, die glauben, wie Revolutionäre fordern zu müssen, dass – oder schlimmer noch: wie – die Welt verändert werde!
Noch fünf Minuten zu leben Hinter all den zahllosen Appellen der diversen Gemeinschaftsprediger und Krisenschwadroneure zu Verzicht und Enthaltsamkeit steckt die gräuliche Überzeugung, dass Lebensgenuss, Freude an Luxus und Verschwendung der Wirtschaft und damit der Moral der Gesellschaft und dem „Gemeinwohl“ schade. Und als Sündenbock für solche gemeinschaftsschädigende Libertinage haben sie das entwurzelte, entfremdete Individuum ausgemacht. Herzinger, Die Tyrannei des Gemeinsinns, 1997
Zwar ist die Libertinage heute weiter verbreitet denn je, doch Wörter, wie „Libertinismus“, „Libertiner“, „Libertin“, sind bereits veraltet und figurieren im Wörterbuch vorab als Bezeichnungen für das ausschweifende Leben zügelloser Wüstlinge, allenfalls noch für Freigeister. In einer Zeit in der die gesellschaftsbeherrschenden und gesellschaftsbeherrschten Medien im wirtschaftlichen Überlebenskampf nichts mehr fürchten müssen, als Opfer des großen Gähnens zu werden, ist Häresie begehrter als verfolgt und fällt höchstens in Gesellschaften auf, in denen Häretiker noch oder wieder öffentlich verfemt, bespitzelt, gejagt und an Leib und Leben bedroht werden. Auch wenn die Bigotterie in der „freien Welt“ ihre lächerlichen Orgien feiert, ist die „68er Anarchie“ nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Lediglich die Weltverbesserungseuphorie musste ihre Waffen strecken (weiß der Teufel, wo sie diese vergraben hat). „Vielleicht hast du nur noch fünf Minuten zu leben, aber das sind fünf Minuten nach deinen
Bedingungen“, zitiert Falko Blask („Ich will Spass“, 1996) den heimlichen Trend unserer postmodernen Gesellschaft zur „kreativen Willkür“. Der metaphysische Pessimismus ist der fraglose Background: „In Anbetracht des Wärmetods des Universums ist es ziemlich gleichgültig, womit wir uns während unserer kurzen Lebensdauer beschäftigen.“ Und als gemeinsames Band dieser Chaos- und Spektakel-Gesellschaft zitiert er den Münchner Philosophen Hans-Martin Schönherr-Mann: „Immer noch besser, wir amüsieren uns zu Tode, als dass wir den Heldentod für große Ideen sterben!“ Hallo, Moralist im Hedonistenpelz! Woher weißt du, was es anderen bringt, den Heldentod für große Ideen zu sterben? Gleich um die nächste Ecke lauert die neue Norm: „Die Zehn Gebote für Soziopathen“ (Blask), das Pflichtenheft für die Spaßsucher. Wie haben es die Pariser 68er an die Wände geschrieben: „Il est interdit d'interdire“? Im übrigen gibt es kaum eine irreführendere Floskel als das Mediengeschwätz von unserer „Spaßgesellschaft“ (die nun ja zu Ende sein soll) – welch ein gekünsteltes Gelächter! Autonomie als ethisches Ideal ist ein hölzernes Eisen: die „Selbstverwirklichung“ als Pflicht, als Kriterium seelischer Gesundheit. Wege zur Glückseligkeit kann man wohl anpreisen, Anleitungen und Kurse dazu auf dem freien Markt zu verkaufen versuchen, einander zum gemeinsamen oder einsamen Genuss verführen – doch was als heimliche neue Freiheit beginnt, gerät, ehe man sich's versieht, zur heimlichen neuen Sittenlehre. Das Streben nach moralischer Aristokratie durchzieht die Kulturgeschichte in mannigfaltigen Formen, ebenso oft verleugnet, wie offenkundig. Auch Nullbock-Attitüden wie Diskurse der Verrücktheit, Nothing-to-loose-Philosophien und welche Nonkonformismen auch immer werden gelegentlich zur Mode, welche man mitmachen muss, wenn man IN sein will. Warum auch nicht. Die Libertins begannen als Häretiker. Die Einengung auf das Böse, auf die Wollust, auf die Sinnlichkeit, auf den Spaß ist oft als Symbol der Würde von Eigensein, des rebellischen Neins zur Arroganz von Gemeinschaft und Gesellschaft, zu verstehen; doch sie verfehlt stets die Fülle des Lebens und der Leidenschaften. Jede Befreiung, die sich allzu ernst nimmt, die sich in allzu große Hoffnungen verstrickt, wird leicht zu einer Befreiung von alten zu neuen Zwängen. „Vive les libertins!“ heißt hier: Ehre dem Prinzip der Häresie; es lebe die Rebellion gegen die Arroganz der jeweils realen Anmaßungen der Gesellschaft gegenüber dem Individuum – sofern die Häretiker und Rebellen auch über sich selber zu lachen verstehen.
Dem Eigensein die Welt Der Eigner kämpft nicht mit dem Monarchen; er ordnet ihn sich ein. Insofern ist er dem Historiker verwandt. Ernst Jünger (Eumeswil. 1977)
Meine Einstellung zur Politik: Dem Eigensein die Welt! Das ist ein ernsthafter Scherz. Ernsthaft als Mahnung zur permanenten Wachsamkeit gegenüber den ethischen Anmaßungen, welche mir weismachen wollen, es gebe außerhalb der real existierenden Machtansprüche und Machtverhältnisse ein (himmlisches?) Ideal des wahren Menschentums, dem ich zu genügen hätte. Ethik, welche sich jenseits der Willkür ihrer jeweiligen Erfinder und Verfechter wähnt, ist zumindest eine philosophische Selbsttäuschung (seit Aristoteles). Auch der von ganz unterschiedlichen Interessengruppen portierte Begriff vom „Naturrecht“ ist eine Vokabel aus dem Arsenal der psychologischen Kriegführung. Warum auch nicht, wenn es in modernen Verhältnissen überzeugender wirkt als „Gottes Wort“. Kriegführung? Ja. Krieg ist hässlich und schrecklich; wer sich freiwillig darin opfert, bedarf eines starken Glaubens. Ich könnte und wollte es nicht. Und dennoch kann solches Unglück den unverkrüppelt Überlebenden gelegentlich Erleichterung und mehr Glück bringen. Aber manchmal auch nicht. Jedenfalls sind Verhältnisse, welche das real existierende Glück der Individuen ein bisschen nachhaltiger begünstigen, viel eher auf die pragmatisch kluge Einschätzung der wirklichen Machtverhältnisse und einen geeigneten Umgang mit ihnen zurückzuführen und kaum auf die ethische oder weltanschauliche Unbestechlichkeit weiser Mahner. Dem Eigensein die Welt! Auch das ist ein Machtanspruch, eine leidenschaftliche Vorliebe für gesellschaftliche Zustände, in denen die unaufhebbare Diktatur der Gemeinschaft so angreifbar und
veränderlich bleibt, dass mein eigener Gestaltungswille sich, obzwar nicht ungehindert, so doch so lebendig wie nur möglich entfalten kann. Selbst den härtesten Stein muss der Künstler irgendwie nach seiner Vorstellung behauen können, ist der Widerstand zu groß oder zerbröckelt er zu Sand, wird die Leidenschaft sinnlos. Dem Eigensein die Welt! Das ist ernst gemeint in der Leidenschaft von Eigensein, die Welt als die meinige zu wollen, Erde, Mond, Sonne und Sterne, die Leere, die Hölle und die schwarzen Löcher und die Luft zum Atmen, die würzige, nicht die erstickende, und den Wein zum Trinken, den köstlichen, nicht den vergifteten, und die Äpfel vom verbotenen Baum, das Original, nicht die gewachste Kopie. Die Welt als die meinige, auch dich, die du das selbe willst, doch nicht die Vielen, die glauben, an die Demut zu glauben, die sich verneigen vor einem Höchsten außer sich, deren Angst vor der Erkenntnis, selber einzig zu sein, so mächtig ist, dass sie ihnen gar nicht in den Kopf kommt, und kaum in den Bauch, dass sie ihr Einzigsein aus Furcht vor der schwarzen Einsamkeit in den Spiegel verlegen, irgendwo draußen. Nicht sie wähle ich, aber die übrige Welt, zum Atelier und Rohstoff meines Wollens gestaltendem Spiel, in dem ich eigen bin, nicht mich suchend, nur seiend, nicht mich, nur ich. Dem Eigensein die Welt! Das ist aber auch ein Scherz, weil die Skepsis nicht glaubt, dass die Welt grad auf mich gewartet hat, sowenig wie auf dich, nicht auf die Völker und nicht auf die Fliegen. Weil ich auch Spielball dessen bin, womit ich spielen will, Sklave des Steins, den ich behaue, Hofnarr meiner Leinwand und Farbe, meiner Formen und Töne und Weisheit, Untertan der Tyrannei des Gemeinen, des Guten und des Bösen der Gemeinschaft, die mich beutelt und nährt, liebt und hasst, so wie ich sie, ein Spielstein im Gesellschaftsspiel, in welchem mich die Zeit verwürfelt, die Natur wieder verschlingt, kaum hat sie mich ausgespuckt. Dem Eigensein die Welt! Oder willst du etwas anderes auf deine Fahne schreiben? Dann geh, wir müssten uns bekriegen! Mit welchem Sinn? Mit keinem. Ich habe bloß die Spielregeln so bestimmt, aus Leidenschaft und Skepsis. Zu rechtfertigen gedenke ich sie nicht – vor niemandem!
--------------------------Weitere Publikationen des Autors: Antonio Cho: außer dem nichts – zur Kunst von Eigensein – des Egoismus Philosophie, Theologie, Poetik – ein Palimpsest In: Deutsch. 324 Seiten. 480 g. 2007. ISBN: 978-3-9521140-2-5 EAN: 9783952114025 Leinenausgabe CHF 47.50, skepsis verlag, Zürich 2007 Antonio Cho: AnarchoMystik erscheint 2010 im skepsis verlag