Konstruktivismus als Leitlinie einer Ausbildung Referat im Rahmen der Tagung "Die neue Ausbildung auf Stufe HF in Schule und Praxis. Tagung zum Start der neuen Tertiärausbildung in den Kantonen Aargau, Bern und Zürich. Aarau Februar 2005 Franz Kost, WE'G Aarau Meine Damen und Herren, Ich habe die ursprünglich vorgesehene Einschränkung dieses Referats auf die Rolle der Mentorin oder des Mentors im Einverständnis mit den OrganisatorInnen etwas ausgeweitet, weil vieles, was ich sagen möchte, sich auf die Tätigkeit der Lehrpersonen generell bezieht. Ich werde aber zum Schluss speziell auf die Aufgabe der Mentorin eingehen Ich befinde mich als Referent in einer argen Verlegenheit. Ich möchte Ihnen ein Referat halten zum Thema "Konstruktivismus als Leitlinie einer Ausbildung". Und nun habe ich in der Methodensammlung Ihres Curriculumverbundes unter "Vorträge" gelesen: "Die Vorstellung von der individuellen Wissensneukonstruktion erfordert hierbei von den Studierenden, dass sie vorgängig ihr Wissen rekonstruieren und zum Beispiel Fragen formulieren, sowie nachträglich das 'Gehörte' bearbeiten." (Pädagogisches Konzept, Methodensammlung, S.20). Das ist sicherlich ein guter Hinweis. Ich zweifle auch nicht daran, dass Sie dieses Referat nachbearbeiten. Nur weiss ich nicht recht, was ich jetzt für Ihre "individuelle Wissensneukonstruktion" machen soll. Reicht es, wenn ich sie auffordere, Ihr Wissen zum Thema zu rekonstruieren, und ihnen sagen wir fünf Minuten dafür Zeit gebe? Wissen Sie, was Sie tun sollen, oder müsste ich es Ihnen zuerst erklären. Müsste ich Ihnen auch Gelegenheit geben, Ihre Gedanken zu äussern? Würde ein Austausch unter Ihnen reichen, oder müsste auch ich wissen, wie Ihr Wissen aussieht? Und was wäre, wenn es sich zeigen würde, dass jede und jeder hier im Saal ein anderes Konstrukt von Konstruktivismus hätte? Müsste ich dann alle gelten lassen, weil der Konstruktivismus ja gerade behauptet, dass jeder seine Welt selber konstruiert? Oder gibt es doch ein "richtigeres" Verständnis davon? Vielleicht ergäbe sich auch, dass ihr persönliches Wissen über Konstruktivismus auch motivationale Elemente enthalten würde wie "Konstruktivismus interessiert mich nicht". Müsste ich auch das mit Ihnen bearbeiten? Sie sehen: die Praxis ist oft nicht so einfach, wie es in den Konzepten aussieht. Bleiben wir der Einfachheit halber also beim Referat. Es besteht aus vier Teilen
Was wollen wir unter "didaktischem Konstruktivismus" verstehen?
Welche Einseitigkeiten und Probleme sind damit verbunden
Einige Vorschläge für einen Unterricht "im konstruktivistischen Sinne"
Zur Rolle der Mentorin / des Mentors
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1.
Was wollen wir unter "didaktischem Konstruktivismus" verstehen?
"Ismen" in der Didaktik Im Pädagogischen Konzept steht der Begriff "Konstruktivismus" an erster Stelle. Wie immer, wenn "Ismen" die Diskussion dominieren, ist zunächst Vorsicht am Platz. "Ismen" sind in der Regel Glaubensströmungen, die sich in viele Richtungen, Sekten und Gruppen aufgliedern. Das ist hier nicht anders: "Die Diskussion um den Konstruktivismus ist in den letzten Jahren auch in der Pädagogischen Psychologie voll entbrannt; aber sie verläuft leider sehr diffus. Zu vielschichtig und vieldeutig ist der Begriff des Konstruktivismus." (Reinmann-Rothmeier / Mandl 2001, S.614). The good, the bad and the ugly. Vielleicht erinnern Sie sich noch an diesen Spaghetti-Western von Sergio Leone aus den Sechzigerjahren. Unter dem gleichenTitel hat der Amerikaner D.C. Phillips (1995) "The many faces of Constructivism" dargestellt. Als "good" bezeichnet er die Betonung des aktiven Lernens, das sich in allen konstruktivistischen Ansätzen zeigt. Für "bad" hält er die oft fehlende rationale Begründung der Lerninhalte und ihre Beliebigkeit. Und als "ugly" bezeichnet er die Tendenz zum Sektierertum, die er bei einigen Vertretern des Konstruktivismus festellt. Ein Beispiel für die Beliebigkeit der Inhalte ist gerade dieser Filmtitel von Sergio Leone. Wie viele Hauptdarsteller hat wohl ein Film mit dem Titel "The good, the bad and the ugly"? Vermutlich sagen Sie: drei. Das hat aber den deutschen Verleiher nicht daran gehindert den Titel zu ändern in "Zwei glorreiche Halunken". Das zeigt, dass auch bei Dingen, die wir an einer Hand abzählen können, jeder die Welt anders wahrnehmen und interpretieren kann. Damit haben wir im Unterrichtskontext Probleme. Wir sind ja dauernd daran, verbindliches Wissen in Curricula zu fixieren und "richtiges Wissen" in Prüfungen zu kontrollieren. Sie werden nicht zufrieden sein, wenn Ihre Studierenden sagen, für sie gebe es bei der Medikamentenabgabe nur 3 oder 4 R. Deshalb spricht das Ausbildungskonzept vom "Konstruieren im Rahmen vorgegebener Information". Aber haben wir nicht schon immer Informationen vorgegeben und die Studierenden mussten sie für sich rekonstruieren? Eine pragmatische Klärung In der didaktischen Literatur bringt uns eine abstrakte Begriffsklärung und -definition oft nicht weiter. Didaktische Literatur ist auf Wirkung aus und greift deshalb oft zu vereinfachenden Schlagworten. So wird etwa in einem sonst sehr guten Buch "Erkenntnisorientierung" der "Gedächtnisorientierung" entgegengesetzt, als ob das Gegensätze wären und Erkenntnis ohne Gedächtnis möglich wäre. Der Autor meint das natürlich auch nicht; er will lediglich seine Position hervorheben. Weil in der Didaktik Begriffe oft zur Verdeutlichung von Positionen verwenden werden, suche ich meist einen Zugang über die beiden Fragen:
Von welcher andern Position grenzt sich diese Position ab? Welches grundlegende Problem des Lehrens und Lernens soll gelöst werden?
Konstruktivismus im lernpsychologisch-didaktischen Sinne grenzt sich ab von etwas, das man "Instruktionismus" nennen kann, auch wenn Sie diesen Begriff in den Lehrbüchern vergeblich suchen werden. Eine klassische Instruktion geht davon aus, dass das Wissen, das instruiert wird, eindeutig ist und - bei einigem Geschick der Lehrperson - auch von den Lernenden so aufgenommen und angeeignet und angewendet werden kann. Mit diesem "Instruktionismus" (den es in reiner Form natürlich auch nicht gibt) sind vor allem zwei Probleme verbunden: 2
Die sichtbare Hauptaktivität der Instruktion liegt bei der lehrenden Person. Es bleibt oft verborgen, wie Lernende das instruierte Wissen selber ordnen und verstehen (das heisst "rekonstruieren"). Es besteht Gefahr, dass die Lernenden das Wissen nicht richtig integrieren, dass es oberflächlich bleibt.
In Instruktionen ist Wissen in der Regel nach sachlogischen Kriterien geordnet. Auch wenn es adäquat verstanden wird, ist es in beruflichen Situationen, die ja nicht sachlogisch geordnet sind, nicht einfach zu gebrauchen und wird zu "trägem Wissen", zu Wissen, das zwar vorhanden ist, aber nicht genutzt wird.
Didaktischer Konstruktivismus - als Absetzung von diesem "Instruktionismus" möchte also das Problem des oberflächlichen und des trägen Wissens, das in der konkreten Situation nicht nutzbar ist, lösen. Dazu wird vorgeschlagen
Den Schwerpunkt darauf zu legen, wie Lernende ihr Wissen ordnen und rekonstruieren, oder mit andern Worten: wie sie es verstehen;
sie dadurch zu einer aktiven Auseinandersetzung und zur Verbindung von Erfahrung, Wissen und Handeln anzuregen;
dies in einem sozialen Kontext, damit verschiedene Sichtweisen oder Konstruktionen gegeneinander abgewogen und nach Möglichkeit geklärt werden;
und mit Hilfe didaktischer Arrangements, die näher beim Gebrauch des Wissens als bei der Wissenssystematik liegen (also mit Situationen, Problemstellungen, Praxisreflexionen etc.)
Das ist nun beileibe nicht neu und in der didaktischen Literatur der letzten hundert Jahre vielerorts nachzulesen. Trotzdem ist es aktuell, den wir alle treten als Lehrerinnen und Lehrer immer wieder in die "instruktionistische Falle" weil es zuviel Stoff gibt und es rascher geht, einen Stoff zu vermitteln weil es leichter ist, Wissen dazubieten, als zu überlegen, wie ein eigenständiger Lernprozess zu arrangieren ist weil es in der Praxis einfacher ist, zu sagen "das habt ihr in der Schule gehabt", als Lernende dabei zu unterstützen, in praktischen Situationen Wissen zu rekonstruieren. Konstruktivistische Ansätze im Ausbildungskonzept Im Ausbildungskonzept haben verschiedene konstruktivistische Überlegungen Eingang gefunden haben. Ich will hier aus der Fülle des Papiers nur einige Punkte erwähnen:
Lernprozesse sollen oft an konkreten Problemstellungen beginnen, sowohl in "Problembased Learning" wie in andern Unterrichtsformen. In allen drei Lernorten, besonders aber im Lernbereich Training und Transfer soll immer wieder Erfahrungswissen aus theoretischer Perspektive und Theoriewissen aus praktischer Perspektive rekonstruiert werden. Es sind verschiedene situations- und praxisorientierte Arrangements vorgesehen, in denen Wissen und Handeln verbunden werden soll. Portfolios dienen u.a. dazu, eigene Lernprozesse (und das heisst auch "Konstruktionsprozesse") festzuhalten und zu reflektieren. Es sind Gespräche unter Studierenden und mit Mentoren vorgesehen, die zur Reflexion von Lernprozessen genutzt werden. Das alles scheinen mir sinnvolle und wichtige Massnahmen, das aktive Lernen der Studierenden und die Verbindung von Handeln und Wissen zu stärken.
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2.
Einseitigkeiten konstruktivistischer Ansätze
Konstruktivistische Ansätze weisen einige Einseitigkeiten auf, die ich im Sinne von Nebenwirkungen und Risiken hinweisen möchte: Lernorientierung versus Inhaltsorientierung Der klare Vorteil des didaktischen Konstruktivismus liegt darin, dass er uns zwingt, Unterricht aus dem Blickwinkel des Lernens zu planen. Wer eine Problemstellung oder eine Aufgabe entwickelt, muss sich mit dem Vorwissen, der Fähigkeit, den Strategien der Lernenden eher auseinandersetzen. Wer dagegen instruktionistisch ein Wissen vermittelt, beschränkt sich oft auf die Vorbereitung und Darbietung der Lehrinhalte Die Orientierung am Lernen läuft aber Gefahr, Lernbegleitung als rein formale und methodische Aufgabe zu sehen, als Moderation oder Begleitung von Siebensprüngen. Dies ist fatal, weil Lernen immer ein Lernen von "Inhalten" ist. Es geht auch im Konstruktivismus um eine Konstruktion von inhaltlichem Wissen. Wer also diese Konstruktionsprozesse arrangieren und begleiten will, muss etwas vom Inhalt verstehen. Im Ausbildungskonzept zeigt sich diese Einseitigkeit bei den Rollen verschiedener Lehrpersonen. So fehlt z.B. bei der Tutorin und beim Mentor die Fachkompetenz als notwendige Fähigkeit. Methodengläubigkeit oder Haltung Wie halten Sie die Hände beim Beten? Jemand hat mir erzählt, sie hätten als Sechsjährige einander das gefragt. Hände zusammenlegen galt als katholisch, Hände falten galt als reformiert. Nicht nur Kinder machen Glaubensrichtungen an Äusserlichkeiten fest. Auch bei der Glaubensrichtung "Konstruktivismus" gibt es die Tendenz, bestimmte Methoden als richtig und andere als falsch (nämlich instruktionistisch und rezeptiv) zu sehen. Teilweise hat das auch seine Richtigkeit: problemorientierte Lernarrangements fordern vermutlich eher zur Konstruktion heraus als Referate. Man kann aber jedes methodische Arrangement auch in einem andern Sinne nutzen:
Studierende benutzen des Siebensprung des Problembasierten Lernens um herauszufinden, welche Texte sie lesen und für die Prüfung auswendig lernen müssen.
Lehrpersonen können Problemstellungen auch bloss als Aufhänger für die Wissensvermittlung nutzen
Es scheint mir deshalb sinnvoll, dass wir uns nicht auf einzelne Lehr-Lern-Methoden beschränken und einschwören. Wichtig wäre es, zu überlegen, wie ich in jeder Unterrichtsform (also auch im Referat einer Fachdozentin) Konstruktionsprozesse unterstützen und erleichtern kann. Denn im Unterricht wie beim Beten kommt es wohl eher auf die Grundhaltung an, als auf die Methode. Können Studierende Wissens konstruieren oder müssen sie es erst lernen? "Lernen heisst, in einem aktiven Prozess sein Wissen neu konstruieren". So steht es im Pädagogischen Konzept (S.4). Aber ist das so einfach? Es gibt im Konstruktivismus eine gewisse Tendenz, das Konstruieren den Lernenden zu überlassen. Auch das Ausbildungskonzept ist davon nicht ganz frei. Es umschreibt das "Lehren", also die Tätigkeit der Lehrpersonen, mit Aussagen wie
"für konstruktive Tätigkeiten genügend Freiraum schaffen" "gezielt und situative Unterstützung geben" (S. 3)
Reicht es aber aus, wenn wir Ziele setzen, Freiraum schaffen und Unterstützung geben? Reinmann-Rothmeier und Mandl (2001, S.623) halten die oft fehlende Anleitung für den 4
Hauptmangel konstruktivistischer Ansätze. Sie könne zu Desorientierung und Überforderung führen, insbesondere bei Lernenden mit ungünstigen Lernvoraussetzungen. Es braucht vermutlich auch "konstruktivistische" Formen der Anleitung. Der latente Kognitivismus im Konstruktivismus Beim Lesen des pädagogischen Konzepts bin ich immer auf das Bild sehr rationaler und kognitiv orientierter Studierender gestossen. Es heisst da: Studierende aktivieren ihre Vorkenntnisse und ordnen sie, korrigieren und erweitern sie, schulen ihre Wahrnehmung und Interpretation, konstruieren Wissen neu, eignen sich alleine oder mit andern Wissen an. (S. 4) Als Lehrer habe ich es aber oft mit Studierenden zu tun, deren Wissenskonstruktion durch alte Schulerfahrungen oder bestimmte Selbstbilder erschwert ist. Wer von sich glaubt, dass sie für ein Fach nicht begabt ist oder dass er bestimmte Texte nicht versteht, tut sich mit dem Lernen schwer. Und ich habe mit Studierenden zu tun, die in einer bestimmten Haltung unterrichten wollen und deshalb für andere Sichtweisen schwer zu motivieren sind. Oder die zwar "im Kopf" etwas verstanden haben, aber noch zu unsicher sind, um es im Handeln zu probieren. In die Konstruktion von Wissen fliessen offenbar noch einige weitere Aspekte mit ein, die zu berücksichtigen sind, wenn Lernprozesse gelingen sollen.
3.
Einige Vorschläge für einen Unterricht "im konstruktivistischen Sinne"
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchte ich hier einige Aspekte aufführen, die ich bei der Umsetzung des vorliegenden Ausbildungskonzepts noch verstärken würde. Sie gelten für alle Lehrpersonen, egal in welchem Bereich sie tätig sind. Zeigen, wie ich als Lehrer/in Wissen rekonstruiere Studierende müssen lernen, wie Fachleute pflegerisches Wissen konstruieren. Dazu brauchen sie Modelle, wie sie in der Form des "Cognitive Apprenticeship" vorgesehen sind. Cognitive Apprenticeship wird im Ausbildungskonzept als "die klassische Lehr- und Lernform der Praxis" bezeichnet. (Methodensammlung S. 4) Natürlich kann man sie da nutzen, aber entwickelt wurde diese Form für den Unterricht in den (im englischen Sprachraum so genannten) akademischen Fächern, also beispielsweise für die Mathematik. Schülerinnen und Schüler sollen demnach wie Lehrlinge in die mathematische Zunft eingeführt werden; das heisst sie sollen lernen, wie eine Expertenkultur mit Mathematik umgeht. Das geschieht nicht dadurch, dass die Lehrperson mathematische Gesetze und Regeln vermittelt und Anwendungsaufgaben bereitstellt. Vielmehr soll sie vormachen, wie sie selber mathematische Fragen löst, und dabei laut denken, was sie sich dabei überlegt. Die "Lehrlinge" sollen dabei sehen, wie eine professionelle Mathematikerin denkt und wie sie vorgeht. Das ist kurz gesagt, was in "Cognitive Apprenticeship" unter "Modellieren" verstanden wird. Auf die Pflege bezogen heisst das also: nicht nur im praktischen, sondern auch im schulischen Unterricht vormachen, wie ich als Lehrperson an eine Pflegesituation herangehe, was ich mir dabei denke und welches Wissen ich dafür aktivieren muss. Wo nötig die Inhalte anpassen Es liegt auf der Hand, dass dieses Vormachen meines Zugangs und meines Denkens auch die Inhalte verändert. Wenn ich selber als Didaktiklehrer die konstruktivistische Perspektive 5
konsequent verwirklichen möchte, müsste ich im Didaktikunterricht nicht zeigen, wie man bei der Unterrichtsplanung vorgeht, sondern wie ich einen Unterricht plane und was ich dabei denke. Das ist, wie alle Lehrpersonen wissen, ein grosser Unterschied. In Ihrem Bereich heisst das: es ist ein Unterschied, ob Sie "Pflegeplanung" unterrichten, oder ob sie vormachen und erläutern, wie Sie Pflege planen. Die konstruktivistische Sichtweise stellt auch den Aufbau der Inhalte in Frage. Es fragt sich beispielsweise, ob man in der Pflegeausbildung "medizinische und pathophysiologische Grundlagen des Diabetes" unterrichten kann, um dann in einem zweiten Schritt "die Pflege davon abzuleiten". Denn so geht keine professionell Pflegende vor. Sie geht von der Pflegesituation aus und muss dann das dafür nötige Wissen irgendwie rekonstruieren. Wenn wir also die Studierenden in eine Professionskultur einführen wollen, müssen wir wohl auch beim Aufbau der Inhalte berücksichtigen, wie wir als Professionelle vorgehen und was wir uns dabei überlegen. Ich meine nicht, dass wir das als Lehrpersonen immer tun müssen. Aber es ist wichtig, es auch im schulischen Unterricht immer mal wieder zu versuchen und das "Modell sein" nicht auf die praktische Ausbildung abschieben. Sich für die Konstrukte der Lernenden interessieren und dazu Stellung nehmen. Dass es wichtig ist, vielfältige Gelegenheiten für konstruierendes Lernen zu schaffen, habe ich bereits erwähnt. Es steht auch so im Pädagogischen Konzept. Es reicht aber nicht aus. Das Hauptaugenmerk der Lehrperson muss sich vielmehr auf die Frage richten soll, wie Wissen konstruiert wird und in welcher Verbindung Wissen zum Handeln steht. Wir müssen uns also dafür interessieren, wie die Studierenden ihre Erfahrungen ordnen und ihr Wissen aufbauen. Das heisst: wir müssen nachfragen, erklären, korrigieren und dazu Stellung nehmen. Im Zentrum steht nicht das Konstruieren, sondern der vielfältige Austausch darüber. Auch das gilt für alle Lernorte. Die motivationale Seite von Konstruktionsprozessen beachten Lernen ist nie nur eine Frage rationalen Wissens und kognitiver Prozesse. Die Belgierin Monique Boekarts (1997), eine Fachfrau für Selbstreguliertes Lernen, die sich selber auch dem Konstruktivismus zurechnet, stellt folgendes fest: Viele lerntheoretische Ansätze des letzten Jahrzehnts haben sich stark mit den kognitiven Strategien der Lernenden befasst. Sie kennen vermutlich alle die Diskussionen über Lernstrategien und Metakognition. Vernachlässigt wurde dabei die "motivationale" Seite des Lernens: Jedes Fachwissen enthält auch persönliche Einstellungen, Werte und Selbstbilder, die das Fachwissen mit beeinflussen. Und wer über kognitive Strategien verfügt, ist noch nicht unbedingt bereit, sich Ziele zu setzen oder Absichten auch gegenüber von Widerständen aufrecht zu erhalten, also motivationale Strategien einzusetzen. Wir müssen also bei der Unterstützung der Lernenden auch immer diese Seite im Auge behalten.
4.
Zur Rolle der Mentorin und des Mentors
Im Ausbildungskonzept hat die Mentorin die Aufgabe, eine Gruppe von Lernenden durch die ganze Ausbildung im Lernen zu begleiten, und zwar über alle Lernbereiche hinweg. Es gibt meines Wissens keinen einheitlichen Begriff des Mentorats oder des Mentoring. Es handelt sich aber weder um eine reine Lehr- noch eine reine Beratungsaufgabe. In meinem Feld, der LehrerInnenbildung, ist die Mentorin meist eine Person, die zusammen mit den Studierenden die theoretische und praktische Ausbildung und die persönliche Entwicklung
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hin zum professionellen Handeln verbindet und unterstützt. Ein interessantes Modell dafür stammt von Alois Niggli von der Universität Fribourg.(2003) Kernaufgabe der Mentorin ist nach Niggli die Begleitung und Unterstützung der Studierenden in der Entwicklung des professionellen Könnens. Er unterscheidet dabei 3 Ebenen: das sichtbare Handeln (also die Skills, Fertigkeiten, Techniken), das damit verbundene Hintergrundwissen, und das professionelle Selbstverständnis. Diese drei Ebenen bilden gemeinsam das professionelle Können. Sie sollen von der Mentorin im Gespräch bearbeitet werden. Bei Niggli geht die Mentorin oder der Mentor von konkreten, beobachteten Handlungen aus. Das hängt mit der üblichen Organisationsform der LehrerInnenbildung zusammen. Ich denke aber, dass auch geschilderte Handlungssituationen, gegenseitige Beobachtungen von Studierenden oder Portfolioeinträge als Ausgangspunkt genommen werden können. Anhand von Problemen, die beim praktischen Handeln immer auftreten, entscheidet sich die Mentorin für eine von drei Gesprächsebenen:
Auf der Ebene des praktischen Handelns erfolgt ein "Feedback erweiterndes Praxisgespräch", also eine Rückmeldung, welche Verhaltensweisen als wirksam wahrgenommen wurden und wie allenfalls einzelne "Skills" verbessert werden könnten.
Auf der Ebene des Hintergrundwissens erfolgt ein "Reflexives Praxisgespräch". In diesem wird geklärt, von welchen subjektiven Theorien, von welchem Praxiswissen und welchem wissenschaftlichen Wissen die Studierende ausgegangen ist und welches weitere Wissen eventuell zur Klärung der Situation und zu einem veränderten Handeln beigezogen werden könnte. Es geht hier also um eine Differenzierung des Wissens
Auf der Ebene des professionellen Selbstverständnisses geht es in Form eines Coachings vor allem darum, Wissen über sich selbst als professionell handelnde Person zu klären: Wie verstehe ich meinen Beruf und wie wirkt sich dieses Verständnis auf mein Handeln aus? Wie gehe ich mit Belastungen und Schwierigkeiten um? Das sind Beispiele von Fragen, die hier besprochen werden.
Alle diese Gesprächsebenen dienen dazu, das berufliche Können, in dem ja "Skills", professionelles Hintergrundwissen und Wissen über sich selbst immer verflochten sind, weiter zu entwickeln. Sie sehen, dass besonders im Mentoring viele Punkte realisiert werden können, die ich vorhin erwähnt habe:
der Ausgang von konkreten Handlungssituationen
das Interesse für die Konstrukte der Studierenden (was hast Du dabei gedacht?)
die Rekonstruktion des Wissens und das Vorzeigen weiterer Konstruktionsmöglichkeiten durch die Mentorin
die Bearbeitung auch von Haltungsfragen, die in das professionelle Können eingehen
Ich habe den Eindruck, dass das Mentoring im Ausbildungskonzept etwas zu stark auf die "formale" Lernbegleitung (wie lerne ich, wie gehe ich vor etc.) beschränkt sein könnte, also auf Lerntechnien und -strategien. Das Modell von Niggli hat für mich den Vorteil, dass es das professionelle Können ins Zentrum rückt und technische, fachliche und persönliche Aspekte beachtet. Das scheint mir in einer Ausbildung, die primär berufliche Kompetenzen zum Ziel hat, wichtig. Es bedingt dann aber, dass die Mentorin nicht nur über Beratungs und Lernbegleitungskompetenz im engeren Sinne verfügt. Meines Erachtens braucht Sie auch eine grosse fachliche Kompetenz und ein gute Übersicht über die ganze Ausbildung. Und wenn sie in einem der Lernorte angesiedelt werden soll, würde ich die Mentorin eher im Bereich "Training und Transfer" ansiedeln oder mit der Rolle der "Lehrerin in der Praxis" verbinden. 7
Damit mische ich mich aber schon zu sehr in Ihre Organisationsfragen ein. Wie Sie das Mentoring in Ihrem Ausbildungskontext realisieren können, müssen Sie unter Ihren Bedingungen klären. Wie immer sie das lösen: Sie finden in Ihrem Ausbildungskonzept viele Anregungen für die Ausbildungsgestaltung und wohl auch Platz für einige der Ideen, die ich heute noch dazugefügt habe. Ich wünsche Ihnen für die inhaltliche Neugestaltung Ihrer Ausbildungen viel Mut. Literatur Boekarts, Monique (1997) Self-regulated learning. Learning and Instruction Vol 7, No 2 pp 161-186 Niggli, Alois.(2003) Handlungsbezogenes 3-Ebenen-Mentoring für die Ausbildung von Lehrpersonen. journal für lehrerInnenbildung 3. Nr. 4, S 8 - 16 Phillips, D. C. (1995). The good, the bad, and the ugly: The many faces of constructivism. Educational Researcher, 24(7), 5-12. Reinmann-Rothmeier / Mandl (2001) Unterrichten und Lernumgebungen gestalten. In A. Krapp, B.Weidenmann (Hrsg.) Pädagogigsche Psychologie. Weinheim: Beltz Psychologie Verlags Union. S. 601 - 646) Diverse Materialien aus dem Curriculumverbund AG-BE-ZH
18.02.2005
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