Stimmen des Exils Von Bernd Wagner (Die Welt 13.10.09)
Die Vergabe des Literatur-Nobelpreises an Herta Müller hat erstaunte Reaktionen hervorgerufen, darunter das Statement ihres Kollegen Günter Grass, der, anstatt seiner Nachfolgerin zu gratulieren, gestand, dass er sich Amos Oz gewünscht hätte. Das ist nicht weiter verwunderlich, gehört Herta Müller doch zu einer Gruppe von Menschen, die es in unserer Gesellschaft, und speziell in der literarischen, nie besonders leicht hatte. Sie gehört zu den Flüchtlingen, und zwar zu den zahlreichen deutscher Zunge, die aus dem Osten des Landes oder Kontinents, als er noch Teil des sogenannten "Sozialistischen Lagers" war, in die Bundesrepublik kamen. Um diese machte auch das deutsche Pendant zum Nobelpreis, der Büchner-Preis, der seinen Namen einem jungen, im Schweizer Exil an Typhus gestorbenen Dichter und Revolutionär verdankt, einen bemerkenswert großen Bogen - wenn ihre Popularität wie im Fall Biermann nicht gerade die Ausnahme von der Regel einforderte. Weder Walter Kempowski noch Hans Joachim Schädlich noch Jürgen Fuchs oder Herta Müller wurden je mit diesem Preis bedacht. Die literarische Öffentlichkeit spiegelte damit nur die reservierte Haltung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber den Flüchtlingen aus der DDR, Rumänien und anderen Ländern des Ostblocks. Wer von ihnen hatte sich nicht mit den Vorwürfen auseinanderzusetzen, Wirtschaftsflüchtling zu sein, Verräter an linken Ideen, von Rachegelüsten beherrschter Reaktionär? Dabei hätte, spätestens mit dem Fall der Mauer, klar werden sollen, welcher Fundus an Erfahrungen mit ihnen in den Westen geflossen war. Sie, die beide Gesellschaftsformen kannten, die ihre Vereinigung an der eigenen Person durchlebt hatten, hätten jetzt gefragt sein müssen, sollte man meinen. Doch weit gefehlt: ihre Stimmen wurden übertönt von den Klagen und Anklagen der Sesshaften zu beiden Seiten der ehemaligen Grenze, und ihnen blieb, wie zuvor, der Platz zwischen den Stühlen. Dass jetzt eine dieser Stimmen mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, sollte Anlass sein, ihr und der ihrer Schicksalsgefährten auch im eigenen Lande genauer zuzuhören. Der Autor ist Schriftsteller. Er siedelte 1985 aus der DDR nach West-Berlin über.