Psyche Eine_teufelsneurose_im_siebzehnten_jahr Freud Sigmund.pdf

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PSYCHE

JOHANNES HARNISCHFEGER, HEIDELBERG

Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen

»Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert« - Sigmund Freuds Lektüre einer fernen Krankengeschichte':-

LVII. Jahrgang, Heft 4, April 2003 Begründet von Alexander Mitscherlich, Hans Kunz und Felix Schottlaender Herausgeber: Werner Bohleber Mitherausgeberinnen und Mitherausgeber: Alfred Krovoza, Ulrike Prokop, Christa Rohde-Dachser, Rolf-Peter Warsitz, Mechthild Zeul Ehrenmitglied des Herausgebergremiums und der Redaktion: Margarete Mitscherlich-Nielsen Unter Mitarbeit von: Jacob Arlow, New York·Hermann Beland, Berlin·Karola Brede, Frankfurt/M. ·Martin Dornes, Frankfurt/M. ·Mario Erdheim, Zürich ·Jose Antonio Gimbernat, Madrid ·Le6n Grinberg, Madrid·Ilse Grubrich-Simitis, Frankfurt/M. ·Jürgen Habermas, Frankfurt/M. ·Otto F. Kemberg, New York·Ilany Kogan, Rehovot·Piet Kuiper, Amsterdam·Edith Kurzweil, New York ·Jean Laplanche, Paris·Wolfgang Leuschner, Frankfurt/M. ·Peter Loewenberg, Los Angeles·Eugen . Mahler, Morschen·Steven Marcus, New York·Ulrich Moser, Zürich·Hartmut Raguse, Basel·Fntz Rod­ Redlich, Los Angeles· Reimut Reiche, Frankfurt/M. ·Horst-Eberhard Richter, Gießen·Cesar riguez-Rabanal, Lima·George C. Rosenwald, Ann Arbor, Mich.·Volkmar Sigusch, Frankfurt/M .· Helm Stierlin, Heidelberg· Helmut Thomä, Leipzig·Thure von Uexküll, Freiburg/Br.·Rolf Vogt, Bremen/Heidelberg·Martin Wangh, New York

Übersicht: Freuds Analyse der Teufelsneurose des Christoph Haizmann, eines Malers aus dem 17. Jahrhundert, ist an den Fall Schreber angelehnt. Bei beiden erkennt Freud eine homoerotische Einstellung, die der Sym­ ptomatik- bei Haizmann Teufelsvisionen- zugrunde liegt. Andere Auto­ ren vermuten bei Haizmann eher eine prägenitale, narzißtische Problema­ tik. Harnischfeger konzentriert sich dagegen in seiner Analyse auf das in Mittelalter und früher Neuzeit verbreitete religiöse Phänomen der Beses­ senheit. Als ein von dämonischen Kräften Besessener wird dem rebelli­ schen, mittellosen Maler von niederem Stand durch Teufelsaustreibung die durch Gott sanktionierte ständische Ordnung aufgezwungen: Haiz­ mann wird Ordensbruder in einem Laienorden.

This journal is indexed in: PsycINFO/Social Sciences Citation Index/Current Contents/Social & Be­ havioral Sciences/EMBASE Internet: www.psyche.de

Inhalt

Sebastian Leikert und Wilfried Ruf! Wiederholung und Nachträglichkeit. Eine psychoanalytische Studie zu therapeutischen und posttherapeutischen Verarbeitungszyklen

Johannes Harnischfeger

.

289 „

»Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert« - Sigmund Freuds Lekture einer fernen Krankengeschichte

313

Diskussionsforum

des Subjekts

343

Internationale Zeitschriftenschau

Michael Schröter und Ulrike May

Beiträge zur Geschichte der Psychoanalyse in englischsprachigen Zeitschriften (2001)

360

Buchbesprechungen

Selg,j.: Sigmund Freud- Genie oder Scharlatan? (Müller) Pohlen, M., 1md M. Bautz-Holzherr: Eine andere Psychodynamik (Fürstenau) Zepf, S.: Allgemeine Psychoanalytische Neurosenlehre, Psychosomatik und Sozialpsychologie (Soldt!Dirkopf) . Dialog der Giampieri-Deutsch, P. (Hg.): Psychoanalyse im Wissenschaften (Domes)

373 376

Redaktionelle Mitteilungen

383

Vorschau auf das Mai-Heft

384

.

che Zeugnisse zu knüpfen, noch dazu, wenn es sich um so fragmentari­ sche Dokumente handelt wie jene Aufzeichnungen über einen anson­ sten unbekannten Maler. Da Freud nichts weiter an Lebensspuren vor­ fand als einige Akten, die im Archiv des Klosters Mariazell aufbewahrt waren, konnte er über die Ursachen und den Verlauf der Krankheit nur

Rolf-Peter Warsitz Anerkennung und Begehren. Anmerkungen zur Intersubjektivitätstheorie

Was Freud über die dämonische Besessenheit von Christoph Haiz­ mann, einem jungen Maler der Barockzeit, schrieb, dürfte besonders für Historiker und Ethnologen von Interesse sein, denn es ist die einzi­ ge detaillierte Studie in seinem Werk, die sich mit einem Kranken aus einer anderen, fernen Kultur beschäftigt. Es ist allerdings ein gewagtes Unternehmen, psychoanalytische Betrachtungen an sehr alte schriftli­

378 381

spekulieren. Die Bedeutung der Symptome erschließt sich also nicht wie in anderen psychoanalytischen Fallstudien - aus der Selbstexplika­ tion des Patienten, dem sich im Verlauf der Therapie der Sinn seiner as­ soziativen Rede langsam offenbart. Vielmehr wird der Sinn von außen in die überlieferten Texte hinein gelesen, und dabei geht Freud von Er­ kenntnissen aus, die er in der Analyse zeitgenössischer Patienten ge­ wonnen hatte. Das Vorbild, an das er sich bei seiner Interpretation an­ lehnt, hat er ausdrücklich genannt: Es ist die Krankengeschichte des Senatspräsidenten Daniel Paul Schreber, der 1884 1903 fast zehn Jahre lang in psychiatrischen Anstalten interniert war und dort die Geschichte seiner Leiden aufgezeichnet hat. Ähnlich wie Bei der Redaktion eingegangen am 20. 1. 2002.

Psyche - Z Psychoanal 57, 2003, 313-342

314

Johannes Harnischfeger

Sigmund Freuds Lektüre einer fernen Krankengeschichte

315

Schreber, der sich von Gott und anderen übermächtigen Wesen ver­ folgt glaubte, sah auch Haizmann sich als ein Opfer spiritueller Mäch­

Teufel geschlossen habe. In diesem Vertrag sei vereinbart, daß er nach

te. Und selbst die Ursachen seiner Krankheit schienen im wesentlichen

Ablauf von neun Jahren mit »Leib undt Seel« (6) dem Teufel verfalle.

die gleichen zu sein wie in jenem weit entlegenen Fall, der sich mehr als

Das Ende der Frist sei nun gekommen, und deshalb wünsche er sich, »von höchster Seelenangst gefoltert« (13), nichts weiter, als die Ver­

200 Jahre später ereignete. Was die Teufelserscheinungen und Anfälle von Besessenheit ausgelöst hatte, waren - nach der Deutung von Freud

seinem Auskommen zu verzweifeln begann« (13)1, einen Pakt mit dem

schreibung noch vor dem 24. September, wenn die Frist endgültig aus­

die verdrängten homosexuellen Gefühle gegenüber dem Vater. Späte­

läuft, vom Teufel zurückzuerhalten. Da ihm in Pottenbrunn nicht zu

re Interpreten haben dem unbekannten Maler dagegen ganz andere

helfen war, schickte man ihn auf eigenes Drängen, versehen mit einem

Diagnosen gestellt. Nach Ansicht von Ida Macalpine und Richard

Empfehlungsschreiben, an den Wallfahrtsort Mariazell. Das Schreiben

Hunter (1956, S. 115), die der Krankengeschichte von Christoph Haiz­

des Pfarrers von Pottenbrunn, in dem er das Vorgefallene kurz schildert

mann ein ganzes Buch gewidmet haben, lassen sich in den uns vorlie­ genden Dokumenten »keinerlei Hinweise« auf »unbewußte Homose­

und um Hilfe für den unglücklichen Maler bittet, ist uns erhalten geblie­ ben, und zwar in einer Aktensammlung mit dem Titel Trophaeum Mari­

xualität« finden; außerdem sei der unglückliche Maler »verrückter« gewesen, als sich mit dem Hinweis auf unterdrückte homosexuelle Ge­

ano-Cellense. In dieser Sammlung findet sich außerdem ein Bericht von

fühle erklären ließe. Seine »Wahn«-Vorstellungen legen es nahe, nicht von einer Neurose auszugehen, wie Freud es tat, sondern von einer

Mariazell, der uns über die weiteren Ereignisse informiert. Nach dreitä­

Psychose (1956, S. 113).

Abt Franciscus, dem Leiter des Benediktiner-Stifts St. Lambrecht bei tigen Exorzismen erblickte Haizmann am 8. September gegen Mitter­

Angesichts dieser konträren Urteile stellt sich die Frage, inwieweit

nacht »durch ein Fenster der Kapelle hindurch den Teufel, wie der ihm einen Zettel hinhielt« (13). Er riß sich aus den Händen der Mönche los,

psychoanalytische Begriffe überhaupt geeignet sind, pathologische

stürzte sich dorthin und kam gleich darauf mit einem Zettel zurück -

Phänomene zu erfassen, die unter sehr fremden kulturellen Bedingun­ gen entstanden sind. In den Augen der Zeitgenossen handelte es sich

verschrieben hatte.

bei den Teufelserscheinungen, die Christoph Haizmann bedrängten,

Die Aufzeichnungen der Geistlichen handeln also von einem Wunder,

nicht um Wahngebilde, sondern um Manifestationen ganz realer Kräf­

das Zeugnis ablegt von dem Triumph der Heiligen Jungfrau, und eben

te. Macht es unter diesen Umständen Sinn, von einer schizophrenen Verleugnung der Realität zu sprechen? Alle, die im Jahre 1677 Zeuge

Doch trotz des Bemühens, das wundertätige Wirken der Madonna zu

eben jenem Pakt, durch den er sich mit seinem eigenen Blut dem Satan

aus diesem Grund wurden die Berichte im Klosterarchiv aufbewahrt.

wurden, wie der junge Mann vom Teufel besessen war, sahen darin kei­

verherrlichen, wirken die Berichte nüchtern und präzise formuliert. Sig­

ne Form von Geisteskrankheit, sondern ein religiöses Problem. Und

mund Freud hielt die Dokumente aus Mariazell für durchaus glaubwür­

demgemäß suchten sie dafür eine religiöse Lösung: durch eine Reihe

dig, und der Historiker Erik Midelfort (1986, S. 631) - ein Experte für

von Exorzismen vor dem Altarbild der Heiligen Maria von Zell.

die Hexenverfolgungen jener Zeit

bestätigt dieses Urteil. Auffällig ist

zudem, daß im Trophaeum auch Informationen enthalten sind, die dem Die Manuskripte aus Mariazell

Bestreben, von der erlösenden Kraft der Muttergottes zu künden, nicht eben dienlich sind. Wir erfahren nämlich, daß die Teufelsbeschwörung

Bevor wir auf die psychoanalytischen Deutungen eingehen, möchte

in Mariazell den Besessenen nicht dauerhaft zu heilen vermochte. Haiz­

ich kurz zusammenfassen, was uns über Christoph Haizmann bekannt

mann sah sich weiterhin von allerlei Geistern und Dämonen verfolgt, so

ist. Die Chronik seiner Leiden beginnt im August 1677, als er im

daß er im Mai des folgenden Jahres noch einmal nach Mariazell pilgerte.

Schloß Pottenbrunn, Oberösterreich, mit Malerarbeiten beschäftigt

Es fanden wieder Exorzismen statt, und auf diese Weise erhielt er vom Teufel ein weiteres Stück Papier zurück, nämlich eine frühere Fassung

war. Am 29. August wurde der etwa 25jährige Mann plötzlich in der Kirche von heftigen Krämpfen erfaßt; die Anfälle wiederholten sich bald darauf, und als man ihn dazu verhörte, gestand er, daß er in einer Zeit der Mutlosigkeit, »als er an dem Fortschritt in seiner Kunst und an

1 Die Zahlen in Klammern beziehen sich im folgenden auf die Seitenangaben des Artikels von Rudolf Payer-Thurn (1924 ), in dem die Handschriften aus Mariazell nachgedruckt sind.

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Johannes Harnischfeger

seines Satanspakts, die nicht in Blut, sondern - ein wenig provisorisch­ in schwarzer Tinte geschrieben war. Von diesem zweiten Aufenthalt im Kloster erfahren wir allerdings nicht von Augenzeugen, sondern durch einen Archivar, der die Haizmann-Akte Jahrzehnte später zusammen­ gestellt und ein wenig kommentiert hat. Durch seine Nachforschungen wissen wir auch, daß der junge Maler, nachdem er im Mai 1678 die zwei­ te Verschreibung zurückerhalten hatte, in einen Laienorden, den Kon­ vent der Barmherzigen Brüder zu Wien, eintrat. Er soll dort bis zu sei­ nem Tod im Jahre 1700 »ungestörte Ruhe« (14) gefunden haben, unter­ brochen nur von vereinzelten Anfechtungen des Teufels, die jedoch nur auftraten, »wan er etwas mehrers von Wein getruncken« (11). Neben den (Augenzeugen-) Berichten, Kommentaren und Beglaubi­ gungen diverser Mönche sowie den zwei Verträgen mit dem Teufel fin­ den sich im Trophaeum noch weitere Dokumente, darunter ein Tage­ buchfragment des unglücklichen Malers. Es enthält Eintragungen vom Oktober 1677 bis zum Januar 1678, also aus der Zeit zwischen den bei­ den Aufenthalten in Mariazell. Es scheint, daß der verzweifelte junge Mann sich gleich bei seiner ersten Pilgerreise verpflichtet hatte, einem Orden beizutreten.Jedenfalls reiste er von Mariazell nach Wien, um der HI. Rosenkranz Brüderschaft beizutreten, lebte aber zunächst im Haus seiner Schwester. Und hier hatte er »allzeit gueten Fridt« (8) - bis zur Nacht des 11. Oktober, als ihn plötzlich wieder dämonische Mächte heimsuchten. Die bizarren Visionen dauerten auch in den folgenden Wochen an; er sah die »schönsten Frauenzimer«, durch die Satan ihn in Versuchung führen wollte, aber auch Bilder der Hölle, mit »brenenden Flammen«, Pech und Schwefel (8f.). Begleitet wurden diese beklemmen­ den Eindrücke von heftigen körperlichen Reaktionen. Er fühlte sich ge­ lähmt und lag hilflos im Bett, oder es überkamen ihn starke Konvulsio­ nen, so daß er sich in der Stube herumwälzte, bis ihm »Zum Mundt und Nasen das Bluet heraußsprizt« (11). Ähnlich eindrucksvoll wie die Schilderungen aus dem Tagebuch sind die Gemälde, in denen der Maler seine Visionen zu gestalten suchte. Von dem großen Altarbild, das er zum Dank für s eine Errettung für die pelle des Konvents von Lambert anfertigte, wurde später eine klein­ formatige Kopie erstellt, die bis heute in der Nationalbibliothek zu Wien aufbewahrt wird. Im Zentrum dieses Triptychons erkennen wir jene nächtliche Szene vom 8. September 1677, als der Teufel, durch die Inter­ vention der Heiligen Jungfrau gezwungen, den mit Blut geschriebenen Vertrag zurückerstattet: Die Muttergottes prangt majestätisch vor einem Meer aus Flammen, während ihr zu Füßen ein geflügelter Drache

Sigmund Freuds Lektüre einer fernen Krankengeschichte

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schwebt, mit dem fatalen Blatt Papier in der Hand. Darunter aber knien der junge Maler sowie vier Mönche, die ihm in seinem Ringen mit den Mächten des Bösen Beistand leisten. Die beiden Seitentafeln des Tripty­ chons zeigen dagegen, wie Haizmann acht bzw. neun Jahre zuvor zwei verschiedene Fassungen des Vertrags dem Teufel übereignet. Auf dem linken Bild, wo er ein Blatt Papier mit Feder und schwarzer Tinte be­ schreibt, sieht man den Teufel neben ihm als einen gut gekleideten älte­ ren Herrn, mit grauem Bart, rotem Mantel und einem Spazierstock in der Hand. Ähnlich harmlos und respektabel begegnet er uns auch auf ei­ nem anderen Bild, das ebenfalls in der Österreichischen Nationalbiblio­ thek aufbewahrt wird: einer farbigen Zeichnung, die mit einem kurzen Kommentar versehen ist. Der Künstler erläutert hier mit wenigen Wor­ ten das seltsam zivile Auftreten des Verführers: »Erßtlichen ist er mir in gegenwertiger seiner Bürgerlichen gestalt vorkhomen[ ...][und fragte], warumben ich alßo bestürzt und traurig were, er wolle mir auß meinen anligen gar woll helffen, so ich mich alß Seinen Sohn mit der Tinten un­ ter ihm Verschreiben wolle« (4). Doch mit der Verschreibung in Tinte war die Angelegenheit nicht abgetan. Wie es an anderer Stelle heißt, be­ drängte ihn der Teufel so lange, bis er sich, etwa ein Jahr später, auch noch mit seinem eigenen Blut verschrieb. Und in dieser Situation hat sich das Auftreten des Satans dramatisch verändert. Wie das rechte Bild des Triptychons zeigt, präsentierte er sich nun in einer erschreckend monströsen Gestalt, halbnackt, mit Hörnern und Vogelklauen. Ähnlich bedrohlich - in einer grotesken Mischung tierischer und menschlicher Züge - zeigen ihn auch die übrigen sieben Blätter, die allesamt verschie­ dene Erscheinungen des Teufels vorstellen. Zu all diesen Materialien erhielt Freud Zugang durch Rudolf Payer­ Thurn, einen Bibliotheksdirektor, der eine Abschrift des Throphaeums aus Mariazell in der Österreichischen Nationalbibliothek entdeckt hat­ te. Payer-Thurn (1924) veröffentlichte etwa zur selben Zeit wie Freud einen Aufsatz über die >Faust-Geschichte< in Mariazell, doch sind darin kaum eigenständige Deutungen enthalten. Von Interesse ist seine Publi­ kation nur, weil sie die Dokumente aus der Barockzeit ungekürzt ab­ druckt. Und da die meisten Texte der Mönche auf latein verfaßt sind, enthält der Aufsatz zugleich die Übersetzungen ins Deutsche. Für heu­ tige Leser hat das den Vorteil, daß er all die Materialien vor sich hat, die Freud bei seiner Analyse der Haizmann-Geschichte benutzte. Der Le­ ser kann hier also, im Unterschied zu anderen psychoanalytischen Fall­ studien, besser beurteilen, wie Freud zu seinen Schlußfolgerungen ge­ langt ist.Ja, er ist im Prinzip sogar besser informiert über jene Vorfälle in

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Sigmund Freuds Lektüre einer fernen Krankengeschichte

Johannes Harnischfeger

denJahren 1677 und 1678, weil in derZwischenzeitweitereDokumente über Haizmann ans Licht gekommen sind, darunter der Text eines Volksliedes, das uns eine Vorstellung davon gibt, wie das Wunder von Mariazell außerhalb der Klostermauern in den Kreisen einfacher Leute

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was bei diesem Verfahren an verdrängten Regungen zum Vorschein kam, erschien vielen zeitgenössischen Lesern als »abstoßend und un­ glaubwürdig« (Freud 1923d, S. 337). Zu den Vorstellungen, die so anstö­ ßig wirkten, gehörten vor allem die angeblichen Todeswünsche des Soh­ nes gegen den väterlichen Rivalen und - als deren Folge die Kastrati­ onsangst, die sich in furchteinflößenden Vater-Imagines spiegelt. Da

wahrgenommen wurde (vgl. Vandendriessche 1965).

sich die verborgenen ödipalen Wünsche und Ängste nur durch ein kom­

Teufelspakt und latente Homosexualität

pliziertes Geflecht von Spekulationen rekonstruieren ließen, konnte

Freud war sich bewußt, daß seine Deutung einer weit zurückliegenden

leicht der Eindruck entstehen, als existierten sie nur in der Phantasie des

Krankengeschichte nicht zu wirklich überzeugenden, zwingenden

Analytikers. Doch es genügte ein Blick auf die Krankengeschichte von Haizmann, um zu sehen, daß die feindselige Haltung gegenüber dem

Schlüssen führen kann. Daß er sich dennoch so eingehend mit den ver­ staubten Dokumenten beschäftigte, dürfte mit mehreren Gründen zu­ sammenhängen. Leser, die der Psychoanalyse skeptisch gegenüberstan­ den, sahen sich hier mit einem Material konfrontiert, das nicht aus den intimen, damals noch ein wenig anrüchigen therapeutischen Sitzungen stammte. Und gerade dieses unverdächtige, jahrhundertealte Material,

Vater hier ganz deutlich zum Ausdruck kommt. Denn der Teufel, der den Besessenen verfolgt, tritt von Anfang an als Ersatz für den Vater auf. Schon in der ersten Fassung des Vertrags, den der angehende Maler un­ terschreibt, ist diese Beziehung offen ausgesprochen: »Ich Christoph

das zudem jedem interessierten Laien vollständig zugänglich war, schien

Haizmann unterschreibe mich disen Herrn sein Leibeigent Sohn auff 9. iahr. 1669 iahr« (6). Ähnlich in der zweiten Fassung: »Christoph Haiz­

die umstrittensten Entdeckungen der Psychoanalyse zu bestätigen. Was

mann Ich verschreibe mich disen Satan, Ich sein Leibeigner Sohn zu sein,

Freud und seine Kollegen durch jahrelange mühsame Analysen aufge­ deckt hatten, kam hier wie durch einen glücklichenZufall ans Licht:

terzeichnende sich verpflichtet, als Sohn zu fungieren, gerät der Teufel

»Diese dämonologische Krankengeschichte bringt wirklich einen wertvollen Fund, der ohne viel Deutung klar zutage liegt, wie manche Fundstelle als gediegenes Metall liefert, was anderwärts mühsam aus dem Erz geschmolzen werden muß« (Freud 1923d, S. 318).

Die pathologischen Erscheinungen eines vergangenenJahrhunderts be­ sitzen also den Vorteil, daß sie dem modernen Betrachter leichter zu­ gänglich und verständlich sind als die Krankheitssymptome der eigenen Zeit. Freud vergleicht sie daher mit»Neurosen der Kinderzeit« (S. 317), die der Analyse wenig Schwierigkeiten entgegensetzen, weil die psychi­ schen Konflikte hier einfacher, klarer und in kaum entstellter Form her­ vortreten. Sobald man zu ursprünglicheren Stufen der Entwicklung zu­ rückkehrt - sei es in der Menschheitsgeschichte oder in der Geschichte einzelner Individuen -, hat die Psychoanalyse, wie es scheint, leichtes Spiel. Sie stößt auf reinere, relativ unvermischte Phänomene

oder wie

es bei Freud heißt: auf »gediegenes Metall«, das uns in konzentrierter Form zeigt, »was in den Neurosen einer späteren [. „] Zeit mühselig durch analytische Arbeit aus dem Erz der Einfälle und Symptome dar­ gestellt werden muß« (S. 332; vgl. de Certeau 1975, S. 226f.). Bei der Behandlung seiner Wiener Patienten hatte Freud auf dem Grund verschiedenster Krankheiten frühkindliche Konflikte aufgedeckt.Doch

Und in 9. iahr Ihm mein Leib undt Seel zu zugeheren« (6). Wenn der Un­ automatisch in die Rolle des Vaters. Und dazu will es gut passen, daß Haizmann sich genau zu jener Zeit dem Teufel verschrieb, als er seinen Vater verloren hatte und darüber schwermütig geworden war. Wie dieses Beispiel zeigt, konnte der Rückgriff auf die barocke Kran­ kengeschichte helfen, die umstrittenen Entdeckungen der Psychoanaly­ se zu bestätigen. Doch darin sah Freud nicht die einzige Funktion seines Aufsatzes. Er wollte

umgekehrt - auch zeigen, daß die Psychoanalyse

dazu beitragen kann, die Teufelsneurose aufzuklären. Da die Psycho­ analyse in die tiefsten Schichten des Seelenlebens eingedrungen war und dort die»Geheimgeschichte des Individuums« (1923d, S. 330) entziffert hatte, hielt sie den Schlüssel zum Verständnis psychischer Konflikte in der Hand. Freud wollte also an dem dunklen, zum Teil rätselhaften Fall demonstrieren, daß seine Art der Interpretation anderen Methoden überlegen ist. Seine Aufmerksamkeit richtete sich daher auf (vermeintli­ che) Unstimmigkeiten oder Widersprüche in den überlieferten Doku­ menten, selbst auf Details, die belanglos wirken, aber den Analytiker aufmerken lassen. Was auf den ersten Blick»Befremden« auslöst, weil es uns als»unlogisch« oder»absurd« anmutet, enthüllt einen tieferen Sinn, sobald die psychoanalytische Betrachtung Teile der Texte »Zurechtrük­ ken« und dabei »feine Zusammenhänge[ ] aufzeigen« kann. Wir wer.

.

.

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Johannes Harnischfeger

den im folgenden auf eine ganze Reihe von Details eingehen, die Freud für»merkwürdig« oder»befremdlich« hielt (S. 322f„ 326f., 329). Der ödipale Konflikt, auf den Freud als die Ursache der»Teufelsneuro­ se« hinweist, kann zu den unterschiedlichsten Krankheitssymptomen führen.Um zu erklären, warum Haizmann sich von dämonischen Vater­ figuren verfolgt sah, müssen also sehr viel genauere Gründe angegeben werden. Freud greift deshalb auf die Krankengeschichte des Senatspräsi­ denten Schreber zurück, einen Fall von Paranoia, den er einige Jahre zu­ vor ausgiebig kommentiert hatte. Als das auslösende Moment der

Sigmund Freuds Lektüre einer fernen Krankengeschichte

321

aber heftige Gegenreaktionen hervor, so daß sie auf äußere Personen projiziert wurden-gemäß dem paranoiden Mechanismus der Konflikt­ verarbeitung:»was als Liebe innen hätte verspürt werden sollen, wird als Haß von außen wahrgenommen« (S. 303). Der Wunsch, als Frau begehrt zu sein, wird also zum Inhalt der Verfolgung, nämlich des Wahns, ka­ striert zu werden, und die geliebte Vaterfigur, von der die Kastrations­ drohung ausgeht, nimmt bedrohlich monströse Züge an. Zwischen der Teufelsneurose aus der Barockzeit und der Paranoia im Wilhelmini­ schen Deutschland gibt es jedoch auffällige Unterschiede: Der Senats­

Krankheit erwiesen sich damals die zärtlich erotischen Strebungen, die

präsident Schreber hatte seinen Wunsch, sich»in ein Weib« zu verwan­

Schreber zunächst auf seinen Arzt Dr. Flechsig und dann auf andere Va­

deln, offen zum Ausdruck gebracht; bei Haizmann dagegen finden sich

tersubstitute richtete. In ihm erwachte die Vorstellung, »daß es doch ei­ gentlich recht schön sein müsse, ein Weib zu sein, das demBeischlaf un­

xuellen Einstellung gegenüber dem Vater. Als Indizien, die Freuds Dia­

terliege« (Schreber, zit. in Freud 1911c, S. 244). Doch zugleich sträubte

keine derartigenBekenntnisse, sondern allenfalls Spuren einer homose­ gnose stützen könnten, lassen sich aus den Dokumenten aus Mariazell im wesentlichen nur zwei eigentümliche Phänomene anführen: Der

er sich gegen diesen verführerischen Gedanken, insbesondere gegen die »Entmannung« (S. 250, 253), die damit verbunden war. Die Objekte sei­ ner passiv homosexuellen Wunschphantasien verwandelten sich in sadi­

Teufel erscheint dem Maler mit weiblichenBrüsten. Außerdem spielt die Zahl Neun eine auffallend wichtige Rolle.

stische Verfolger, und die Vorstellung, sich gleichgeschlechtlichen Be­

1. Daß Haizmann den Teufel mit großen, herabhängenden Brüsten ge­

ziehungen zu überlassen, verkehrte sich in einen Alptraum. Ihm schien nun, daß jene sexuellen Regungen, die er selbst als schmachvoll und wi­

malt hat, hielt Freud für ein »ungewöhnlich[es]« (1923d, S. 335) Detail, das sich nur mit Hilfe der Psychoanalyse erklären läßt. Spätere Interpre­

dernatürlich beurteilen mußte, gar nicht von ihm selbst ausgingen, son­ dern von seinen Widersachern; ja er entdeckte ein »Komplott« gegen

ten haben jedoch darauf hingewiesen, daß diese Form der Darstellung

sich, das von Dr. Flechsig ausging, bei dem aber»Gott selbst der Mitwis­

und Hunter (1956) sind z.B. ein Kupferstich von Albrecht Dürer und

auch bei anderen Künstlern vorkommt. In dem Buch von Macalpine

ser, wenn nicht gar der Anstifter« zu sein schien: Es ging darum, daß sein

andere Werke aus der frühen Neuzeit abgedruckt, in denen der Teufel

»Körper [. „] in einen weiblichen Körper verwandelt, als solcher dem

ebenfalls deutlich sichtbar weiblicheBrüste trägt. Aus der Sicht von Hi­

betreffenden Menschen zum geschlechtlichen Mißbrauch überlassen und dann einfach >liegengelassen<, also wohl der Verwesung anheimge­

storikern gibt es also an diesem Aspekt von Haizmanns Gemälden

geben werden sollte« (S. 251).

um unser Maler diese Art der Darstellung wählte, hätte er doch auch ei­

Daß sich hinter den feindseligen Gefühlen des Paranoikers im Grunde erotische Regungen verbergen, war eine erstaunliche, beinahe unglaub­ liche Entdeckung. Aber der Senatspräsident Schreber hatte diesen Zu­

ner anderen Konvention folgen und den Teufel ohne weibliche Attribu­

sammenhang in seinen Wahnphantasien offen ausgesprochen, und Freud vermutete, daß auch in anderen Fällen homosexuelle Wünsche das auslösende Moment der Paranoia bildeten (S. 299ff.). Um die Teu­ felsvisionen des Christoph Haizmann zu verstehen, mußte man also an­

nichts, was der Erklärung bedürfte. Trotzdem mag man sich fragen, war­

te malen können. Nach Meinung von Freud liegt der Grund in der ho­ mosexuellen Einstellung des Malers. Doch ist diese Erklärung nicht un­ mittelbar einsichtig, denn wenn der Teufel wirklich als Ersatz für den ge­ liebten Vater fungiert, müßte er sich gerade durch männliche Züge aus­ zeichnen, während die weiblichen Geschlechtsmerkmale dem Sohn vor­ behalten wären. In der Krankengeschichte des Dr. Schreber ist eine sol­

nehmen, daß der Ödipuskomplex bei ihm ebenfalls einen umgekehrten, negativen Verlauf genommen hatte. Statt mit dem Vater identifizierte sich der Junge mit der Mutter und richtete seine sexuellen W ünsche auf

che Trennung von Männlichem und Weiblichem tatsächlich zu beobach­ ten. Hier ist es der Kranke selbst, der am eigenen Körper wahrzunehmen

den gleichgeschlechtlichen Elternteil. Diese längst verdrängten homose­ riefen xuellen Regungen lebten dann beim Tod des Vaters wieder

Bei Haizmann hingegen und seinen Teufelsvisionen befinden sich die

glaubte, wie sich weibliche Brüste ausbildeten (Freud 191 lc, S. 266f.). Zeichen des Weiblichen nicht dort, wo man sie erwarten sollte, sondern

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Johannes Harnischfeger

genau am verkehrten Objekt: der Vaterfigur, die um ihrer Männlichkeit willen begehrt wird. Freud hilft sich aus dieser Verlegenheit, indem er annimmt, daß der junge Maler, weil er sich gegen die Kastration sträub­ te, die eigene Weiblichkeit auf den Teufel projizierte: »Die Ablehnung der femininen Einstellung [. „] findet regelmäßig ihren stärksten Aus­ druck in der gegensätzlichen Phantasie, den Vater selbst zu kastrieren, ihn zum Weib zu machen. Die Brüste des Teufels entsprächen also einer Projektion der eigenen Weiblichkeit auf den Vaterersatz« (1923d, S. 336).

Es mag sein, daß Haizmann, so wie einige von Freuds Patienten, die ei­ gene bedrohliche Weiblichkeit nach außen projiziert.hat. In den Manu­ skripten, die uns überliefert sind, findet sich freilich kein Hinweis dar­

Sigmund Freuds Lektüre einer fernen Krankengeschichte

chotische Patient hatte in seinem autobiographischen Text freimütig ge­ schildert, wie er nach der Befruchtung durch Gott(vater) die Bewegun­ gen eines Embryos in seinem Bauch verspürte (191 lc, S. 266). Bei Chri­ stoph Haizmann ist die Beweislage dagegen dürftiger. Selbst wenn man einräumt, daß die Zahl Neun auf eine Schwangerschaft hindeutet, muß man sie nicht als Beweis für eine homosexuelle Einstellung lesen. Macal­ pine und Hunter nehmen an, daß es bei Haizmann eher um prägenitale Zeugungsphantasien geht. Außerdem setzen sie die Zahl Neun zu einem anderen Element der Krankengeschichte in Beziehung, nämlich einer Vision, die ganz offensichtlich zurückführt in eine sehr frühe Phase kindlicher Erfahrungen, in der die Differenz der Geschlechter noch kei­

auf, und wir können den Maler nicht mehr danach befragen. Es ist also keineswegs zwingend, die Brüste des Teufels als ein Indiz für die femini­

ne Rolle spielt (1956, S. 111).

ne Einstellung des jungen Mannes zu lesen Qerouschek 2000, S. 81).

Neurose oder Psychose

Freud hat selbst eingeräumt, daß sich auch andere Erklärungen aufdrän­ gen, die ebenso plausibel sein mögen. Die Brüste des Teufels könnten

323

Nach Macalpine und Hunter (1956) gibt es nur einen Grund, warum

zum Beispiel »ein Anzeichen dafür[sein], daß die infantile Zärtlichkeit

Freud, trotz der dürftigen Indizien, die vermeintliche Homosexualität

von der Mutter her auf den Vater verschoben worden ist, und deutet so eine starke, vorgängige Mutterfixierung an« (1923d, S. 336f.). Das Pro­

tigt finden, was er zwölf Jahre zuvor über den Verfolgungswahn des Dr.

blem mit dieser Deutung ist wiederum, daß sie durch keine anderen Hinweise gestützt wird. Von Haizmanns Beziehung zur Mutter ist nir­ gends die Rede, weder in den Dokumenten der Geistlichen noch in sei­ nem Tagebuch. Es dürfte auch eher unwahrscheinlich sein, daß eine star­ ke Mutterfixierung vorlag, denn die Akten aus Mariazell führen uns zu­ rück in eine Zeit, lange bevor aufgeklärte Pädagogen und romantische Dichter die Mutterliebe propagierten (Badinter 1981, S. 113ff.; Kittler 1987, S. 3 lff.). 2. Was die Zahl Neun betrifft, so mag niemand unter den Freud-Kriti­ kern bezweifeln, daß sie ungewöhnlich häufig vorkommt. Nicht nur, daß der Satanspakt nach neun Jahren ausläuft; Haizmann gibt auch an, daß er das teuflische Angebot zunächst »neunmal[ ... ] von sich gewie­

des barocken Malers ins Zentrum seiner Analyse stellte: Er wollte bestä­ Schreber behauptet hatte. Und dieses Erkenntnisinteresse führte ihn notwendig in die Irre (S. 4, 8, 48). Betrachtet man im Vergleich dazu, wie nun die beiden britischen Psychoanalytiker die Krankheitssymptome lesen, so ist man überrascht zu sehen, daß sie sich noch enger an den Fall Schreber anlehnen. Allerdings deuten sie diesen Fall anders als Freud, denn nach ihrem Verständnis bildet die Homosexualität darin nichts weiter als ein »Seitenthema« (S. 115). Ähnlich wie sie urteilten übrigens auch andere Autoren, die den autobiographischen Text von Schreber zu­ sammen mit Freuds Kommentaren einer erneuten Analyse unterzogen hatten: »Die für die paranoische Psychose angeblich ausschlaggebende Homosexualität ist eigentlich ein in ihrem Fortgang artikuliertes Sym­ ptom« (Lacan 1957, S. 76, 100). Denn die Krankheit gestaltet sich als ein

sen« (13) habe. Und später, als er in Mariazell Hilfe sucht, begegnet uns

Prozeß fortschreitender Dissoziierung. Anfangs sind es deutlich er­

bei den Zeitangaben wiederum die Neun (Macalpine u. Hunter 1956,

kennbar Vater-Imagines, von denen sich der Patient verfolgt sieht, d. h.

S. 107ff.). In seiner Interpretation erinnert Freud daran, daß die Neun­

Bilder männlicher Autoritätsfiguren, mit denen sich das Ich zu identifi­

zahl bei seinen Patienten auf Schwangerschaftsphantasien verweist, und

zieren suchte, die aber, statt ins Über-Ich integriert zu sein, sich abspal­

er folgert daraus, daß Haizmann den Wunsch entwickelt haben muß,

ten und dem Ich als beobachtende und strafende Instanzen von außen entgegentreten. Das Über-Ich zersetzt sich also in jene Bestandteile, aus

dem Vater »ein Kind zu gebären« (1923d, S. 336). Auf dasselbe Motiv war Freud bereits in seiner Schreber-Analyse gestoßen. Es bedurfte hier

denen es sich gebildet hat. Mit der weiteren Regression, die auf prägeni­

gar keiner Anstrengung, den Kinderwunsch zu erkennen, denn der psy-

tale Stadien der Ich-Organisation zurückführt, nehmen die sadistischen Verfolger dann zunehmend narzißtische Züge an. Als Spiegelbilder oder

324

Sigmund Freuds Lektüre einer fernen Krankengeschichte

Johannes Harnischfeger

Doppelgänger des Ich entstammen sie einer Erfahrungswelt, die sich

325

daß es Ängste aufleben läßt, die der Säugling erfahren mußte, als er die Glieder seines Körpers noch nicht zu beherrschen wußte und sich von

noch nicht in männlich und weiblich ausdifferenziert hat. Für Macalpine und Hunter bildet die Ungewißheit über das eigene Ge­ schlecht den Kern der Schreberschen Psychose (vgl. 1956, S. 78), und da

unkontrollierbaren Regungen zerrissen fühlte (Lacan 1938, S. 69). Im Unterschied zu den chimärischen Teufelsdarstellungen, deren gro­

sie die Leidensgeschichte des Christoph Haizmann ganz analog dazu als eine Form der Schizophrenie verstehen, interpretieren sie seine

ment einen klareren Einblick in die Vorstellungswelt des Kranken. Ma­

teske Details sich nur schwer deuten lassen, gibt uns das Tagebuchfrag­

»Wahn«-Phantasien und die hypochondrischen Symptome ebenfalls in diesem Sinne: Die Schmerzen und Konvulsionen, ähnlich wie die stän­

calpine und Hunter

dig wiederkehrende Zahl Neun, verweisen auf ein prägenitales Geburts­ oder Zeugungsphantasma, und darin wiederum verdt sich ein »subjek­

vergessen sie zu erwähnen, daß die erotischen Wunschträume, die der

(1956, S. 104) heben hervor, daß sich in dem Text

keinerlei Hinweise auf homosexuelle Gefühle finden lassen. Allerdings Kranke seinem Tagebuch anvertraute, auch nicht auf einen Verlust an se­ xueller Identität hindeuten. Die Aufzeichnungen beginnen einige Wo­

tiver Verlust der sexuellen Identität« (1956, S. 111). Ähnlich verhält es sich mit der monströsen Teufelsfigur, die Haizmann in einer Serie von

chen nach der ersten Teufelsaustreibung, als er bereits aus Mariazell zu­

Zeichnungen und Bildern festgehalten hat. Ihr fehlen angeblich »alle

rückgekehrt war. Schon damals hatte er sich verpflichtet, einem Orden

Charakteristika sexueller Identität«, mit Ausnahme der großen Brüste (die aber, da sie zu einer narzißtischen, prägenitalen Phase »gehören«,

entsagen. Als ein erfolgloser, verarmter Maler hatte er die Freuden des

beizutreten, aber es fiel ihm offenbar nicht leicht, der sündigen Welt zu Diesseits nie wirklich ausgekostet. Die Dokumente der geistlichen Her­

ebenfalls keine sexuelle Bedeutung tragen): »nichts deutet darauf hin, daß die Figur >männlich, ja übermännlich< ist« (S. 102, 106, 112). Ein sol­ ches Urteil ist erstaunlich, wenn man die grotesk verzerrten Teufelsfigu­

und auch nach seinen eigenen Worten sah er sich»van iedermann izt ver­

ren betrachtet. Sie tragen nämlich eindeutig männliche Gesichtszüge, meist mit Bart, dazu Hörner, Klauen und zweimal einen schlangenarti­

lasßen« (8). Um so verführerischer gestaltete sich in seinen Visionen jene Welt, durch die der Satan ihn verlockte. Er sah einen aus lauter Gold­

gen Schwanz. Aber selbst dort, wo zwischen den Beinen eine große ge­ wundene Schlange hervorragt, vermögen die beiden Interpreten kein

stücken aufgerichteten T hron, auf dem er Platz nehmen sollte, damit die Menschen ihm als ihren »König« (9) huldigen. Außerdem erblickte er

Phallus-Symbol zu erkennen: »Die Schlangen, die ihn verzieren, lassen

die »schönsten Frauenzimer«

sich weder in Form und Größe noch von ihrer Position her mit einem Penis vergleichen« (S. 102). Daß die männlichen Genitalien hier nicht

prunkvoll erleuchteten Sälen tanzten. Doch wenn sich ihm eine dieser

ren nennen ihn einen »armen, von jeder Hilfe verlassenen Mann«

(13),

(8), die mit wohlgekleideten Kavalieren in

Frauen näherte, regte sich in ihm zugleich die Angst, und er schrie ver­

naturgetreu wiedergegeben sind, ist sicher richtig. Aber eine Ähnlich­

zweifelt»Jesus, Maria, Joseph!« (8). Bilder der Hölle tauchten vor seinen

keit ist unverkennbar, und wie jedermann weiß, gehört es zum Wesen von Symbolen, daß sie durch ihre Gestalt auf etwas verweisen, das sie

Augen auf, mit Feuer und Gestank, Pech und Schwefel. Er betete den Rosenkranz und besuchte die Kirche; aber selbst im Stephansdom ver­

nicht realistisch nachbilden.

folgten ihn die Bilder des Bösen. Denn unter den Gläubigen fiel sein

Problematisch erscheint mir auch die Annahme, daß weder die Zeich­ nungen noch die Tagebucheintragungen Kastrationsängste erkennen

Blick auf eine »wackere Jungfrau« in Begleitung eines »wol aufgepuz­

lassen

Krallen und Klauen, die das Opfer zu zerreißen drohen, fällt auf, daß

eben jener vom Glück begünstigte Herr zu sein. Sein Begehren folgte al­ so, selbst in den Momenten religiöser Andacht oder dämonischer Beses­

sich in ihnen das Furchteinflößende mit dominanter Männlichkeit ver­

senheit, dem üblichen ödipalen Schema: Er identifizierte sich mit einer

(S. 108). Gerade an den Darstellungen des Teufels, mit seinen

te[n] Herr[n]«

(10), und er konnte sich des Gedankens nicht erwehren,

bindet. Man könnte einwenden, daß die Vorstellung, zerrissen und zer­

männlichen Rolle und richtete seine sexuellen W ünsche auf ein weibli­

stückelt zu werden, an ein prägenitales, narzißtisches Trauma rührt. Doch das schließt nicht aus, daß die Bedrohung von einer ödipalen, vä­

ches Objekt. Was Angst und Begierde auf sich zieht, sind nicht die geschlechtslosen,

terlichen Autorität ausgeht. Das Phantasma der Kastration bezieht sich

hybriden oder »hermaphroditischen« (Macalpine u. Hunter

genau auf jene imaginäre narzißtische Einheit des Körpers, die sich in ei­

S.

ner frühen Phase ausgebildet hat. Seine Wirkung beruht gerade darauf,

eine Welt präödipaler Spiegelbilder kann nicht die Rede sein, und

1956, 102) Gestalten einer narzißtischen Phantasie. Von einem Rückzug in

r

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Sigmund Freuds Lektüre einer fernen Krankengeschichte

Johannes Harnischfeger

macht es wenig Sinn, von einer schizophrenen Regression zu sprechen. Nach der Definition Freuds, die die verschiedensten psychischen Er­

327

drängung der W ünsche, sondern eine Verleugnung der Realität. Dem widerspricht jedoch, daß die symbolische Ordnung - und ihr Kern, das

krankungen grob in zwei Kategorien einteilt, läßt sich der Unterschied

ödipale Gesetz - offenbar nicht verworfen wurde.

zwischen neurotischen und psychotischen Störungen auf eine knappe Formel bringen: W ährend der Neurotiker W ünsche verdrängt, die in

- Der Widerstand gegen die anstößigen W ünsche geht nicht von unbe­ wußten Zensurinstanzen aus, und es entstehen auch keine Schuldgefüh­

Konflikt mit der Realität geraten, verleugnet der Psychotiker diese Rea­

le. Statt dessen kommt es zu einer ungewöhnlichen Form der Angstbil­

lität (1924b, S. 387f.; 1924e, S. 365). Am Beispiel von Schrebers Wahnsy­ stem läßt sich gut illustrieren, wie die soziale Ordnung, die sich um das

dung, die durch äußere Mächte ausgelöst wird. Geister, Engel und Dä­

Gesetz der Triebunterdrückung konstituiert, verworfen wird. Die

monen dringen auf ihr Opfer ein, nehmen von ihm Besitz und verwan­ deln seinen Körper in ein Schlachtfeld widerstreitender Kräfte (was wie­

phantastische Welt, die Schreber in der Abgeschiedenheit seines Kran­

derum an psychotische Konflikte gemahnt).

kenzimmers konstruiert, beseitigt die Hindernisse, die sich seinen sexu­ ellen Gelüsten entgegenstellen, indem sie die Ächtung homosexueller

Sehnsucht nach dem Vater

Liebe in ein göttliches Gebot verwandelt. Die »Weltordnung«, wie sie sich ihm durch fremde Stimmen offenbart, verlangt von ihm gebiete­

Aus der Perspektive einer klassischen Psychoanalyse stehen wir vor ei­

risch, daß er sich in das »Weib« Gottes transformiert, um auf dem Wege

nem paradoxen, beinahe widersprüchlichen Befund. Der barocke Maler

göttlicher »Befruchtung« »neue Menschen aus Schreberschem Geist«

zeigt unverkennbar Zeichen von Ich-Spaltung oder Dissoziierung; er

hervorzubringen (Schreber, zit. nach Freud 191 lc, S. 253, 294). Christoph Haizmann dagegen schließt sich nicht durch eine deviante

wird von Geistern überwältigt, verliert dabei die Kontrolle über den Körper und verfällt in eine Art Stupor, der ähnlich wie die schizophrene

Ordnung von seinen Mitmenschen ab. Sein Ringen mit Engeln und Teu­

Katatonie von intensiven Halluzinationen begleitet ist. Gleichzeitig äu­

feln macht zwar auf aufgeklärte Leser den Eindruck, als flüchte er sich in eine Wahnwelt, in eine Welt grotesker Konfusion, in der sich Männli­

ßert er ein ganz normales heterosexuelles Begehren. Ähnliche Verhal­

ches und Weibliches, Menschliches und Tierisches verwirren, um in ab­

ten beobachten. Daß spirituelle Mächte die Menschen verfolgen und in

tensweisen lassen sich freilich in vielen außereuropäischen Gesellschaf­

strusen Konstellationen neu zusammenzutreten. Doch für Haizmann

sie eindringen, sie dadurch krank und besessen machen oder ihnen Kraft

ist die Wirklichkeit nicht untergegangen; er hat sich keineswegs von frü­ heren Objektbesetzungen gelöst. Der Anblick schöner Frauen und

und Stärke verleihen, gilt oft als Teil der normalen Erfahrungswelt. Es

prächtiger Reichtümer erregt weiterhin sein Verlangen, und mit der Be­ gierde erwacht zugleich die Angst vor Strafe, die bezeichnenderweise von väterlichen Autoritäten ausgeht.

hindert die Menschen nicht daran, ihre vorgeschriebenen männlichen oder weiblichen Funktionen zu erfüllen, ja es trägt sogar dazu bei, sozia­ les Verhalten zu stabilisieren. Denn die Intervention von (Ahnen-) Gei­ stern und Dämonen, selbst die Angst vor Hexen und Zauberern, zwingt

Es scheint, als habe Freud die ungewöhnliche Fallgeschichte behutsamer

meist dazu, die Regeln der Gemeinschaft einzuhalten (Evans-Pritchard

beurteilt als manche seiner Kritiker. Angesichts der engen Bindungen,

1976).

die den Kranken an die Welt irdischer Genüsse fesselten, scheute er wohl

Offenbar hat sich Freud nicht bewußt gemacht, wie sehr die Welt des 17.

davor zurück, den barocken Maler paranoid oder psychotisch zu nen­ nen. Er kreierte statt dessen den Begriff »Teufelsneurose« (wobei das

Jahrhunderts dem modernen Denken fremd ist. Er nahm an, daß die

Attribut »Teufel« wohl auf die paranoiden, wahnhaften Züge anspielen soll). Aber näher betrachtet fehlen in der Krankheitsgeschichte des

chischen Konflikte zum Ausdruck bringen, nur eben wie auch die Neurosen der Kinderzeit - in einer elementaren, weniger entstellten

Christoph Haizmann entscheidende Charakteristika einer Neurose:

Form. Das historisch Ferne wäre uns demnach leichter und unmittelba­ rer zugänglich als die verdrängten Elemente unserer eigenen Psyche. Was an der barocken Teufelsneurose auf den ersten Blick befremdlich

- Die anstößigen Wunschphantasien werden nicht verdrängt, sondern artikulieren sich, wie es scheint, ungewöhnlich offen, in einer kaum ent­ stellten Form. Bei modernen Patienten würde das eher auf psychotische Formen der Konfliktverarbeitung hindeuten, also nicht auf eine Ver-

neurotischen Erkrankungen früherer Zeiten im Prinzip dieselben psy­

wirkt und sie von den Symptomen moderner Patienten unterscheidet, scheint demgegenüber etwas Akzidentelles zu sein, das für die psycho-

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Sigmund Freuds Lektüre einer fernen Krankengeschichte

Johannes Harnischfeger

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logische Betrachtung nicht wirklich von Belang ist. Freud ließ sich je­ denfalls nicht davon beirren, daß die Neurosen vergangener Jahrhun­ derte »im dämonologischen Gewande auftreten« (1923d, S. 317), und

wäre dann wie eine Erfüllung der eigenen unbewußten Mordphantasien

daraus erklärt sich, warum er den hervorstechendsten Zug in der Kran­

erschienen, und der Kranke hätte sich, um das aufkeimende Schuldge­

kengeschichte des barocken Malers, nämlich die Besessenheit, nicht wei­

fühl niederzuringen, um so strikter dem väterlichen Willen unterwor­

ter beachtet hat. Heutige Interpreten, insbesondere Ethnopsychoanaly­ tiker, würden die Besessenheit als eine eigenständige, kulturell geprägte

fen.2

Form psychischer Konfliktverarbeitung betrachten (Crapanzano 1977, S. 12ff.; Nathan 1988, S. 60ff.; Pfeiffer 1972, S. 34f.). Freud dagegen sah in ihr nur die äußere Hülle der Krankheit, und seine ganze Anstrengung richtete sich darauf, jene psychischen Kräfte zu identifizieren, die sich hinter dem historischen Kostüm verbergen: »Die Besessenheiten ent­ sprechen unseren Neurosen[ ...]. Die Dämonen sind uns böse, verwor­ fene Wünsche, Abkömmlinge abgewiesener, verdrängter Triebregun­ gen« (1923d, S. 317f.). In den Nachstellungen Satans und den Reaktio­ nen seines Opfers ließen sich somit all jene Phänomene des ödipalen Dramas erkennen, die dem Analytiker des 20. Jahrhunderts längst ver­ traut waren: Reue und Schuld, schlechtes Gewissen und nachträglicher Gehorsam. Aus den Studien von Historikern wissen wir heute, daß sich psychische Kontrollinstanzen wie das Gewissen oder das Über-Ich erst ausbilden konnten, nachdem die bürgerliche Kleinfamilie einen Prozeß der Inter­ nalisierung möglich gemacht hat. Solange die Menschen das Gefühl hat­ ten, nur äußeren Zwängen zu gehorchen, waren sie nicht durch Schuld an die bestehende Ordnung gekettet. Wie sich das Verhältnis zu den reli­ giösen und weltlichen Autoritäten gestaltete, läßt sich nachzeichnen, wenn wir die Dokumente aus Mariazell genauer betrachten. Haizmann hatte gegenüber den geistlichen Herren erklärt, er sei nach dem Tod des Vaters, unmittelbar bevor er sich dem Teufel verschrieb, »in Kleinmut versunken« und habe begonnen, »an dem Fortschritt in seiner Kunst und an seinem Auskommen zu verzweifeln« (13 ). Freud sah darin An­ zeichen einer »melancholischen Depression« und folgerte daraus, daß der Kranke an seinem verstorbenen Vater »mit besonders starker Liebe gehangen« habe (1923d, S. 333). Auch die »Arbeitshemmung« (ebd.), die zusammen mit der Depression auftrat, könne sich - seiner Meinung nach - aus der engen Bindung an den Vater erklären. Denn der Sohn sei möglicherweise gegen den väterlichen Willen Maler geworden, und als der Vater starb, habe er sich durch den Verlust seiner kreativen Fähigkei­ ten in »nachträglichem Gehorsam« (ebd.) selbst gestraft. Von »Reue« und »Selbstbestrafung« (S. 334) zu reden macht jedoch nur Sinn, wenn

man voraussetzt, daß der junge Mann die Aggression gegen den Vater verdrängt und dessen Autorität verinnerlicht hatte. Der Tod des Vaters

Für den Psychoanalytiker sind es also vertraute Motive, die den Kran­ ken dazu verleiten, einen Bund mit dem Teufel einzugehen: Der junge Mann war depressiv ; seine Depression entstand durch den Tod des ge­ liebten Vaters, und sie stürzte ihn in Selbstzweifel und Angst um die be­ rufliche Zukunft. Ähnliches hatte Freud selbst empfunden, nachdem sein Vater im Oktober 1896 gestorben war, und deshalb liegt die Vermu­ tung nahe, daß er die Passion des barocken Malers vor dem Hintergrund der eigenen depressiven Erfahrungen gelesen hat.3 Doch wenn man die Akten aus Mariazell näher betrachtet, gibt es wenig Grund anzuneh­ men, daß sich Haizmann aus »Sehnsucht nach dem [verstorbenen] Va­ ter« dem Teufel als »Vaterersatz« (S. 334, 327) übereignet hat. Freud kann für seine Deutung nicht viel mehr anführen als ein Detail, das ihm »ganz unlogisch« und »absurd« (S. 326) erschien. Ihm war nämlich auf­ gefallen, daß in den beiden Verschreibungen nicht von irgendwelchen Leistungen des Teufels die Rede ist, sondern nur von Verpflichtungen der anderen Vertragspartei, also des Malers: »Ich Christoph Haizmann unterschreibe mich disen Herrn sein Leibeigent Sohn auff 9. iahr« (6). 2

Diese Diagnose geht von der Annahme aus, daß sich die Melancholie aus übersteigerten Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen erklärt (vgl. Freud 1916-17g, S. 433f.; l 923b, S. 281f.; ähnlich R6heim, 1968, S. 473). Für Patienten, wie sie heutige Psychoanalytiker vor Augen haben, mag das zutreffen; doch in älteren Quellen -wie Robert Burtons Studie Anatomie der Melancholie (1621), die die gesamte Literatur bis 1621 zusammenfaßt-spielen Schuld­ gefühle keine Rolle. Erst in späteren Texten des 17. Jahrhunderts wird vereinzelt erwähnt, daß einige der Kranken über Schuldgefühle klagen. Erstaunlich ähnliche Beobachtungen macht man im zeitgenössischen Afrika, zumindest südlich der Sahara. Psychiater aus die­ ser Region sprechen davon, daß 15 bis 20 % ihrer Patienten unter Depressionen leiden, doch dabei gehören Schuldgefühle in der Regel nicht zu den Krankheitssymptomen (Mur­ phy 1978, S. 230, 234). 3 David Bakan (1958, S. 215) hat darauf hingewiesen, daß Freud jene psychischen Umstän­ de, die den unglücklichen Maler in die Arme des Teufels trieben, auffallend ähnlich be­ schrieb wie seine eigene Situation um die Jahreswende 1896/97. Merkwürdigerweise ist da­ mals, nach dem Tod des Vaters, sein Interesse an Hexerei und mittelalterlichen Teufelsdar­ stellungen erwacht. Folgt man der Interpretation von Bakan, dann lassen sich auch in Freuds Leben abgründige Erfahrungen entdecken, die an einen Teufelspakt gemahnen, insbesondere jene »Kokain-Episode«, die in einer Phase seines Lebens begann, als seine Karriere zu stagnieren schien und er jahrelang keine Forschungsarbeiten veröffentlichte. Kokain wirkte zunächst als eine »magische Droge«, die seine Arbeitsfähigkeit steigerte, doch langsam entfaltete es eine Art schwarzer Magie Qones 1953, S. 102ff).

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Sigmund Freuds Lektüre einer fernen Krankengeschichte

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331

Da dieser Vertrag nicht von Geld, Macht und anderen teuflischen Gaben spricht, nahm Freud an, daß es dem Unterzeichner gar nicht auf solche

Was in den Schriftstücken der Geistlichen an Informationen über den

materiellen Dinge ankam. Wenn Haizmann dennoch sein Seelenheil ver­

mußte Rede und Antwort stehen, nachdem er beim sonntäglichen

pfändete, mußte er ein anderes, verborgenes Motiv haben; und dieses Mo­ tiv ließ sich, mit etwas psychologischem Scharfsinn, aus dem Wortlaut des Vertrags herauslesen: Der vereinsamte junge Mann verpflichtete sich nur

Kirchgang in Pottenbrunn »Zum Schrecken aller Umstehenden von ge­ wissen nicht natürlichen Convulsionen geschüttelt wurde« (12). Zu­

deshalb, die Rolle des Sohnes zu spielen, damit der Teufel ihm gegenüber

Satanspakt enthalten ist, hat Haizmann nicht freiwillig mitgeteilt. Er

nächst »verhörte« (13) ihn der Verwalter von Schloß Pottenbrunn, und

die Funktion eines Vaters übernimmt.

dabei geschah es- sei es aus Unbedachtsamkeit, sei es auf äußeren Druck -, daß der junge Mann einen Pakt mit dem Teufel »gestand« (13): ein fa­

Freuds Argumentation setzt voraus, daß es bei derartigen Verträgen üb­

tales Delikt, zumal im 17. Jahrhundert, in dem die europäischen Hexen­

lich war, »Leistungen oder Verpflichtungen des Teufels« »ausdrücklich« zu »erwähnen« (1923d, S. 324). Doch das war, wie spätere Interpreten her­

eine Strategie ausdenken, um sich gegen eine mögliche Strafverfolgung

vorheben, keineswegs der Fall (Macalpine u. Hunter 1956, S. 110; Midel­ fort 1986, S. 634f.). Wenn sich Hexen und andere Teufelsbündler dem Wi­ dersacher Gottes unterstellten, konnten sie selbstverständlich erwarten,

verfolgungen ihren Höhepunkt erreichten. Natürlich mußte er sich nun zu schützen. Im nachhinein konnte er nicht einfach leugnen, was nach allgemeinem Verständnis zu einem solchen Vertrag gehörte, nämlich Leistungen des Teufels. Abzustreiten, daß sein neuer Herr ihm Reich­

die Protektion ihres neuen Patrons zu genießen. Und auch im Fall Haiz­ mann erfahren wir, daß der Teufel wiederholt an ihn herantrat, um ihm mit

tum und magische Kräfte versprach, hätte niemanden der geistlichen oder weltlichen Herren überzeugt. Wie die Zeichnungen des Malers be­

materiellen Gaben zu Diensten zu sein. In einer Zeichnung des Malers ist

zeugen, hatte ihm der Versucher natürlich einen Beutel mit Dukaten an­ geboten, außerdem ein Buch mit magischen Formeln; doch mochte er

zu sehen, wie ihm der Teufel ein Buch präsentierte, »darin lauter Zauberey und schwarze Kunst« (5) beschrieben war. Außerdem bot er ihm einen Beutel mit Dukaten an. Doch in den Bildunterschriften versichert der Ma­ ler, daß er das Geld von sich gewiesen und das Zauberbuch verbrannt habe (5). Das Desinteresse an diesen verführerischen Angeboten steht nun aber in auffälligem Gegensatz zu den Aufzeichnungen des Tagebuchs, aus de­ nen heftiges Verlangen nach Reichtum, Macht und sexuellen Vergnügun­ gen spricht. Es gäbe daher Grund, sich zu fragen, ob die öffentliche Selbst­

diese Angebote nicht annehmen (und er war ja, wie alle Welt bezeugen konnte, in der Tat nicht reich geworden). Leider erfahren wir nicht, war­ um er- nach eigenem Bekunden- Dinge von sich wies, die ihm vertrag­ lich zustanden. Sein Verhalten- oder genauer: was er den hohen Herren über sein Verhalten sagte- wirkt beinahe paradox. Er handelte, als wür­ de er sich auch nach Abschluß des Teufelspakts an göttliche Gebote ge­ bunden fühlen, als sei also das Band mit Gott gar nicht abgerissen. Die

darstellung des Malers nicht darauf berechnet war, die eigene Verstrickung

Entscheidung, ob er den Einflüsterungen des großen Verführers folgt

in satanische Künste herunterzuspielen. Doch Freud bedenkt an keiner

oder den Forderungen Gottes, schien noch gar nicht gefallen zu sein; er

Stelle seines Aufsatzes, daß der vom Teufel Besessene sich gegen den Ver­ dacht versichern mußte, Hexerei oder schwarze Magie zu betreiben. Die

präsentierte sich vielmehr als eine Person, die zwischen himmlischen und diabolischen Kräften hin und her gerissen ist und deshalb den Bei­

Aussagen beim Verhör in Schloß Pottenbrunn und später im Kloster Ma­

stand der Kirche braucht.

riazell werden völlig losgelöst von ihrem institutionellen Kontext betrach­ tet, so als könnten sie für sich genommen über die »eigentlich[en]« (Freud

Daß er kurz zuvor, bei jenem peinlichen Vorfall in der Kirche, den Ein­ druck erweckt hatte, besessen zu sein, konnte in diesem Zusammenhang

1923d, S. 325) Motive des Betroffenen Auskunft geben. Was womöglich

nur von Vorteil sein. Denn Personen, in die dämonische Mächte ein­

als Ausrede gedacht war, um sich vor Verfolgung durch kirchliche Autori­

drangen, galten als hilflose Opfer, während Teufelsbündler, die aus frei­ en Stücken eine Allianz mit dem Bösen suchten, sich als T äter zu verant­

täten zu schützen, gilt bei Freud als Tatsachenaussage und soll die T hese Vaterfigur wichtig war, nicht aber die materielle Gratifikation: »Da er nun

worten hatten. Die Obrigkeit ließ Besessene daher, trotz ihrer intimen Verbindung mit Dämonischem, in aller Regel nicht hinrichten; man be­

Zauberkünste, Geld und Genuß zurückweist, [ . . . ] wird es wirklich dring­ lich zu wissen, was dieser Maler eigentlich vom Teufel wollte« (ebd.). Und

mühte sich eher, ihnen Hilfe zu geben, und besonders die katholische Kirche suchte sie durch Exorzismen und christliche Fürbitte zu schüt­

die Antwort lautet: Liebe, nicht Geld.

zen (Ernst 1972, S.

stützen, daß dem jungen Mann die affektive Seite seines Verhältnisses zur

121). Bei Christoph Haizmann, der zugleich ei-

332

Johannes Harnischfeger

nen Teufelspakt gestanden hatte, handelte es sich allerdings um einen seltsam ambivalenten Fall. Er mußte seine Umwelt davon überzeugen, nicht mit schwarzer Magie und Teufelsgeld befaßt zu sein, um nicht den Zorn der geistlichen Herren zu provozieren, sondern ihr Mitleid. Und es scheint, er hatte Glück, daß man ihn auf eine Wallfahrt nach Mariazell schickte und nicht in den Kerker. Sein Schicksal ist aber keineswegs un­ gewöhnlich, denn auch in anderen katholischen Regionen konnten Be­ sessene auf Milde hoffen, selbst wenn sie sich »als >Teufelsbündler< be­ zeichneten und sich so in die Nähe der Hexen mit ihrem Teufelspakt stellten« (S. 121).4 Es ist denkbar, daß Haizmann auch andere Elemente seiner Teufelsge­ schichte erfunden hat, um möglichen Anklagen der Behörden zuvorzu­ kommen. Man mag sich z.B. fragen, ob der Teufel ihm bei der erstenBe­ gegnung tatsächlich in Gestalt eines ehrbaren Bürgers entgegentrat. Für Freud handelte es sich hier um ein wichtiges Detail, schien es doch seine These zu belegen, daß der Teufel vor allem als Ersatz für den geliebten Vater angesehen wurde. Vor dem Hintergrund zeitgenössischer Hexen­ verfolgungen könnten jene beidenBilder, die den Teufel wie eine gütige Vaterfigur darstellen, aber auch die Funktion haben, den Maler von Schuld zu entlasten: Offenbar hatte er als Jugendlicher den Leibhaftigen nicht unter seiner Maske erkannt, und dafür spricht auch, daß in der er­ sten Fassung des Vertrags nicht vom Satan die Rede ist, sondern ganz va­ ge und unverfänglich von »disen Herrn« (6). Mit Hilfe der vorliegenden Dokumente läßt sich natürlich nicht rekonstruieren, was damals, vor mehr als 300 Jahren, wirklich geschah. Wir wissen nicht einmal, was Haizmann mit seinen Teufelsdarstellungen intendierte. Aber wir haben Informationen darüber, wie seine Präsentation der Ereignisse auf seine Umwelt wirkte. In dem Volkslied, das eben zu jener Zeit von den wun­ dersamen Begebenheiten in Mariazell kündete, heißt es, der »Mahler­ Jung« habe »ausz Unverstand« den ersten Vertrag unterschrieben. Spä4 Statt Teufelsbündler zu exekutieren, konnte es für die katholische Geistlichkeit von Vor­ teil sein, an ihnen die Macht kirchlicher Gnadenmittel zu demonstrieren. Die Gegenrefor­ mation fand zuweilen auch Gefallen daran, öffentliche Exorzismen zu inszenieren, um den Gläubigen vor Augen zu führen, daß die Kräfte des Himmels unmittelbar in die physische Welt hineinwirken. Auf diese Weise konnte ein fasziniertes Publikum beobachten, wie Menschen durch die Gewalt von Dämonen zu Boden geworfen wurden und sich unter den Attacken ihrer unsichtbaren Peiniger in Krämpfen und Schmerzen hin und her wälzten, bis es den Priestern und ihren himmlischen Verbündeten schließlich gelang, das vom Teufel besessene Territorium des Körpers zurückzuerobern. Solch eindrucksvollen Spektakeln hatte die protestantische Kirche nicht viel mehr entgegenzusetzen als die fromme Mah­ nung, auf die Kraft des Gebets zu vertrauen (Roper 1994, S. 172ff.; Midelfort 1986, s. 642ff.).

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ter dann, als aus dem alten Mann »ein Teuffel« wurde, sei er »erschrök­ ken« gewesen, weil ihm jetzt erst klar wurde, auf wen er sich eingelassen hatte (zit. nach Vandendriessche 1965, S. 13f.). Schließlich mag man auch fragen, ob der Pakt mit dem Teufel wirklich am Beginn seiner Krankheit stand. Hatte er als Sechzehn- oder Sieb­ zehnjähriger tatsächlich einen Zettel mit Tinte und später mit Blut be­ schrieben, durch den er sich dem Satan verpflichtete? Oder glaubte er nur im nachhinein, als er von Krämpfen und Visionen heimgesucht wur­ de, daß er dem Teufel durch eine alte Verschreibung Macht über seinen Körper eingeräumt habe? Womöglich hat er den Satanspakt erst in dem Moment erfunden, als man ihn zwang, Auskunft zu geben über seine Anfälle von Besessenheit. Denn beim Verhör im Schloß Pottenbrunn wurde er direkt gefragt, »ob er [„ .] in einen Pakt mit dem Teufel ver­ strickt sei« (13). Daß er in dieser Situation das fataleBündnis zwar einge­ stand, es aber in seine Jugendzeit zurückverlegte und es mit dem Tod des Vaters verknüpfte, klingt fast wie eine improvisierte Geschichte, die dar­ auf abzielte, Mitleid zu wecken. Für heutige Leser ist es freilich nicht möglich zu entscheiden, wo man die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion ziehen soll. Sicher ist nur, daß der verdächtige junge Mann sich nicht ohne Betrug und Heuchelei aus der Affäre ziehen konnte. Die Rückgabe der Verschreibungen durch den Teufel zumBeispiel hat er be­ wußt inszeniert, um die Mönche in Mariazell zu täuschen. Schon bevor er in die Kapelle trat, um sich dem Exorzismus zu unterziehen, muß er das mitBlut beschriebene Stück Papier an sich genommen und unter sei­ nen Kleidern verborgen haben, um es dann im rechten Augenblick her­ vorzuziehen und zu behaupten, er habe es soeben aus der Hand des Teu­ fels erhalten. Auffällig ist zudem, daß die Tagebuchnotizen nie auf einen Teufelspakt Bezug nehmen. Die Angst vor dem Teufel und anderen spi­ rituellen Mächten ist hier zwar auf jeder Seite spürbar, aber sie steht nicht im Zusammenhang mit vergangenen Ereignissen, sondern mit un­ mittelbar gegenwärtigen Begierden: mit den Träumen von Macht, Reichtum und schönen Frauen. Je genauer man die Akten aus Mariazell betrachtet, desto mehr verliert sich der Zusammenhang von Teufelserscheinungen und Sehnsucht nach dem Vater im Dunkeln. Was uns dieBerichte der geistlichen Chronisten über die Geständnisse des jungen Mannes verraten, erlaubt keine so ein­ deutige Interpretation, wie Freud sie vorschlägt. Und in dem Tagebuch­ fragment ist von der Beziehung zum Vater sowie von jener (möglichen) Depression der Jugendzeit nicht die Rede. Es fehlen hier im übrigen auch Belege für andere pathogene Elemente, die Freud mit seinem Hin-

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weis auf den (negativen) Ödipuskomplex einfach voraussetzt, nämlich

Mächte forderten daher in gebieterischem Ton, daß er sich in den Willen

Gefühle von Schuld und Reue.

Gottes ergebe, ja sie verlangten sogar, daß er für sechs Jahre das Leben ei­ nes Einsiedlers führe (10). Wir haben es also nicht nur mit einem Teufels­ pakt zu tun, sondern auch mit einer Verschreibung an den himmlischen Vater (Midelfort 1986, S. 640). Beide Seiten versuchten mit allen Mitteln -

Die Ähnlichkeit von Gott und Teufel Für moderne Leser halten die Tagebuchaufzeichnungen eine ganze Rei­

sei es durch Überredung oder brutale Gewalt -, Leib und Seele des ver­

he von Überraschungen bereit. Dazu gehört nicht nur der Mangel an

armten Malers in ihren Besitz zu bringen. Und der junge Mann besaß

Reue, Selbstzweifeln und Gewissensbissen. Auffälliger ist noch ein an­ deres Phänomen: Haizmann sah sich nicht nur vom Teufel verfolgt, son­ dern auch von Gott - ein Umstand, den auch Freud irritierend fand:

nicht genügend innere Stärke, um seine Unabhängigkeit zu wahren. Die Aussicht, sein Leben als Einsiedler zu fristen, war für einen 25jähri­

»Merkwürdig, daß er unter diesen himmlischen Erscheinungen [ .. J

ner schön begrünten Heide eine ganze Kolonie von Einsiedlern, darun­

.

gen Mann wenig attraktiv. In einer seiner Visionen sah Haizmann auf ei­

nicht minder litt, als früher unter dem Verkehr mit dem Teufel« (1923d,

ter einen alten Mann, »ganz verwaxen, mit ein langen grauen Parth« (10),

S. 323). Doch ist Freud dieser rätselhaften Erscheinung nicht weiter

der schon seit 60 Jahren seine Höhle nicht mehr verlassen hatte. Da täg­

nachgegangen - vielleicht, weil sie in direktem Widerspruch zu zentra­

lich ein Engel kam und ihn speiste, war für seine elementarsten materiel­

len Passagen seiner Analyse steht. Seine Mutmaßungen über latente Ho­

len Bedürfnisse gesorgt; doch dafür hatte er alle sinnlichen Genüsse ge­

mosexualität, Kastrationsangst und Verfolgungswahn gehen von der

gen eine kümmerliche Existenz eingetauscht. Das Gesetz der Versagung,

Annahme aus, daß Gott und der Teufel nur verschiedene Abbilder des

das im Namen des göttlichen Vaters ergeht, hatte sich hier in radikaler Weise durchgesetzt. Statt irgendwann selbst in die Position des Vaters

leiblichen Vaters darstellen. Aus psychoanalytischer Sicht tragen die beiden mythisch-religiösen Figuren nur deshalb »entgegengesetzte Ei­ genschaften«, weil sie die widersprüchlichen Haltungen des Sohns ge­ genüber dem Vater spiegeln (S. 331). Diese Erklärung klingt ganz plausi­

hineinzuwachsen und eine Familie zu gründen, blieb der Einsiedler da­ zu verurteilt, die Rolle eines Mündels zu spielen: abgeschlossen von der Welt und abhängig von der Nahrung der Engel. Gegen diese göttliche

bel; sie hat nur den Nachteil, daß sie auf unseren Fall nicht anwendbar

Zumutung sträubte sich Haizmann mit all der Kraft seiner unerfüllten

ist. Denn in der religiösen Welt des barocken Malers begegnen wir kei­ nem »gütigen und gerechten Gott«, der im Gegensatz stünde zu einem

Begierden. Immer wieder überkamen ihn Wunschphantasien, die ihn in eine prunkvoll-aristokratische Welt mit eleganten Kavalieren und schö­

Widersacher, der durch seine furchteinflößenden Züge die »feindliche

nen Frauen versetzten. Die verbotenen Lüste waren also nicht ver­

Einstellung« (ebd.) gegenüber dem Vater zum Ausdruck bringt. Der

drängt, sondern traten völlig klar und unverstellt ins Bewußtsein. Da

christliche Gott tritt vielmehr ähnlich bedrohlich auf wie sein Gegen­ spieler. Von Güte und Gerechtigkeit ist nichts zu spüren; allenfalls läßt

Haizmann von sich aus keine Bereitschaft zur Askese erkennen ließ, ver­ suchten die himmlischen Mächte mit Gewalt, ihn auf den Pfad der Tu­

er ein wenig väterliche Fürsorge erkennen, aber darin unterscheidet er

gend zu führen.Jesus selbst (oder ein Engel) sprach zu ihm und drohte

sich nicht von seinem Rivalen. Auch der Satan hatte sich bei der ersten

ihm »mit der Ewigen Pein« (9), ja er nahm ihn an die Hand und stieg mit ihm hinab in die Hölle, wo der junge Mann inmitten von Flammen und

Begegnung mit offensichtlicher Anteilnahme danach erkundigt, warum der junge Mann so »bestürzt und traurig« sei: »er wolle mir aus meinen anligen gar woll helffen, so ich mich als Seinen Sohn [ ...J verschreiben

abscheulichem Gestank beobachten konnte, wie ein Teufel brennendes Harz, Pech und Schwefel auf die Sünder gießt. Doch auch das Stöhnen

wollte« (4 ). Mit ähnlich besorgtem Ton ließ ihm dann auch Gott ausrich­

der Gemarteten konnte ihn nicht umstimmen. Die moralischen Instruk­

ten, er werde ihn »nit verlassen« (10), aber nur unter der Bedingung, daß

tionen Gottes, mit ihrer Insistenz auf Verzicht und Selbstbescheidung,

er in Zukunft »Gott diene« und der »Zerganglichen [ .. ] Weldtfreydt«

ließen ihn, wie er mit eigensinnigem Beharren vermerkt, innerlich unbe­

(9) entsage.

rührt: »Ich hate dannoch mich nit recht darzue resolviert« (10). Da er

Nachdem Haizmann sich in die HI. Rosenkranz Brüderschaft hatte ein­

sich weiterhin dem Willen des Höchsten widersetzte, mußte der himm­

schreiben lassen und er sich durch die Hilfe der Mönche von seinem Lei­ den befreit fühlte, zögerte er, sein Gelübde zu erfüllen. Die himmlischen

lische Vater zu noch drastischeren Mitteln greifen. Zwei Geister drangen

.

die Kammer des Sünders ein, geißelten ihn mit Stricken und hinterlie-

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ßen zum Abschied die Drohung: »das gaislen werde alle tage wehren,

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nierten wie jene von Gott gesandten Geister, die den halsstarrigen Sün­ der durch Gewalt und körperliche Qualen zur Askese zwingen woll­

biß ich in den Einsidler Orden mich begibe« (11). Es ging also um einen Akt der Unterwerfung, um den Versuch, ihn

ten.5

durch Prügel dem Teufel abspenstig zu machen. Denn in sich selbst be­ saß die göttliche Ordnung fast nichts, was einen verarmten jungen Mann

Da Haizmann nicht aus einem Gefühl von Schuld oder Selbstverpflich­ tung handelte, spielten moralische Erwägungen für ihn kaum eine Rolle.

anziehen konnte. Sie hatte ihm nicht viel mehr zu bieten als eine einsame,

Die Gebote christlicher Frömmigkeit waren ihm nichts weiter als frem­

kümmerliche Existenz. Wenn er sich am Ende dennoch zum Guten hin­ wendete und in einen Laienorden eintrat, geschah es keineswegs aus in­

de, willkürliche Ansprüche, die seinem Glück im Wege standen, und deshalb machte es für ihn wenig Unterschied, ob er unter der Zudring­

nerer Überzeugung. Haizmann verspürte nicht, wie Midelfort (1986, S. 641) annimmt, das Verlangen, ein christlich-asketisches Leben zu füh­

lichkeit Gottes zu leiden hatte oder unter den Nachstellungen des Teu­

ren. Er folgte auch nicht der Stimme des Gewissens, und ebensowenig versuchte er, sich selbst nach inneren Prinzipien oder Ich-Idealen zu

tigen Herren, die ihn nach Belieben hin und her stießen. Die pragma­

modellieren. Ohne die Vorstellung von Selbstbestimmung konnte aber

mächtigen Gewalten einnahm, dürfte unter seinen Zeitgenossen, insbe­

auch die Idee von Eigenverantwortung nicht aufkommen. Solange er

sondere unter einfachen Leuten, weit verbreitet gewesen sein. Unge­ wöhnlich war jedoch, daß er sich mehr zum Teufel hingezogen fühlte

nicht frei über seinen Lebensweg entschied, sondern sich als Spielball äußerer Mächte erlebte, hatte er wenig Grund, sich irgendwelche Schuld

fels. In beiden Fällen hatte er es mit ähnlichen Kräften zu tun: mit mäch­ tisch-kalkulierende Haltung, die er gegenüber Gott und anderen über­

und (womöglich) schon in jungen Jahren einen Pakt geschlossen hatte.

zuzuschreiben (Greenblatt 1990, S. 103). Die Menschen der Barockzeit lebten in dem Gefühl, daß sie aus eigener

Allerdings gab es für ihn auch Grund genug, mit seinem Schicksal zu ha­

Kraft nicht viel gegen die Übermacht sinnlicher Begierden bewirken

dern. Der christliche Gott, von dem es in der Bibel heißt, daß er selbst

können. Ihr Verhalten war überwacht und reglementiert durch ein dich­

die Tiere auf den Feldern und die V ögel des Himmels speist, hatte sich gegenüber seinem Sohn Christoph nicht als fürsorglicher Vater erwie­

tes Geflecht externer Kontrollen. Außerdem mußten sie die Protektion

sen. Er hatte zugesehen, wie der junge Mann so sehr ins Elend versank,

spiritueller Mächte gewinnen, um sich gegen die Anfechtungen des Bö­ sen zu wehren. Die strafenden, triebunterdrückenden Kräfte oder In­

über seine Lebensumstände, um zu verstehen, was ihn in die Arme des

stanzen wirkten also nicht im Unbewußten; sie waren ebensowenig ver­

Teufels trieb. Doch es sieht so aus, als habe er sich durch die Wahl seines

drängt wie jene sündigen Wunschphantasien, die Haizmann in seinem Tagebuch so eindringlich beschrieben hat. Was sich an ausschweifenden

Berufs schon früh gegen sein gottgegebenes Schicksal aufgelehnt. Mit seiner Entscheidung, Maler zu werden, hatte er einen freien Beruf ge­

Phantasien in ihm regte, oft begleitet von Konvulsionen, Lähmungen oder Trancezuständen, erschien ihm freilich wie eine von außen kom­

wählt, der auch einen Sohn armer Eltern zu unverhofftem Ansehen und Wohlstand führen konnte. Der Versuch, sich von seiner sozialen Her-

mende, erschreckende Macht, die seinem Willen entzogen war. Um Kraft über diese unwillkürlichen Regungen seiner Seele und seines Körpers zu gewinnen, mußte er andere Personen, nämlich die vier Exorzisten, zu Hilfe rufen. Gemeinsam kniete man vor dem Altarbild der Muttergottes und flehte um den Beistand der Heiligen Jungfrau, die dann auch tat­ sächlich über die Geschöpfe der Finsternis triumphierte. Und mit dem Sieg über die Dämonen waren ihm zugleich, wenigstens für einige Tage oder Wochen, die sündigen Begierden ausgetrieben. Triebunterdrük­ kung und Domestizierung seines Körpers geschahen also durch äußere Agenten, durch die Klosterbrüder und ihre spirituellen Helfer, die sich ganz offen in sein Leben drängten: Sei es, daß sie durch Gebete oder Bußübungen herbeigerufen wurden, sei es, daß sie ungewollt interve-

daß er sich zuletzt von allen verlassen sah. Leider wissen wir zu wenig

Auch bei der Selbstdisziplinierung, die im 18. und 19. Jahrhundert das System externer Kontrolle zunehmend abgelöst hat, arbeitet das Ich mit geborgten Kräften. Es leiht sich die Kraft zur Verdrängung von der Vaterautorität, die es als Über-Ich in sich aufrichtet (Freud 1923b, S. 263). Insofern könnte man hier ebenfalls von einer Ich-Spaltung sprechen. Aller­ dings greift das >Ich über dem Ich< nicht einfach episodisch in unser Leben ein wie jene Geister oder abgespaltenen Objekt-Repräsentanzen, die oft ganz unvermittelt auf Chri­ stoph Haizmann eindringen und ihn in Visionen, Tagträumen oder Angstzuständen ver­ folgen. Charakteristisch ist vielmehr, daß die internalisierte Kontrollinstanz all unser Den­ ken und Handeln begleitet. Außerdem wirkt sie, weil sie aus dem Untergang des Ödipus­ komplexes, d. h. aus der Verdrängung ödipaler W ünsche entstanden ist, weitgehend unbe­ wußt. Selbst die Angst- und Schuldgefühle, auf die sie sich stützt, kommen zum Teil nicht zu Bewußtsein (S. 281). Wenn dagegen das Subjekt beginnt, mahnende Stimmen zu hören oder von sadistischen Vaterfiguren verfolgt und ausgespäht zu werden, haben wir es bereits mit einem Prozeß der Dissoziierung zu tun, wie Freud ihn an der Dementia paranoides des Patienten Schreber analysiert hat. 5

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kunft zu lösen, also aus dem Schatten des Vaters herauszutreten und auf eigenen Beinen zu stehen, war jedoch ein gewagtes Unternehmen. Die

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lobte, so wie Haizmann es tat, als er, um sich vom Teufel loszusagen, ein Ordensgelübde ablegte. Sein Lebensweg gestaltete sich damit wie eine

Menschen des 17.Jahrhunderts konnten auch nach dem Erwachsenwer­

Kette fortwährender Knechtschaft: »vom Vater über den Teufel als Va­

den kaum riskieren, sich unabhängig zu machen. Sie brauchten den

terersatz zu den frommen Patres« (Freud 1923d, S. 352).

Schutz von Gilden, Ständen und anderen Gruppen oder die Protektion der feudalen Obrigkeit. Der schlimmste Zustand bestand darin, vogel­

Die Aussicht, in Abhängigkeit zurückzusinken, hatte für einen geschei­ terten jungen Mann zugleich etwas Erleichterndes und Anziehendes.

frei zu sein, denn Rechte besaß man nicht individuell, als Bürger eines Staates, sondern nur als Mitglied eines Kollektivs, das diese Rechte ein­

heim geben und darin Geborgenheit finden.Die Idee eines Paktes bringt

klagen konnte. Wer sich aufmachte, auf eigene Faust sein Glück zu su­ chen, wie Christoph Haizmann, wählte also ein unstetes, ungewisses

diese Vorstellung treffend zum Ausdruck: Wer sich unterwirft, schuldet Gehorsam, kann aber eben darum - wie ein Vasall - Fürsorge und

Sich-Unterwerfen hieß immer auch, sich dem Schutz eines Herrn an­

Leben. Und es war sicher weniger frei und unabhängig, als es sich ein

Schutz erwarten. Dieser fürsorgliche Aspekt des Abhängigkeitsverhält­

junger Maler erträumte. In einer Zeit, bevor sich ein Kunstmarkt ausge­

nisses, der heute eher mit der Mutter verknüpft ist, bestimmte vor dem

bildet hatte, konnte ein herumziehender Künstler, auf der Suche nach

18.Jahrhundert, als die Rollenteilung zwischen Vater und Mutter anders

Auftraggebern, seinen Lebensunterhalt nur sichern, wenn er die Patro­

geregelt war, die Vorstellung von der väterlichen Autorität (Osterloh 1976, S. 344, 361).6

nage einflußreicher Gönner fand. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, daß die Einflüsterungen des Teufels ihn (wieder) bedrängten, während er im Schloß der Grafen zu Potten­ brunn arbeitete. Er hatte lernen müssen, daß er durch eigene Anstren­ gungen nie Zugang finden würde zu den Vergnügungen jener höfisch­ eleganten Welt. Durch die ständische Ordnung, die durch Gott sanktio­

Mir scheint, daß auch andere Elemente in der Krankengeschichte Chri­ stoph Haizmanns mit dem Wunsch zusammenhängen, sich einer Auto­ rität zu überlassen, die Schutz und Nahrung gewährt. Nehmen wir z.B. die Vision vom Einsiedler in der Höhle. Selbst wenn die Figur des alten, verwachsenen Mannes nicht zur Identifikation einlädt, dürfte die Vor­

niert war, blieb er für immer von der besseren Gesellschaft ausgeschlos­

stellung, jeder Verantwortung für die eigene Existenz enthoben zu sein

sen. Wenn er sich dennoch über den Platz hinwegsetzen wollte, den

und von Engeln ernährt zu werden, zugleich etwas Verführerisches be­

Gott ihm zugewiesen hatte, konnte er allenfalls vom Teufel Hilfe erwar­ ten. Seine Träume von Macht, Reichtum und sexueller Befriedigung wa­

sitzen. Ähnlich könnte man auch das zentrale Element der Krankenge­ schichte, nämlich die Besessenheit, deuten: Unter dem Einfluß fremder

ren also, da sie sich gegen die gottgegebene Ordnung richteten, gefähr­

Geister verwandeln sich die Menschen in Personen, die nicht länger für

lich aufsässig, ja rebellisch.Und deshalb schwankte er in seinen Wunsch­ phantasien zwischen (Auf)Begehren und Angst: ein ödipaler Konflikt,

ihr Verhalten verantwortlich gemacht werden. Selbst wenn sie sich böse

der sich jedoch ohne Verdrängung und Schuld artikulierte. Wie die No­

oder anstößig verhalten, indem sie schreien, toben und vernünftigen Ar­ gumenten nicht zugänglich sind, müssen sie - wie Säuglinge - keine Re­

tizen des Tagebuchs verraten, wurde das hartnäckige Aufbegehren ge­

chenschaft von sich ablegen. Ihr Verhalten provoziert in der Regel keine

gen die Gebote frommer Askese nur durch die Angst vor der gräßlichen Gestalt des Teufels, vor den Qualen der Hölle und den ganz irdischen Strafen der von Gott entsandten Geister in Schach gehalten. Der unglückliche Maler hatte ein Bündnis mit dem Widersacher Gottes geschlossen (oder davon geträumt), um dem Leben doch noch ein wenig Glück abzutrotzen. Doch die Rebellion gegen die Zumutungen Gottes führte ihn nur in eine andere Art der Knechtschaft hinein. Um sich zu verschaffen, was er aus eigener Kraft nicht erreichen konnte, mußte er Seele und Körper verpfänden und sich als » Leibeigent Sohn« (6) dem Teufel ausliefern. Aus dieser förmlich besiegelten Abhängigkeit gab es kein Entrinnen, es sei denn, daß man einem neuen Herrn Gehorsam ge-

Strafe, sondern ruft eher den Reflex hervor, den Besessenen zu schützen, damit ihm, während er in der Gewalt des Bösen ist, kein Leid geschieht. 6 In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Welt des Barock nicht von anderen vorstaatlich

geprägten Gesellschaften. Betrachten wir zur Illustration ein Sprichwort der Agni aus Westafrika: »Wenn die Brust des Königs voll Milch ist, dann sind es seine Leute, die trin­ ken« (Parin 1978, S. 92). Die Fürsorge des Königs besteht vor allem darin, Nahrung zu ge­ währen, also die materielle Existenz seiner Untertanen oder Klienten zu sichern. Das Bild des Säugens veranschaulicht dabei auf drastische Art das Gefühl der Abhängigkeit. Wer sich als völlig hilflos empfindet wie ein Säugling, kann nur überleben, wenn er auf Eigen­ ständigkeit verzichtet. Geschützt ist nur, wer sich dem König anschließt und damit zu >sei­ nen Leuten< gehört. Die Brüste deuten in diesem Kontext nicht auf den Wunsch, »den Va­ ter[ ...] zu kastrieren, ihn zum Weib zu machen« (Freud 1923d, S. 336). Sie drücken eher das Verlangen aus, auf eine Phase oraler Abhängigkeit zu regredieren.

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Ähnliche Reaktionen können wir auch gegenüber Haizmann beobach­ ten: Von dämonischen Gestalten bedrängt, schrie er immer wieder nach den Mitgliedern der Heiligen Familie: »Jesus, Maria, Joseph!« (9). Und das laute Rufen holte in der Tat hilfreiche Geister herbei, die ihm zu Diensten waren und die beängstigenden Bilder verscheuchten. Zuweilen stürzten auch reale Personen in seine Kammer, etwa die Schwester zu­ sammen mit dem Schwager, und kümmerten sich um den Besessenen, der regungslos in seinem Bett verharrte. Oder sie hoben ihn wie ein Kind vom Boden auf, da er sich, wenn die Beine gelähmt waren, nicht mehr aus eigener Kraft erheben konnte (11). Es ist charakteristisch für Besessene, daß sie durch ihre Hilflosigkeit Aufmerksamkeit erzwingen und sich zum Objekt intensiver Fürsorge machen. Dabei fällt auf, »daß, wenn bei ihnen eine Heilung eintritt, sie immer dann stattfindet, wenn der Besessene den Exorzisten und die Zu­ schauer zu einer besonderen Anstrengung bewegen oder in ihnen ein starkes Gefühl auslösen kann.[ . ] Der Besessene kann seinen Sympto­ .

.

men entsagen, wenn er sich gefühlsmäßig mit der Gesellschaft, in der er eine Randfigur geworden ist, wieder vereinen kann« (Ernst 1972, S. 132). Allerdings muß der Kranke, um als Besessener anerkannt und behandelt zu werden, sich entsprechend verhalten. Die Besessenheit stiftet eine komplexe Form der Kommunikation, aber nur, wenn es dem Kranken gelingt, Symptome hervorzubringen, die in ihrem Appellcha­ rakter nach dem religiösen Code jener Zeit verständlich sind: »Um Be­ sessene bemühte man sich; die Geisteskranken, welche zu krank waren, die soziale Anpassung, die in der Besessenheit liegt, zu leisten, ließ man verkommen« (S. 126). Anschrift des Verf.: Dr. Johannes Harnischfeger, Friedenstr. 4, D-69121 Heidelberg. E-Mail: [email protected]

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Summary »A J 7th century demonological neurosis«. Sigmund Freud's reading of a remote case history. -Freud's analysis of the demonological neurosis displayed by Chri­ stoph Haizmann, a 17rh century paintcr, is modeled on his handling of the Sehre-

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ber case. In both, Freud discovered homoerotic leanings underlying the sympto­ matologies - in Haizmann's case, visions of the Devil. Other authors have tended to impute a pregenital, narcissistic problem to Haizmann's visions. By contrast, Harnischfeger concentrates his analysis on the religious phenomenon of posses­ sion, widespread in the Middle Ages and the early modern age. As one possessed by demonic forces, the rebellious, destitute painter of lowly origins was forced by means of exorcism to comply with the social system sanctioned by God. Haizmann became a member of a lay order.

Resume »Une nevrose demoniaque au XVII0 siede« - lecture d'une lointaine histoire de maladie par Freud. - L'analyse par Freud de la nevrose demoniaque de Chri­ stoph Haizmann, un peintre du XVII0 siede, s'inspire du cas Schreber. Chez tous deux, Freud voit une attitude homoerotique au fondement de la symptoma­ tique - chez Haizmann, il s' agit de visions du diable. D'autres auteurs presument plutöt chez Haizmann une problematique pregfoitale, narcissique. Harnisch­ feger, en revanche, se concentre, dans son analyse, sur le phenomene religieux de la possession, repandu au Moyen age et au debut de la modernite. L' ordre des etats est impose au moyen de l' exorcisme au peintre rebelle, de rang inferieur et demuni materiellement, parce qu'il est possede par des forces demoniaques: Haizmann finit par devenir frere dans un ordre lai:c.

Impressum Leitender Redakteur: Bernd Schwibs Redaktion: Helga Haase, Stefan Reiß Redaktionskonferenz: Werner Bohleber, Helga Haase, Alfred Krovoza, Ulrike Prokop, Christa Rohde-Dachser, Bernd Schwibs, Mechthild Zeul Anschrift der Redaktion: Zeil 22, D-60313 Frankfurt/Main, Tel. 069/13376034 und 069/ 291358, Fax 069/290503, E-Mail: [email protected] Internet: www.psyche.de Wir freuen uns über die Zusendung von Manuskripten (bitte in 3-facher Ausfertigung, 1 Yi­ zeilig, mit Diskette oder per E-Mail als Anhang). Manuskripte (einschließlich Bibliogra­ phie) sollen 25 Seiten nicht überschreiten. Weitere Hinweise für Autoren bitte bei der Redaktion anfordern oder unter www.psyche.de

Bezugsbedingungen: Die PSYCHE erscheint monatlich, im Sept./Okt. als Doppelheft. Die Zeitschrift kann durch jede Buchhandlung oder unmittelbar vom Verlag bezogen werden. Preis des Einzel­ heftes€ 10,- / sFr 17,40, des Doppelheftes€ 19 / sFr 33,10, im Abonnement jährlich€ 98,­ / sFr 149,-, für Studenten und Akademiker im Vorbereitungsdienst (einschließlich Ausbil­ dungsteilnehmern an psychoanalytischen und psychotherapeutischen Weiterbildungs­ instituten) gegen Vorlage einer Bescheinigung€ 77,- / sFr 120,-. Private Abonnenten, die direkt über den Verlag beziehen, erhalten einzelne Hefte zum anteiligen Abo- bzw. Abovorzugspreis. - Falls die Lieferadresse von der Rechnungsadresse abweicht, fallen zu­ sätzliche Kosten von€ 0,35 je Heft und Lieferung an. Der Abonnementpreis ist jährlich im voraus fällig. Alle genannten Preise enthalten die zum Zeitpunkt des Kaufs gültige Mehr­ wertsteuer. In Drittländern (außerhalb der EU) gelten die angegebenen Preise netto; alle Preise jeweils zuzüglich Versandkosten. Die Kündigung des Abonnements muß spätestens zum 30.11. auf das Ende des Kalenderjahres in schriftlicher Form an den Verlag erfolgen.

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Abonnementverwaltung (falls vorhanden, bitte Ihre Kundennummer angeben): Friederike Kamann (9.00 - 13.00 h), Tel. 0711/6672-1225; Thomas Kleffner, Tel. 0711/6672-1648, Fax 0711/6672-2032, E-Mail: [email protected]

Anzeigenverwaltung: Maria Stork, Tel. 0711/6672-1348, Fax 0711/6672-2033. Zur Zeit ist die Anzeigen-Preisliste Nr. 18 vom 1. 1. 2002 gültig. Verantwortlich für den Anzeigenteil: Rainer Just. Printed in Germany Auer, Donauwörth ISSN 0033-2623

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Satz: Fotosatz Kaufmann, Stuttgart Druck und Einband: Ludwig ·

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