Hans J. Massaquoi
�Neger, Neger, Schornsteinfeger!�
1926 in Hamburg: Hans J. Massaquoi w�chst als Sohn einer wei�en Mutter und eines schwarzen Vaters, Sohn des liberianischen Generalskonsuls, auf. Die Bediensteten sind wei� und das Leben ist in Ordnung, bis der Vater das Land verl�sst. Massaquoi aber zieht mit seiner Mutter in ein Arbeiterviertel- und dann kommen die Nazis an die Macht.
�ber den Autor: Hans J. Massaquoi, geboren 1926 in Hamburg, ging 1948 zun�chst nach Liberia und 1950 in die USA. Nach einem Studium der Zeitungswissenschaft arbeitete er als Leitender Redakteur bei EBONY, der gr��ten afroamerikanischen Zeitschrift der USA. Er lebt mit seiner Frau in New Orleans. In �Neger, Neger, Schornsteinfeger!� erz�hlt Massaquoi die Geschichte seines Lebens.
Hans J. Massaquoi �Neger, Neger, Schornsteinfeger!�
Meine Kindheit in Deutschland
Mit einem Nachwort von Ralph Giordano Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Knaur
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel �Destined to Witness� bei Morrow, New York.
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Vollst�ndige Taschenbuchausgabe Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., M�nchen Lizenzausgabe mit Genehmigung des Scherz Verlages, Bern, M�nchen, Wien Copyright � 1999 by Hans J. Massaquoi Alle deutschsprachigen Rechte beim Scherz Verlag, Bern, M�nchen, Wien f�r den Fretz & Wasmuth Verlag. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, M�nchen Satz: Ventura Publisher im Verlag
Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-426-61854-0
F�r meine Mutter Bertha Nikodijevic (1903-1986)
Prolog
�Nur wenige besitzen die F�higkeit, so �ber sich selbst zu schreiben, dass ihnen nicht gleich Schw�che, Eitelkeit und Egozentrik unterstellt wird; ich habe nur wenig Grund zu der Annahme, dass ich zu diesen wenigen Gl�cklichen z�hle ... � Frederick Douglass
Diese Bedenken, die Frederick Douglass, der gro�e K�mpfer gegen die Sklaverei, vor �ber einem Jahrhundert so wortgewandt in seiner Autobiografie My Bondage and My Freedom �u�erte, sprechen mir aus der Seele. Dass ich mich wie Mr. Douglass trotzdem dazu entschlossen habe, die Geschichte meines Lebens in Buchform zu ver�ffentlichen, ist unter anderem auf das beharrliche Dr�ngen einiger guter alter Autorenfreunde wie Alex Haley und Ralph Giordano zur�ckzuf�hren sowie auch auf meinen fr�heren Chef und Mentor, den Herausgeber der Zeitschrift EBONY, John H. Johnson. Sie haben mich �berzeugt, dass meine Erfahrungen als junger Schwarzer, der in Nazideutschland heranwuchs und �berlebte - als Augenzeuge und h�ufig auch als Opfer des rassistischen Wahnsinns der Nazis und der Bombenangriffe der Alliierten -, so einzigartig sind, dass es meine Pflicht als Journalist ist, einem gr��eren Publikum diesen v�llig anderen Blick auf den Holocaust
nahe zu bringen. Da ich zwar in Nazideutschland lebte, aber zugleich ein gef�hrdeter Au�enseiter war, konnte ich die be�ngstigenden Triumphe und den katastrophalen Zusammenbruch des Dritten Reiches aus einer ganz eigenen Perspektive verfolgen. Es gibt vier grundlegende Aspekte, durch die sich der pers�nliche Schrecken, den ich unter den Nazis erduldete, sowohl von den Pogromen unterscheidet, die meine j�dischen Landsleute in Deutschland durchleiden mussten, als auch von den rassistischen Verfolgungen, denen sich meine schwarzen Br�der und Schwestern in den Vereinigten Staaten ausgesetzt sehen: Als Schwarzer im wei�en Nazideutschland war ich derart auff�llig, dass ich weder fliehen noch mich verstecken konnte. Anders als meine schwarzen Br�der und Schwestern in den Vereinigten Staaten konnte ich nicht von �berlebenstechniken profitieren, die in den Jahrhunderten der Unterdr�ckung von zahllosen Vorfahren entwickelt und von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Ich war also gezwungen, meine ureigenen Instinkte zu verfeinern, um physisch und psychisch in einem Land zu �berleben, das von Rassenhass beherrscht wurde und sich unverhohlen der Vernichtung aller �Nicht-Arier� verschrieben hatte. Die Nazi-Rassisten waren im Gegensatz zu ihren Geistesbr�dern im wei�en Amerika fr�herer Tage keine feigen Feierabendterroristen, die ihre gr�sslichen Taten im Schutze der Nacht und unter wei�en Laken versteckt begingen. Sie machten ihre schmutzige Arbeit offen und unverfroren mit R�ckendeckung und Unterst�tzung ihrer eigenen Regierung, die das Vermischen arischen Blutes mit �minderwertigem�, nichtarischem Blut zur
Kardinals�nde erkl�rt hatte. Meine deutsche Mutter lehrte mich dadurch, dass sie an mich und meine M�glichkeiten glaubte, an mich selbst zu glauben. Abgesehen von ihrer mutigen und unerm�dlichen Unterst�tzung sah ich mich jedoch praktisch allein der permanenten Bedrohung ausgesetzt, die die nationalsozialistische Politik der ethnischen S�uberungen f�r mich bedeutete. Das Gef�hl von Sicherheit und Geborgenheit, das Menschen normalerweise aus ihrer Zugeh�rigkeit zu einer Gruppe ziehen k�nnen, selbst wenn diese Gruppe angefeindet wird, fehlte mir vollkommen. Heute leben in der Bundesrepublik Tausende von Afrikanern und so genannten �braunen Babys�, die Kinder schwarzer GIs und deutscher M�tter. Damals jedoch gab es praktisch keine nennenswerte schwarze Bev�lkerung in Deutschland. Erst nach dem Krieg erfuhr ich, dass es au�er mir doch eine relativ kleine Anzahl schwarzer Deutscher gegeben hatte - einschlie�lich der tragischen �Rheinland-Bastarde�, deren V�ter franz�sische und belgische Kolonialsoldaten des Ersten Weltkrieges waren - und dass die meisten von ihnen in Hitlers Konzentrationslagern ermordet worden waren. Da von den Deutschen meiner Generation erwartet wurde, dass sie hellh�utig waren und sicher nicht afrikanischer Abstammung, wurde es mein Los, fortw�hrend zu erkl�ren, wieso jemand mit brauner Haut und schwarzem, krausem Haar akzentfrei Deutsch sprach und Deutschland als Geburtsland f�r sich beanspruchte. Lassen Sie mich also hier ein weiteres Mal darlegen, dass ich 1926 in Hamburg geboren wurde, da mein Gro�vater damals liberianischer Generalkonsul in Hamburg war und seine vielk�pfige Familie mit nach Deutschland genommen hatte, darunter auch seinen
�ltesten Sohn, der, nachdem er meiner Mutter, einer deutschen Krankenschwester, erfolgreich den Hof gemacht hatte, schlie�lich mein Vater wurde. Kurz vor Hitlers Machtergreifung kehrten mein Gro�vater und mein Vater nach Liberia zur�ck und lie�en meine Mutter und mich in einem zunehmend feindseligen, rassistischen Land zur�ck, wo wir uns allein durchschlagen mussten. Die schwere Zeit, in der wir in st�ndiger Angst sowohl vor den H�schern der Gestapo als auch vor den Bombardierungen der Alliierten lebten, endete im Fr�hjahr 1945, als Hamburgs nationalsozialistischer Gauleiter Karl Kaufmann die Stadt den anr�ckenden britischen Truppen kampflos �bergab, obwohl Hitler befohlen hatte, Hamburg �bis zum letzten Mann� zu verteidigen. 1948, also drei Jahre nach dem Krieg, fuhr ich zu meinem Vater nach Liberia und blieb dort, bis ich 1950 mit einem auf ein Jahr befristeten Studentenvisum in die USA einreisen konnte. Knapp neun Monate nach meiner Ankunft, als der Koreakrieg schon in vollem Gange war, erhielt ich, offensichtlich auf Grund eines verwaltungstechnischen Fehlers, meine Einberufung zum Milit�r und diente zwei Jahre lang als Fallschirmspringer in der 82. Luftlandedivision. H�ufig hatte ich Gelegenheit, sowohl innerhalb als auch au�erhalb der Armee, die h�ssliche Seite Amerikas kennen zu lernen, den Rassismus Marke USA zu erleben und ihn mit dem der Nazis zu vergleichen. So war ich 1966 bei einem Zwischenfall zugegen, der deutlich demonstrierte, dass der Rassismus nicht auf den tiefen amerikanischen S�den beschr�nkt war, wie oft behauptet wurde. Ich hatte mich einem von Martin Luther King
angef�hrten Protestmarsch durch die rein wei�e Wohngegend um den Gage Park in Chicago angeschlossen. W�hrend wir kniend mit Martin Luther King beteten, hagelte es Steine auf uns, und wir wurden unfl�tig beschimpft. Die aufgebrachte Menge von Wei�en konnte durch das d�nne Polizeiaufgebot, das zu unserem Schutz abgestellt worden war, nur m�hsam in Schach gehalten werden. Ein besonderes F�rderungsgesetz f�r Armeeangeh�rige erm�glichte es mir dann, vieles nachzuholen und das Studium zu absolvieren, das mir in Nazideutschland verwehrt geblieben war. W�hrend der Studienzeit gelang es mir, die Liebe einer jungen Sozialarbeiterin aus St. Louis zu gewinnen. Unsere Ehe wurde zwar nach vierzehn Jahren wieder geschieden, doch sie bescherte uns zwei wunderbare S�hne, denen ich einen Gro�teil des Ansporns verdanke, auf den ich meine bescheidenen Erfolge im Leben zur�ckf�hre. Mit einem Abschluss in Zeitungswissenschaft von der University of Illinois in der Tasche arbeitete ich eine Zeit lang in mehreren kleineren Redaktionen, bis ich schlie�lich als Redakteur der Zeitschrift Jet bei der Johnson Publishing Co. anfing. Innerhalb eines Jahres wurde ich auf einen �hnlichen Posten bei EBONY versetzt, dem Flaggschiff des Verlages und der gr��ten afroamerikanischen Zeitschrift der USA, mit zwei Millionen Auflage. F�rmlich �ber Nacht wurde ich zum aktiven Teilnehmer und Beobachter im Kampf der Schwarzen um Gleichberechtigung, der in den f�nfziger, sechziger und siebziger Jahren im Norden wie im S�den der USA, in Afrika und in der Karibik ausgetragen wurde. W�hrend meiner fast vierzigj�hrigen T�tigkeit bei EBONY, in
deren Verlauf ich es zum Chefredakteur brachte und einen Sitz im Editorial Board des Blattes einnahm, konnte ich einige historische Ereignisse unserer Zeit aus n�chster N�he verfolgen. Im Rahmen meiner Arbeit bereiste ich die Vereinigten Staaten, Afrika, Europa, Asien und die Karibik, und ich begegnete vielen bekannten Pers�nlichkeiten unseres Jahrhunderts, darunter auch drei US-Pr�sidenten (Carter, Reagan und Bush). F�r meine verschiedenen Reportagen f�hrte ich Interviews mit Staatsm�nnern wie dem nigerianischen Pr�sidenten Nnamdi Azikiwe, dem Pr�sidenten von Botswana, Tseretse Kama, dem Pr�sidenten von Liberia, William Tolbert, dem namibischen Pr�sidenten Sam Njomo, den jamaikanischen Premierministern Michael Manley und Edward Seaga. Ich sprach mit B�rgerrechtlern wie Martin Luther King, Reverend Jesse Jackson und Malcolm X, und ich lernte eine Reihe von �lebenden Legenden� kennen, so beispielsweise Lena Horne, Diana Ross, Shirley Temple Black, Joe Louis, Max Schmeling und Muhammad Ali. Fast vierzig Jahre lang �ber die Leistungen schwarzer Menschen zu berichten war nicht nur �beraus befriedigend, es ersparte mir auch den psychologischen Konflikt, den viele gemischtrassige Menschen im Hinblick auf ihre rassische Identit�t durchleben. Die Arbeit half mir, eine stabile psychische Basis zu finden, nachdem ich zw�lf Jahre lang unter der Naziherrschaft entmenschlicht und gedem�tigt worden war. Ich h�tte unm�glich zum Zeugen des Kampfes um �berleben und Gleichberechtigung der Schwarzen im rassistischen Amerika werden k�nnen, ohne mich selbst als Schwarzer zu f�hlen und stolz darauf zu sein. Die Sternstunde der B�rgerrechtsbewegung war der Marsch
nach Washington im Jahre 1963. Damals stand ich am Lincoln Memorial und h�rte Martin Luther Kings unvergessliche Rede mit den beschw�rend wiederholten Worten �I have a dream�, eine Erinnerung, die zu meinen stolzesten und kostbarsten z�hlt. Als Kind wuchs ich unter einfachen deutschen Arbeitern auf. Ich erlebte den Aufstieg eines der brutalsten Herrschaftssysteme, das je von Menschen ersonnen wurde, und - nach zw�lf qu�lend langen Jahren - dessen verdienten Zusammenbruch. Aus meiner besonderen Position heraus konnte ich unmittelbar beobachten, wie das Nazigift langsam, aber sicher seine t�dliche Wirkung entfaltete, bis sich anst�ndige und vern�nftige M�nner und Frauen in fanatische Rassisten verwandelten und bereit waren, alles zu vernichten, das nicht in ihre Vorstellung einer neuen Weltordnung passte, in der �Deutschland, Deutschland �ber alles� w�rtlich verstanden wurde.
Die historische Tatsache, dass die Deutschen als Volk nur allzu gewillt waren, gemeinsame Sache mit einem Haufen gewissenloser politischer Abenteurer zu machen, an deren Spitze ein blutr�nstiger Wahnsinniger stand, wird h�ufig als Beweis daf�r gesehen, dass alle schuldig wurden. Aber es wurden nicht alle Deutschen schuldig. Ich wei�, dass viele - leider nicht so viele, dass es einen entscheidenden Unterschied gemacht h�tte - anst�ndige Menschen blieben, trotz des Drucks, der von der Nazif�hrung ausge�bt wurde, und obwohl Anst�ndigkeit v�llig aus der Mode gekommen war. Einigen dieser Menschen habe ich es zu verdanken, dass ich weitgehend unbeschadet �berlebte. Sie widerstanden der Versuchung, im herrschenden Zeitstrom rassistischen
Wahnsinns mitzuschwimmen, und sahen in mir nie etwas anderes als einen wertvollen Mitmenschen. Dass ich, ein offenkundiger Nicht-Arier, der Vernichtung entging, dass mir Sterilisation oder medizinische Experimente in einem von Hitlers Todeslagern erspart blieben, schreibe ich vor allem zwei gl�cklichen Umst�nden zu. Zum einen gab es im Gegensatz zu den Juden so wenige Schwarze, dass die Nazis sie bei ihren Vernichtungspl�nen als relativ unbedeutend einstuften. Zum anderen verlief der Vormarsch der Alliierten so unerwartet schnell, dass die Nazis mit ihrem eigenen �berleben besch�ftigt waren. In vielen F�llen kamen die Henker der Gestapo um, bevor sie Zeit hatten, ihre rassischen S�uberungen endg�ltig abzuschlie�en. Ich habe die Ereignisse meiner Jugendjahre Revue passieren lassen und mich dabei �berwiegend auf mein Ged�chtnis verlassen. Wenn es um Geschehnisse ging, die vor meiner Geburt oder vor dem Beginn meines Erinnerungsverm�gens lagen, so vertraute ich dem Ged�chtnis meiner Mutter und anderer Familienmitglieder in Deutschland, den Vereinigten Staaten und Liberia. Da nicht alles, was im Buch erw�hnt wird, schmeichelhaft f�r die jeweiligen Beteiligten ist, habe ich einige Namen ge�ndert, um gewissen Leuten Anonymit�t zu erm�glichen und ihnen Peinlichkeiten zu ersparen.
Eine kurze Begegnung
Als ich an einem sch�nen Sommermorgen des Jahres 1934 in meiner Schule in Barmbek ankam, teilte uns Herr Grimmelshauser, unser Lehrer in der dritten Klasse, mit, dass sich die gesamte Sch�lerschaft und der Lehrk�rper auf Anordnung von Schulleiter Wriede auf dem Schulhof versammeln sollten. Dort verk�ndete Herr Wriede, wie so oft bei besonderen Gelegenheiten in seiner braunen Naziuniform, dass �der gr��te Moment in eurem jungen Leben bevorsteht�. Wir seien n�mlich vom Schicksal dazu auserkoren worden, �unseren geliebten F�hrer Adolf Hitler� mit eigenen Augen sehen zu d�rfen. Um diese Ehre, so versicherte Herr Wriede uns, w�rden uns unsere zuk�nftigen Kinder und Kindeskinder dereinst beneiden. Ich war damals acht Jahre alt, und ich hatte noch nicht begriffen, dass ich unter den fast sechshundert Sch�lern auf dem Schulhof der einzige war, den Herr Wriede nicht meinte. Wir nahmen Wriede beim Wort, und schon bald herrschte in der gesamten Schule helle Aufregung und Vorfreude auf dieses seltene, v�llig unerwartete Gl�ck eines praktisch schulfreien Tages. Wir waren alle gr�ndlich indoktriniert, wussten vom heldenhaften Aufstieg des F�hrers zur Macht, von seinen �bermenschlichen Anstrengungen, Deutschland von der �Versklavung� zu befreien, unter der es seit dem verlorenen Ersten Weltkrieg litt, von Hitlers Entschlossenheit, die Nation wieder zu Ruhm und St�rke zu f�hren. Die Allgegenwart des F�hrers war bereits zu
sp�ren. Seine Portr�ts hingen wirklich �berall - in der ganzen Schule, in �ffentlichen und privaten R�umen, waren auf Plakaten und Briefmarken, in Zeitungen und Zeitschriften zu sehen. Noch eindringlicher waren seine mittlerweile vertraute Stimme im Radio und seine regelm��igen Auftritte in den Wochenschauen. Jetzt hatten wir die Chance, diesen sagenhaften Retter und Wohlt�ter des Vaterlandes mit eigenen Augen zu sehen. F�r die meisten von uns, auch f�r mich, bedeutete das Ereignis eine unvorstellbare Sternstunde. Getragen von unserer Begeisterung und von unseren Lehrern flankiert, marschierten wir fast eine Stunde lang bis zu einer Stelle an der Alsterkrugchaussee, einer gro�en Durchgangsstra�e, die auch zum Hamburger Flughafen in Fuhlsb�ttel f�hrt. Die gesamte Strecke vom Flughafen bis zum ehrw�rdigen Hamburger Rathaus im Stadtzentrum, die die Wagenkolonne des F�hrers nehmen sollte, wurde von Tausenden fast hysterischer Menschen ges�umt. Gestrenge Braunhemden hielten sich an den H�nden und bildeten eine undurchdringliche und endlose Menschenkette, die die Massen davon abhielt, auf die Stra�e zu dr�ngen. Wir Kinder sa�en am Bordstein hinter den SS- und SA-Leuten und mussten eine stundenlange qu�lende Wartezeit �ber uns ergehen lassen. Aber gerade als unsere �berstrapazierte Geduld zu rei�en drohte, schwoll das Tosen der Menge aus Richtung Flughafen zu einem ohrenbet�ubenden Crescendo an. In diesem Moment schmetterte eine Marschkapelle der SS ganz in der N�he die Auftaktfanfaren des Badenweiler Marsches, des Lieblingsmarsches des F�hrers, mit dem sein Nahen offiziell angek�ndigt wurde. Der Augenblick, auf den alle gewartet hatten, war da. Der F�hrer stand aufrecht
neben dem Fahrer seines Mercedes-Kabrioletts, den rechten Arm zum Hitlergru� erhoben, ausdruckslos geradeaus starrend, und der Wagen rollte in flottem Schritt-Tempo vorbei. Der �gr��te Moment unseres Lebens�, auf den Schulleiter Wriede uns vorbereitet hatte, w�hrte nur wenige Sekunden, aber mir kamen sie wie eine Ewigkeit vor. Da stand ich, ein achtj�hriger, kraushaariger, dunkelh�utiger Junge in einem Meer von blonden und blau�ugigen Kindern, erf�llt von kindlichem Patriotismus und noch gesch�tzt durch selige Unwissenheit. Wie alle um mich herum jubelte ich dem Mann zu, der sein Leben der Vernichtung aller �minderwertigen nichtarischen Menschen�, wie ich einer war, gewidmet hatte, dem Mann, der die Welt nur wenige Jahre sp�ter an den Rand des Untergangs bringen und sein eigenes Volk in die gr��te Katastrophe seiner langen Geschichte f�hren w�rde.
Momolu Massaquoi
Die Geschichte, durch die ich Teil jener fanatisch jubelnden Masse wurde, begann nicht am 19. Januar 1926, dem Tag meiner Geburt. Sie begann auch nicht in Hamburg, meiner Geburtsstadt. Nein, sie begann f�nf Jahre fr�her und �ber f�nftausend Kilometer weit entfernt in Westafrika, in der liberianischen Hauptstadt Monrovia. Sie begann mit der cleveren Entscheidung des Pr�sidenten, sich eines m�glichen politischen Rivalen zu entledigen. Der Mann hie� Momolu Massaquoi und war mein zuk�nftiger Gro�vater v�terlicherseits. Charles Dunbar King, der vierzehnte Pr�sident Liberias, hatte schon seit einiger Zeit die wachsende Popularit�t
Massaquois als potenzielle Gefahr erkannt. Massaquoi war in den USA zur Schule gegangen und hatte nach dem Tod seiner Eltern als Momolu IV. zehn Jahre lang �ber das Volk der Vai geherrscht, das im Grenzgebiet zwischen Liberia und der britischen Kolonie Sierra Leone lebte. Nachdem er auf Grund einer Stammesfehde gezwungen worden war, auf die Krone zu verzichten, war er in die liberianische Politik gewechselt. Es war seiner Sache ungemein dienlich, dass er sich von seinen f�nf Vai-Frauen trennte und die junge, sch�ne Rachel Johnson heiratete, die, wie es eine gl�ckliche F�gung wollte, aus politisch einflussreichen und wohlhabenden Verh�ltnissen stammte. Sie war die Enkelin von Hilary W. R. Johnson, dem ersten aus dem Lande selbst stammenden Pr�sidenten Liberias. Die Ehe bescherte Massaquoi etwas, ohne das niemand in der liberianischen Politik re�ssieren konnte - die gesellschaftliche Anerkennung der herrschenden Klasse der �Ameriko-Liberianer�. Mit Hilfe seines politischen Geschicks, seines Charmes und seines guten Aussehens machte Massaquoi eine steile politische Karriere. Da er sowohl bei den Ameriko-Liberianern als auch bei seinem Stammesvolk Unterst�tzung fand, war der aristokratische Massaquoi bald eine nicht zu untersch�tzende politische Macht. Schon wurde er in hohen politischen Kreisen als der n�chste Pr�sident gehandelt. Bis Pr�sident King beschloss, solchen Spekulationen ein f�r alle Mal ein Ende zu bereiten. Aber wie? Die Antwort lie� nicht lange auf sich warten. Sie kam in Gestalt eines Abgesandten der ersten Regierung der Weimarer Republik, Dr. Busing. Er traf sich mit Pr�sident King, um die M�glichkeit einer
engeren Zusammenarbeit zwischen Liberia und Deutschland zu er�rtern. Bei diesem Treffen war auch der Innenminister anwesend, Momolu Massaquoi. Der Deutsche kam schnell zur Sache. Nach Auffassung seiner Regierung, so erkl�rte er, sei es an der Zeit, dass die beiden L�nder durch die Einrichtung von Generalkonsulaten diplomatische Beziehungen zueinander aufn�hmen. Ein solcher Schritt w�re f�r beide L�nder von Vorteil: Liberia w�rde sich einen dringend ben�tigten Absatzmarkt f�r Rohstoffe und Produkte wie Kautschuk, Kakao und Palm�l er�ffnen, und Deutschland h�tte auf diese Waren wieder ungehinderten Zugriff, einen Zugriff, den es zusammen mit seinen afrikanischen Kolonien nach dem verlorenen Krieg eingeb��t hatte. Sehr zur Freude des Deutschen war der Pr�sident nicht nur interessiert, sondern dr�ngte sogar darauf, den Plan so bald wie m�glich in die Tat umzusetzen. Allerdings, so gab der Gesandte zu bedenken, sei es �beraus wichtig, den richtigen Mann f�r diese Aufgabe zu finden. �Ich glaube, ich habe da genau den Richtigen f�r Sie�, erwiderte der Pr�sident mit einem vielsagenden Blick auf seinen Innenminister. �Das hei�t, ich wei� es.� Sechs Monate nach dem Besuch des deutschen Gesandten traf Momolu Massaquoi, der frisch gebackene liberianische Generalkonsul in Deutschland, am 12. Juni 1922 in Hamburg ein. Er wurde begleitet von seiner Frau Rachel, seinen S�hnen, dem siebzehnj�hrigen Nathaniel und dem einj�hrigen Arthur, und seiner zehn Jahre alten Tochter Fatima. F�nf seiner sechs erwachsenen S�hne aus seinen fr�heren Ehen waren in Afrika geblieben. Sein �ltester und Lieblingssohn, Al-Haj, war bereits in Europa und studierte in Dublin.
Hermann Baetz
Es war ein kalter Sonntagmorgen im Februar. Man schrieb das Jahr 1905. Wie so oft schon ging der Steinbruchmeister Hermann Baetz durch die winterliche Waldlandschaft im Harz, in der N�he des Ortes Uftrungen. Er war auf dem Weg zur Pulverh�tte, wo gro�e Mengen Dynamit lagerten, um ein paar Stangen f�r eine Sprengung zu holen, die f�r den n�chsten Morgen angesetzt war. Normalerweise gelangte man schnell vom Steinbruch zur Pulverh�tte, aber bei dem fast drei�ig Zentimeter hohen Schnee kam Meister Baetz nur langsam voran. An diesem Morgen war ihm unbehaglich zu Mute, und das aus gutem Grund. Im letzten Monat war er zweimal nur knapp dem Tode entronnen. Das erste Mal war eines der Halteseile gerissen, als er im Steinbruch eine Strickleiter hochstieg, um Sprengl�cher in eine Steilwand zu bohren. Zum Gl�ck hatte er sich so lange an einer Sprosse festklammern k�nnen, bis ihn einige seiner Leute aus seiner misslichen Lage retten konnten. Als er wenige Tage sp�ter fast von einem Felsbrocken erschlagen worden w�re, der nur wenige Zentimeter neben ihm auf den Boden aufschlug, wurde ihm klar, dass das kein Zufall war. Eine Untersuchung best�tigte seinen Verdacht. Jemand hatte sich an der Strickleiter zu schaffen gemacht, und auch der Felsbrocken war nicht von allein heruntergest�rzt.
Noch vor diesen �Unf�llen� hatte ihn seine Frau Martha gebeten, vorsichtig zu sein. Seitdem er mehrere italienische Arbeiter entlassen und sie durch arbeitslose Deutsche ersetzt hatte, f�rchtete sie - berechtigt oder nicht - um seine Sicherheit. Er hatte nichts gegen Ausl�nder, er war nur ein deutscher Patriot mit einfachen Prinzipien und der festen �berzeugung, dass N�chstenliebe zu Hause beginnen muss. In den Jahren, als es noch genug Arbeit gab, waren immer wieder Italiener im Steinbruch besch�ftigt gewesen. Aber ein ungeschriebenes Gesetz besagte, dass sie als Letzte eingestellt und bei einer Verschlechterung der Wirtschaftslage als Erste entlassen wurden. Die Italiener hatten das Gef�hl, bestenfalls als notwendiges �bel geduldet zu werden. Sie wohnten am Ortsrand und beschr�nkten ihre Kontakte zu den Einheimischen auf ein Minimum, was diesen nur recht war. Als Meister Baetz die Pulverh�tte betrat, ersch�tterte eine ohrenbet�ubende Explosion den stillen Wald und lie� die Erde erbeben; ihr Echo war im Umkreis von vielen Kilometern zu h�ren. Martha h�rte die Explosion und wusste sofort, dass ihrem Mann etwas Schreckliches zugesto�en war. Obwohl fast im achten Monat schwanger, rief sie rasch die drei j�ngsten ihrer acht Kinder, Bertha, Frieda und Karl, und rannte mit ihnen in den Ort, um Hilfe zu holen. Aber einige Steinbrucharbeiter, aufgeschreckt durch die f�r einen Sonntag ungew�hnliche Detonation, waren bereits auf dem Weg zur Pulverh�tte. Martha wollte ihnen nacheilen, wurde jedoch von einigen Arbeiterfrauen zur�ckgehalten. Gemeinsam mit ihnen und den Kindern wartete sie �ngstlich auf die R�ckkehr der M�nner. Die Nachricht, die ihr schlie�lich von den
Arbeitern �berbracht wurde, war noch schlimmer, als Martha bef�rchtet hatte. Da, wo fr�her die Pulverh�tte gewesen war, hatten sie nur noch einen riesigen Krater gefunden und einige Reste der H�ttenbalken. Von Meister Baetz war nur ein Perlmuttknopf seiner Weste und der schauerliche �berrest eines abgetrennten gro�en Zehs �brig geblieben.
Bei der Untersuchung des Ungl�cks am n�chsten Tag wurde festgestellt, dass Meister Baetz einem Mord zum Opfer gefallen war. Die Explosion war in dem Augenblick ausgel�st worden, als der Steinbruchmeister die Pulverh�tte betrat. Wer den Anschlag ver�bt hatte, konnte nie endg�ltig gekl�rt werden. Nachdem sich das Entsetzen �ber die Tat gelegt hatte, kehrte in Uftrungen wieder der Alltag ein. F�r Martha und ihre Kinder jedoch bedeutete die Explosion an jenem Sonntagmorgen im Februar 1905 eine Katastrophe. Einen Tag nach der Trauerfeier f�r ihren Mann musste sie das firmeneigene kleine H�uschen r�umen, um Platz f�r den neuen Steinbruchmeister mit seiner Familie zu machen. Als auch noch ihre Tochter Clara auf die Welt kam, erh�hte sich ihre ohnehin schon stattliche Kinderschar auf neun. Trotz scheinbar un�berwindlicher Schwierigkeiten lie� sich die damals knapp vierzigj�hrige Martha nicht unterkriegen. Sie zog von Ort zu Ort und blieb dort, wo sie Arbeit und eine bezahlbare Wohnung fand. Sie ging putzen, wusch W�sche und half bei Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen aus. Schlie�lich lie� sie sich mit ihren Kindern in Nordhausen nieder, einem malerischen mittelalterlichen St�dtchen. Dort besann sie sich auf ihren erlernten Beruf als Hebamme und konnte sich mit
der Zeit ein recht gutes Auskommen sichern, indem sie kleinen Nordhausenern auf die Welt half. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Juli 1914 hatte Martha, die auf die f�nfzig zuging, ihr selbst gestecktes Lebensziel nahezu erreicht, n�mlich alle ihre Kinder zu anst�ndigen Menschen zu erziehen, die f�r sich selbst sorgen konnten. Anna, die �lteste, war gut verheiratet und hatte schon eigene Kinder, Hermann war Aufseher auf einem Gut, Martha arbeitete als N�herin, Hedwig als K�chin im Haushalt einer reichen Familie, Paul hatte gerade seine Lehre als Konditor abgeschlossen, und Karl w�rde bald seine Pr�fung zum Schneider ablegen. Die Einzigen, die noch bei ihr zu Hause wohnten, waren die drei j�ngsten T�chter, die vierzehnj�hrige Frieda, die elfj�hrige Bertha (meine zuk�nftige Mutter) und die neunj�hrige Clara. Die Baetz-Jungen wurden nacheinander in die kaiserliche Armee eingezogen und dienten im Krieg. Als sie 1918 nach der deutschen Kapitulation wieder ins Zivilleben zur�ckkehrten, herrschte in Deutschland gro�e Arbeitslosigkeit, und die Zukunftsaussichten waren schlecht. Hermann, der Abenteuerlustigste von ihnen, beschloss, sein Gl�ck in den Vereinigten Staaten zu suchen. Sobald er in der Neuen Welt Fu� gefasst hatte, wollte er den Rest der Familie nachkommen lassen. Anfang der zwanziger Jahre reiste Hermann also mit dem Schiff nach New York und dann weiter nach Chicago, wo er als M�dchen f�r alles in einem deutschen Restaurant arbeitete. Drei Jahre lang sparte er jeden Dollar, und schlie�lich hatte er genug Geld beisammen, um Paul, Martha, Hedwig und Clara nachkommen zu lassen. Karl und Frieda sollten die N�chsten sein, doch inzwischen hatten sie beide geheiratet und beschlossen,
bei ihrer Mutter zu bleiben, die so schwer an Zucker erkrankt war, dass eine Emigration in die USA nicht mehr in Frage kam. Bertha hatte derweil ihre Ausbildung als Hilfskrankenschwester beendet und wollte eigentlich zu ihren Geschwistern nach Amerika, doch pl�tzlich �nderte sie ihre Meinung. Als sie von einer freien Stelle in einem kleinen Privatkrankenhaus in Hamburg h�rte, sagte sie ihrer Mutter und dem Kleinstadtleben Lebewohl und bestieg den n�chsten Zug nach Hamburg. Schon bald sollte sie feststellen, dass dieser Schritt weitreichendere Folgen haben w�rde, als sie es sich je h�tte tr�umen lassen.
Deutschlands erster afrikanischer Generalkonsul
Die Weimarer Republik, in der der neu ernannte Generalkonsul Massaquoi im Fr�hjahr 1922 sein diplomatisches Deb�t gab, war gleichsam ein brodelnder Vulkan kurz vor der Eruption. Auf Grund der Unzufriedenheit �ber die hohe Arbeitslosigkeit und eine galoppierende Inflation waren Stra�enunruhen an der Tagesordnung. Immer wieder kam es zu gewaltt�tigen Auseinandersetzungen zwischen der politischen Linken und Rechten. Nationalisten machten ihrem Zorn �ber den Versailler Vertrag Luft und beschuldigten die Juden als Verr�ter und Verschw�rer. Kurz nach Massaquois Amtsantritt in Hamburg wurde der j�dische Au�enminister Walther Rathenau, der sich f�r die Erf�llung der Reparationsforderungen der Siegerm�chte eingesetzt hatte, auf der Fahrt ins Ausw�rtige Amt von antisemitischen Rechtsradikalen erschossen. Der M�nchner Putsch im November des Jahres 1923, mit dem ein unbekannter �sterreicher namens Adolf Hitler versuchte, die bayerische und die Berliner Regierung zu st�rzen, war nur einer von vielen Versuchen, das Ende der bereits schwankenden Weimarer Republik herbeizuf�hren. Trotz dieser nicht eben verhei�ungsvollen Bedingungen machte sich der liberianische Diplomat mit frischem Elan an seine neue Aufgabe in der hanseatischen Metropole. Als erster offizieller Repr�sentant eines unabh�ngigen afrikanischen Staates wurde Momolu Massaquoi innerhalb weniger Jahre zu einem der
bekanntesten und beliebtesten Mitglieder des konsularischen Korps. Au�erdem galt er unter prominenten und renommierten B�rgern und Besuchern Hamburgs als vorz�glicher Gastgeber. F�r afrikanische Nationalisten wie Jomo Kenyatta aus Kenia, die aus ihrem europ�ischen Exil heraus gegen den Kolonialismus k�mpften, bot die freundliche Atmosph�re in Massaquois Villa nahe der Alster an der Johnsallee im gediegenen Stadtteil Rotherbaum die ideale Umgebung f�r ihre geheimen Strategiebesprechungen. Auch B�rgerrechtler, K�nstler, Intellektuelle und Sportler aus den Vereinigten Staaten genossen gelegentlich die Gastfreundschaft des Hauses. Zu den bekanntesten unter ihnen z�hlten der Lyriker Langston Hughes, Jazzstar Louis Armstrong, der ehemalige Schwergewichtsmeister Jack Johnson, der S�nger Roland Hayes und der Philosoph Alain Locke. Neben seinen zahlreichen konsularischen Aufgaben fand Momolu noch Zeit, um zu schreiben, an der Hamburger Universit�t Vortr�ge �ber afrikanische Sprachen zu halten, die Bibel ins Vai zu �bersetzen und ein wunderbar illustriertes Buch �ber Liberia zu verfassen, das Liberia eigentlich erst ins Bewusstsein der Deutschen brachte. Unterdessen wurden f�r meine zuk�nftige Ankunft auf Erden die ersten notwendigen Schritte eingeleitet. Das Schicksal brauchte ein paar kleinere Anst��e, um die �Merkw�rdigkeit� meiner deutschen Geburt zu Wege zu bringen. Ein solcher Ansto� kam in Form einer Mandelentz�ndung, an der mein Gro�vater in spe erkrankte. Er lie� sich die Mandeln entfernen, und w�hrend des daf�r erforderlichen kurzen Krankenhausaufenthaltes wurde der vornehme und charmante VIP-Patient von �rzten
und Schwestern �ber Geb�hr hofiert und verw�hnt. Nach seiner Entlassung gab der Exk�nig, um sich f�r die angemessen k�nigliche Behandlung erkenntlich zu zeigen, in seiner Villa ein kleines Fest f�r die �rzte und Krankenschwestern, die ihn umsorgt hatten.
Auf diesem Fest - und das war ein weiterer kleiner Ansto� des Schicksals - war auch Momolus �ltester Sohn anwesend. Der sechsundzwanzigj�hrige Al-Haj, der am Trinity College in Dublin studierte, hatte n�mlich gerade Semesterferien. Seit seiner Geburt war Al-Haj der Liebling seiner Eltern gewesen, und so nahm es nicht wunder, dass er sich zu einem verw�hnten, egoistischen jungen Beau entwickelt hatte, der es gewohnt war, seinen Willen zu bekommen. Er konnte sich jedoch gl�cklich sch�tzen, dass er nicht nur einen betr�chtlichen Teil der intellektuellen F�higkeiten seines Vaters, sondern auch dessen Charme geerbt hatte, der ihm besonders im Umgang mit Vertreterinnen des anderen Geschlechts zugute kam. W�hrend er auf der Party zwischen den G�sten seines Vaters umherschlenderte, fiel ihm eine h�bsche, br�nette junge Frau auf, kaum �lter als zwanzig, die allein in einer Ecke stand. �Ich bin Al-Haj Massaquoi�, stellte er sich auf Englisch vor und bemerkte am�siert, dass die junge Frau verunsichert war, weil ein Fremder sie ansprach. �Do you speak English?� Die junge Frau sch�ttelte den Kopf. �Tut mir Leid. Ich verstehe nicht. � �Dann muss ich mich wohl mit meinen wenigen Brocken Deutsch behelfen�, erwiderte er in fl�ssigem Deutsch mit einem starken Akzent. �Wie hei�en Sie?� �Bertha�, antwortete sie und musterte dabei verstohlen den eleganten jungen Afrikaner, seinen ma�ge-
schneiderten Anzug, sein markantes, dunkles Gesicht, das kurz geschnittene, schwarze afrikanische Haar und den gepflegten Schnurrbart. Besonders angenehm fielen ihr seine schlanken und doch kr�ftig aussehenden H�nde und die makellosen, unglaublich wei�en Z�hne auf. Sie musste daran denken, wie sehr er sich doch von den unbeholfenen, derben jungen M�nnern in ihrer Heimatstadt Nordhausen abhob, mit denen sie ab und zu mal tanzen gegangen war. �Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben�, sagte Al-Haj. �Ich bei�e nicht. Ich wei� ja nicht, was man Ihnen �ber uns Afrikaner erz�hlt hat, aber ich kann Sie beruhigen, ich bin kein Kannibale.� Dass er ihre Zur�ckhaltung f�r Angst hielt, war ihr peinlich, und sie versicherte ihm hastig, dass sie nichts dergleichen gedacht hatte. Deshalb sagte sie auch sofort Ja, als er sie f�r den n�chsten Tag zu einer Spritztour mit seinem neuen Auto einlud, einem Geschenk seines Vaters. Die Autofahrt, auf die noch viele folgen sollten, war der Beginn einer Werbephase, in der Al-Haj das Herz der unerfahrenen Bertha im Sturm eroberte, so dass sie sich schlie�lich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen konnte. So oft wie eben m�glich kam Al-Haj von Dublin nach Hamburg, ging mit ihr in Variet�s, zum Tanzen auf die Reeperbahn, zu Pferderennen, ins Theater, in die Oper und sogar zu Boxk�mpfen. Doch bei den vielen Aktivit�ten z�gerte Al-Haj irgendwie immer wieder den lang versprochenen Gang zum Altar hinaus. Wenn Bertha das Thema ansprach, erkl�rte er stets, seine Pr�fungen lie�en ihm nicht genug Zeit, eine so gro�e Hochzeit zu planen und auszurichten, wie sie f�r den Sohn eines liberianischen Generalkonsuls angemessen sei. Aber das Schicksal hatte bereits den
letzten Ansto� gegeben. Ungest�m und nicht gewillt, meine Ankunft noch l�nger hinauszuschieben, erblickte ich zwei Monate fr�her als erwartet, am Dienstag, dem 19. Januar 1926, im Eppendorfer Krankenhaus das Licht der Welt. Meine Mutter nannte mich Hans-J�rgen, entsprechend der damals vorherrschenden Neigung zu Bindestrichnamen. Nur sechs Monate sp�ter gebar Momolus Ehefrau Rachel ihm einen weiteren Sohn - und mir einen kleinen Onkel -, den sie Fritz nannten.
Das sch�ne Leben an der Alster
Momolu, der meine Mutter ins Herz geschlossen hatte, bestand darauf, dass sie und ich zu den Massaquois auf die Johnsallee zogen, w�hrend mein Vater die meiste Zeit in Irland war, um sein Jurastudium abzuschlie�en. Von Stund an war das Haus sprachlich geteilt. Mit meiner Mutter und mir sprachen alle Deutsch, untereinander sprachen sie Englisch. Schon bald schallte das Gekreische zweier Kleinkinder durch die stattliche Villa, und meine Mutter, die ihre Arbeit im Krankenhaus aufgegeben hatte, versuchte, die st�ndigen Zankereien zwischen �Onkel� Fritz und mir zu schlichten, damit wir Momolu, um dessen Aufmerksamkeit wir beide wetteiferten, nicht st�rten. Die Tatsache, dass ich als Kind in dem Glauben lebte, der Mittelpunkt des Universums und etwas ganz Besonderes zu sein, hat mit meinen ersten Kontakten zur Au�enwelt zu tun. Es verging kein Tag, an dem die Leute sich nicht nach mir umsahen und hingerissen �Wie niedlich!� oder �Ist der nicht s��?� oder dergleichen mehr riefen. Manchmal nahm diese Begeisterung handfeste Formen an, wenn Passanten mir S��igkeiten, Obst oder sogar Geld schenken wollten. Zu meinem gr��ten Bedauern durfte ich nichts davon annehmen. Mir fiel bald auf, dass anderen Kindern nicht so viel Aufmerksamkeit zuteil wurde wie mir, und als ich meine Mutter fragte, wieso, erkl�rte sie mir, das l�ge daran, dass alle meine �sch�ne braune Haut und das
schwarze Kraushaar� bewunderten. Bis dahin war mir nie aufgefallen, dass ich mich k�rperlich von anderen Menschen und auch von meiner Mutter unterschied. Doch von da an nahm ich die Unterschiede zwischen den rassischen Merkmalen von Europ�ern und Afrikanern deutlich wahr. Da mein Gro�vater - ein sehr dunkler Mann - die alles beherrschende Figur in meinem Universum war und die meisten Wei�en untergeordnete Rollen spielten, betrachtete ich dunkle Haut und krauses Haar als Kennzeichen von �berlegenheit. Demzufolge nahm ich die mir zufallende Bewunderung als selbstverst�ndlich entgegen. Gro�vater Momolu war ein Kindernarr, der so viel Zeit mit uns Kindern verbrachte, wie er nur konnte. Tats�chlich sah ich ihn h�ufiger als meinen Vater, der kurz vor dem Abschluss seines Studiums stand und bereits in verschiedenen Hamburger Unternehmen arbeitete, um praktische Erfahrungen im Im- und Export zu sammeln. Da Momolu, Fritz und ich im Gegensatz zu den anderen Familienmitgliedern Fr�haufsteher waren, fr�hst�ckten wir drei morgens allein im Wintergarten mit Blick auf den baumbestandenen Park. W�hrend wir a�en - es gab zwei Melonen und eine Schale Haferbrei -, erg�tzte sich der alte Gentleman an den deutschen Kinderversen, die ich ihm beispielsweise aus dem Struwwelpeter vortrug. Meine Mutter las mir oft daraus vor, und ich kannte ihn auswendig. Die gr��te Begeisterung erntete ich mit der Geschichte von den �drei Tintenbuben�, die vom Nikolaus zur Strafe, weil sie sich �ber einen �kohlpechrabenschwarzen Mohr� lustig gemacht hatten, in ein Fass mit schwarzer Tinte getunkt werden. Jedes Mal, wenn ich diesen �berheblichen, versteckt rassistischen Kinder-
buchklassiker zitierte, sch�ttelte sich mein Gro�vater vor Lachen. Zur Belohnung erz�hlte er mir Geschichten von uralten afrikanischen K�nigreichen und von ihren m�chtigen Herrschern. Er erz�hlte mir auch, dass er fr�her selbst K�nig gewesen war, was ich ihm nicht glauben wollte, bis er mir ein Foto von sich zeigte, auf dem er mit einer K�nigsrobe und -krone zu sehen war. Er erkl�rte mir, dass er die Krone in Liberia gelassen hatte, und versprach, mich eines Tages dorthin mitzunehmen, um sie mir zu zeigen. Ganz gleich, wie oft er mir erl�uterte, dass er Krone und K�nigsw�rde an einen j�ngeren Vetter abgetreten hatte, weil er es leid gewesen war, K�nig zu sein, ich konnte einfach nicht begreifen, wie jemand keine Lust mehr haben konnte, K�nig zu sein. Jeden Sonntagnachmittag ging Momolu mit Arthur, Fritz und mir an der Alster spazieren. Wir boten ein eindrucksvolles Bild: mein Gro�vater mit Homburg auf dem Kopf, pelzbesetztem Ulstermantel und modischen Gamaschen, wir Jungs in Matrosenanz�gen und -m�tzen, die damals gro� in Mode waren. Diese Spazierg�nge fanden ihren kr�nenden Abschluss stets in einem kleinen, vornehmen Caf�, wo es k�stlich nach Kakao, frischem Kaffee und Geb�ck duftete. Unter den diskret neugierigen Blicken der anderen G�ste wurde �Seine Exzellenz� mit der kindlichen Entourage beflissen an einen der besten Tische gef�hrt, wo mein Gro�vater mir zu meiner gro�en Freude die Aufgabe �bertrug, die verschiedenen K�stlichkeiten - Kuchen und Torten mit gewaltigen Bergen Schlagsahne - zu bestellen. Die Ehre wurde mir deshalb zuteil, weil weder Arthur noch Fritz, die zu Hause �berwiegend Englisch sprachen, sich mit meinem Deutsch messen konnten, und nichts schien meinen
Gro�vater mehr zu erfreuen als die verbl�fften Mienen der anderen G�ste, wenn ich meine Aufgabe mit begeistertem Narzissmus bravour�s meisterte. Manchmal lie� Momolu mich sogar sp�tabends aus dem Bett holen, damit ich seinen afrikanischen und deutschen Dinnerg�sten meine sprachlichen F�higkeiten vorf�hren konnte. Bei diesen Gelegenheiten bat er mich, deutsche Kinderlieder wie beispielsweise �H�nschen klein� zu singen, ein Wunsch, den ich ihm nur allzu gern erf�llte. Der Lohn war die verwunderte Begeisterung der Erwachsenen, die �ber mein akzentfreies Deutsch mit dem unverkennbaren Hamburger Einschlag ganz aus dem H�uschen gerieten. Au�erdem steckten sie mir immer Silberm�nzen zu, die postwendend in mein Sparschwein wanderten. Eines Tages verk�ndete mein Gro�vater, dass er Fritz, Arthur und mir einen gro�en afrikanischen Schatz zeigen wolle, der per Schiff nach Hamburg gekommen sei. Wir fuhren zum Hafen, wo gerade ein Schiff aus Liberia eingelaufen war, das eine gro�e Ladung Elefantensto�z�hne an Bord hatte. Vor den Augen einer riesigen Menschenmenge wurde das kostbare Elfenbein mit Kr�nen entladen. Fritz und ich waren die Einzigen, die unbeeindruckt blieben, weil wir Berge aus Gold und Silber erwartet hatten und nicht diese, wie wir fanden, �dreckigen Pfeifen�. F�r mich war Momolu einfach der �Opa�, ein sanfter und nachsichtiger Mann, dessen Hauptlebenszweck in meinen Augen darin bestand, daf�r zu sorgen, dass mir jeder Wunsch erf�llt wurde. Erst sehr viel sp�ter konnte ich geb�hrend w�rdigen, was f�r ein bedeutender und angesehener Staatsmann er war und welch wichtige und bahnbrechende Rolle er als Vertreter Afrikas im Allgemeinen und Liberias im Besonderen spielte.
W�hrenddessen nahm ein internationaler Skandal seinen Lauf, in den Liberia verwickelt war und der weitreichende Konsequenzen f�r meinen Gro�vater und letztlich f�r alle Massaquois, also auch f�r mich, haben sollte. Seit den ausgehenden zwanziger Jahren hatte es Ger�chte gegeben, dass die liberianische Regierung unter Pr�sident King aktiv an der Verschleppung von Liberianern zur Zwangsarbeit auf der spanischen Inselkolonie Fernando P�o (heute Bioko) beteiligt war. Anders ausgedr�ckt, Liberia, das Land, das von befreiten amerikanischen Sklaven mit dem erkl�rten Ziel gegr�ndet worden war, Freiheit und Schutz vor Unterdr�ckung zu garantieren, und dessen Motto lautete: �Die Liebe zur Freiheit hat uns hierher gebracht�, stand unter dem Verdacht, Sklaverei zu betreiben. Obwohl ein von Pr�sident King geforderter Untersuchungsausschuss des V�lkerbundes zu dem Schluss kam, dass der Vorwurf der Sklaverei ungerechtfertigt sei, wurde Liberia f�r die im Land verbreitete Praxis getadelt, vor allem Kinder von �Eingeborenen� an reiche Ameriko-Liberianer, Nachkommen der Staatsgr�nder und die herrschende Kaste, auszuleihen. Sie arbeiteten bei schlechter Unterkunft und Verpflegung im Haushalt, was als �Ausbildung� getarnt wurde. Diese Praxis war zwar in ganz Westafrika verbreitet, also auch in den riesigen britischen, franz�sischen, belgischen und portugiesischen Kolonien, doch nur die winzige, von Schwarzen regierte Republik Liberia wurde international verurteilt. Als Folge erhoben sich vor allem in Amerika und England immer mehr Stimmen, die den R�cktritt von Pr�sident King forderten.
Nat�rlich brach schon im Vorfeld ein Kampf um die m�gliche Nachfolge aus, und dieser Machtpoker fand nicht nur in Monrovia statt, sondern auch im liberianischen Generalkonsulat in Hamburg, direkt vor meiner kindlichen Nase. Eine nicht abrei�ende Flut von liberianischen Besuchern versuchte, meinen Gro�vater davon zu �berzeugen, dass er der Einzige sei, der Liberia in dieser schweren Stunde f�hren k�nnte. Er z�gerte zun�chst, die Pr�sidentschaft anzustreben, auch weil er gegen seinen langj�hrigen Freund Edwin Barclay w�rde antreten m�ssen, doch als Pr�sident King ihn bat, nach Liberia zur�ckzukommen, um dort Postminister zu werden, betrachtete er das Angebot als ein gutes Omen. Am 8. Dezember 1929 fuhr Momolu Massaquoi an Bord der S. S. Livadia nach Monrovia ab. Vor ihm lag eine ungewisse politische Zukunft, doch er war entschlossen, sich jeder Herausforderung zu stellen. Von meinem Vater wurde erwartet, dass er seinen Vater aktiv in dessen heimlichem Kampf um die Pr�sidentschaft unterst�tzte und gleichfalls heimkehrte, was er als weiteren Grund anf�hrte, die Hochzeit erneut aufzuschieben. Mein Gro�vater hatte meine Mutter gebeten, mit der �brigen Familie nach Liberia zu kommen, doch sie lehnte ab. Sie hatte zwar davon getr�umt, eines Tages in Afrika zu leben, aber unser Hausarzt riet ihr eingedenk meiner angegriffenen Gesundheit von einem solchen drastischen Klimawechsel ab. Ich hatte in rascher Folge Diphtherie, Keuchhusten, Scharlach und eine Lungenentz�ndung gehabt und w�re fast daran gestorben. Der Arzt �berzeugte meine Mutter, dass es unverantwortlich w�re, mit mir in ein Land zu reisen, in dem Malaria und jede Menge anderer Tropenkrankheiten herrschten und die
medizinische Versorgung unzureichend war. Mehr musste meine Mutter gar nicht h�ren. Ohne noch eine zweite Meinung einzuholen, teilte sie meinem Gro�vater mit, dass sie mit mir vorl�ufig in Deutschland bleiben w�rde. Ihre Entscheidung stand fest. Um meine Gesundheit nicht zu gef�hrden, nahm sie, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne R�cksicht auf die Folgen f�r unsere finanzielle Situation, von dem lang gehegten Traum einer Zukunft in Liberia Abschied.
Der Neue
Nachdem mein Gro�vater, mein Vater und die meisten anderen Massaquois - Nathaniel, Abraham, Arthur, Fritz, Fasia und Stiefgro�mutter Rachel - abgereist waren, fand unser luxuri�ser Lebensstil im vornehmen HamburgRotherbaum ein j�hes Ende. Die einzige Massaquoi, die Europa nicht verlie�, war meine Tante Fatima, die auf ein Internat in Bern ging. Praktisch v�llig auf sich allein gestellt, musste meine Mutter sich irgendwie durchschlagen. Sie brauchte eine Arbeit und eine erschwingliche Wohnung. Gl�cklicherweise suchte das St.-Georg-Krankenhaus, eine gro�e Klinik in der Innenstadt, gerade eine Hilfskrankenschwester f�r die Hals-Nasen-OhrenStation. �ber eine Kollegin aus dem Krankenhaus fand meine Mutter im zweiten Stock eines Mietshauses eine winzige Mansardenwohnung, die nur aus einem einzigen Zimmer mit kaltem Wasser und schr�gen W�nden bestand und durch den Hintereingang �ber zwei unglaublich steile, knarrende Treppen zu erreichen war. Unsere neue Adresse lautete St�ckenstra�e 3 in Barmbek, einem Arbeiterviertel im Norden der Stadt. F�r die Wohnung sprach einerseits die niedrige Miete, aber noch wichtiger f�r meine Mutter war, dass eine Etage unter uns eine �ltere Witwe wohnte, Frau Elisabeth M�ller, die gegen ein bescheidenes w�chentliches Entgelt und unter der Bedingung, dass ich
sie �Tante M�ller� nannte, bereit war, tags�ber auf mich aufzupassen, w�hrend meine Mutter arbeiten ging. Es ist nirgendwo leicht, der Neue zu sein, aber in meiner neuen Nachbarschaft war ich nicht nur neu, sondern ich fiel auch noch auff�llig aus dem Rahmen. Es dauerte somit eine Weile, bis die Nachbarn sich an mich gew�hnt hatten und - was ebenso wichtig war - ich mich an sie. In der wohlhabenden, kosmopolitischen Umgebung, die mir bis dahin vertraut gewesen war, hatte man schwarze Menschen vom gesellschaftlichen Rang meines Gro�vaters mit gr��tm�glichem Respekt behandelt. F�r mich waren daher meine rassischen Merkmale beneidenswerte Vorz�ge gewesen. Pl�tzlich war ich gezwungen, sie als nachteilig anzusehen, denn mir fiel die g�nzlich andere Umgangsweise der Menschen mit mir auf. Statt der freundlichen Blicke und schmeichelhaften Komplimente, die ich gewohnt war, erntete ich nun neugierige, mitunter sogar feindselige Blicke und Beleidigungen. Die Kinder auf der Stra�e waren meine schlimmsten Widersacher. Kaum hatten sie mich erblickt, sangen sie auch schon: �Neger, Neger, Schornsteinfeger! � und das mit sadistischer Ausdauer so lange, bis ich au�er Sichtweite war. Zum Gl�ck wurden die Blicke und Sp�ttereien weniger, je mehr sich die Menschen an meine exotische Erscheinung gew�hnten. Au�erdem wurden ein paar der lautst�rksten R�delsf�hrer meine besten Freunde. Zu meiner gro�en Erleichterung schienen sie den optischen Unterschied, der uns voneinander trennte, v�llig vergessen zu haben. Das f�r mich Seltsamste in unserem neuen Viertel war, dass sich die meisten Menschen, und besonders die Kinder, h�ufig in einer Sprache unterhielten, die mir v�llig fremd war. Sie �hnelte dem Englischen, das ich
nicht sprechen konnte, obwohl ich es im Hause meines Gro�vaters sehr h�ufig geh�rt hatte, aber ich war mir ziemlich sicher, dass es kein Englisch war. Ich fragte meine Mutter, und sie erkl�rte mir, dass es Plattdeutsch sei. Ich h�tte wer wei� was daf�r gegeben, Platt sprechen zu k�nnen, doch da meine Mutter nicht aus Hamburg stammte und auch nicht im Arbeitermilieu besch�ftigt war, sprach sie nur Hochdeutsch und musste passen, als ich sie bat, es mir beizubringen. Ich dachte, dass vielleicht Tante M�ller mir gute Dienste leisten k�nnte. Sie war ein Hamburger Original und sprach die meiste Zeit Platt, au�er wenn sie mit irgendwelchen �feinen Pinkeln� aus den besseren Gegenden zu tun hatte. Doch als ich sie bat, mir Platt beizubringen, weigerte sie sich strikt. �Platt lehrt und lernt man nicht�, erkl�rte sie mir. �Platt h�rt und spricht man.� Es dauerte mehrere Monate, bis ich begriff, was sie meinte. Wir unterhielten uns gerade, als sie mich pl�tzlich unterbrach. �Du sprichst ja Platt!�, sagte sie. �Den ganzen Morgen haben wir nur Platt geredet.� Ich �berlegte einen Moment, sie hatte Recht. Ohne eine einzige Unterrichtsstunde und ohne es �berhaupt zu merken, war ich zweisprachig geworden, nur dadurch, dass ich ihr und anderen zugeh�rt hatte. Damals merkten weder Tante M�ller noch ich, dass ich durch den regelm��igen Umgang mit ihr noch eine weitere Sprache recht fl�ssig beherrschte. Diese Sprache war Missingsch, was eigentlich keine richtige Sprache ist, sondern eine Mischung aus Hochdeutsch und Platt, auf die Leute mit geringer Schulbildung wie Tante M�ller zur�ckgriffen, wenn sie sich gelehrt ausdr�cken wollten. Dann und wann sehnte ich mich nach meinem beh�teten Leben in Rotherbaum zur�ck - das t�gliche Fr�hst�cksritual mit
meinem Gro�vater, die Spazierg�nge an der Alster und das Gef�hl, Mittelpunkt des Universums zu sein. Diese Heimwehgef�hle hatten jedoch nichts mit unserem drastisch gesunkenen Lebensstandard zu tun, denn den nahm ich kaum wahr. Aus meiner Sicht brachte unsere neue Umgebung einen anderen Lebensstil mit sich, keinen schlechteren. Heute wei� ich, dass meine Mutter das anders sah. Statt flie�endem warmen und kalten Wasser hatten wir jetzt nur noch kaltes. Folglich konnte ich nicht mehr wie fr�her t�glich duschen oder baden, sondern musste bis Samstagabend warten. Dann machte meine Mutter auf dem Kohleherd in der K�che Wasser hei� und goss es in einen Zinkwaschtrog, der zugleich auch als Badewanne f�r mich diente. Meine Mutter lie� mich zun�chst eine Weile einweichen und schrubbte mich anschlie�end gr�ndlich mit einem eingeseiften Schwamm ab. Das Sch�nste war immer das Absp�len, wenn meine Mutter mir mehrere Eimer warmes Wasser �ber den Kopf sch�ttete. Die Woche �ber musste ich mit kaltem Wasser und Katzenw�sche am Sp�lstein in der K�che auskommen. Andere Annehmlichkeiten, die in unserer Wohnung durch Abwesenheit gl�nzten, waren Strom, Telefon und K�hlschrank. Die Mehrheit der deutschen Haushalte vor dem Krieg besa� keinen K�hlschrank. Somit musste man jeden Tag einkaufen gehen. Genauso selten waren Telefone in Privathaushalten, ein Privileg der beg�terten Schichten. Was unsere Wohnung jedoch von allen Wohnungen in der Nachbarschaft einschlie�lich derer in unserem Mietshaus unterschied, war die Tatsache, dass sie keinen Stromanschluss hatte und mit Gas beleuchtet wurde. Anders ausgedr�ckt, Edisons Erfindung der
Gl�hlampe hatte es noch nicht bis zum zweiten Stock in der St�ckenstra�e 3 geschafft. Mich st�rte das nicht. Im Gegenteil, es machte mir Spa�, meiner Mutter zuzusehen, wenn sie jeden Abend ein brennendes Streichholz an die Deckenlampe hielt, das Gas aufdrehte und wartete, bis das helle Licht mit einer dumpfen Miniexplosion erstrahlte. Ich fand meine neue Welt viel interessanter als die stattliche, ruhige Villa und die gepflegte park�hnliche Atmosph�re meines fr�heren Zuhauses. Unsere neue Nachbarschaft bestand �berwiegend aus alten, schmuddelig aussehenden zwei- bis dreist�ckigen Mietsh�usern, manche davon mit Balkonen und kleinen G�rtchen, sowie aus zweist�ckigen Reihenh�usern. Sie alle waren lange vor der Zeit gebaut worden, zu der es �blich war, H�userfassaden mit leuchtenden Farben herauszuputzen, was den St�dten im Nachkriegsdeutschland diesen typischen �WirtschaftswunderWohlstands-Look� verlieh. In den Hamburger Arbeitervierteln waren die H�user vor dem Krieg von einer dicken Patina aus Ru� �berzogen, der alles mit einem unterschiedslosen dunklen Grau bedeckte. Doch so schmutzig die H�user in Barmbek auch aussahen, die Wohnungen waren blitzblank, denn die Hausfrauen verbrachten praktisch den ganzen Tag mit Schrubben, Fegen, Wischen, Putzen, Teppichklopfen und Waschen. Anders als die ruhigen Chausseen in Rotherbaum wimmelte es hier auf den Stra�en von Menschen, die aus der Sicht eines neugierigen f�nfj�hrigen Jungen ungeheuer aufregende Dinge taten. Ich erkundete meine neue Umgebung vor allem, wenn ich Tante M�ller auf ihrer t�glichen Einkaufsrunde begleitete: Milchmann, Lebensmittelh�ndler, Schlachter, Gem�seh�ndler und
einmal pro Woche der Fischh�ndler. In jedem dieser Tante-Emma-L�den unterhielt Tante M�ller sich mit den Besitzerinnen oder Besitzern ausgiebig �ber alle m�glichen Themen: das Wetter, ihr Rheuma, die allgemeine Verteuerung sowie die �gute alte Zeit� vor dem Ersten Weltkrieg. Und f�r mich bedeutete jeder Laden f�r sich eine besondere Attraktion, denn die freundlichen Verk�uferinnen lie�en mich stets eine Scheibe K�se oder Wurst probieren oder schenkten mir S��igkeiten oder Obst. Diese �Spenden� wurden sogar noch gro�z�giger, nachdem die Frauen von Tante M�ller erfahren hatten, dass ich ein echter geb�rtiger Hamburger war und nicht - wie jedermann geglaubt hatte - ein Quiddje, ein ver�chtlicher Ausdruck der Hamburger f�r alle, die das ungeheuerliche Pech hatten, nicht innerhalb der Stadtgrenzen Hamburgs das Licht der Welt erblickt zu haben. Beim Einkaufen mit Tante M�ller bekam ich faszinierende Dinge zu sehen: einen Schneider, der im Schneidersitz auf einem Tisch am Fenster seiner Werkstatt sa� und einen Anzug n�hte, einen Schmied, der in seiner rauchgef�llten Schmiede ein riesiges Brauereipferd beschlug, einen Eismann, der vor einer Kneipe gewaltige Eisquader von seinem Laster lud, und einen ru�geschw�rzten Schornsteinfeger mit Zylinder, der hoch oben auf einem Dach balancierte. Gelegentlich sah ich eine ganze Kolonne von Feuerwehrwagen mit behelmten Feuerwehrleuten hupend und klingelnd vorbeibrausen. Ganz in der N�he �unserer� St�ckenstra�e fuhr die Hochbahn vorbei. Da meine Mutter und ich L�rm in der Nacht nicht gewohnt waren, wachten wir in der ersten Zeit jedes Mal auf, wenn eine Hochbahn vorbeidonnerte, doch schon bald nahmen wir den L�rm gar nicht mehr wahr. Spannend
wurde es in unserem Viertel, wenn gelegentlich mit heulender Sirene ein Polizeiwagen auftauchte, der wegen seiner dunkelgr�nen Farbe �Gr�ner August� genannt wurde und, wie Tante M�ller mir mit ihrem Hang zu �bertreibungen erkl�rte, �Verbrecher� ins Gef�ngnis schaffte. In Wirklichkeit handelte es sich bei den �Verbrechern� meist jedoch nur um arbeitsame und gesetzestreue M�nner aus der Nachbarschaft, die zu tief ins Bierglas geschaut hatten. Direkt gegen�ber von unserem Haus war der Hinterausgang des Europa-Palastes, wo ich mir schon bald Sonntagnachmittags keinen Film entgehen lie�. Ein St�ck weiter die Stra�e rauf lag ein alter, h�sslicher roter Ziegelbau, die Waffelfabrik, die trotz ihres nicht besonders einnehmenden Anblicks bei den Kindern in der Nachbarschaft sehr beliebt war. Auch ich kam bald dahinter, dass man nur eine Treppe hinaufgehen und auf eine Klingel dr�cken musste, damit sich ein kleines Fenster �ffnete und eine alte Dame gegen f�nf Pfennig eine zum Bersten gef�llte Papiert�te mit k�stlichem Waffelbruch hinausreichte. In den n�chsten Jahren sollte die Fabrik f�r unser Viertel und f�r mich eine ganz andere, finstere Bedeutung annehmen. Beim t�glichen Einkauf mit Tante M�ller gew�hnte ich mich nicht nur an das f�r Hamburg typische kalte Niesel- und Nebelwetter, sondern gewann es sogar richtig lieb, ein Charakterzug, der die Hamburger von den allermeisten Menschen auf der Welt unterscheidet. In Tante M�llers K�che wurde ich regelrecht s�chtig nach solchen Hamburger Delikatessen wie R�ucheraal, Milchreis mit Zucker und Zimt, Birnensuppe, Snuten und Poren, Scholle in Speck gebraten, Brathering, Matjes und Rollmops, B�ckling und Rote Gr�tze. Dank
Tante M�ller dachte und f�hlte ich schlie�lich wie ein Hamburger, und wenn ich eines von ihr lernte, dann dass Menschen, die in Hamburg geboren sind und dort leben, die sch�nste, aufregendste und reizvollste Heimatstadt auf Gottes Erdenrund ihr Eigen nennen. Etwa einmal im Monat fuhren Tante M�ller und ich mit der Stra�enbahn der Linie 6 in die Stadt. Wir gingen in die gro�en Kaufh�user wie Karstadt, Tietz, Epa und Woolworth, der neueste Import aus den USA, wo wir uns die bunten Auslagen ansahen. Stets machten wir auf unserem Einkaufsbummel einen Abstecher zu dem eleganten Alsterpavillon am Jungfernstieg oder auf den Dachgarten von Karstadt und lie�en uns ein St�ck Kirschtorte oder andere K�stlichkeiten schmecken. Manchmal fuhren wir nicht mit der Stra�enbahn, sondern mit dem Alsterdampfer nach Hause, wo ich dann meiner Mutter in allen Einzelheiten berichtete, was ich wieder alles Interessantes erlebt hatte. Doch unsere gemeinsamen Ausfl�ge in die Stadt fanden ein trauriges Ende, als Tante M�ller, die nicht mehr die j�ngste und ein wenig gebrechlich war, beim Einsteigen in die Stra�enbahn st�rzte. Der Vorfall verursachte einen gro�en Menschenauflauf, und ein Polizist half ihr wieder auf die Beine. Sie war zwar nicht ernstlich verletzt, doch sie traute sich fortan in keine Stra�enbahn mehr. Als Tante M�ller mich irgendwann allein zum Spielen auf die Stra�e lie�, musste ich ihr versprechen, in H�rweite zu bleiben, damit sie mich jederzeit rufen konnte. Das bedeutete, dass ich mich etwa in einem zwei Blocks gro�en Areal aufhalten musste, das von der St�ckenstra�e, Am Markt (heute Barmbeker Markt), Haferkamp und Langenrehm begrenzt wurde. Wenn ich binnen weniger Minuten zu Hause war, nachdem sie
mich von einem Fenster ihrer Wohnung aus gerufen hatte, war alles in Ordnung. Wenn ich aber au�er H�rweite geriet oder so ins Spiel vertieft war, dass ich ihr �Haaaans-J����rgen!� nicht mitbekam, galt ich sozusagen als fl�chtig und wurde von der alten Dame h�chstpers�nlich wieder eingefangen. Die unvermeidliche Strafe war dann, dass ich am n�chsten Tag nicht nach drau�en durfte. Eines lernte ich jedenfalls im Nu, und zwar Tante M�llers glasklaren Vorstellungen von Disziplin Folge zu leisten. Ihr Mann war vor Verdun gefallen, und sie hatte ganz allein drei S�hne und eine Tochter gro�gezogen. Sie war folglich Expertin darin, Kindern Gehorsam beizubringen. Zu meinem eigenen Nutzen trieb sie mir den letzten Rest des Glaubens aus, ich sei der Mittelpunkt des Universums. Dennoch war sie trotz ihrer etwas schroffen Art eine g�tige und warmherzige Frau, die mir niemals Schl�ge gab oder mich sonst irgendwie k�rperlich bestrafte, wenn ich mal �ber die Str�nge schlug. Das war auch nicht erforderlich. Bei den nicht gerade seltenen Anl�ssen dieser Art hatte sie ein praktisches Abschreckungsmittel parat, das bei mir stets Wirkung zeigte. Mit einem drohenden �Wer nicht h�ren will, muss f�hlen!� griff sie in den Besenschrank und holte ihre ber�chtigte Rute hervor, die, wie sie behauptete, der Nikolaus f�r solche F�lle dagelassen hatte. Es reichte schon, dass sie mir damit vor der Nase herumfuchtelte, um mich gleich wieder auf den Pfad der Tugend zur�ckzubringen.
Freizeit
Sosehr ich Tante M�ller mochte und so gern ich die Woche �ber bei ihr war, ich freute mich jeden Tag auf den Abend, wenn meine Mutter von der Arbeit nach Hause kam. Der Sonntag war f�r mich der H�hepunkt der Woche, weil meine Mutter frei hatte und den ganzen Tag mit mir verbringen konnte. Sie steckte mich in meinen Sonntagsanzug, und dann ging es hinaus ins Gr�ne, h�ufig in den Stadtpark, wo sich im Sommer an den Wochenenden Tausende von Hamburgern tummelten, die einen Nachholbedarf an frischer Luft hatten. Sie ruderten oder paddelten auf dem See, spielten Fu�ball oder Tennis, lie�en Drachen steigen, machten ein Picknick, ritten mit Pferden aus, fuhren Fahrrad oder gingen schwimmen. Doch die meisten taten genau das, was meine Mutter und ich auch taten, sie schlenderten umher und schauten zu, was die anderen so trieben. Wenn wir Hunger bekamen und m�de wurden, setzten wir uns auf eine der vielen Holzb�nke und lie�en uns die leckeren Butterbrote schmecken, die meine Mutter mitgebracht hatte. Zum Nachtisch durfte ich mir bei einem der allgegenw�rtigen Eisverk�ufer mit ihren dreir�drigen Fahrr�dern f�r einen Groschen ein gro�es Eis mit zwei Kugeln - Vanille und Erdbeer - kaufen. Ein anderes beliebtes Ziel f�r unsere Sonntagsausfl�ge im Sommer war Blankenese mit seinem kilometerlangen Sandstrand entlang der Elbe und den vielen Caf�s. Es war mit der Bahn in weniger als einer Stunde zu erreichen. Dort reihten wir uns ein in das Heer von
Sonnenanbetern, zogen unsere Badesachen an und bauten Sandburgen, sahen den majest�tischen Ozeandampfern auf der Elbe nach, bis sie am Horizont verschwanden, oder lagen einfach nur auf dem R�cken, blickten in den Himmel und schauten den vorbeiziehenden Wolken zu. Bevor wir uns auf die R�ckfahrt machten, gingen wir jedes Mal die zahllosen Stufen hoch, die im Zickzack zum oberen Teil von Blankenese f�hren, und bestaunten unterwegs die malerischen H�user am Hang. Hin und wieder besuchten wir auch besondere Veranstaltungen, zum Beispiel die beliebte Flugschau in der N�he des Hamburger Flughafens in Fuhlsb�ttel. Dort bestaunten wir dann mit Tausenden von Zuschauern, wie Ernst Udet, das legend�re Fliegerass aus dem Ersten Weltkrieg, bei atemberaubenden Flugkunstst�cken und Fallschirmspr�ngen sein Leben riskierte. Als Udet wenige Jahre sp�ter entscheidend beim Aufbau der viel ger�hmten Luftwaffe mitwirkte, die Hitler erst dazu ermutigte, seine Angriffskriege anzuzetteln, musste ich oft an die sorglosen Stunden zur�ckdenken, die ich in Fuhlsb�ttel unter einem wolkenlosen Himmel verlebt hatte, voller Begeisterung f�r einen der ersten Helden meiner Kindheit. Die Blicke, die uns st�ndig verfolgten, wenn wir unterwegs waren, st�rten mich nicht im Geringsten. Schlie�lich war ich �berzeugt, dass meine Mutter die h�bscheste Frau �berhaupt war und dass auch ich in meinem s�uberlich geb�gelten Anzug und den polierten Schuhen einfach todschick aussah. Nur wenn ich sp�rte, dass die neugierigen Blicke der Gaffer nicht schmeichelhaft gemeint waren, sondern geh�ssig und aufdringlich, zum Beispiel wenn jemand auf mich zeigte
und lachte oder das verhasste Wort Neger benutzte, war ich gekr�nkt und w�tend. In solchen F�llen streckte ich der betreffenden Person die Zunge raus oder zeigte ihr den Vogel. Meine Mutter, die genau wusste, wie mir zu Mute war, schalt mich nie daf�r, dass ich meiner Wut auf diese Weise Luft machte, obwohl sie mir h�ufig sagte, ich sollte solche Ignoranten einfach �bergehen, was mir allerdings ungemein schwer fiel.
Kulturschau in Hagenbecks Tierpark
Eine der beliebtesten Attraktionen f�r Hamburger, ob jung oder alt, war Hagenbecks Tierpark, der weltber�hmte Zoo im Vorort Stellingen, wo man wilde Tiere nicht in engen K�figen, sondern in Freigehegen zu sehen bekam, die ihrem nat�rlichen Lebensraum nachgestaltet waren. Als �berzeugter Hagenbeckfan stimmte ich begeistert zu, als meine Mutter eines Tages meinte, dass es mal wieder Zeit f�r einen Zoobesuch sei. Diesmal hatte sie mit einer Kollegin aus dem Krankenhaus vereinbart, deren Tochter Ingeborg mitzunehmen, ein etwas freches, aber ansonsten ganz nettes M�dchen in meinem Alter. Kaum waren wir nach der langen Fahrt mit der Stra�enbahn im Zoo angekommen, da wollte Ingeborg auch schon die �Indianer� sehen. Meine Mutter und ich hatten noch nie geh�rt, dass im Tierpark Menschen gezeigt wurden, aber Ingeborg blieb dabei, dass sie bei ihrem letzten Zoobesuch richtige lebendige �Indianer� gesehen hatte. Meine Mutter fragte einen Zoow�rter und bekam die Antwort, Indianer g�be es gerade keine, aber man k�nne sich Afrikaner ansehen, was genauso interessant sei. Die �primitiven V�lker�, so erkl�rte der Mann vom Zoo, seien Teil der ber�hmten Hagenbeckschen �Kulturschauen�. Ingeborg und ich waren entt�uscht, weil wir uns schon darauf gefreut hatten, tapfere Krieger mit pr�chtigem Federschmuck zu sehen, aber wir fanden uns mit der afrikanischen Schau ab, obwohl wir nicht die geringste
Ahnung hatten, was uns erwartete. Was wir dann schlie�lich zu sehen bekamen, verschlug mir die Sprache. Wir gingen in herrlichen Gehegen mit Affen, Giraffen, L�wen, Elefanten und anderen afrikanischen Tieren vorbei und kamen am �afrikanischen Dorf� an, das aus rund einem halben Dutzend strohgedeckter Lehmh�tten bestand und in dem, wie wir erfuhren, �echte Afrikaner� wohnten. Wie die Tiergehege war das �Dorf� von einem brusthohen Holzzaun umgeben, der daf�r sorgen sollte, dass die Zuschauer drau�en und die zur Schau gestellten Menschen drinnen blieben. Der einzige Unterschied zwischen Menschengehege und Tiergehegen war der, dass es keinen Wassergraben gab. Abgesehen von der Hautfarbe und den Haaren hatten die �Afrikaner� keinerlei �hnlichkeit mit meinen Verwandten oder mit irgendwelchen anderen Afrikanern, die ich im Hause meines Gro�vaters kennen gelernt hatte. Alle �Dorfbewohner� waren barfuss und trugen zerrissene Lumpen. Zwei in sch�bige T�cher geh�llte Frauen rammten im gleichm��igen Rhythmus einen schweren Holzpflock in einen M�rser. Ein Zoow�rter, erkl�rte, sie w�rden Maismehl f�r das Abendessen machen. Die M�nner sa�en in Gr�ppchen herum und betrachteten aufmerksam die Zuschauer, plauderten in einer unverst�ndlichen Sprache und pafften an kurzen, primitiv aussehenden Pfeifen. Es war schwer zu sagen, wer sich mehr f�r wen interessierte - die Afrikaner f�r die Europ�er oder umgekehrt? Beide Seiten musterten einander mit unverhohlener Neugier �ber den Zaun hinweg. Pl�tzlich geschah genau das, was ich vom ersten Moment an bef�rchtet hatte. Obwohl ich mich bewusst im Hintergrund gehalten hatte, um sehen zu k�nnen, ohne gesehen zu werden, entdeckte mich
einer der Afrikaner in der Menge. Mit einem Mal wurde das ganze Dorf auf mich aufmerksam. Die beiden Frauen h�rten auf, Maismehl zu stampfen, und die M�nner h�rten auf zu rauchen. Als h�tten sie einen Verwandten gesichtet, den sie lange nicht mehr gesehen hatten, zeigten sie alle in meine Richtung und strahlten. Verzweifelt versuchte ich, mich hinter einem anderen Zuschauer zu verstecken, aber vergebens. Einer der Zoobesucher folgte der Richtung, in die die Afrikaner zeigten, und als er den Grund f�r die Aufregung begriff, richtete auch er seinen dicken Zeigefinger auf mich. �Guck mal!�, sagte er zu seiner Begleiterin. �Da ist ein Kind von denen.� Das l�ste unter den �brigen Zuschauern eine Kettenreaktion aus, bis schlie�lich alle, Afrikaner und Deutsche, mich anstarrten. Am liebsten w�re ich vor Verlegenheit im Erdboden versunken, weil man mich mit einem von �denen� verwechselte. Schlie�lich nahm meine Mutter mich und Ingeborg an der Hand und f�hrte uns trotz Ingeborgs Protest von dort weg. Am selben Abend, als wir wieder allein zu Hause waren, sagte meine Mutter zu mir, dass ich keinen Grund h�tte, mich zu sch�men. Die Afrikaner, die wir gesehen hatten, seien einfache, aber gute Menschen, die unser Mitleid und nicht unseren Spott verdienten. Sie vermutete, dass jemand sie mit falschen Versprechungen aus ihrer Heimat gelockt hatte, damit sie in der Schau auftraten. Und sie machte mir klar, dass es, selbst wenn die Afrikaner nicht mit Gewalt nach Deutschland gebracht worden waren, ein entsetzliches Unrecht war, Menschen in einem Zoo hinter Z�unen Seite an Seite mit Tieren zur Schau zu stellen. So gern wir beide auch in den Zoo gingen, wir schworen uns an dem Abend, nie wieder einen Fu� in Hagenbecks Tierpark zu setzen. Ich
verstie� erst etwa f�nfzehn Jahre sp�ter gegen diese Abmachung, als ich nach dem Krieg mit einer jungen Dame in den Tierpark ging, weil sie mich darum gebeten hatte. Der Zoo war im Gro�en und Ganzen noch genau so, wie ich ihn seit meiner Kindheit in Erinnerung hatte, doch das �afrikanische Dorf� war verschwunden.
Ein tiefer Fall
Auf meine h�ufige Frage: �Wann kommt Vati wieder? �, reagierte meine Mutter stets mit einem hilflosen Schulterzucken und der Standardantwort: �Ich wei� es nicht.� Sie sagte die Wahrheit. Allerdings verschwieg sie mir, dass sie von Tante Fatima, die immer noch in Bern lebte, schlechte Nachrichten aus Liberia erhalten hatte. Erst Jahre sp�ter lie� sie mich den Brief lesen. Er berichtete, dass es meinem Gro�vater nicht gelungen. war, nach dem R�cktritt Pr�sident Kings selbst Pr�sident zu werden, dass ihm zu Unrecht vorgeworfen wurde, als Postminister Postgelder veruntreut zu haben, dass er in Haft war, mein Vater und einige seiner Br�der sich bei ihren Vai-Stammesgenossen im Hinterland von Liberia versteckt hielten und mein Onkel Nat im Gef�ngnis sa�, weil er angeblich einen Anschlag auf den neuen Pr�sidenten Edwin Barclay und den Sturz der Regierung geplant hatte. Doch Tante Fatimas Brief enthielt noch andere schlechte Nachrichten. Da mein Gro�vater sein Amt als Postminister verloren und Schulden auf seinen ganzen Besitz aufgenommen hatte, um die Gelder f�r die Verfolgung seiner ehrgeizigen politischen Ziele aufzutreiben, war er finanziell ruiniert. Ohne Amt und in Ungnade gefallen, war er au�er Stande, die f�lligen R�ckzahlungen zu leisten. Fatima sah sich pl�tzlich finanziell auf die Gro�z�gigkeit der vielen Freunde meines Gro�vaters in Europa angewiesen. Und meine Mutter musste all ihre Hoffnungen begraben, dass mein Vater und mein
Gro�vater eines Tages zumindest einen kleinen Beitrag f�r meinen Unterhalt leisten w�rden.
Der M�ller-Klan
Indem ich Tante M�llers Z�gling wurde, �erbte� ich unversehens eine ganze Reihe von zus�tzlichen �Onkeln� und �Tanten� - die S�hne, T�chter und Schwiegers�hne der alten Dame -, und sie erbten mich. Von diesen neuen �Verwandten� mochte ich Onkel Willi, Tante M�llers �ltesten Sohn, am liebsten. Willi war Chefsteward auf den gr��ten Luxusdampfern der Hamburg-Amerika-Linie (Hapag) und pendelte nur noch zwischen Hamburg und New York hin und her. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges war er in New York h�ngen geblieben, wo er eine wohlhabende Amerikanerin heiratete und bis zum Ende des Krieges ein verh�ltnism��ig sorgenfreies Leben f�hrte. Dann kehrte er ohne Frau und ohne Erkl�rungen, was aus seiner Ehe geworden war, nach Hamburg zur�ck. Ich wusste nur, dass er mit einer attraktiven geschiedenen Frau zusammenlebte, die ich respektvoll mit Frau Hemmerling anreden musste. Im Gegensatz zu seinen beiden Br�dern, die einfache Arbeiter waren, hatte Onkel Willi eindeutig einen gesellschaftlichen Aufstieg gemacht. Er war einen Meter achtzig gro�, wirkte distinguiert mit seinen fr�h ergrauten Schl�fen und sah in seinen ma�geschneiderten Dreiteilern und grauen M�nteln mit schwarzem Samtkragen immer wie aus dem Ei gepellt aus. Ich sah ihn niemals ohne eine dicke Zigarre, und immer roch er nach teurem Eau de Cologne. Ich bekam ihn nur zu sehen, wenn er gerade wieder von einer Reise zur�ckkam, aber das war jedes Mal ein
denkw�rdiges Ereignis. Er brachte mir n�mlich von jeder Reise ein Geschenk aus den USA mit, meistens irgendein neumodisches Spielzeug, das die Gesch�fte in Deutschland noch nicht erreicht hatte. So kam es, dass ich bereits mit einem Jo-Jo spielte, bevor meine Spielkameraden auf der St�ckenstra�e �berhaupt davon tr�umen konnten. Manchmal nahm Onkel Willi mich mit in den Hafen und an Bord seines Schiffes. Er zeigte mir die schimmernden Salons der ersten Klasse, wo sich, wie er mir erz�hlte, die Reichen und Ber�hmten w�hrend der Atlantik�berquerung am�sierten.
Er versuchte mir auch Schwimmen beizubringen, aber das endete in einem Fiasko. W�hrend ich in dem gro�en Becken der Badeanstalt an der Bartholom�usstra�e an seinen Schultern hing, musste ich jedes Mal Wasser schlucken, wenn er untertauchte und zu einem weiteren Armzug ausholte. Als ihm schlie�lich klar wurde, was ich durchmachte, war ich schon halb ertrunken. Es dauerte Jahre, bis ich meine Wasserscheu so weit �berwunden hatte, dass ich es noch einmal mit dem Schwimmen versuchte. Onkel Otto war Tante M�llers zweiter Sohn. Er war Schwei�er von Beruf und mit einer Frau namens Erna verheiratet, die mit geradezu rubensschen Proportionen ausgestattet war. Sie hatten einen intelligenten, leicht korpulenten Sohn im Teenageralter, den sie Bubi nannten, und eine geistig zur�ckgebliebene Tochter unter zehn, die bei allen S��e hie�. Agnes war Tante M�llers einzige Tochter. Sie war mit einem Maschinisten verheiratet, Onkel Walter, und ich wei� von ihr eigentlich nur noch, dass sie eine nette Frau war, die, wie alle sagten, den Klapperstorch sehr h�ufig
gebeten hatte, ihr ein Baby zu bringen, doch ohne Erfolg. Als sie nicht mehr warten wollte, adoptierte sie einen kleinen jungen aus dem Waisenhaus. Tante M�llers dritter Sohn, ein Arbeiter in der riesigen Werft Blohm & Voss, wohnte mit seiner Frau Alma und einer h�bschen Tochter namens Hella in einem dreigeschossigen Mietshaus direkt gegen�ber von uns. Als ich Hella das erste Mal sah, schlug mir das Herz bis zum Halse. Obwohl ich mich nach Kr�ften bem�hte, meine Gef�hle zu verbergen, wenn Hella bei uns war, konnte ich Tante M�ller nichts vormachen. �Frag Hella doch, ob sie dich heiraten will�, neckte sie mich. So vehement ich auch abstritt, mich f�r sie zu interessieren, insgeheim dachte ich, dass ich sie eines Tages vielleicht wirklich fragen w�rde.
Fr�hreif
Da Tante M�ller recht gut von ihrer Witwenrente leben konnte, hatte sie ausreichend Zeit, ihrer Lieblingsbesch�ftigung nachzugehen - Klatsch und Tratsch zu sammeln und zu verbreiten. Zu diesem Zweck hatte sie einen Handarbeitskreis gegr�ndet, dem rund ein Dutzend anderer verwitweter alter Damen angeh�rte. Jeden Donnerstag traf man sich nach dem Rotationsprinzip bei einer der Damen zu Hause, wo dann bei Kaffee und Kuchen gestrickt und geh�kelt und vor allem der neueste Klatsch ausgetauscht wurde. F�r mich waren die w�chentlichen Treffen der alten Damen eine willkommene Unterbrechung meines normalen Tagesablaufs, und zwar aus zweierlei Gr�nden. Erstens bekam ich nat�rlich auch immer etwas von dem k�stlichen Kuchen, zweitens, was nicht weniger wichtig war, hatte ich Gelegenheit, mit Erika zu spielen. Erika Schmedemann, ein fr�hlicher Rotschopf, war ein Jahr j�nger als ich und wurde von ihrer Gro�mutter, Frau H�selich, betreut, die zu den Gr�ndungsmitgliedern des Handarbeitskreises z�hlte. Eines Donnerstags fand der Handarbeitskreis mal wieder bei Tante M�ller statt. Wie immer wurden Erika und ich aus der guten Stube verbannt, wo sich die Damen versammelt hatten. Wir hatten unseren Kuchen aufgegessen und sollten nun spielen gehen, aber ohne L�rm zu machen. Wir gingen in das Schlafzimmer nebenan, wo wir eine Weile miteinander spielten. Als uns irgendwann nichts mehr einfiel und wir uns langweilten, hatte Erika - wie immer zu Dummheiten
aufgelegt - eine Idee. Bevor ich �berhaupt begriff, was vor sich ging, hatte sie auch schon ihren Schl�pfer ausgezogen, hob ihren Rock hoch und bot mir einen ungehinderten Blick auf den unteren Teil der weiblichen Anatomie. Da ich in meinen ganzen vier Jahren noch nie etwas so Ulkiges gesehen hatte, brach ich in lautes Gel�chter aus. Auch Erika quietschte schlie�lich vor Vergn�gen ob meiner begeisterten Reaktion auf ihren spontanen Striptease. Genau in dem Moment - als wir uns vor Lachen �ber die gelungene Vorf�hrung nicht mehr beruhigen konnten - ging die T�r auf, und Frau H�selich trat ins Zimmer. Unsere Ausgelassenheit hatte sie offenbar neugierig gemacht, und sie wollte der Sache auf den Grund gehen. �Was ist denn hier los?�, fragte sie, nachdem sie sich von ihrem anf�nglichen Schock erholt hatte. Erika, die mit heruntergelassener Unterhose von ihrer verdutzten Gro�mutter quasi in flagranti erwischt worden war, schaltete sofort und fing an zu weinen. W�hrend ihr die Tr�nen �ber die Wangen liefen, zeigte sie anklagend auf mich. �Er hat gesagt, ich soll das machen! Hans-J�rgen hat gesagt, ich soll meinen Schl�pfer ausziehen! �, schrie sie aus vollem Halse. Ich war derart �berrascht �ber die pl�tzliche Wendung und �ber den Vorwurf meiner Spielkameradin, dass es mir die Sprache verschlug und ich nichts zur Rettung meines guten Rufes vorbringen konnte. Erst allm�hlich fand ich meine Fassung wieder. Leise stotternd unterbreitete ich dem Schnellgericht, das in aller Hast vom Handarbeitskreis einberufen worden war,
meine Version des unerh�rten Vorfalls. Das Gericht spaltete sich sogleich in zwei Lager. Das eine, mit Frau H�selich an der Spitze, pl�dierte f�r schuldig im Sinne der Anklage. Das andere, mit Tante M�ller an der Spitze, hielt Erika f�r eine gerissene und durchtriebene Femme fatale, die den armen Hans-J�rgen vom rechten Weg abgebracht hatte. Einen Augenblick lang sah es so aus, als w�rde die Anti-HansJ�rgen-Partei den Sieg davontragen, da Erika ihre Aussage mit einer neuen Flut Krokodilstr�nen untermauerte, doch am Ende setzte Tante M�ller sich durch. Sie �berzeugte alle, bis auf Frau H�selich, dass Erikas Aussage h�chst zweifelhaft war, weil sie schon �fter geflunkert hatte, und so wurde das Verfahren im allseitigen Einvernehmen eingestellt. Kurz darauf vertagte sich der Handarbeitskreis auf den kommenden Donnerstag, und zur�ck blieb ein vierj�hriger Junge, dessen Frauenbild - in vielerlei Hinsicht - f�r immer ver�ndert worden war. Die Lehren, die ich aus diesem traumatischen Erlebnis zog, waren erstens, dass es einen eindeutigen anatomischen Unterschied zwischen Jungen und M�dchen gab, zweitens, dass dieser Unterschied Erwachsene aus irgendeinem unerfindlichen Grund nerv�s machte, und drittens, dass M�dchen einen Jungen ganz sch�n in Schwierigkeiten bringen konnten. Nachdem ich das am eigenen Leibe zu sp�ren bekommen hatte, beschloss ich, die Sache so gut es ging auf sich beruhen zu lassen und M�dchen in Zukunft wie die Pest zu meiden. Doch wie die meisten guten Vors�tze, so ging auch dieser den Weg alles Irdischen. Es fing damit an, dass mir meine Mutter zum f�nften Geburtstag einen sehnlichen Wunsch erf�llte und mir ein
Dreirad kaufte. Stolz f�hrte ich mein nagelneues Gef�hrt aus funkelndem Metall, lackiertem Holz und schwarzem Gummi in der Nachbarschaft vor und wurde sogleich von allen Kindern beneidet. Irmgard Schr�der, eine fr�hreife br�nette F�nfj�hrige von gegen�ber, machte mir ein Angebot, das mir eine Heidenangst einjagte, das ich aber irgendwie unm�glich ablehnen konnte. Wenn ich sie mit meinem Dreirad einmal um den Block fahren lie�, so fl�sterte sie mir zu, w�rde ich es nicht bereuen. Ich warf meinen festen Vorsatz �ber den Haufen, mich je wieder mit M�dchen einzulassen, und willigte ein. Bevor ich ihr mein Dreirad anvertraute, zogen wir uns also diskret in den d�mmrigen Eingang des Mietshauses zur�ck, in dem ich wohnte. Dort hob sie ohne weitere Umschweife ihren Rock hoch, zog ihren Schl�pfer herunter und lie� mich mit den Fingern die Geheimnisse des anderen Geschlechts erkunden. Meine gyn�kologische Untersuchung erwies sich f�r beide Seiten als so befriedigend, dass Irmgard und mein Dreirad in den n�chsten Wochen praktisch unzertrennlich wurden. Doch irgendwann verlor ich - nur vor�bergehend, um ehrlich zu sein - das Interesse an der weiblichen Anatomie, und Irmgard wurde es leid, mit meinem Dreirad zu fahren. Daraufhin k�hlte unsere Beziehung so sehr ab, dass wir kaum noch ein Wort miteinander sprachen. Doch noch Jahre danach, genauer gesagt bis ins fr�he Erwachsenenalter, wandte sie verlegen die Augen ab, wenn wir einander begegneten, wohl weil ihr unser dunkles Geheimnis peinlich war.
Der erste Schultag
Der erste Wochentag nach Ostern 1932 war ein wichtiger Meilenstein in meinem Leben. Es war mein erster Schultag, und wie die meisten in meinem Alter hatte ich ihn genauso herbeigesehnt wie gef�rchtet. Die Aussicht, nicht mehr �nur ein Kind� zu sein, sondern ein �Schulkind�, machte mich so stolz, als h�tte ich etwas Gro�artiges vollbracht. Andererseits machte es mir Angst, meine vertraute Umgebung zu verlassen und eine neue und - meinem Empfinden nach - vielfach feindliche Welt zu betreten. Nach dem, was die �lteren Jungs auf unserer Stra�e erz�hlten, ging es in der Schule ganz und gar nicht lustig zu, denn wenn man mit dem Lehrer �rger kriegte, konnte man weder von seinen Eltern noch von Gott irgendeine Hilfe erwarten. Die unz�hligen detaillierten und lebensechten Geschichten �ber die von Lehrern begangenen Gr�uel hatten mich zu der �berzeugung gebracht, dass Lehrer eine unmenschliche, sadistische Spezies waren, deren gr��tes Vergn�gen darin bestand, Kinder gr�n und blau zu schlagen. Mit Entsetzen erinnerte ich mich an die breiten, feuerroten Striemen auf dem Hintern von Eugen Braun, dem achtj�hrigen Sohn des Schmiedes. Eugen hatte sie uns gezeigt, um zu beweisen, dass er alles einstecken konnte, was sein Lehrer austeilte. Doch Angst vor Lehrern hatten schlie�lich die meisten Schulanf�nger. Meine gr��ere Sorge, die ich wohlweislich f�r mich behielt, war, dass ich Hunderten von fremden Kindern begegnen und mit
Sicherheit wegen meiner Hautfarbe verspottet und ausgelacht w�rde. Da sie meine wachsende Beklommenheit sp�rte, beruhigte meine Mutter mich, ich h�tte nichts zu bef�rchten und die Schule w�rde mir bestimmt gefallen, wenn ich mich erst daran gew�hnt h�tte. Doch ihre Worte klangen nicht �berzeugend, und ich sp�rte, dass auch sie nerv�s wurde, je n�her der Tag kam. Schlie�lich war der gro�e Tag da. Weil meine Mutter sich nicht freinehmen konnte, fiel Tante M�ller die Aufgabe zu, mich zur Schule zu bringen. Geschniegelt und gestriegelt in meinen funkelnagelneuen Schulsachen und mit meinem neuen Lederranzen auf dem R�cken, trottete ich bedr�ckt neben Tante M�ller her das kurze St�ck zur Schule. Damit andere Kinder mich nicht f�r ein Mutters�hnchen hielten, lie� ich mich nicht von der alten Dame an der Hand halten, au�er wenn sie darauf bestand, weil wir eine Stra�e �berqueren mussten. Je n�her wir der Schule kamen, desto ungl�cklicher wurde ich. Nicht mal der Anblick einiger Leidensgenossen konnte mich tr�sten. Wie alle Erstkl�ssler trug ich eine bunte Schult�te voller S��igkeiten, die fast so gro� war wie ich. Wir bogen um eine Ecke, und da war sie, die K�thnerkampschule. Wie alle �ffentlichen Schulen damals war sie nach der Stra�e benannt, an der sie lag. Sie bestand aus zwei identischen Fl�geln, einer f�r Jungen und der andere f�r M�dchen. Als ich ihre wuchtigen Mauern zum ersten Mal aus der N�he sah, kam mir das alte, vierst�ckige, festungs�hnliche Geb�ude besonders finster vor. Die j�he Erkenntnis, dass ich von nun an �ber Jahre hinweg den gr��ten Teil des Tages in diesem abschreckenden,
freudlosen Bau verbringen w�rde, erf�llte mich mit echtem Entsetzen. Ganz offensichtlich hegte wenigstens einer meiner neuen Schulkameraden �hnliche Gedanken. Er schrie aus vollem Halse, dass er auf keinen Fall in diese Schule gehe, egal, was seine Mutter oder sonst wer sagen w�rde. Obwohl ich genau wusste, wie ihm zu Mute war, war ich fest entschlossen, nicht so eine Szene zu machen und unn�tige Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Da er mit seinem Geschrei alle Blicke auf sich lenkte, ergriff ich die Gelegenheit beim Schopfe, reichte Tante M�ller meine Schult�te, stieg rasch die breite Schultreppe hoch und betrat, ohne mich noch einmal umzublicken, das h�hlenartige Geb�ude. Sobald ich drin war, wurde ich zusammen mit den anderen Erstkl�sslern �ber einen scheinbar endlosen Korridor in einen Klassenraum im Erdgeschoss gef�hrt. Dort begr��te uns nicht etwa, wie ich erwartet hatte, ein grimmiger, Ruten schwingender Lehrer, sondern eine nett aussehende, etwas mollige Frau mit kurz geschnittenem, grauem Haar. Wie die anderen Lehrer, die ich auf dem Flur gesehen hatte, trug sie einen wei�en Kittel. �Guten Morgen, Kinder! Ich bin Fr�ulein Beyle, eure Klassenlehrerin�, stellte sie sich mit einem freundlichen L�cheln vor. � Sucht euch mal als Erstes alle einen Platz. � Ich w�hlte mir einen Platz in der hintersten Reihe aus und warf den anderen Jungen verstohlene Blicke zu, um zu sehen, ob vielleicht irgendjemand �berm��iges Interesse an mir zeigte. Zu meiner gro�en Erleichterung erkannte ich ein paar von meinen Freunden aus der St�ckenstra�e, Karl Morell, der direkt bei mir um die Ecke wohnte, und Karl-Heinz Ratje, der ein St�ck weiter die Stra�e hinunter wohnte. Die anderen Jungen schienen durch ihre neue Umgebung
viel zu eingesch�chtert zu sein, um irgendeine Neigung zu zeigen, sich �ber mich oder sonst wen lustig zu machen. �Merkt euch, ihr seid die Klasse 1A�, fuhr Fr�ulein Beyle fort. �Von nun an d�rft ihr nur, wenn ich es erlaube, reden, aufstehen, euren Platz oder den Klassenraum verlassen. Wenn ihr eine Frage habt oder zur Toilette m�sst, die �brigens den Flur entlang und dann rechts ist, hebt ihr die Hand, bis ich euch aufrufe. Habt ihr das alle verstanden?� Zur Zufriedenheit von Fr�ulein Beyle fiel die Antwort einstimmig aus. �So, nun wollen wir mal sehen, ob auch alle da sind�, sagte sie weiter. �Ich rufe jetzt eure Namen auf, und jeder, der seinen Namen h�rt, hebt die rechte Hand, steht auf, damit ihn alle sehen k�nnen, und sagt: >Hier!<� Dann fing sie an, die Namenliste vorzulesen. Als ich an der Reihe war und aufstand, blickten einige Jungen mich an und kicherten. �Die, die da eben gelacht haben, sind dumm und haben eigentlich in meiner Klasse nichts zu suchen�, schimpfte Fr�ulein Beyle. �Wer noch einmal �ber Hans-J�rgen oder sonst jemanden lacht, verl�sst den Klassenraum und wartet drau�en auf dem Flur, bis die Stunde vorbei ist.� Dann sagte sie an mich gewandt: �Ich hoffe, du l�sst dich von solchen dummen Jungen nicht �rgern. Du bist ein netter Junge. Lass dir von niemandem was anderes einreden. � Ich h�tte meiner Lehrerin um den Hals fallen k�nnen, weil sie die Jungen, die sich �ber mich lustig gemacht hatten, in ihre Schranken wies, aber nat�rlich tat ich nichts dergleichen, sondern antwortete nur kaum h�rbar: �Ja.� Als es zum Ende des Unterrichts l�utete, forderte Fr�ulein Beyle uns auf, die Klasse leise zu verlassen und in Zweierreihen
den Flur entlang auf den Schulhof in die Pause zu gehen. Froh, dass meine erste Stunde trotz des kleinen �Zwischenfalls� so gut gelaufen war, sp�rte ich, dass meine Schulangst sich allm�hlich legte. Wenn das alles war, dann w�rden die Schule und ich prima miteinander klarkommen. Doch kaum hatte ich den Schulhof betreten, als ein Junge mit rotblondem Haar und einem groben, h�sslichen Gesicht, der fast einen Kopf gr��er war als ich, nur einen Blick auf mich warf und sofort laut br�llte: �Neger, Neger, Schornsteinfeger! � Gleich darauf stimmten andere Kinder ein, und Sekunden sp�ter war die Aufmerksamkeit der gesamten Schule auf mich gerichtet. Mit einem Mal wurde dieser abscheuliche Sprechchor zum Schlachtruf von Hunderten von Jungen. Der ganze Schulhof um mich herum hallte ohrenbet�ubend davon wider. Verzweifelt suchte ich in der dichten Menge von johlenden Jungen, die mich umstanden, nach einem Fluchtweg, aber ohne Erfolg. Als ich die Ausweglosigkeit meiner Lage erkannte, w�re ich fast in Tr�nen ausgebrochen. Doch meine Verzweiflung und Scham schlugen in blinde Wut um, als der gro�e h�ssliche Junge, der den Aufruhr initiiert hatte, vortrat und mir sp�ttisch �bers Haar strich. �Wieso w�chst Negern eigentlich Schafwolle auf dem Kopf?�, fragte er mich zum Vergn�gen aller Umstehenden. Ehe ich mir �ber meine Reaktion �berhaupt im Klaren war, hatte ich mit dem rechten Bein weit ausgeholt und meinem Peiniger mit voller Wucht gegen das nackte Schienbein getreten. Der Aufprall meines harten Lederschuhs auf das Bein meines Gegners war deutlich zu h�ren und ganz offensichtlich unertr�glich schmerzhaft f�r ihn. Wie vom Blitz getroffen, brach er schreiend zusammen. Noch
immer zitternd vor Wut, doch ermutigt durch meine tolle Beinarbeit, suchte ich die Menge nach weiteren m�glichen Angreifern ab, um es jedem, der sich traute, mich anzufassen, mit gleicher M�nze heimzuzahlen. Doch zu meiner �berraschung, wenn nicht gar Entt�uschung, fand sich niemand. Im Gegenteil, dieselben Jungen, die mich eben noch verspottet hatten, richteten ihr h�hnisches Gejohle nun auf meinen besiegten Herausforderer, der sich noch immer vor Schmerzen auf der Erde wand. Pl�tzlich verstummte das Gel�chter, Beyle tauchte auf. Sie taxierte die meinen Angreifer, der sich das blau geschwollene Schienbein hielt: �Was
denn Fr�ulein Lage und fragte angelaufene und ist passiert?�
�Der hat mich getreten�, stie� er hervor, wobei er anklagend auf mich zeigte. �Wieso hat er das getan?�, fragte Fr�ulein Beyle weiter. �Keine Ahnung.� �Wie hei�t du?� � Gerhard Rademeier. � �Und wer ist deine Klassenlehrerin?� �Fr�ulein Rodewald.� Dann wandte sich Fr�ulein Beyle mir zu: �Hans-J�rgen, stimmt es, dass du ihn getreten hast? � �Ja.� �Und warum?� �Er hat mich an den Haaren angefasst und sich �ber mich lustig gemacht. � �Gerhard, hast du ihn an den Haaren angefasst und dich �ber ihn lustig gemacht?�, setzte Fr�ulein Beyle ihr Verh�r fort. �Ja, aber ich hab ihn nicht geschlagen oder so�, gestand mein Widersacher, der unter zunehmenden Druck geriet.
�Dann hast du es auch nicht anders verdient�, entschied Fr�ulein Beyle streng. �Du hast kein Recht, dich �ber andere und ihr Aussehen lustig zu machen. Wenn du Hans-J�rgen noch einmal bel�stigst, werde ich es Fr�ulein Rodewald melden, damit sie dich bestraft und au�erdem mit deinen Eltern redet. Geh jetzt und lass dich nie wieder dabei erwischen! Dann lie� Fr�ulein Beyle den Blick �ber den Schulhof schweifen, auf dem sich alles wieder normalisiert hatte, und winkte einem von den �lteren Jungen, der sich durch seine Gr��e und hellblonden Haare aus einer Gruppe Gleichaltriger hervorhob. �Wolfgang, komm mal her�, rief sie. Als der Junge vor ihr stand, machte sie uns miteinander bekannt. �Das ist Hans-J�rgen; er ist heute eingeschult worden, und das ist Wolfgang Neumann, der vor genau sieben Jahren angefangen hat, auch in meiner Klasse. Ich habe dich gerufen, Wolfgang�, fuhr sie fort, �weil Hans-J�rgen jemanden gebrauchen kann, der auf ihn aufpasst. H�ttest du nicht Lust, sein Besch�tzer zu sein? � Wolfgang erwiderte, dass er gro�e Lust dazu h�tte. �Sch�n, dann machen wir es folgenderma�en�, erkl�rte Fr�ulein Beyle. �In den Pausen achtest du auf Hans-J�rgen und passt auf, dass ihn keiner bel�stigt. Wenn du mal nicht klarkommst, sagst du der Pausenaufsicht Bescheid oder kommst zu mir.� �Keine Angst, Fr�ulein Beyle. Ihm tut keiner was. Daf�r sorge ich schon.� Schon nach wenigen Tagen hatten offenbar alle den h�sslichen Vorfall an meinem ersten Schultag vergessen - das hei�t, alle au�er meinem Herausforderer und mir. Wenn ich ihn auf dem Schulhof oder auf dem Flur traf, schielte er verlegen zu mir r�ber oder mied den Blickkontakt ganz. Nachdem ich ihm diese schmerzliche
Lehre erteilt hatte, achtete er stets darauf, meinen F��en nicht zu nahe zu kommen. Wolfgang hielt sein Wort und passte gut auf mich auf, bis er im Jahr darauf seinen Abschluss machte. Von da an war ich mehr oder weniger auf mich allein gestellt. Doch inzwischen war ich selbst so z�h, dass ich keinen Besch�tzer mehr brauchte. Im Gegensatz zu meinen anf�nglichen Bef�rchtungen mochte ich die Schule schlie�lich, nein, ich liebte sie geradezu, und die Schule schien mich zu m�gen. Ich verstand mich gut mit meinen Mitsch�lern, von denen einige meine besten Freunde wurden. Ich mochte auch meine Lehrer, vor allem Fr�ulein Beyle; durch sie entdeckte ich, wie viel Freude das Lernen machen kann. Gleichzeitig stellte ich fest, dass mir mein neu erworbenes Wissen Respekt und Ansehen verschaffte, was ich sehr zu sch�tzen wusste. Ich merkte, dass man mit guten Leistungen in der Schule respektiert und akzeptiert wurde, und da mir das Lernen leicht fiel, hatte ich allen Grund zu der Annahme, dass ich auf dem richtigen Weg war. Auch Fr�ulein Beyle schien das so zu sehen, und in meinem ersten Zeugnis gab sie folgende Beurteilung: �Hans-J�rgen ist ein flei�iger Sch�ler, der gut in der Schule zurechtkommt. Er ist ungew�hnlich begabt im Lesen, Schreiben, Zeichnen, in Musik und Sport. Im Rechnen sind seine Leistungen durchschnittlich, doch er kann die richtigen L�sungen durch Abz�hlen mit den Fingern ermitteln. Er ist der geborene Anf�hrer und stets bereit, schw�cheren Mitsch�lern zu helfen. Da er zu Anfang h�ufiger geh�nselt wurde und sich verteidigen musste, ist er etwas angriffslustiger, als er sein sollte. Seine Leistungen in der ersten Klasse sind vielversprechend. Hans-J�rgen wird in die Klasse 2A versetzt, und ich
freue mich darauf, ihn auch im n�chsten Jahr zu unterrichten.� Meine Mutter las all ihren Freunden und Bekannten mein Zeugnis vor, so dass ich Fr�ulein Beyles Lobeshymne bald auswendig konnte.
Der Sammler
Als ich in die Schule kam, litt Deutschland unter wirtschaftlichem Chaos und Massenarbeitslosigkeit. Stempeln gehen war f�r viele M�nner zu ihrer normalen Besch�ftigung geworden. Da meine Mutter zum Gl�ck einen relativ sicheren Arbeitsplatz hatte, war uns die Not der Arbeitslosigkeit bislang erspart geblieben. In unserer Gegend trafen sich die Arbeitslosen auf einem Spielplatz, nur wenige Querstra�en von unserem Haus entfernt. Die M�nner schlenderten in kleinen Gr�ppchen umher oder sa�en auf den B�nken um einen gro�en Sandkasten herum, beklagten die schlechte Wirtschaftslage, spielten Skat oder tauschten so genannte Zigarettenbilder, was seit kurzem in Mode gekommen war. Diese Bilder waren jeder Zigarettenpackung beigelegt, als zus�tzlicher Anreiz, um den Verkauf anzukurbeln. Es gab unterschiedliche Kategorien: von Filmstars �ber Milit�runiformen bis zu Nationalflaggen. Wer einen ganzen Satz zusammenhatte, bekam im Tabakgesch�ft kostenlos ein sch�nes Album, in das die Bilder dann eingeklebt wurden. Kaum hatte ich von einigen rauchenden �Onkeln� ein paar Bilder geschnorrt, da packte mich auch schon die Sammlerleidenschaft. Innerhalb weniger Tage wurde ich hoffnungslos s�chtig und hatte nichts anderes mehr im Kopf als Bilder. Sobald die Schulglocke l�utete, raste ich mit einigen Klassenkameraden zum Spielplatz, wo die Arbeitslosen die Zeit totschlugen, und tauschte Sammelkarten. Jeder Satz bestand aus mehreren hundert Bildern, und ich entwickelte ein unglaubliches Geschick,
blitzschnell festzustellen, welche Bilder mir noch fehlten. So ganz nebenbei lernte ich dabei die Namen von zahllosen Filmstars, lange bevor ich sie je auf der Leinwand sehen sollte. Au�erdem wurde ich ein richtiger Experte f�r ziemlich exotische Dinge; so erkannte ich zum Beispiel auf Anhieb die japanische Kriegsflagge oder die Uniform eines Husarenoffiziers unter Friedrich dem Gro�en. Dank meiner verbissenen Jagd nach Zigarettenbildern hatte ich schon bald eine stattliche Anzahl beisammen, die ich in einer Zigarrenkiste auf dem Nachttisch verwahrte, damit ich sie mir abends noch mal in Ruhe ansehen konnte. Einige der erwachsenen Vollzeitsammler hatten nat�rlich noch viel mehr Karten als ich und boten sie in sch�nen, handgefertigten Bauchl�den zum Tausch an, aber ich war auf dem besten Wege, ein ernst zu nehmender Sammler zu werden. Doch dann wurde ich j�h aus meinem gl�ckseligen Sammlerhimmel gerissen: Fr�ulein Beyle gab mir einen Brief an meine Mutter mit, den sie unterschreiben sollte. Darin stand, kurz gesagt, dass sich meine schulischen Leistungen eklatant verschlechtert hatten, besonders der h�usliche Flei�, und dass meine Hausaufgaben h�ufig schlampig oder unvollst�ndig gemacht waren. Der Brief schloss mit der Drohung, dass mein Zwischenzeugnis miserabel ausfallen w�rde, falls ich mich nicht rasch wieder auf den Hosenboden setzte. Die Reaktion meiner Mutter verbl�ffte mich. Anstatt mir eine Standpauke zu halten, erkl�rte sie nur seelenruhig, dass mein Zwischenzeugnis bestimmt gut ausfallen w�rde, weil sie n�mlich wisse, wie das Problem in den Griff zu kriegen sei. �Ab morgen�, sagte sie, ohne dabei die Stimme zu heben, �gehst du nach der Schule nicht mehr zum Spielplatz
und tauschst Bilder. Du kommst nach Hause und machst deine Hausaufgaben - alle -, und du machst sie ordentlich.� Als ich am n�chsten Tag von der Schule nach Hause kam und wie �blich nach meiner kostbaren Bildersammlung sah, war die Zigarrenkiste verschwunden. Panik durchfuhr mich bei dem Gedanken, dass meine Mutter meine hei� geliebten Bilder, die ich in monatelanger Tauscharbeit m�hsam gesammelt hatte, weggeworfen haben k�nnte. Und meine Bef�rchtung war durchaus begr�ndet, denn als meine Mutter von der Arbeit kam und ich sie fragte, wo die Bilder seien, erkl�rte sie ruhig, dass sie sie verschenkt habe. Noch nie hatte meine Mutter etwas getan, das mich so verletzte. Zuerst tr�stete ich mich mit dem Gedanken, dass sie vielleicht nur bluffte und die Zigarrenkiste bald wieder auftauchen w�rde. Eifrig st�rzte ich mich auf meine Hausaufgaben, um meine Mutter schneller zum Einlenken zu bewegen. Doch nach einigen Tagen und Wochen d�mmerte mir die grausame Wahrheit, dass das Ganze doch kein Bluff war. Ich nahm mir vor, meine Mutter fortan aus tiefster Seele zu hassen, und versuchte sogar eine Weile, nicht mehr mit ihr zu reden, aber das funktionierte nicht. Mein �Hass� kam einfach nicht gegen ihre unersch�tterliche Liebe an, und sosehr ich mich auch str�ubte, mein Zorn l�ste sich irgendwann in Luft auf. Mutters Radikalentzugstherapie funktionierte jedenfalls wie geschmiert, und als Fr�ulein Beyle die Zwischenzeugnisse verteilte, war ich Klassenbester.
Unsere neuen Nachbarn
Am 30. Januar 1933, drei Monate bevor ich in die zweite Klasse kam, wurde Adolf Hitler deutscher Reichskanzler. Im linksgerichteten Barmbek l�ste das Ereignis keine nennenswerten Reaktionen aus, obwohl es letztlich f�r die ganze Welt fatale Folgen haben sollte. Ich hatte die Worte �Hitler� und �Nazis� und die Abk�rzung �NSDAP� zwar schon oft geh�rt, doch zun�chst blieben sie f�r mich relativ bedeutungslos. Das sollte sich jedoch bald �ndern. Wir Kinder hatten zwar keine Ahnung, wof�r die politischen Parteien eigentlich standen, aber auf Grund dessen, was wir zu Hause, auf der Stra�e oder in der Schule mitbekamen, hatten wir schon, bald unsere Lieblingsparteien, so, wie man f�r eine bestimmte Fu�ballmannschaft schw�rmt. Und mir nichts, dir nichts war dieser bedeutungslos aussehende Mann mit dem Chaplinb�rtchen pl�tzlich nicht mehr Gegenstand unseres Spotts. Mit meinen knapp sieben Jahren wurde ausgerechnet ich zum eifrigen Anh�nger der Nazis, und das nur, weil sie ungeheuer was hermachten, wenn sie mit ihren tollen Uniformen und Marschkapellen zackig im Gleichschritt aufmarschierten. All das sprach meine erwachende M�nnlichkeit an. Im Vergleich zu ihnen sahen die Kommunisten und Sozialdemokraten, die kein preu�isch militaristisches, sondern bewusst ein �bertrieben proletarisches Image verfolgten, auf ihren Demonstrationen oft abgerissen und undiszipliniert aus. Folglich lie� ich mir von Tante M�ller, die es nicht besser wusste, ein Hakenkreuz auf einen meiner Pullover n�hen, und als meine Mutter es
schlie�lich wieder entfernte, protestierte ich aus Leibeskr�ften. Es gab immer mehr Hakenkreuzfahnen in der St�ckenstra�e, und nach dem Verbot beziehungsweise der Aufl�sung der anderen politischen Parteien verschwanden die Fahnen mit Hammer und Sichel ebenso pl�tzlich wie die Banner der Sozialdemokraten. Ansonsten deutete nichts darauf hin, dass sich etwas Grundlegendes ge�ndert hatte.
In der Schule wurde uns Reichspr�sident Paul von Hindenburg, der �Sieger von Tannenberg�, als nationale Vaterfigur und Symbol der Autorit�t dargestellt. Als er 1934 starb, waren die ersten Anzeichen des Wandels die, dass Heil Hitler! zum offiziellen Gru� der Deutschen erkl�rt wurde und dass die Hindenburg-Portr�ts in der ganzen Schule durch Hitler-Portr�ts ersetzt wurden. Von den W�nden der Klassenzimmer, G�nge und B�ros folgten uns von nun an Hitlers durchdringende Augen, als wollten sie uns hypnotisieren. Schon bald war uns das Gesicht des �F�hrers� so vertraut wie das von Fr�ulein Beyle. Aber noch einpr�gsamer als Hitlers Portr�ts war seine auff�llige gutturale Stimme, die kr�ftig und �u�erst modulationsf�hig war. Sobald der F�hrer eine Rede an sein Volk hielt, und das kam immer h�ufiger vor, wurde der Unterricht unterbrochen. Wie in allen anderen Schulen in Deutschland versammelten sich dann auch bei uns die Sch�ler und Lehrer in der Aula, wo wir der Rundfunk�bertragung der Rede in voller L�nge lauschten, was bis zu zwei Stunden dauern konnte. Doch trotz der L�nge der Reden und obwohl wir vieles nicht verstanden, waren wir nie gelangweilt, sondern stets vom Klang seiner Stimme fasziniert und
aufgew�hlt. Wenn Hitler von den schweren Zeiten vor seiner Machtergreifung sprach, ert�nte diese Stimme in einem leisen, gleichm��igen, beruhigenden Bariton. Wenn er jedoch �ber Gruppen und Individuen sprach, die er f�r seine - und daher auch f�r Deutschlands � Feinde hielt, schlug sie blitzschnell um und schwoll zu einem lauten, w�tenden Crescendo an. Am h�ufigsten richtete sich sein Zorn gegen Juden, Nicht-Arier, Marxisten, Kommunisten, Liberale, Reaktion�re und Demokraten. Wir Kinder verstanden zwar den Sinn dieser Worte nicht, aber wir sp�rten die Kraft, die von dem Sprecher ausging, und wir waren stolz auf eine neue allm�chtige, mutige Vaterfigur, die sich nicht von Deutschlands Gegnern einsch�chtern lie�. Wir gew�hnten uns auch an ein Ritual, das jeden Montagmorgen in der Schule stattfand und das uns anf�nglich ziemlich seltsam erschienen war. Wir mussten, den Arm zum Hitlergru� ausgestreckt, strammstehen, w�hrend ein Hitlerjunge unsere beiden neuen Nationalfahnen hisste - die traditionelle schwarzwei�rote Flagge aus der Zeit vor der Weimarer Republik und die Hakenkreuzfahne. Anschlie�end intonierten wir die beiden �Nationalhymnen�, das Deutschlandlied und das Horst-Wessel-Lied. Sobald Hitler ganz Deutschland fest in der Hand hatte, gab es praktisch jede Woche irgendwelche politischen Veranstaltungen, die unsere Kinderherzen h�her schlagen lie�en: endlose Paraden von SS, SA und Hitlerjugend, die durch die Stadt marschierten, Aufsehen erregende Fackelz�ge, Feuerwerke �ber der Alster und Massenkundgebungen im Stadtpark und auf der Moorweide. Bei keinem dieser Ereignisse hatte ich das Gef�hl, irgendwie pers�nlich bedroht zu sein - bis zu
jenem grotesken Drama, in das ich eines Tages unversehens geriet. Es geschah zu Beginn des Jahres 1934, als ich in der dritten Klasse war. An jenem Tag bekam ich einen ersten Vorgeschmack von der Gefahr, die das Naziregime f�r mich darstellte. Einer der vielen paradoxen Zuf�lle in meinem Leben wollte es, dass die Ortsgruppe der NSDAP ausgerechnet in der Kneipe Zanoletti, gleich neben unserem Mietshaus, einmal w�chentlich ihre Versammlung abhielt. Mehrere Monate lang bekamen unsere neuen Nachbarn und ich nichts voneinander mit, da die Versammlungen erst begannen, wenn ich schon im Bett lag. Doch dann geschah das Unvermeidliche. An einem sch�nen Sonntag im Fr�hjahr fand in unserer Gegend mal wieder eine riesige paramilit�rische Parade statt. �ber zwei Stunden lang marschierten SA und SS durch unsere Stra�en. Eine gro�e Menschenmenge war zusammengelaufen und jubelte, wie ich und die anderen Kinder aus der Nachbarschaft, den Marschierenden zu. Ich war ganz aus dem H�uschen, als ich meinen fr�heren Besch�tzer Wolfgang an der Spitze eines Trupps der Hitlerjugend sah. Fast w�re ich vor Stolz geplatzt, weil er mir zul�chelte und winkte. Ich sah so lange zu, bis auch die letzte Einheit der Sturmabteilungen vorbeimarschiert war und die Menge sich allm�hlich wieder zerstreute. Auf dem Weg nach Hause h�rte ich lautes Singen und Rufen, das aus dem Haus gleich neben unserem drang. Neugierig geworden, schaute ich durch die ge�ffnete T�r in den Versammlungssaal der Kneipe. Sie war bis zum Bersten gef�llt mit Bier trinkenden, rauchenden, br�llenden, lachenden und singenden Braunhemden. Keiner schien mich - die personifizierte Antithese ihres
Ideals von rassischer Reinheit - zu bemerken. Aber dann packten mich pl�tzlich zwei kr�ftige H�nde von hinten und hoben mich hoch in die Luft. Instinktiv wand ich mich hin und her, wie ein Fisch am Haken. Und ehe ich mich's versah, war ich den beiden F�usten entglitten und nahm, so schnell ich konnte, Rei�aus. Als ich einen Blick �ber die Schulter warf, sah ich meinen Angreifer, einen gro�en SA-Mann mit kurz geschorenem wei�blondem Haar und kleinen, tief liegenden Augen in einem vom Bier ger�teten Gesicht. Ich w�re ihm vielleicht entwischt, h�tten mir nicht zwei andere Braunhemden, die durch seine Rufe alarmiert worden waren, den Weg versperrt. Wie ein Falke, der auf sein Opfer niederst��t, packte der SA-Mann seine gl�cklose Beute, und diesmal konnte ich mich drehen und wenden und um mich treten, wie ich wollte, aus seinem Klammergriff gab es kein Entrinnen. Triumphierend schleppte er mich zwischen seinen betrunkenen Kameraden hindurch bis zur Rednerb�hne am Ende des Saales. Mir war schlecht vor Angst und von den gr�lenden M�nnerstimmen, dem Biergestank und dem Tabakqualm. Mit aller Kraft unterdr�ckte ich den Impuls, laut loszuschreien, denn irgendwie sp�rte ich, dass ich von den Kumpanen meines Angreifers keine Hilfe erwarten konnte, h�chstens noch mehr Schikanen. Der SA-Mann wollte mich gerade auf die B�hne heben, vermutlich um der trunkenen Menge von Braunhemden ein Paradebeispiel deutscher �Rassenschande� vorzuf�hren, als sich ihm eine zornige Frau entgegenstellte, die ihn hasserf�llt ansah. Meine Mutter hatte sich einen gem�tlichen Sonntagmorgen gemacht. Anders als ich war sie nicht zur Parade gegangen, sondern hatte nur gelegentlich aus dem Fenster gesehen
und vergeblich nach mir Ausschau gehalten. Die Massen von Braunhemden auf der Stra�e hatten sie jedoch zutiefst beunruhigt, bis sie es schlie�lich vor Sorge um mich nicht l�nger in der Wohnung aushielt und beschloss, sich auf die Suche nach mir zu machen. Als sie die Treppe hinunterging, kam ihr Tante M�ller entgegen, die ihr atemlos berichtete, sie habe gerade gesehen, wie ich von einem SA-Mann in die Kneipe nebenan geschleppt worden sei. Wie eine Tigerin, die ihr Junges verteidigt, st�rzte meine Mutter auf die Stra�e und in die Kneipe. Dort bahnte sie sich unaufhaltsam einen Weg durch die betrunkenen M�nner zur Rednerb�hne und zu dem Mann, der mich entf�hrt hatte. Der massige SA-Mann, der mich noch immer fest hielt, war derart verbl�fft �ber die zitternde, aber anscheinend furchtlose Frau, die da herangest�rmt kam, dass er seinen Griff lockerte. Ehe er wusste, wie ihm geschah, wurde ich erneut gepackt und durch die Menschenmenge geschleppt, aber diesmal von meiner Mutter, die mich in die relative Sicherheit unserer Wohnung verfrachtete. Obwohl das Erlebnis in Zanolettis Versammlungssaal mich noch monate-, vielleicht sogar jahrelang verfolgte, war ich damals noch nicht bereit, eine Verbindung zwischen diesen groben betrunkenen SA-M�nnern und dem Mann herzustellen, der uns Kindern als Deutschlands Retter dargestellt wurde. F�r mich wie f�r beinahe alle meine Altersgenossen hatte Hitler einen gott�hnlichen Nimbus, der ihn �ber alle Kritik erhaben machte. Doch von jenem Sonntag an verwandelte sich meine vorbehaltlose Bewunderung f�r die Nazis in eine seltsame Mischung aus Faszination und Furcht. Pl�tzlich schwante mir irgendwie, dass die Braunhemden, die Hakenkreuze, die Marschmusik drohende Gefahr
bedeuteten. Doch es bedurfte noch einige Jahre und zahlreiche weitere Dem�tigungen, bevor die Nazis ihre Anziehungskraft auf mich g�nzlich verloren.
Das verlorene Paradies
Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass die Episode in der Kneipe kein Einzelfall gewesen war, ausgel�st durch ein paar betrunkene R�pel in Naziuniform, sondern dass ich zu einer angefeindeten Bev�lkerungsgruppe geh�rte. Diese niederschmetternde Entdeckung machte ich wenige Wochen sp�ter an einem Ort, wo man es am wenigsten erwartet h�tte, n�mlich auf dem Spielplatz am Pfenningsbusch, nicht weit von uns entfernt. Wie schon so oft war ich nach der Schule auf den Spielplatz gegangen. Es gab dort mehrere Schaukeln, einen Kletterbaum, eine gro�e Wippe und etliche Sandk�sten f�r die Kleinen. Am liebsten ging ich - wie viele andere Kinder auch - auf die Wippe, vor der immer eine Warteschlange stand. Nachdem wir geduldig gewartet hatten, bis wir an die Reihe kamen, wollten ein anderer Junge und ich gerade auf die Sitze klettern, als sich mir eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn im Schlepptau in den Weg stellte. �Was willst du denn hier?�, fragte sie �rgerlich. Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte, und deutete hilflos auf die Wippe, wo ihr Sohn schon meinen Platz eingenommen hatte. �Ich bin dran�, protestierte ich kl�glich. �Was soll das hei�en, >ich bin dran�, zeterte sie. �Ihr seid schon lange genug >dran< gewesen! Jetzt sind wir dran. Du hast auf diesem Spielplatz �berhaupt nichts zu suchen. Kannst du nicht lesen?� Und dabei zeigte sie auf ein Schild am Eingang, das mir noch nie aufgefallen war. Einige andere M�tter bekamen den Ausbruch der
Frau mit, doch obwohl ich ihnen offensichtlich leid tat, ergriff keine von ihnen f�r mich Partei. V�llig durcheinander ging ich mit h�ngendem Kopf weg. Mit tr�nennassen Augen las ich das Schild:
NICHT-ARIERN IST DAS BETRETEN DIESES SPIELPLATZES STRENGSTENS VERBOTEN
Obwohl ich den Ausdruck �Nicht-Arier� schon geh�rt hatte, war mir nie in den Sinn gekommen, dass er irgendwas mit mir zu tun haben k�nnte. Aber wenn die Frau Recht hatte, dann war ich ein �Nicht-Arier�. Den Grund f�r ihre Aufregung verstand ich zwar noch immer nicht, ich wusste nur, dass ich aus irgendeinem Grund von einem Platz verbannt worden war, auf dem ich viele unbeschwerte Stunden verbracht und auf dem ich mich so selbstverst�ndlich aufgehalten hatte wie alle anderen Kinder auch. Als meine Mutter am Abend nach Hause kam, fragte ich sie: �Bin ich ein Nicht-Arier?� �berrascht wollte sie wissen, wieso ich das fragte. Als ich ihr erz�hlte, was auf dem Spielplatz geschehen war, gab sie zu, dass Afrikaner im Gegensatz zu Europ�ern zu den rassischen Gruppen z�hlten, die von den Nazis offiziell als Nicht-Arier eingestuft wurden. �Und weil dein Vater Afrikaner ist�, erkl�rte sie, �giltst du auch als Nicht-Arier.� �Bist du auch Nicht-Arierin?�, hakte ich nach. �Nein.� �Warum nicht?�
�Weil ich keine Afrikanerin bin. Ich bin Europ�erin.� �Wieso bin ich dann Nicht-Arier, weil mein Vater Afrikaner ist, und nicht Arier, weil meine Mutter Arierin ist? �, wollte ich wissen. �Und warum d�rfen NichtArier nicht auf den Spielplatz?� �Ich geb dir ja Recht, dass das Bl�dsinn ist�, antwortete sie. �Morgen spreche ich mit dem Parkw�chter. Bestimmt macht er bei dir eine Ausnahme. � �Ich will aber nicht, dass du mit dem Parkw�chter sprichst�, sagte ich. �Ich geh da nie wieder spielen.� Trotz meines Protestes sprach meine Mutter mit dem Parkw�chter, und er sagte ihr, ich sollte das Schild einfach �bersehen. Aber nichts konnte mich dazu bewegen, je wieder einen Fu� auf diesen Spielplatz zu setzen.
Juden
Schon bald nach Hitlers Machtergreifung h�rte man immer h�ufiger die Worte �die Juden�. Meines Wissens hatte ich noch nie einen Juden gesehen, aber gelegentlich hatte ich geh�rt, dass meine Mutter halblaut �ber Juden sprach. Einmal bekam ich mit, wie sie sich mit einer Freundin dar�ber unterhielt, dass man im Krankenhaus einen Arzt entlassen hatte, weil er Jude war. �So eine Schande�, sagte meine Mutter, �er war ein so lieber Mensch und ein so guter Arzt.� Ich schloss daraus, dass die Juden nette Menschen waren, die aus unerfindlichen Gr�nden verfolgt wurden und daher mein Mitleid verdienten. Diese Haltung �nderte sich ziemlich rasch, als mein noch leicht beeinflussbarer Geist allm�hlich die Ideologie aufnahm, die von Goebbels' Ministerium f�r Volksaufkl�rung und Propaganda verbreitet und von unseren Lehrern an uns weitergegeben wurde. Um sicherzustellen, dass wir Kinder auch die �richtigen� Inhalte vermittelt bekamen, wurden s�mtliche Lehrer entlassen, die als �politisch unzuverl�ssig� eingestuft wurden. Darunter fielen alle Lehrer j�discher Abstammung, Lehrer, die in der Kommunistischen oder Sozialdemokratischen Partei waren, und Lehrer, die sich weigerten, dem NS-Lehrerbund beizutreten. Vermutlich eines der ersten Opfer dieser �S�uberung� war unsere g�tige Klassenlehrerin Fr�ulein Beyle. Am Ende des zweiten Schuljahres teilte man uns lediglich mit, dass sie an eine andere Schule versetzt worden sei und ein anderer Lehrer, Herr Grimmelshauser, ihren Platz einnehmen w�rde. Ich habe nie wieder von ihr geh�rt
und wei� nicht, ob man ihr erlaubte, ihre Lehrerkarriere woanders fortzusetzen. Obwohl uns Kindern keiner sagte, was vor sich ging, sp�rten wir doch, dass etwas in der Luft lag, denn es verschwanden noch etliche andere Lehrer. Diejenigen, die blieben, wollten ihren Arbeitsplatz behalten und �berboten sich folglich gegenseitig in dem eifrigen Bem�hen, ihre Hitlerbegeisterung zu demonstrieren. Es verging kein Tag, an dem nicht irgendwelche abf�lligen Kommentare �ber die Juden gemacht wurden. �Wenn die Juden nicht gewesen w�ren�, beteuerte Herr Grimmelshauser, �h�tte Deutschland den Krieg gewonnen. � Herr Grimmelshauser, ein gro�er, schlaksiger Mann mit dunklem, welligem Haar und schwarzer Hornbrille, erkl�rte uns den Begriff �Dolchsto, ߫ demzufolge die Juden mit ihren L�gengeschichten �ber deutsche Niederlagen die Zivilbev�lkerung schlie�lich zu der �berzeugung gebracht h�tten, dass jede weitere Kriegsanstrengung vergeblich w�re. Herr Grimmelshauser las uns mit Begeisterung Artikel aus dem St�rmer, dem V�lkischen Beobachter und dem Angriff vor, drei Nazibl�ttern, die von judenfeindlicher Hetze nur so trieften. Doch damit nicht genug. Eines Tages verk�ndete er, dass wir uns einen Film ansehen w�rden, der uns einen sehr viel genaueren Eindruck davon vermitteln k�nnte, wie die Juden tats�chlich seien. Das filmische Machwerk stellte Juden als verschlagene, wild gestikulierende, moralisch und k�rperlich unsaubere Wesen dar. Doch dieser Film war noch eine gem��igte Version des so genannten �Dokumentarfilms� Der Ewige Jude, der zu Beginn der vierziger Jahre in die Kinos kam und als einer der perfidesten
antisemitischen Propagandafilme gilt. Er zeigte angeblich Juden in �berf�llten Gettos, wie sie verstohlen dahineilen, um ihren unsauberen Gesch�ften nachzugehen. Als N�chstes schwenkte die Kamera auf absto�end aussehende Ratten, die �verstohlen dahineilen�, um Abf�lle und Aas zu suchen. Damit auch ja niemandem die Parallelsetzung von Juden und Ratten entging, erkl�rte ein Sprecher, dass Juden ebenso wie Ratten Ungeziefer seien, dass sie Krankheiten und Seuchen verbreiteten und daher aus der Gesellschaft getilgt werden m�ssten. Solche Filme hinterlie�en einen tiefen Eindruck bei uns Kindern. Noch Wochen sp�ter schauderte uns bei dem Gedanken, k�rperlichen Kontakt mit Juden zu haben. Das erkl�rte Ziel der Juden, so machte man uns glauben, war die totale Vernichtung des edlen deutschen Volkes und seiner edlen Kultur. �Warum verhaftet die Polizei sie nicht einfach und steckt sie ins Gef�ngnis?�, fragte ein Klassenkamerad, nachdem Herr Grimmelshauser wieder mal eine antij�dische Rede vom Stapel gelassen hatte. �Nur Geduld, mein Junge�, meinte unser Lehrer zu dem emp�rten Kind. �Ich bin sicher, dass der F�hrer zur passenden Zeit schon eine L�sung finden wird.� Weder ich noch Herr Grimmelshauser, glaube ich, ahnten damals, wie nah er damit der schrecklichen Wahrheit kam.
Auf Hitlers Befehl entlassen
Normalerweise kam meine Mutter immer gut gelaunt von der Arbeit nach Hause und freute sich auf den Abend mit mir. Doch eines Tages begr��te sie mich nicht wie sonst mit einem L�cheln, sondern schien den Tr�nen nahe. Als ich sie fragte, was los sei, platzte sie damit heraus, dass man sie entlassen habe. Um mich zu schonen, verschwieg sie mir, dass ihre Entlassung mit mir zu tun hatte. Stattdessen erkl�rte sie vage, dass im Krankenhaus umfassende Personalk�rzungen vorgenommen worden seien. In Wahrheit verlor sie ihre Stellung, weil Juden und anderen �politisch unzuverl�ssigen Personen� die Besch�ftigung in staatlichen Institutionen untersagt war. Erst viele Jahre sp�ter gestand sie mir den wahren Grund f�r ihre Entlassung, die Tatsache n�mlich, dass sie ein Kind von einem Afrikaner bekommen hatte. Vergeblich versuchte meine Mutter, bei verschiedenen Stellen der Krankenhausverwaltung die R�cknahme ihrer Entlassung zu erreichen. Schlie�lich bekam sie einen Termin bei einem der ganz hohen Tiere. Als sie zur vereinbarten Zeit von der Sekret�rin in das gro�z�gige B�ro gef�hrt wurde, erlebte meine Mutter eine �berraschung. Hinter dem wuchtigen Schreibtisch sa� ein untersetzter Mann in brauner NS-Uniform, der bis vor kurzem noch in der W�scherei des Hospitals gearbeitet und ihr schon mehrfach aufdringliche Avancen gemacht hatte. �Wie geht es dir, Bertha? Was kann ich f�r dich tun?�, begr��te er meine Mutter �berschw�nglich, als w�ren sie die engsten Freunde.
Nachdem sie ihre erste �berraschung �berwunden hatte, erz�hlte meine Mutter ihm, dass sie �aus politischen Gr�nden� entlassen worden sei, obwohl sie sich doch nie politisch aktiv bet�tigt habe. �Ich bin sicher, dass ich etwas f�r dich tun kann�, antwortete er mit einem aufmunternden L�cheln. �Allerdings erwarte ich daf�r auch ein bisschen Entgegenkommen von deiner Seite. Eine Hand w�scht die andere.� Als meine argw�hnisch gewordene Mutter fragte, was er unter �Entgegenkommen� verstehe, lie� er unversehens seine freundliche Maske fallen. �Spiel hier nicht die Naive�, zischte er. �Du wei�t genau, was ich meine.� Meine Mutter wollte entr�stet das B�ro verlassen, doch er stellte sich ihr in den Weg und schlug ihr mehrmals ins Gesicht. �Eine Frau wie du sollte froh sein, wenn ein deutscher Mann noch was von ihr will�, schrie er. �Und jetzt raus! Lass dich hier nie wieder blicken.� Meine Mutter erwog, den Mann zu verklagen, doch ihre Freunde rieten ihr davon ab. �Du hast keine Chance�, sagten sie, �und es ist besser f�r dich und deinen jungen, wenn du das Ganze einfach vergisst.� Gl�cklicherweise war meine Mutter so klug, den Rat anzunehmen, so schwer es ihr auch fiel.
Mein Freund Klaus
F�r meine Mutter, die mit ihren acht Geschwistern von ihrer Mutter allein gro�gezogen worden war, war es unvorstellbar, sich an die staatliche F�rsorge zu wenden. Um uns �ber Wasser zu halten, bis sie wieder eine richtige Arbeit gefunden hatte, nahm sie bereitwillig Putzstellen bei einigen ehemaligen Kollegen an, die von ihrer Notlage erfahren hatten und helfen wollten. Einer davon war ein j�discher Arzt, der selbst seine Stellung im Krankenhaus verloren hatte, aber seine Praxis weiterf�hren durfte, wenn auch nur f�r nichtarische Patienten. Er, seine Frau und ihr siebenj�hriger Sohn Klaus wohnten in einer gro�en luxuri�sen Wohnung an der Grindelallee, die durch ein gro�b�rgerliches Viertel f�hrte, in dem viele Juden lebten. Obwohl meine Mutter nun einmal pro Woche bei ihnen putzen kam, betrachteten ihre neuen Arbeitgeber sie vor allem als Freundin und luden sie ein, nach der Arbeit oder am Wochenende mit mir zu Besuch zu kommen. So wurden Klaus und ich allm�hlich gute Freunde. Eines Tages, als wir mal wieder auf dem Weg zu ihrer Putzstelle waren, sahen wir auf den Stra�en in der Innenstadt SA und SSLeute, die Schilder mit der Aufschrift trugen: �Deutsche, kauft nicht bei Juden! � Von den Schildern inspiriert, gestand ich meiner Mutter, dass ich die Juden hasste, weil sie b�se Menschen seien. Sie sah mich lange mit seltsam traurigen Augen an und fragte schlie�lich, ob ich Klaus leiden mochte. Verwundert antwortete ich, dass ich Klaus nat�rlich sehr gern mochte. Mit forschendem, noch immer traurigem Blick sagte sie: �Klaus ist Jude,
und seine Eltern auch.� Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Wie konnten mein guter Freund Klaus und seine lieben Eltern zu diesen widerw�rtigen Menschen geh�ren, die ich im Film gesehen hatte? Ich verstand pl�tzlich gar nichts mehr. Als meine Mutter meine Verwirrung sah, wollte sie mich beruhigen. �Das Einzige, was die Juden von anderen Deutschen unterscheidet, ist, dass sie zu einer anderen Kirche gehen, die man Synagoge nennt�, erkl�rte sie, �aber das macht sie nicht zu schlechten Menschen. Die Nazis m�gen auch keine Afrikaner, und bei den Juden irren sie sich genauso wie bei den Afrikanern. Sie halten sich f�r besser als alle anderen und meinen, dass andere V�lker Juden, Afrikaner, Chinesen - wertlos sind. Leider sind sie zurzeit an der Macht, und wir k�nnen nichts dagegen tun. � �Glaubt der F�hrer das auch?�, wollte ich wissen. �Ganz bestimmt�, erwiderte meine Mutter, der die Richtung, die das Gespr�ch nahm, offensichtlich nicht behagte.
Meine Mutter bemerkte meine Aufgew�hltheit und ermahnte mich, niemals mit irgendwem �ber das zu sprechen, was sie mir eben erz�hlt hatte, sonst w�rden wir beide in gro�e Schwierigkeiten geraten. Ich gab ihr mein Ehrenwort und besiegelte es mit einem feierlichen H�ndedruck. Als wir unser Ziel erreichten, �ffnete Klaus' Vater die Wohnungst�r. �Haben Sie diese Dreckschweine da drau�en gesehen, Bertha? �, fragte er meine Mutter. W�hrend sich die Erwachsenen leise im Wohnzimmer unterhielten, gingen Klaus und ich in sein Zimmer, wo wir mit seinen Spielzeugsoldaten Marschformationen aufbauten. Abends verabschiedete ich mich wie �blich von Klaus und versprach, in der
n�chsten Woche wiederzukommen. Doch eine Woche sp�ter teilte meine Mutter mir mit, dass Klaus' Vater eine neue Anstellung gefunden und mit seiner Familie nach Berlin gezogen sei. Um mich nicht zu �ngstigen, verschwieg sie mir, dass Klaus' Eltern ihr geraten hatten, den Kontakt zu ihnen abzubrechen. Wie alle deutschen Juden wurden sie von der gef�rchteten Gestapo �berwacht, und durch den Umgang mit ihnen lief meine Mutter Gefahr, unsere ohnehin schon schwierige Situation noch zu verschlimmern. Sie hatten ihr auch erz�hlt, dass sie daran gedacht hatten, Deutschland zu verlassen, nun aber meinten, dass es zu sp�t daf�r sei. Erst einige Jahre sp�ter, nach der ber�chtigten �Reichskristallnacht� vom 9. auf den 10. November 1938, h�rte ich erneut etwas �ber Klaus und seine Eltern. In jener Pogromnacht - die erste landesweite Terrorwelle gegen deutsche Juden - wurden fast alle Synagogen zerst�rt, mehr als 7000 Gesch�fte gepl�ndert, einundneunzig Juden get�tet und rund 30 000 Juden verhaftet. Mit mehreren Klassenkameraden ging ich am n�chsten Tag �ber die Hamburger Stra�e, Barmbeks wichtigste Einkaufszeile, um den Schaden anzusehen. Die Berichte waren nicht �bertrieben gewesen. Auf beiden Seiten waren die B�rgersteige mit zersplittertem Glas bedeckt. S�mtliche fensterlosen Gesch�fte, so erz�hlte man uns, geh�rten Juden. �Wenn ihr letzte Nacht dabei gewesen w�rt�, br�stete sich ein Junge, �h�ttet ihr umsonst >einkaufen< k�nnen.� Mir war klar, was er meinte, denn die normalerweise mit Waren gef�llten Schaufenster waren vollkommen leer, ebenso die Regale in den Gesch�ften. Einige meiner Klassenkameraden �u�erten ihre Befriedigung dar�ber, dass die Juden endlich die
wohlverdiente Strafe f�r all ihre Missetaten erhielten. Ich wollte einwenden, dass nicht alle Juden b�se seien, doch dann fiel mir ein, dass ich meiner Mutter versprochen hatte, niemals dar�ber zu reden. Als ich nach Hause kam, sa� meine Mutter da und weinte. Ich fragte sie, was denn los sei, und sie gestand mir, dass sie mir damals die Unwahrheit erz�hlt h�tte. Klaus und seine Eltern hatten Hamburg nie verlassen, und soeben hatte sie erfahren, dass man alle drei tot in ihrer Wohnung aufgefunden hatte; sie waren offenbar an einer �berdosis gestorben, die der Vater ihnen verabreicht hatte. Meine Mutter brauchte Monate, um �ber ihren Schmerz hinwegzukommen. F�r mich jedoch war der Tod noch zu abstrakt, um wirklich von Bedeutung zu sein. Bis zum heutigen Tag sehe ich vor meinem geistigen Auge, wie Klaus an der T�r steht und ich ihm sage, dass ich n�chste Woche wiederkomme.
Tante Fatima
Die regelm��igen Besuche meiner Tante Fatima, die aus der Schweiz zur�ckgekommen war, um in Hamburg Medizin zu studieren, waren f�r mich jedes Mal Anlass zu gemischten Gef�hlen, und zwar nicht etwa, weil ich sie nicht mochte, sondern weil wir v�llig entgegengesetzte Ziele verfolgten. Mir war wichtig, m�glichst unauff�llig zu bleiben, um unn�tige Aufmerksamkeit oder gar Spott zu vermeiden. Tante Fatima dagegen genoss es geradezu, im Mittelpunkt zu stehen, und sie kleidete und verhielt sich ganz bewusst so, dass man sie unm�glich �bersehen konnte. Sie trug eine gewaltige Afrofrisur, und obendrein ging sie nie ohne ihren abgetragenen Leopardenfellmantel aus dem Haus, ein �beraus schrilles Kleidungsst�ck in meiner kleinb�rgerlichen Umgebung. Bei jedem Besuch lud Tante Fatima mich in eine Konditorei ein, wo wir nat�rlich zwangsl�ufig Aufsehen erregten und uns beleidigende Bemerkungen anh�ren mussten. Einmal empfahl uns eine diensteifrige Kellnerin, wir sollten doch die k�stlichen Negerk�sse oder Mohrenk�pfe probieren, was wir gar nicht komisch fanden. Besonders ver�rgert war ich, wenn meine Freunde Fatima f�r meine Mutter hielten und behaupteten, die wei�e Frau, die ich als meine Mutter bezeichnete, h�tte mich nur adoptiert. Schlie�lich hatte ich, als ich noch kleiner war, selbst diesen Verdacht gehegt, bis meine Mutter mich schlie�lich �berzeugen konnte, dass M�tter mit wei�er Haut Babys mit brauner Haut bekommen konnten, wenn der Vater dunkelh�utig war.
Fasziniert war ich von Tante Fatimas verkr�ppelter rechter Hand, und ich h�tte zu gern gewusst, wie das passiert war. Eines Tages schlie�lich erz�hlte Tante Fatima meiner Mutter das dunkle Familiengeheimnis, w�hrend ich in H�rweite war. Zwischen ihr und ihrer Stiefmutter Rachel herrschte von Anfang an �b�ses Blut�, wie Fatima sagte. Bei den geringsten Anl�ssen wurde sie streng bestraft, und eines Tages zerrte die wutschnaubende Rachel sie nach irgendeinem Kinderstreich zu einer leeren H�tte hinter dem Haus, stie� sie auf einen Stuhl und band ihr mit einem Strick die H�nde auf dem R�cken an der Stuhllehne fest. Als Fatima endlich gefunden wurde, war ihre rechte Hand abgestorben, und es grenzte an ein Wunder, dass sie sie nicht ganz verlor. In sp�teren Jahren schilderte mir meine Tante Fasia, Rachels Tochter, die Version ihrer Mutter: Jener angebliche �Kinderstreich� war in Wahrheit ein Mordanschlag Fatimas auf ihre Stiefmutter Rachel gewesen. Von ihrem gro�en Bruder Nat angestiftet, hatte Fatima anscheinend Glas zu Pulver zermahlen und in Rachels Essen gemischt. Rachel bemerkte es gerade noch rechtzeitig und fragte einen angesehenen Dorfpriester um Rat, wie sie sich in Zukunft gegen Anschl�ge seitens ihrer fr�hreifen Stieftochter sch�tzen k�nne. Nachdem der Priester die K�che gegen b�se Eindringlinge �gesichert� hatte, drohte Rachel Fatima angeblich, dass es schreckliche Folgen f�r sie haben w�rde, sollte sie die K�che je wieder betreten. Bis zu ihrem Tode beteuerte Rachel, dass sie keine Schuld an Fatimas verkr�ppelter Hand habe und dass irgendein �Geist� �ber sie gekommen sei, als Fatima ihre Warnung missachtete.
Manchmal nahm Tante Fatima mich mit nach Blankenese, wo sie angeblich Pastor Heydorn, den fr�heren Pastor der St.-Katharinen-Kirche besuchen wollte. Er war ein langj�hriger Freund meines Gro�vaters Momolu und ein bekannter deutscher Liberaler, der die Menschheitspartei gegr�ndet hatte, eine fr�he Oppositionspartei in Nazideutschland. In Wahrheit besuchte Fatima jedoch dessen gut aussehenden �ltesten Sohn Richard. Ich marschierte dann gelangweilt hinter den beiden her, wenn sie H�ndchen haltend durch den Park des gro�en Heydornschen Anwesens spazierten. Meistens konnte ich ihren Gespr�chen nicht folgen, aber ich bekam mit, dass Richard vorhatte, Missionar in Liberia zu werden. Fatima erz�hlte meiner Mutter, dass sie und Richard sich h�ufig Beleidigungen von aufgebrachten Nazis gefallen lassen mussten, wenn sie sich mal in der �ffentlichkeit zeigten. Damals schrieb ich diese Beleidigungen Fatimas exotischem Aussehen zu, und erst einige Jahre sp�ter erkannte ich den uferlosen Hass der Nazis auf gemischtrassige Paare. Ohne es zu wissen, bescherte auch ich Fatima einmal ein �u�erst unangenehmes Erlebnis. Es war kurz vor Weihnachten, und sie fragte mich, was ich mir w�nschte. Damals erfreuten sich kleine Spielzeug-SA- und -SS-M�nner in ihren braunen und schwarzen Uniformen ungemeiner Beliebtheit. Ich besa� zwar schon eine stattliche Anzahl dieser Figuren, mit denen ich Miniparaden inszenierte, doch zu meinem vollkommenen Gl�ck fehlten mir noch passende Miniaturausgaben der NS-Gr��en Hitler, G�ring und Goebbels, die es �berall zu kaufen gab. Sie waren ihren lebenden Vorbildern nicht nur erstaunlich �hnlich,
sondern man konnte auch noch ihren rechten Arm zum waschechten Hitlergru� heben. Am Weihnachtsabend standen die drei Fig�rchen auch prompt unter dem Tannenbaum. Wochen sp�ter erz�hlte Tante Fatima uns dann, was sie beim Kauf erlebt hatte. Sie wollte den Spielzeugladen mit ihrem P�ckchen unterm Arm gerade verlassen, als der Verk�ufer ihr so laut nachrief, dass alle Welt es h�ren konnte: �Komm blo� nicht auf die Idee, mit Nadeln da reinzupiken, wie ihr das bei euch zu Hause macht. Wenn n�mlich dem F�hrer oder G�ring oder Goebbels was passiert, finden wir dich, und dann bist du dran. � Eines Tages kam Fatima mit einem langen Brief von Momolu zu uns, in dem er berichtete, dass er von der Anklage der Veruntreuung freigesprochen und aus dem Gef�ngnis entlassen worden sei und dass Pr�sident Barclays Kampagne gegen die Massaquois zwar noch immer eine Belastung f�r die Familie sei, aber an Intensit�t nachgelassen habe. Nat sa� noch im Gef�ngnis, aber die anderen m�nnlichen Massaquoi mussten sich nicht mehr verstecken und lebten jetzt in verschiedenen Teilen Liberias. Mein Vater war nach Monrovia zur�ckgekehrt. Momolu schrieb weiter, dass er wegen der �politischen Entwicklung� in Deutschland �u�erst besorgt sei und Vorbereitungen treffe, damit Fatima so bald wie m�glich in die USA reisen k�nne, wo sie ihr Studium abschlie�en sollte. Mit �politischer Entwicklung� meinte er zweifellos Hitlers unaufh�rliches S�belrasseln und die wachsende Kriegsgefahr. Falls er Hitlers Mein Kampf gelesen hatte, was mehr als wahrscheinlich ist, dann war Momolu vielleicht auch klar geworden, wie gef�hrdet Fatimas Studentenstatus an der Hamburger Uni geworden war. In seinem entlarvenden Entwurf f�r das
Dritte Reich, den Hitler w�hrend seiner Festungshaft in Landsberg verfasste, wo er wegen des gescheiterten M�nchner Putschversuches einsa�, stellte er klar, was er von akademisch ausgebildeten Schwarzen hielt:
Von Zeit zu Zeit wird in illustrierten Bl�ttern dem deutschen Spie�er vor Augen gef�hrt, dass da oder dort zum ersten Mal ein Neger Advokat, Lehrer, gar Pastor, ja Heldentenor oder dergleichen geworden ist. W�hrend das bl�dselige B�rgertum eine solche Wunderdressur staunend zur Kenntnis nimmt, voll von Respekt f�r dieses fabelhafte Resultat heutiger Erziehungskunst, versteht der Jude sehr schlau, daraus einen neuen Beweis f�r die Richtigkeit seiner den V�lkern einzutrichternden Theorie von der Gleichheit der Menschen zu konstruieren. Es d�mmert dieser verkommenen b�rgerlichen Welt nicht auf, dass es sich hier wahrhaftig um eine S�nde an jeder Vernunft handelt; dass es ein verbrecherischer Wahnwitz ist, einen geborenen Halbaffen so lange zu dressieren, bis man glaubt, aus ihm einen Advokaten gemacht zu haben, w�hrend Millionen Angeh�rige der h�chsten Kulturrasse in vollkommen unw�rdigen Stellungen verbleiben m�ssen; dass es eine Vers�ndigung am Willen des ewigen Sch�pfers ist, wenn man Hunderttausende und Hunderttausende seiner begabtesten Wesen im heutigen proletarischen Sumpf verkommen l�sst, w�hrend man Hottentotten und Zulukaffern zu geistigen Berufen hinaufdressiert. Denn um eine Dressur handelt es sich dabei, genauso wie bei der des Pudels, und nicht um eine wissenschaftliche �Ausbildung�. Die gleiche M�he und Sorgfalt auf
Intelligenzrassen angewendet, w�rde jeden einzelnen tausendmal eher zu gleichen Leistungen bef�higen.
Erst 1937 gelang es Momolu, sein Versprechen wahr zu machen und Fatima einen Platz an der Fisk University in Nashville, Tennessee, zu beschaffen. Als sie kam, um uns Lebewohl zu sagen, sp�rte ich, dass wir uns lange Zeit nicht sehen w�rden. Pl�tzlich wurde mir klar, dass ich sie sehr vermissen w�rde, da sie die einzige lebendige Verbindung zu Momolu und meinem Vater darstellte, der meiner Mutter und mir nie auch nur einen Brief geschrieben hatte. Mit meinen elf Jahren sch�mte ich mich ihrer exotischen Erscheinung nicht mehr, sondern begleitete sie stolz zum Bahnhof, von wo aus sie ihre lange Reise �ber die Schweiz in die USA antrat.
Sommervergn�gen in Salza
Ein seit langem bestehendes und ungemein beliebtes soziales Angebot in Hamburg war der j�hrliche Ferienzug, der Tausenden von Stadtkindern Gelegenheit gab, die vierw�chigen Sommerferien bei ihren Verwandten auf dem Lande zu verbringen. Von meinem siebten Lebensjahr an freute ich mich jedes Jahr auf die sechsst�ndige Zugfahrt in das D�rfchen Salza bei Nordhausen am Rande des Harzes, wo mein Onkel Karl, der Bruder meiner Mutter, Tante Grete und meine vier Jahre �ltere Cousine Trudchen lebten. Verglichen mit dem turbulenten Hamburg verlief das Leben in dem kleinen Dorf idyllisch, ruhig und ereignislos. Auf der kopfsteingepflasterten Hauptstra�e waren Automobile eine Seltenheit, Rinder und Schafe dagegen an der Tagesordnung. In Salza betrachtete man Menschen aus dem wenige Kilometer entfernten Nachbardorf schon fast als Ausl�nder, und die Ankunft von jemandem, der von so weit her kam wie Hamburg und so exotisch aussah wie ich, erregte m�chtiges Aufsehen. Vor meiner Ankunft hatte Tante Grete daf�r gesorgt, dass jeder im Dorf wusste, dass ihr Hamburger Neffe der Sohn beziehungsweise Enkelsohn von zwei afrikanischen W�rdentr�gern war, was mein Ansehen als seltene Attraktion noch mehr steigerte. Trotz der gewaltigen Unterschiede unserer jeweiligen Welten, oder vielleicht gerade wegen ihnen, kam ich bei den Dorfjungen gut an, die von meinen nur leicht �bertriebenen Schilderungen des Stadtlebens stets tief beeindruckt waren.
Onkel Karl, Tante Grete und Trudchen behandelten mich wie den Sohn und Bruder, den sie nie gehabt hatten. Als Schneidermeister freute sich Onkel Karl, wenn ich ihm Gesellschaft leistete, w�hrend er im Schneidersitz Stoffballen zu Herrenanz�gen verarbeitete. Irgendwann landeten unsere Gespr�che stets beim Ersten Weltkrieg, an dem er als Kavallerist teilgenommen hatte. Nachdem seine besten Pferde unter ihm weggeschossen worden waren, ohne dass er selbst verwundet wurde, erwischte es auch ihn schlie�lich, und er verlor durch einen franz�sischen Gasangriff vor�bergehend das Augenlicht. Dann und wann schauten Onkel Karls Kunden, Bauern und Handwerker aus der Gegend, zur Anprobe herein. Wie auf dem Land h�ufig �blich, hatten manche von ihnen ein Tauschgesch�ft mit Onkel Karl vereinbart, so dass sie mit ihren Produkten oder handwerklichen F�higkeiten bezahlten anstatt mit Geld. So kam beispielsweise dreimal in der Woche der Herrenfriseur ins Haus und verpasste Onkel Karl eine professionelle Rasur und, falls n�tig, einen neuen Haarschnitt. Als Gegenleistung bekam der Friseur daf�r j�hrlich einen hochwertigen Ma�anzug. Das Einzige, was meine idyllischen Ferien in Salza tr�bte, war Tante Gretes Vorsatz, mich zu m�sten, weil sie mich f�r zu d�nn hielt. Wie heftig ich auch gegen die Berge von Essen protestierte, die sie mir auf den Teller h�ufte, sie bestand eisern darauf, dass ich alles bis auf den letzten Bissen verputzte. Also musste ich jeden Abend in der K�che sitzen bleiben und ihre gewaltigen Stullen mit Harzer K�se runterw�rgen, weil ich nicht nach drau�en zum Spielen durfte, bevor ich nicht alles aufgegessen hatte.
Die Rettung nahte meist in Gestalt meiner Cousine Trudchen. Jedes Mal, wenn sie mich sehns�chtig aus dem Fenster starren sah, vor mir auf dem Teller die daumendicken K�sebrote, schnappte sie sich blitzartig ein St�ck Brot und verschlang es in Sekundenschnelle. Diese Meisterleistung wiederholte sie so oft, bis auch die letzte Stulle in ihren anscheinend bodenlosen Magen verschwunden war. Sobald Tante Grete sah, dass mein Teller leer war, lobte sie mich, und zur Belohnung durfte ich bis zum Dunkelwerden nach drau�en und mit meinen Freunden spielen. Jeden Sonntag gingen wir wandern oder fuhren mit der Bahn zu den sch�nsten und beliebtesten Ausflugszielen im Harz. Zur Erinnerung an meine Touren trug ich stolz einen Spazierstock aus knorrigem Eichenholz mit mir herum, den Tante Grete und Onkel Karl mir geschenkt hatten. Der Stock war fast �ber und �ber mit kleinen, gl�nzenden Metallpl�ttchen bedeckt, auf denen eine Landschaft oder ein Symbol der Orte abgebildet war, an denen ich gewesen war. Wenn meine vier Wochen in Salza vor�ber waren, hatte ich meist genug vom Landleben und sehnte mich in die Gro�stadt zur�ck. Am Tag meiner Abfahrt sorgte Tante Grete daf�r, dass wir lange vor der planm��igen Ankunft des Zuges auf dem Salzaer Bahnsteig standen, dass meine Schn�rsenkel fest verknotet waren und mein Koffer ordentlich gepackt. W�hrend wir auf den Ferienzug warteten, ermahnte sie mich, meinen Teller auch weiterhin brav leer zu essen, so wie sie es mir beigebracht hatte, woraufhin Trudchen mir heimlich zuzwinkerte. Nach endlosen Verabschiedungen und einer festen Umarmung und einem dicken Kuss von Tante Grete, den, wie ich hoffte, keines der Kinder im Zug beobachtete, stieg ich ein und mischte mich unter
die ausgelassene Kinderschar, in der lauthals dar�ber debattiert wurde, wer von uns mehr erlebt und gesehen hatte. Ich konnte die anderen nicht �berzeugen, aber f�r mich war klar, dass ich die mit Abstand sch�nsten Ferien gehabt hatte.
Wriedes Ankunft
Es gab eine ganze Reihe von Leuten, die mir das Leben damals schwer machten, aber am erbarmungslosesten und grausamsten von allen war eindeutig Herr Hinrich Wriede, unser neuer Schulleiter. Im Gegensatz zu seinem Vorg�nger, der so unauff�llig war, dass ich so gut wie keine Erinnerung an ihn habe, war Wriede ein Mensch, der sich nicht �bersehen lie�. Wriede, ein strammer, r�tlich blonder, gro�er Mann Mitte vierzig, war ein Vetter des norddeutschen Erz�hlers und Autors von Seemannsgeschichten, Gorch Fock (alias Johann Kinau), und hatte angeblich selbst schriftstellerische Neigungen. Au�erdem war er ein fanatischer Anh�nger Hitlers, was er dadurch unterstrich, dass auch er ein allerdings r�tlich blondes Hitlerb�rtchen trug. Herr Wriede trat gegen Ende des zweiten Schuljahres in mein Leben, an dem Tag, als er unser neuer Schulleiter wurde. Um sich uns vorzustellen, lie� er alle Sch�ler und Lehrer auf dem Schulhof antreten, wo er in seiner braunen NSUniform in Schaftstiefeln und Breeches umherschritt wie ein General bei der Truppeninspektion. Erkl�rtes Ziel seines Auftritts war es, Lehrern und Sch�lern gleicherma�en klar zu machen, dass an der K�thnerkampschule ein neuer Wind wehte und dass fortan alles nach Wriedes Art und Weise zu laufen hatte - wenn wir w�ssten, was er meinte. Nat�rlich wussten wir Kinder nicht, was er meinte, doch seinem Ton nach zu urteilen, ahnten wir, dass wir von �Wriedes Art und Weise� nicht sonderlich begeistert sein w�rden. W�hrend er vor uns auf und ab marschierte, entdeckte er mich inmitten der Jungen und fixierte mich mit einem
hasserf�llten Blick, wie eine Schlange, die ihre Beute hypnotisiert. �Ich werde daf�r sorgen, dass meine Sch�ler stolz darauf sind, deutsche Jungen in einem nationalsozialistischen Deutschland zu sein�, verk�ndete er, ohne mich aus den Augen zu lassen. Als ich seinen Blick kaum noch aushalten konnte und gerade die Augen niederschlagen wollte, ging er weiter. Zur�ck in der Klasse, wurde ich das neue und daher be�ngstigende Gef�hl nicht los, soeben einem pers�nlichen Feind begegnet zu sein. Es dauerte nicht lange, und mein Verdacht best�tigte sich. Zum ersten Mal bekam ich Wriedes Abneigung deutlich zu sp�ren, als er f�r unseren erkrankten Sportlehrer einsprang. Er erkl�rte, er wolle diese Gelegenheit f�r eine Mutprobe nutzen, um die Feiglinge von den Jungen mit Courage zu trennen. Das allein machte mir noch nichts aus, da ich �berzeugt war - und auch schon �fter bewiesen hatte -, dass ich mindestens so viel Mut besa� wie jeder andere in meiner Klasse. Wriede f�hrte uns in die Turnhalle, wo wir aus verschiedenen Turnger�ten - Barren, Seitpferde, Schwebebalken und so weiter - einen gro�en kreisf�rmigen Hindernislauf aufbauen mussten. Die Hindernisse folgten in so gro�en Abst�nden aufeinander, dass man schon �ber ein gewisses Geschick verf�gen musste, um von einem Ger�t zum anderen zu springen. Eine L�cke war so gro�, dass sie nur zu bew�ltigen war, indem man nach einem dicken Seil hechtete, das von der Decke hing, und sich dann wie Tarzan zum n�chsten Hindernis schwang. Als zus�tzliche Schwierigkeit postierte Wriede dort einen jungen, der das Seil mit einer langen Stange st�ndig in Bewegung hielt.
Ich ging davon aus, dass ich den Hindernislauf ohne Probleme schaffen w�rde, und wartete zuversichtlich, bis ich an die Reihe kam. Als es so weit war, hatten die meisten jungen den Lauf schon erfolgreich gemeistert, nur einige waren gescheitert und auf Wriedes Anordnung in die �Feiglinge-Ecke� verbannt worden. Die ersten Hindernisse nahm ich m�helos, doch als ich zu der gro�en L�cke kam, stand dort Wriede und hielt die lange Stange nun selbst in der Hand. Statt das Seil hin und her zu schwingen, hielt er es so, dass ich es unm�glich erreichen konnte. Ich wartete, dass er es wieder zu mir schwingen lie�, um danach zu springen, doch er rief nur: �Feigling! Du hast keinen Mut.� Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass er so unfair war, und wartete noch einen Augenblick ab, doch er wurde noch w�tender und rief: �Aus dem Weg. Mach Platz f�r jemanden, der Mut hat. Los, r�ber zu den anderen Feiglingen. � Widerwillig gehorchte ich und trollte mich zu der kleinen Gruppe von Ausgeschiedenen. Ich f�hlte mich wie gepr�gelt - obwohl mir eine Tracht Pr�gel weniger wehgetan h�tte, als zu Unrech Feigling gebrandmarkt zu werden. Bis zu diesem Augenblick hatte ich mich nach Wriedes Anerkennung verzehrt, obwohl er aus seiner Ablehnung mir gegen�ber nie einen Hehl gemacht hatte. Zuweilen war ich sogar eifers�chtig gewesen, wenn ich sah, wie unglaublich nett und aufmerksam er andere Sch�ler behandelte, vor allem solche, die mit ihren blonden Haaren und blauen Augen dem Ideal der Nazis entsprachen. Doch nun wurde mein Bed�rfnis, von diesem Mann gemocht zu werden, der mich ganz offensichtlich verachtete, von purem, ohnm�chtigem Hass verdr�ngt.
Ich erz�hlte meiner Mutter nichts von dem Vorfall, weil ich f�rchtete, dass sie Wriede in ihrer Wut zur Rede stellen und alles nur noch schlimmer machen w�rde. Stattdessen beschloss ich, mich nicht mehr darum zu scheren, was Wriede sagte oder tat. Doch das war nicht so einfach, wie ich bald herausfinden sollte. Eines Tages verk�ndete Fr�ulein Beyle, die zu diesem Zeitpunkt noch an der Schule unterrichtete, dass es h�chste Zeit sei, unseren einmal im Jahr stattfindenden Elternabend vorzubereiten. Jede Klasse f�hrte Sketche und kleine Theaterst�cke auf, trug Gedichte und Lieder vor. Nachdem Fr�ulein Beyle ein einfaches St�ck auf Platt ausgesucht hatte, in dem sich ein junge �ber den ersten Schnee des Jahres freute, lie� sie uns alle vorsprechen, um die drei Rollen des St�ckes zu verteilen. Schlie�lich bekam ich die Hauptrolle und hatte zwei Wochen Zeit, meinen Text zu lernen. Ich hatte nichts Eiligeres zu tun, als meiner Mutter die frohe Nachricht zu �berbringen. Meine Mutter wiederum erz�hlte Tante M�ller und einigen ihrer besten Freundinnen von meinem anstehenden Deb�t als B�hnenstar. Einige von ihnen sagten, sie w�rden gern zur Vorstellung kommen und ich sollte schon mal rechtzeitig Eintrittskarten besorgen, die drei�ig Pfennig kosteten.
Um kein Risiko einzugehen, hatte Fr�ulein Beyle f�r jede Rolle eine Zweitbesetzung vorgesehen. Wir probten so lange, bis wir das St�ck in- und auswendig konnten. Am Tag vor dem gro�en Ereignis, als wir mitten in der Generalprobe steckten, betrat Herr Wriede den Klassenraum. Er signalisierte Fr�ulein Beyle, sich nicht st�ren zu lassen, und setzte sich auf einen leeren Platz in
der ersten Reihe. Bis dahin hatte ich nicht das geringste Lampenfieber gehabt, doch als ich jetzt in Wriedes kalte, abweisende Augen blickte, packte mich zun�chst nackte Panik. Erst allm�hlich gewann ich die Fassung wieder, so dass ich meinen Part doch noch fehlerfrei spielen konnte. Bevor Wriede den Klassenraum verlie�, bat er Fr�ulein Beyle hinaus auf den Flur. Als sie zur�ckkam, war sie sichtlich best�rzt, sagte aber nichts. Irgendwie wurde ich das ungute Gef�hl nicht los, dass ihr ver�ndertes Verhalten mit Wriedes Besuch und mit mir zusammenhing. Wie recht ich doch hatte! Nach dem Unterricht bat sie mich zu bleiben. �Ich wei� gar nicht, wie ich es dir sagen soll�, brachte sie schlie�lich schweren Herzens hervor, �aber Herr Wriede m�chte, dass ich Gerd (meine blonde, blau�ugige Zweitbesetzung) die Hauptrolle gebe. Er meint, Gerd w�re besser geeignet.� �Woher will er denn wissen, dass Gerd besser geeignet ist? Er hat ihn doch noch gar nicht spielen gesehen�, gab ich zu bedenken. �Ich bin auch nicht seiner Meinung, sonst h�tte ich dir die Rolle erst gar nicht gegeben�, erwiderte Fr�ulein Beyle, �aber ich kann nichts machen. Herr Wriede ist der Schulleiter, und ich muss seine Anweisungen befolgen.� Als ich meiner Mutter erz�hlte, was geschehen war, wurde sie fuchsteufelswild, aber sie redete mir trotzdem gut zu, ich sollte mir Wriedes Qu�lereien nicht zu Herzen nehmen und meine Abneigung gegen ihn nicht auf die ganze Schule �bertragen. �Die Schule ist eine wunderbare Einrichtung, und die meisten Lehrerinnen und Lehrer sind anst�ndige Menschen, wie Fr�ulein
Beyle�, versicherte sie mir. �Glaub mir, fr�her oder sp�ter wird Wriede seine gerechte Strafe bekommen.� Dann sagte sie Tante M�ller und ihren anderen Freundinnen Bescheid, dass sie ihnen das Geld f�r die Eintrittskarten erstatten w�rde, da mir die Rolle weggenommen worden sei. Aber die anderen wollten nichts davon h�ren, erst recht nicht, als sie den Grund f�r meinen Rausschmiss erfuhren. Tante M�ller nahm kein Blatt vor den Mund und meinte, wenn ihr kleiner Hans-J�rgen nicht in dem St�ck mitspielen d�rfe, sollten die doch die drei�ig Pfennig behalten und �sie sich in ihren Nazihintern stecken�. Bald darauf nahm Herr Wriede mich erneut aufs Korn. Er hielt mich im Flur an und zeigte vor den Augen einiger meiner Klassenkameraden auf mein Hemd. �Ich verbiete dir, das Hemd in der Schule zu tragen�, schnauzte er mich ohne jede weitere Erkl�rung an. Das kakifarbene Hemd, ein Geburtstagsgeschenk von Tante M�ller, hatte �hnlichkeit mit den Hemden der Hitlerjugend, und der Schulleiter w�hnte wohl, dass ich ein Kleidungsst�ck einer NS-Uniform trug. Als meine Mutter Wriede am n�chsten Tag in seinem B�ro aufsuchte, um ihn auf diesen Vorfall anzusprechen, ging er sogleich zum Angriff �ber. �Die HJ-Uniform�, schrie er, �symbolisiert unsere stolze, junge, arische Generation. Wenn Sie Ihren Sohn die Uniform tragen lassen, verspotten Sie alles, wof�r die Uniform steht. Ich muss Sie daher dringend ersuchen, dass er das Hemd nie wieder in der Schule tr�gt.� Als der Schulleiter seine Tirade beendet hatte, griff meine Mutter in ihre Handtasche, holte das Hemd heraus und legte es wortlos auf seinen Schreibtisch. Un�bersehbar handelte es sich nicht um ein HJ-Hemd, sondern
lediglich um ein ganz herk�mmliches kakifarbenes Hemd. Wriede erkannte seinen peinlichen Fehler, doch statt sich zu entschuldigen, beharrte er darauf, dass ich das Hemd nicht mehr tragen sollte, um jede Verwechslung zu vermeiden. Da platzte meiner Mutter der Kragen. �Ich habe zu ihm gesagt�, erz�hlte sie mir sp�ter, �solange es Unbefugten nicht ausdr�cklich per Gesetz verboten ist, kakifarbene Hemden zu tragen, w�rdest du das Hemd anziehen, sooft du willst, ob ihm das nun passt oder nicht.� Sie �berlie� mir die Entscheidung, ob ich das Hemd noch einmal zur Schule anziehen wollte. Da ich wusste, dass es Wriede auf die Palme brachte, wenn er mich in dem Hemd sah, trug ich es oft - so oft, dass es binnen einiger Monate vom vielen Waschen verblasst und so verschlissen war, dass meine Mutter es schlie�lich wegtat. Sosehr Wriede auch versuchte, mich zu zerm�rben, er erreichte nur das Gegenteil. Je mehr er mich piesackte, desto h�rter wurde ich im Nehmen, bis er mir schlie�lich mit seinen Schikanen gar nichts mehr anhaben konnte. Gl�cklicherweise war Wriede kein typischer Vertreter seiner Zunft. Die meisten Lehrer, mit denen ich w�hrend meiner achtj�hrigen Schulzeit in Hamburg zu tun hatte, behandelten mich wie jeden anderen Sch�ler auch. Und dann gab es noch welche, wie Fr�ulein Beyle, die nachempfinden konnten, was ich pers�nlich durchmachte, und die sich darum besondere M�he gaben, mir das Leben ein wenig zu erleichtern.
Herr Gosau
Einer dieser Lehrer, die keinen Hehl daraus machten, dass sie mich mochten, war Herr Gosau, der Leiter unseres Schulchors, ein gut aussehender, freundlicher kleiner Mann mit gepflegtem grauen Haar und einem grauen Schnurrbart. Sein einziges Zugest�ndnis an das Naziregime war, dass er wie vorgeschrieben vor und nach jeder Unterrichtsstunde den Hitlergru� absolvierte. Ohne Wriede um Erlaubnis zu bitten, hatte er mich in den Chor aufgenommen, weil er fand, dass ich nicht nur eine gute Singstimme hatte, sondern auch sehr musikalisch war. Herr Gosau war nicht nur unser Musiklehrer, sondern unterrichtete uns auch in Religion. Er brachte das Thema �Rassenzugeh�rigkeit� zwar nie zur Sprache, aber ich sp�rte instinktiv, dass er auf meiner Seite war. Besonders deutlich wurde mir das nach einem Zwischenfall auf einem Schulausflug zu dem Jugendpark in Zangenhorn, wo wir Sch�ler f�r unsere Eltern auf der Freilichtb�hne ein Variet� auff�hrten. Nachdem unser Chor einige Lieder zum Besten gegeben hatte, nahm ich unter den Zuschauern neben meiner Mutter Platz. Wriede sagte den H�hepunkt der Vorstellung an: eine �heitere Gesangs- und Tanznummer�, die niemand anders als Herr Wriede h�chstpers�nlich mit Sch�lern der obersten Klasse einstudiert hatte. Die Nummer begann damit, dass ein Chor Aufstellung nahm und sich rhythmisch mit einem unverst�ndlichen Gesang auf die Zuschauer zubewegte. Pl�tzlich teilte sich der Chor in der Mitte, und ein Junge, der nur einen Bastrock �ber einer Badehose trug und von Kopf bis Fu� schwarz angemalt war, sprang hervor. Zum Takt von
Buschtrommeln vollf�hrte der �Afrikaner� einen wilden Tanz, der aus rhythmischen Spr�ngen und K�rperdrehungen bestand, w�hrend der Chor irgendein wirres Gemurmel von sich gab, das wohl Afrikanisch sein sollte. Sobald der �Negertanz� anfing, richteten sich viele Blicke aus dem Auditorium auf mich und meine Mutter. Impulsiv wollte meine Mutter sofort mit mir aufstehen und gehen, �berlegte es sich aber anders, vielleicht weil ihr klar wurde, dass wir dann noch mehr Aufmerksamkeit erregen w�rden. Also blieben wir bis zum Schluss der Vorf�hrung sitzen, die, so kam es uns vor, ewig dauerte. Als sie schlie�lich doch aufh�rte, erhielten die Sch�ler und Wriede tosenden Applaus. Noch immer unter dem Eindruck des erniedrigenden Spektakels sa�en wir auf dem Heimweg schweigend in der S-Bahn, als pl�tzlich Herr Gosau meine Mutter ansprach. Nachdem er sich als mein Musiklehrer vorgestellt hatte, sagte er: �Ihr Sohn ist musikalisch sehr begabt.� �ber die klischeehafte rassistische Vorf�hrung, die wir �ber uns hatten ergehen lassen m�ssen, verlor er kein Wort. Herrn Gosaus Urteil war Balsam f�r die Seele meiner Mutter. �Sch�n, das von einem Experten zu h�ren�, erwiderte sie, �ich hatte schon immer das Gef�hl, dass Hans-J�rgen musikalisch ist.� Im weiteren Verlauf des Gespr�chs bot Herr Gosau an, mir in seiner Freizeit Geigenunterricht zu erteilen, wenn meine Mutter bereit w�re, mir eine Geige zu kaufen. Und ohne mich �berhaupt zu fragen, sagte meine Mutter Herrn Gosau zu, dass ich in sp�testens zwei Monaten eine Geige h�tte und mit dem Unterricht anfangen k�nnte. Die Sache hatte nur einen Haken - ich wollte gar nicht Geige lernen. Bei meinen Spielkameraden auf
unserer Stra�e war eine Geige was f�r Mutters�hnchen, im Gegensatz zum Akkordeon, dem beliebten Schifferklavier. Akkordeon spielen war in unseren Augen was f�r richtige M�nner. Schon bei dem Gedanken, jemand k�nnte mich auf der Stra�e mit einem Geigenkasten sehen - den wir ver�chtlich als �Kindersarg� bezeichneten -, lief es mir kalt den R�cken runter. Aber meine Mutter hatte nun mal entschieden, dass ich Geigenstunden bekommen sollte, und wie ich sie kannte, half dagegen kein Betteln und kein Flehen. Die gr��te H�rde war das Geld, denn selbst gebrauchte Geigen waren nicht billig. In der Hamburg-New-YorkerGummiwarenfabrik, wo meine Mutter inzwischen arbeitete, verdiente sie gerade genug, um uns beide �ber Wasser zu halten. Sie faltete Kartons im Akkord, und nun musste sie ihr Arbeitstempo bis an die Grenze der Belastbarkeit erh�hen, um am Ende des Monats mehr Geld in der Lohnt�te zu haben. Nicht von ungef�hr war unter Arbeitern der Spruch �Akkord ist Mord� verbreitet. Doch nachdem sie sich in der Fabrik abgeschuftet und im Haushalt an allen Ecken gespart hatte, �berreichte sie mir schlie�lich stolz eine Geige, komplett mit Bogen und �Kindersarg�, die sie gegen Anzahlung in einem Tr�delladen in unserem Viertel erworben hatte. Da ich ihre Gef�hle nicht verletzen und auch Herrn Gosaus gro�z�giges Angebot nicht ablehnen wollte, machte ich gute Miene zum b�sen Spiel und f�gte mich ins Unvermeidliche. Einmal die Woche nach der Schule bekam ich zusammen mit drei anderen �Gl�ckspilzen� bei Herrn Gosau zwei Stunden intensiven Geigenunterricht. Ich liebte Musik zwar �ber alles und galt als einer der besten S�nger in Herrn Gosaus Chor, doch die quietschenden, schr�gen T�ne,
die ich auf der Geige hervorbrachte, wenn ich mich mal zum �ben durchringen konnte, taten mir in den Ohren weh. Fast ein Jahr lang ertrug ich die kratzenden Ger�usche, die ich mit meinem ungelenken Bogen einem widerspenstigen Instrument entlockte. Je l�nger ich �spielte�, desto mehr hasste ich meine Geige. Nach einer besonders nervt�tenden Geigenstunde, in der ich mich wieder mal erfolglos abgem�ht hatte, meine streikenden Finger nach Herrn Gosaus Willen zu biegen, nahm er mich schlie�lich beiseite und erkl�rte ohne einen Anflug von Ver�rgerung, dass er das Handtuch werfen w�rde. �Du bist musikalisch hoch begabt�, versicherte er mir, �und ich empfehle dir dringend, etwas aus deinem Talent zu machen, aber die Geige ist einfach nicht das richtige Instrument f�r dich.� Amen. Er sprach mir aus der Seele. Aber ich f�hlte mich trotzdem schlecht, weil ich den alten Herrn und vor allem meine Mutter entt�uscht hatte, die nun ihren heimlichen Wunsch aufgeben musste, eines Tages einen Geigenvirtuosen zum Sohn zu haben. Als ich ihr am Abend erz�hlte, dass es mit meinen Geigenstunden vorbei sei, war sie sichtlich traurig, fand sich aber damit ab, ohne mir Vorw�rfe zu machen. �Bedank dich aber bei Herrn Gosau f�r seine Freundlichkeit�, sagte sie nur.
Worte der Weisheit
Meine Mutter war eine unverw�stliche Optimistin, was vor allem darin zu Tage trat, dass sie gro�e Hoffnungen in mich setzte, obwohl meine Zukunft angesichts der von den Rassengesetzen der Nazis errichteten Barrieren alles andere als rosig aussah. Sie war felsenfest davon �berzeugt, dass unendliche M�glichkeiten in mir steckten und dass ich eines Tages - Nazis hin oder her etwas aus mir machen w�rde. Als sie von Tante Fatima h�rte, dass in Liberia Ingenieure gebraucht wurden, beschloss sie, dass ich Ingenieur werden und eines Tages den Liberianern beim Bau der dringend ben�tigten Br�cken und Stra�en helfen sollte. Dabei spielte es keine Rolle, dass ich im Rechnen die schlechteste Note auf dem Zeugnis hatte. Sie �berzeugte mich, dass ich das Zeug zum Ingenieur h�tte, wenn ich mich nur ordentlich anstrengte. Ebenso ausgepr�gt wie ihr Optimismus war ihre zwanghafte Offenheit, ohne R�cksicht auf Verluste. Mit anderen Worten, Diplomatie war nicht gerade ihre starke Seite. Nicht, dass sie andere bewusst vor den Kopf stie�, aber wenn jemand sie um ihre Meinung bat, war sie viel zu ehrlich, um zu l�gen, ja nicht einmal zu einer Notl�ge f�hig. � Ehrlich w�hrt am l�ngsten�, meinte sie nur, wenn jemand ihr ihre Freim�tigkeit ver�belte. Da sie eine starke Abneigung gegen alle Fr�mmigkeit hegte - eine Abneigung, die sie an mich weitergegeben hat -, war sie der �berzeugung, dass es einen nicht zum besseren Menschen machte, wenn man regelm��ig in die Kirche ging und zu jeder Tages- und Nachtzeit betete. Ein guter Mensch war man ihrer Ansicht nach nur dann,
wenn man seine Mitmenschen und auch Tiere fair behandelte. Erst mit weit �ber f�nfzig wurde sie zur regelm��igen Kirchg�ngerin, nachdem sie einen �berzeugten Anh�nger der serbisch-orthodoxen Kirche geheiratet hatte. Aber auch die H�hen und Tiefen ihrer fr�heren Jahre durchlebte sie nicht ohne moralische St�tze. Sie verf�gte �ber einen schier unersch�pflichen Vorrat an Sprichw�rtern und Maximen, an die sie sich peinlich genau hielt. F�r jede Situation im Leben eines Menschen hatte sie einen passenden Spruch parat - wie man mit Geld umging, wie man Freunde behandelte, warum P�nktlichkeit sich auszahlte und so weiter. Dieses Erbe wollte sie unbedingt an mich weitergeben. Als ich in die Schule kam, wusste ich bereits, dass L�gen kurze Beine haben, erst recht nachdem meine Mutter mich bei einer L�ge ertappt hatte. Um mir die Vorz�ge eines aufrichtigen Lebens beizubringen, sagte sie immer: � Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen. � Um mich Bescheidenheit und H�flichkeit zu lehren, hie� es: �Mit dem Hut in der Hand kommt man durch das ganze Land.� Um mich zur Fairness gegen�ber meinen Mitsch�lern zu verpflichten, warnte sie: �Wer andern eine Grube gr�bt, f�llt selbst hinein.� Wenn ich ein Geldgeschenk nicht richtig w�rdigte, weil es kleiner ausgefallen war, als ich erwartet hatte, bekam ich zu h�ren: �Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert.� Obwohl diesen kleinen Happen deutscher Volksweisheit im Gegensatz zu den Zehn Geboten die g�ttliche Absegnung fehlte, haben sie f�r mich selbst als Erwachsener nichts von ihrer G�ltigkeit verloren, so dass ich auch bei der Erziehung meiner beiden S�hne auf sie zur�ckgegriffen habe. Noch heute freue ich mich im-
mer k�niglich, wenn sie eine Lebensregel ihrer Gro�mutter zitieren. Obwohl meine Mutter bei niemandem ein Blatt vor den Mund nahm, war sie allseits beliebt, und auch sie war gern mit Menschen zusammen. Am Wochenende, wenn Freunde zu Besuch kamen, um einen gem�tlichen Abend zu verbringen, platzte unsere kleine Mansardenwohnung manchmal aus allen N�hten. Es wurde geplaudert, gesungen, gelacht, gegessen und Kaffee getrunken. An kalten Winterabenden wurde es noch geselliger, wenn meine Mutter ihren G�sten ein Glas Gl�hwein kredenzte, und schon bald stimmten alle �Auf der Reeperbahn nachts um halb eins� an. Meine Mutter sang f�r ihr Leben gern - von Opernarien �ber Filmmelodien und Operetten bis hin zu Volksliedern und Schlagern aus ihrer Jugend -, und es war ihr ein gro�er Kummer, dass sie keine gute Singstimme hatte. Diese Erkenntnis hinderte sie jedoch nicht daran, bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu singen, sei es beim Stricken oder H�keln oder beim W�schewaschen. �Wo man singt, da lass dich ruhig nieder�, sagte sie oft, �b�se Menschen haben keine Lieder.� Sie war eine Seele von Mensch und half ihren Freunden in Not, wo sie nur konnte. Wenn eine Freundin Eheprobleme hatte und vor�bergehend Zuflucht bei ihr suchte, lie� sie sie in ihrem Bett schlafen und begn�gte sich mit der Couch. Sie konnte einfach niemandem eine Bitte abschlagen. Andererseits war sie eine tapfere, dickk�pfige und kampfbereite Frau, die keine Scheu hatte, sich mit irgendwem anzulegen - auch nicht mit hohen Tieren -, wenn sie meinte, dass sie oder ich ungerecht behandelt wurden. Wurde sie jedoch von
einem Menschen ihres Vertrauens irgendwie schwer entt�uscht, strich sie den Betreffenden f�r immer aus ihrem Leben, ohne ihm je wieder eine Chance zu geben. Alles andere w�re unter ihrer W�rde gewesen, denn sie vertrat die Meinung: �Pack schl�gt sich, Pack vertr�gt sich.� Und dazu wollte sie nicht geh�ren. Ihr ganzes Leben lang legte sie eine Unverw�stlichkeit an den Tag, die ihresgleichen suchte. Wenn jemand �ber ihr bemerkenswertes Durchhalteverm�gen staunte, �ber ihre F�higkeit, sich nicht unterkriegen zu lassen, witzelte sie blo�: �Unkraut vergeht nicht.�
Onkel Max
Da meine Mutter mit ihrem dunklen, welligen Haar, den braunen Augen und immer rosigen Wangen eine �beraus gut aussehende Frau war, konnte sie sich vor M�nnern kaum retten. Ich war daran gew�hnt, dass sie sie umschwirrten wie Motten das Licht, und es schmeichelte mir, wenn sie �deine h�bsche Mutter� sagten. Hin und wieder hatte ein Mann das Gl�ck, Sonntagnachmittags zu Kaffee und Kuchen eingeladen zu werden, aber wenn er nicht meine uneingeschr�nkte Zustimmung fand, erhielt er keine zweite Chance. Dann trat Max Walz in unser Leben, ein geschiedener Mann, der zehn Jahre �lter als meine Mutter war und in der K�che des Krankenhauses arbeitete. Von dem Moment an, als sie �Onkel Max� zum ersten Mal mit zu uns nach Hause brachte und mich, ich war damals ungef�hr f�nf Jahre alt, ihm vorstellte, schloss ich diesen freundlichen Riesen mit dem braunen gewellten Haar und den kr�ftigen, feinnervigen H�nden, die offenbar alles konnten, sogleich ins Herz. Onkel Max war ein Multitalent. Er spielte Bandoneon, Laute und Gitarre. Au�erdem konnte er malen und Portr�ts zeichnen wie ein richtiger K�nstler, und das Tollste war, dass er ein Motorrad hatte, auf dem er mit mir und meiner Mutter an langen Wochenenden ins Gr�ne fuhr. Abends machte er Musik, las uns etwas vor oder brachte mir zeichnen oder Modellflugzeuge bauen bei. Eines Tages verk�ndete Onkel Max, dass er mit Hilfe seines Bruders, eines Zimmermanns, ein zehn Meter langes Segelboot bauen wolle. Und so kam es, dass meine Mutter und ich, die wir es inzwischen ganz selbstverst�ndlich fanden, dass
es nichts gab, was Onkel Max nicht konnte, an vielen Wochenenden zuschauten, wie er seinen Traum Planke f�r Planke verwirklichte. Nach etwa einem Jahr Arbeit war es so weit: Wir halfen, das schlanke Boot, das er nach seinem Bruder auf den Namen Kuddel (plattdeutsch f�r Karl) getauft hatte, zu Wasser zu lassen. Dann ging es auf Jungfernfahrt, und wir sahen zu, wie Onkel Max sein Boot gekonnt die Alster rauf und runter steuerte. Von da an gingen wir praktisch jeden Sommertag segeln und am�sierten uns anschlie�end in geselliger Runde mit Segelfreunden im Alster-Jachtklub, in dem Onkel Max Mitglied geworden war. F�r mich waren Onkel Max und meine Mutter das ideale Paar, und ich freute mich schon auf den Tag, an dem die beiden heiraten und Onkel Max mein Vater werden w�rde. Aber das sollte nicht sein. Nie im Leben w�re ich auf den Gedanken gekommen, dass ich der Grund war, warum es f�r Onkel Max absolut nicht in Frage kam, meine Mutter zu heiraten. Ich wusste zwar, dass Onkel Max, obgleich kein Mitglied der NSDAP, gro�e St�cke auf Hitler hielt und sozusagen alles guthie�, was die Nazis taten. Ich fand das auch ganz in Ordnung, denn schlie�lich war ich in meiner kindlichen Unwissenheit genauso unkritisch wie er. Meine Mutter, die Onkel Max' Begeisterung f�r Hitler kannte, vermied es stets, mit ihm �ber Politik zu diskutieren, bis auf eine Ausnahme, als sie ihm nach einer der wie �blich manipulierten Wahlen erz�hlte, dass sie nicht f�r Hitler gestimmt hatte. �Soll das hei�en, dass du deine Stimme nicht dem Mann gegeben hast, der mehr f�r Deutschland getan hat als jeder andere�, rief er ungl�ubig und mit einer aufgebrachten Stimme, wie ich
sie noch nie bei ihm geh�rt hatte. �Das Einzige, was dein Hitler je f�r mich getan hat, ist, dass ich entlassen worden bin�, konterte meine Mutter, genauso aufgebracht. Dieser kurze Wortwechsel war der Anfang vom Ende. Je gr��er Hitlers Schatten wurde, desto mehr zog Onkel Max sich aus unserem Leben zur�ck, bis er uns schlie�lich nicht mehr mit zum Segeln nahm und sich auch sonst nicht mehr mit uns in der �ffentlichkeit zeigte. Irgendwann reichte es meiner Mutter. Eines Abends, als ich schon im Bett lag, wurde ich von ihrer w�tenden Stimme geweckt, die aus dem Wohnzimmer drang. �Ich wei�, was dein Problem ist�, schrie sie. �Du sch�mst dich, mit uns gesehen zu werden, wenn deine Nazikumpanen in der N�he sind. Na sch�n, du brauchst dich in Zukunft nicht mehr zu sch�men. Ich will, dass du verschwindest und dich nie wieder hier blicken l�sst!� Ich sah Onkel Max nie wieder. Der Verlust meines Helden - des Mannes, der mir eine Ahnung davon vermittelt hatte, wie es sein k�nnte, einen Vater zu haben - hinterlie� nicht nur eine schmerzhafte L�cke in mir, sondern auch das Gef�hl, verraten worden zu sein. Ich brauchte Jahre, um dar�ber hinwegzukommen. Dass er uns verlassen hatte, war schon schlimm genug, aber noch schlimmer war der Grund daf�r. Sosehr meine Mutter auch versuchte, mich davon zu �berzeugen, dass mich keine Schuld traf, tief in meinem Herzen wusste ich, dass der Mann, den ich wie einen Vater liebte und von dem ich geglaubt hatte, dass er mich wie einen Sohn liebte, dass dieser Mann uns verlassen hatte, weil er nicht mehr mit mir gesehen werden wollte.
Schuld und S�hne
Auf Grund der ehernen und glasklaren Erziehungsvorstellungen meiner Mutter blieb mir gar nichts anderes �brig, als wenigstens halbwegs wohlerzogen heranzuwachsen. Da sie selbst in einer kinderreichen Familie von einer schwer arbeitenden und strengen Matriarchin aufgezogen worden war, duldete sie keinerlei Ungezogenheiten und hatte nie Schwierigkeiten, klar und deutlich Nein zu sagen und auch dabei zu bleiben, wenn sie es f�r notwendig hielt. Manchmal waren ihre Methoden, mir Werte einzuimpfen und mir f�r alle Zeit einzupr�gen, dass sich Unehrlichkeit nicht auszahlt, ebenso ausgefallen wie effektiv. Ich begriff schnell, dass die M�hlen ihrer Justiz flink und unerbittlich mahlten. An einen Vorfall erinnere ich mich noch besonders lebhaft. Ich war ein kleiner Knirps von etwa f�nf Jahren. Wir besuchten eine Krankenschwesterkollegin meiner Mutter, deren Sohn Kurt etwa in meinem Alter war. W�hrend unsere M�tter sich unterhielten, spielten wir in einer Ecke mit Kurts Spielzeugsoldaten, bis es Zeit f�r uns war, nach Hause zu gehen. Wir waren schon etwa f�nf Minuten unterwegs, als meine Mutter bemerkte, dass eine meiner Hosentaschen ausgebeult war. �Was hast du da in der Tasche?�, wollte sie wissen. �Nichts�, erwiderte ich nicht sehr �berzeugend. �Lass mal sehen�, sagte sie und griff in meine Tasche. �Das nennst du nichts?�, fragte sie, w�hrend sie einen Spielzeugsoldaten hochhielt. �Wie kommt der in deine Tasche?� �Ich wei� nicht�, erwiderte ich kleinlaut.
�Du bist ein Dieb, und ich werde daf�r sorgen, dass du dahin kommst, wo Diebe hingeh�ren - ins Gef�ngnis. Aber erst gehen wir zur�ck, und du entschuldigst dich bei Kurt. � Zutiefst besch�mt, als Dieb und L�gner entlarvt worden zu sein, folgte ich meiner Mutter zur�ck zur Wohnung ihrer Freundin, gab Kurt den Soldaten zur�ck und entschuldigte mich verlegen. Aber das Schlimmste sollte noch kommen. Als wir wieder auf der Stra�e waren, marschierte meine Mutter mit mir schnurstracks auf die n�chste Polizeiwache. �Herr Wachtmeister, was sollen wir mit diesem Jungen machen? Er hat seinem Freund einen Spielzeugsoldaten gestohlen. � Der Wachtmeister bedachte mich mit einem langen, drohenden Blick, bei dem es mir eiskalt den R�cken runterlief. �Ich w�rde vorschlagen, wir sperren ihn zu den anderen Gaunern�, sagte er schlie�lich. Inzwischen war ich so in Panik, dass ich laut losheulte und den Polizisten und meine Mutter bat, mich zu verschonen. Daf�r versprach ich, nie wieder zu stehlen. �Ich mache Ihnen einen Vorschlag, werte Dame�, sagte der Wachtmeister, �geben wir ihm noch eine Chance, aber wenn Sie ihn wieder beim Stehlen erwischen, sagen Sie mir Bescheid, und ich lasse ihn postwendend verhaften.� Mit einem mir unverst�ndlichen Augenzwinkern in Richtung meiner Mutter wandte er sich mir zu und erkl�rte, dass ich dieses Mal noch Gl�ck gehabt h�tte. Die Tortur, die sich meine Mutter f�r mich ausgedacht hatte, hat sich so tief in mein Ged�chtnis eingebrannt, als w�re das alles erst gestern passiert. Ich wei� nicht, ob unsere Stippvisite auf der Wache dazu beigetragen hat, dass ich nie wieder mit dem Gedanken
gespielt habe, etwas an mich zu nehmen, was mir nicht geh�rt, aber Tatsache ist, dass ich meiner Mutter keinen Anlass mehr gab, auf den Vorschlag des Wachtmeisters zur�ckzukommen. Zu sagen, dass meine Mutter mich �ber alles liebte, w�re glatt untertrieben. Sie erf�llte mir jeden angemessenen Wunsch, wenn es in ihrer Macht stand, h�ufig unter gro�en pers�nlichen Opfern. Doch ihre Gro�z�gigkeit war nicht bedingungslos und meist mit einem Opfer meinerseits verbunden. Sie verlangte daf�r absoluten Gehorsam - den sie auch meistens bekam -, jede Menge �Bittesch�ns� und �Dankesch�ns� und keinerlei Klagen von Lehrern oder Nachbarn. Aber Kinder sind nun mal Kinder, und so stellte ich hin und wieder eben auch mal Unfug an, was sie wie Tante M�ller damit ahndete, dass sie mir irgendwelche Verg�nstigungen entzog. Nur zweimal griff sie auf die f�r mich damals grausamste Strafe �berhaupt zur�ck - sie versohlte mir den Hintern. Das erste Mal ist mir noch besonders deutlich in Erinnerung geblieben. Ich war etwa acht Jahre alt. Ein kleiner Zirkus kam in unsere Nachbarschaft. Als wir Kinder bei den Aufbauarbeiten zuschauten, fragte einer der Clowns uns, ob wir nicht Lust h�tten mitzuhelfen. Zur Belohnung d�rften wir umsonst in die erste Vorstellung um acht Uhr abends. Nat�rlich erkl�rten sich einige Jungs, darunter auch ich, sofort bereit, und so schleppten wir den ganzen Nachmittag Zuschauerb�nke, harkten S�gesp�ne und brachten den paar Tieren Wasser. Kaum waren wir mit der Arbeit fertig, da str�mten auch schon die Zuschauer herbei, und die Vorstellung begann. Inzwischen war es dunkel geworden, und mein schlechtes Gewissen meldete sich, weil meine Mutter nicht wusste, wo ich
war. Doch schon bald war ich so fasziniert von den Zirkusnummern, die ich mir von meinem kostenlosen Manegenplatz aus ansehen durfte, dass ich alles andere verga�.
Nach der Vorstellung hie� es, wenn wir Jungs beim Harken der Manege helfen w�rden, d�rften wir uns auch noch die Sp�tvorstellung ansehen. Da ich mir ohnehin schon den gr��ten �rger eingehandelt hatte, dachte ich, ich k�nnte genauso gut noch ein �bisschen� l�nger bleiben. Doch je sp�ter es wurde, desto weniger konnte ich die Vorstellung genie�en. Als ich schlie�lich durch die verlassenen Stra�en nach Hause ging und h�rte, wie die Kirchenglocke Mitternacht schlug, erfasste mich blankes Entsetzen. Mit jedem Schritt, der mich n�her nach Hause brachte, wurde meine Panik gr��er. Als ich auf Zehenspitzen die knarrende Treppe zu unserer Wohnung hochging, war ich in Schwei� gebadet. Noch nie war ich nach Einbruch der Dunkelheit drau�en geblieben, ohne meiner Mutter vorher Bescheid zu geben, wo ich war. Was w�rde sie sagen, wenn ich so sp�t nach Hause kam? Ich musste nicht lange warten, bis mir diese Frage beantwortet wurde. Ehe ich an die T�r klopfen konnte, wurde sie schon aufgerissen. Meine Mutter stand vor mir wie ein Racheengel und wollte wissen, wo ich gewesen war. Ich hatte gerade angesetzt, ihr von meiner �Arbeit� beim Zirkus zu erz�hlen, als sie mich wie ein H�ndchen im Genick packte, in die Wohnung zerrte und, nachdem sie die T�r geschlossen hatte, mit einem Kleiderb�gel auf meinen Allerwertesten eindrosch, und das mit einer Ausdauer, die einem Schmied an seinem Amboss alle Ehre gemacht h�tte. W�hrend sie mir die Tracht Pr�gel
verpasste, schilderte meine Mutter mir, wie sie stundenlang unvorstellbare Angst gehabt habe, weil sie nicht wusste, ob ich tot oder noch am Leben war. Bevor sie von mir ablie�, musste ich ihr versprechen, so etwas nie wieder zu tun.
Schmalhans ist K�chenmeister
Meine Mutter, die selbst erlebt hatte, wie ihre Mutter ganz allein neun Kinder gro�zog (zwei weitere starben im S�uglingsalter), empfand unsere wirtschaftliche Situation nie als besonders hart oder betrachtete uns nie als arme Leute. Indem sie mit ihrem geringen Einkommen besonnen Haus hielt und noch dazu ein gutes Auge f�r Schn�ppchen hatte, konnte sie uns mit allen lebensnotwendigen Dingen versorgen. Wir waren anst�ndig gekleidet, hatten nahrhaftes Essen und g�nnten uns ab und zu den Luxus, ins Kino zu gehen. Wie die meisten deutschen Frauen ihrer Generation hasste meine Mutter nichts mehr, als Schulden zu machen, denn sie war �berzeugt, dass das Sprichwort �Borgen macht Sorgen� seine Richtigkeit hatte. Folglich kaufte sie niemals irgendetwas auf Kredit, sondern h�chstens gegen Anzahlung. Alle gr��eren Anschaffungen f�r den Haushalt machte sie mit dieser Zahlungsmethode, so unter anderem eine fu�betriebene Singer-N�hmaschine ihr ganzer Stolz -, die sich in einen h�bschen Holztisch verwandeln lie�, wenn sie nicht gebraucht wurde. Es erf�llte meine Mutter mit gr��ter Zufriedenheit und Stolz, dass es nichts in unserer Wohnung gab, das noch nicht bezahlt war. Um meiner Mutter beim Wirtschaften zu helfen und unser knappes Budget ein wenig zu entlasten, machte ich ihr eines Tages den Vorschlag, dass sie das Geld sparen k�nne, das sie Tante M�ller f�r meine Betreuung nach der Schule zahlte. Zun�chst wollte sie nichts davon h�ren, doch schlie�lich konnte ich sie davon �berzeugen, dass ich mit acht Jahren alt genug sei, auf mich allein
aufzupassen. Also reihte ich mich in die Riege der Tausenden von so genannten Schl�sselkindern ein.
Ich bekam einen eigenen Wohnungsschl�ssel, machte mir nach der Schule allein das Essen warm, das meine Mutter am Abend zuvor gekocht hatte, a� allein, machte allein meine Hausaufgaben und ging anschlie�end auf die Stra�e zum Spielen. Diese neue Vereinbarung machte mir nicht etwa Probleme, sondern ich genoss sie, verlieh sie mir doch ein neues Gef�hl von Selbst�ndigkeit und Verantwortung. Meine Mutter lehrte mich durch ihr eigenes Beispiel, mich bei der Erf�llung meiner W�nsche in Geduld zu �ben. Mein gr��ter Wunsch damals war ein eigenes Fahrrad. Eines Tages �berraschte sie mich mit der Neuigkeit, dass sie ein gebrauchtes, aber tadellos gepflegtes Fahrrad angezahlt habe, das ich einmal im Schaufenster eines Fahrradgesch�fts in der Stadt sehns�chtig bestaunt hatte. Jedes Mal, wenn sie die w�chentlichen Zahlungen t�tigte, durfte ich mitkommen und hatte Gelegenheit, das Fahrrad, das eines Tages mir geh�ren w�rde, anzusehen und anzufassen. Da ich bereits auf den Fahrr�dern meiner Freunde fahren gelernt hatte, war ich mehr als bereit f�r den gro�en Tag. Mit jedem weiteren Besuch im Fahrradladen wurde meine Geduld mehr auf die Zerrei�probe gestellt, was meiner Vorfreude jedoch keinen Abbruch tat. Als meine Mutter schlie�lich den Restbetrag tilgte, nahm sie ihr eigenes Fahrrad mit, und wir feierten meine neue Errungenschaft mit einer gemeinsamen Fahrt nach Hause. Ich hatte mir die erste Fahrt auf meinem eigenen Rad unz�hlige Male vorgestellt, aber als es endlich so weit war, wurden meine k�hnsten Tr�ume bei weitem in den Schatten
gestellt. Noch wochenlang hatte ich das Gef�hl, auf Wolken zu schweben, statt auf zwei Ballonreifen zu fahren, und erst nach und nach begriff ich so richtig, dass dieses phantastische Gef�hrt mit dem gl�nzenden Chromlenker, dem lackierten Rahmen und den funkelnden Speichen wirklich mir geh�rte. Der Besitz eines Fahrrades er�ffnete mir eine vollkommen neue Welt. W�hrend mein Bewegungsradius zuvor in erster Linie auf meine unmittelbare Umgebung beschr�nkt gewesen war, abgesehen von gelegentlichen Fahrten mit der Stra�enbahn in die Innenstadt, hatte ich pl�tzlich ein Verkehrsmittel, mit dem ich in jeden Teil der Stadt und �ber ihre Grenzen hinaus fahren konnte. Und so machte ich mich jeden Tag nach Erledigung der Hausaufgaben mit einem oder mehreren befreundeten Fahrradbesitzern auf, die Stadt zu erkunden. Eins unserer liebsten Ziele war der Stadtpark mit seinem riesigen Wasserturm, in dem auch Hamburgs ber�hmtes Planetarium untergebracht ist. Dort gab es ein gro�es Schwimmbad und endlose Fahrradwege. Auf unseren Fahrten quer durch die ganze Stadt besuchten wir die gerade fertig gestellte Hanseatenhalle, Hamburgs gewaltiges �berdachtes Sportstadion. Es war kurz zuvor mit einem Sieg durch technischen K.o. unseres viel bewunderten Schwergewichtsboxers Max Schmeling �ber den Amerikaner Steve Hamas eingeweiht worden. Ein denkw�rdiges Erlebnis auf unseren Ausfl�gen war es immer, durch den Elbtunnel zu fahren, der Hamburg mit den gro�en Werften und Hafenanlagen s�dlich der Elbe verbindet und dessen zwei unter der Elbe liegende R�hren nur per Aufzug oder durch scheinbar endlose Treppen zu erreichen waren. Wenn das Wetter es erlaubte, radelten
meine Mutter und ich sonntags zu einem der malerischen Waldd�rfer in der Umgebung von Hamburg, suchten uns eine gem�tliche Lichtung im Wald, wo wir ein Picknick machten und nach Herzenslust lasen. Eines Tages bekam ich zuf�llig mit, wie meine Mutter einer Freundin erz�hlte, dass sie seit einiger Zeit einmal im Monat gegen Geld Blut spendete und dass sie so ein paar von unseren Luxusanschaffungen hatte bezahlen k�nnen, auch mein Fahrrad. Zun�chst war ich erschrocken, dass meine Mutter mein Fahrrad praktisch mit ihrem Blut bezahlt hatte, aber als ich sie darauf ansprach, beruhigte sie mich, dass ich mir deswegen keine Sorgen machen m�sste, dass es eine sichere Angelegenheit sei und dass ihr K�rper das fehlende Blut im Nu ersetzen w�rde. Dank der Blutspenden, so erfuhr ich weiter, habe sie auch ein paar Spargroschen beiseite gelegt, die wir sicherlich eines Tages gut gebrauchen k�nnten. Ich wollte mich zwar noch immer nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass sie regelm��ig ihr Blut abgab, doch sie lie� sich nicht davon abbringen. Damit ich selbst lernte, mit eigenem Geld umzugehen, er�ffnete meine Mutter ein Sparkonto auf meinen Namen. Sie erkl�rte mir, was es mit den Zinsen auf sich hatte, dass sich Geld auf einem Sparkonto vermehrte, wenn man es nicht anr�hrte. Fortan sparte ich so emsig, wie ein Eichh�rnchen N�sse sammelt, jeden Pfennig, den ich mit Boteng�ngen verdiente. Sobald ich ein paar Mark beisammenhatte, zahlte meine Mutter das Geld auf mein Sparkonto ein. Meine gr��te Freude war es, dass mein kleiner Schatz tats�chlich wuchs. Mitunter nahmen die Methoden, mit denen meine Mutter aus mir einen gesetzestreuen B�rger machen wollte, unerwartete Formen an, so zum Beispiel, als ich mit
etwa zehn Jahren beschloss, dass es an der Zeit sei, Erfahrungen mit dem Rauchen zu machen. Ich weihte meine beiden treuesten Freunde Karl Morell und Fiffi Peters in meine Pl�ne ein, und sie waren sofort Feuer und Flamme f�r dieses neue, absolut verbotene Abenteuer. Wir wussten, dass wir �u�erste Geheimhaltung wahren mussten, um nicht schlimmste Konsequenzen heraufzubeschw�ren. Nachdem wir unsere mageren Geldreserven zusammengelegt hatten, gingen wir in ein Tabakgesch�ft, um alles Notwendige f�r die Verwirklichung unseres tollk�hnen Planes zu erstehen. Wir entschieden uns f�r eine billige, langstielige Pfeife, deren Kopf wie ein Totensch�del mit roten Augen geformt war, was unserem verschw�rerischen Unterfangen eine passend d�stere Note verlieh. Au�erdem kauften wir eine Packung von dem billigsten Pfeifentabak, den es gab, und erkl�rten dem Verk�ufer - der sich bestimmt nichts vormachen lie� -, dass ein Onkel uns geschickt habe. Da die M�tter meiner Freunde Hausfrauen waren, lag es auf der Hand, dass wir nur bei mir zu Hause ungest�rt sein w�rden. Eines Tages gingen wir nach der Schule zu mir, wo wir mit klopfendem Herzen die Pfeife stopften, sie anz�ndeten und abwechselnd daran pafften und gro�e Rauchwolken in die Luft bliesen, bis das Wohnzimmer in blauen Dunst geh�llt war. Ich wei� noch, dass uns der Rauch zwar nicht umhaute, aber dass uns spei�bel davon wurde. Nichtsdestotrotz verbuchten wir unsere Geheimmission als vollen Erfolg und beschlossen, sie noch h�ufiger zu wiederholen. Ich hatte jedoch nicht erwartet, dass meine Mutter uns einen Strich durch die Rechnung machen w�rde. Kaum kam sie von der Arbeit,
als sie, �berzeugte Nichtraucherin, auch schon den Rauch roch. Wir hatten offensichtlich nicht gr�ndlich genug gel�ftet. Doch statt nach ihrem Kleiderb�gel zu greifen, wie ich erwartet hatte, sprach meine Mutter in aller Ruhe mit mir und machte ganz sachlich den Vorschlag, dass ich, wenn ich das n�chste Mal rauchen wolle, es nicht hinter ihrem R�cken tun m�sse. �Wenn du rauchen m�chtest�, sagte sie, �dann tu's einfach. Aber pass auf, dass du nicht die Wohnung in Brand steckst.� Allein der Gedanke, mit Zustimmung meiner Mutter zu rauchen, war mir zutiefst zuwider. Was hatte es denn f�r einen Sinn zu rauchen, wenn niemand dagegen war? Und so verlor das Rauchen f�r mich mit einem Schlag seinen Reiz. Erst zehn Jahre sp�ter, als junger Erwachsener, fand ich erneut Gefallen daran. Offensichtlich hatte die praktische Psychologie meiner Mutter gewirkt.
Kleiderordnung
Da die Naziideologie auf Gleichf�rmigkeit aufbaute, taten wir Kinder unser M�glichstes, den von den Nazis aufgestellten Normen zu entsprechen. Das galt besonders f�r unsere Kleidung. Wir jungen trugen in der Schule fast ausnahmslos schwarze, kurze Hosen - je k�rzer, desto besser - mit einem breiten, milit�risch anmutenden Lederg�rtel und grauen Kniestr�mpfen, wie sie auch f�r die Jungvolk-Uniform vorgeschrieben waren. Meine Mutter machte das mit, bis sie mir an einem k�hlen Herbsttag mitteilte, dass es f�r mich zu kalt sei, mit nackten Knien herumzulaufen, und dass ich fortan, bis zum Fr�hling, wenn es w�rmer w�rde, lange Wollstr�mpfe tragen sollte, die bis �ber die Knie gingen und von denen sie mehrere Paar gestrickt hatte. Ihre Worte trafen mich wie ein Todesurteil, denn ich wusste, dass ich meinen Klassenkameraden nie und nimmer mit so langen Wollstr�mpfen unter die Augen treten konnte. Doch alles Flehen und Betteln n�tzte genauso wenig wie meine Erkl�rung, dass niemand - aber auch wirklich niemand - sich in der Schule mit solchen Str�mpfen blicken lie�, egal, wie kalt es drau�en war. Meine Mutter blieb eisern. �Es interessiert mich nicht, was andere jungen tragen. Ich bin f�r deine Gesundheit verantwortlich, und ich lasse nicht zu, dass du halb nackt durch die K�lte l�ufst und dir eine Lungenentz�ndung einf�ngst und stirbst�, sagte sie, und damit war das Thema beendet. Damit ihre Anweisungen auch auf jeden Fall befolgt wurden, instruierte sie Tante M�ller, daf�r zu sorgen, dass ich die Str�mpfe anzog. Am n�chsten Morgen zog ich schweren Herzens die verhassten
Str�mpfe an. Aber ich hatte mir bereits einen Plan zurechtgelegt, der mir, wie ich hoffte, die gef�rchtete Peinlichkeit ersparen w�rde. Sobald ich aus Tante M�llers Sichtweite war, ging ich in einen Hauseingang und rollte die Str�mpfe bis unter die Knie. Doch da die Wolle sehr dick war, bildeten sich zwei W�lste, die jedem gleich ins Auge springen mussten. Mir war klar, dass das nicht gerade die perfekte L�sung war, aber unter den gegebenen Umst�nden die beste. Im Nachhinein betrachtet, h�tte ich mir keine M�he machen sollen, denn sobald ich die Klasse betrat, wurde ich von einer gr�lenden Meute Mitsch�ler umringt, die sich vor Lachen bogen und riefen: �Seht euch die Rettungsringe an�, womit sie die beiden W�lste unter meinen Knien meinten. Erst als ich mit den F�usten drohte, legte sich das Gebr�ll, doch bis zum Ende des Schultages musste ich mir immer wieder unverhohlenes Gekicher gefallen lassen. Da ich davon ausgehen konnte, dass meine Mutter sich auf keine weitere Diskussion �ber das Thema Str�mpfe einlassen w�rde, heckte ich einen anderen Plan aus, um mich ein f�r alle Mal aus meiner misslichen Lage zu befreien. Diesmal mit Erfolg. Jeden Morgen dr�ckte ich mich auf dem Weg zur Schule in einen Hauseingang, zog meine Str�mpfe aus und ein Paar gekaufte, kniefreie Str�mpfe an. Nach der Schule, auf dem Nachhauseweg, machte ich es umgekehrt. Es behagte mir keineswegs, meine Mutter so zu hintergehen, zumal sie mich schon mehrmals gefragt hatte, ob ich nicht froh �ber ihre �warmen Str�mpfe� sei, aber das st�ndige Hohngel�chter meiner Mitsch�ler h�tte ich auf keinen Fall ertragen.
Spieglein, Spieglein an der Wand
Erst als ich ins Teenageralter kam, erkannte ich allm�hlich die Wahrheit �ber Hitler und seine Handlanger. Bis dahin gab ich mir die Schuld an den Problemen, mit denen ich zu k�mpfen hatte. Vor allem haderte ich mit meinem Aussehen, besonders mit meinem afrikanisch krausen Haar, das ich mittlerweile regelrecht hasste. Obwohl ich mir geschworen hatte, mich weder von Wriede noch einem anderen Lehrer unterkriegen zu lassen, forderte der psychologische Krieg, der gegen mich gef�hrt wurde, seinen Tribut. Meine Selbstachtung war an einem be�ngstigenden Tiefpunkt angelangt. Nachdem ein M�dchen beim Spielen zu mir gesagt hatte, ich s�he mit M�tze besser aus, eilte ich nach Hause und tat etwas, das ich geraume Zeit tunlichst vermieden hatte: Ich warf einen langen pr�fenden Blick in den Spiegel. Das, was ich da sah, gefiel mir, gelinde gesagt, �berhaupt nicht. Der Junge, der mich aus dem Spiegel ansah, so befand ich mit brutaler Objektivit�t, war ausgesprochen h�sslich. Seine Nase war viel k�rzer und breiter als bei �normalen� Jungs, und seine Haut sah zwar glatter aus, war aber viel zu dunkel, um noch als sonnengebr�unt durchzugehen. Am allerschlimmsten fand ich mein Haar, das einfach nicht zu b�ndigen war. Nach einigem Herumexperimentieren mit der M�tze kam ich zu dem Schluss, dass das M�dchen Recht hatte: Wenn meine Haare bedeckt waren, wirkte ich l�ngst nicht mehr so afrikanisch, was, wie ich meinte, mein Aussehen erheblich verbesserte. Da ich �berzeugt war, dass ich mit glattem Haar nur noch halb so viele Probleme h�tte, war ich ganz aus dem
H�uschen, als ich in einem meiner Abenteuerb�cher las, dass die Angeh�rigen eines afrikanischen Stammes ihr Haar gl�tteten, indem sie es in einen Sud tauchten, der aus einer zucker�hnlichen, in hei�em Wasser aufgel�sten Substanz bestand. Also leerte ich eines Tages nach der Schule die Zuckerdose meiner Mutter in einen kleinen Topf mit Wasser. Dann brachte ich die Mischung unter st�ndigem R�hren auf dem Herd zum Kochen. Nachdem die sirupartige Masse etwas abgek�hlt war, massierte ich sie mir wie Shampoo ins Haar und wartete dann ungeduldig auf die gro�e Verwandlung. W�hrenddessen malte ich mir ein neues Leben mit glatten Haaren aus. Kurz zuvor hatte ich den Film Elefanten-Boy im Kino gesehen, und nun stellte ich mir vor, dass ich in Zukunft etwa so aussehen w�rde wie Sabu, der attraktive junge Inder, der zum Liebling der deutschen Kinobesucher geworden war. Mein neues, glattes Haar wollte ich auf jeden Fall l�nger tragen, aber nicht so lang wie Sabu. W�hrend ich so vor mich hin tr�umte, fuhr ich mir immer wieder mit den Fingern durchs Haar, um zu pr�fen, ob sich auf meinem Kopf schon was tat. Und ob sich was tat. Je k�lter die Mischung wurde, desto klebriger und pappiger wurde mein Haar, bis es schlie�lich nur noch eine einzige undurchdringliche, eklige Masse war. Ich wartete noch eine Stunde ab, ob sich das Ergebnis verbesserte, bevor ich mich schlie�lich zu der Erkenntnis durchrang, dass das Experiment ein totaler Flop war. Zum Gl�ck musste ich mir die Haare nur einige Male mit warmem Wasser aussp�len, um ihren urspr�nglichen krausen Zustand wiederherzustellen. Zun�chst beschloss ich, meiner Mutter nichts von dem �Zwischenfall� zu erz�hlen, doch als sie nach Hause kam und wissen
wollte, wieso mein Haar nass und die Zuckerdose leer war, gestand ich alles. Sie war mir nicht b�se wegen des Zuckers, sondern sagte nur, wie leid es ihr t�te, dass ich mein Haar nicht mochte. �Ob du's glaubst oder nicht, aber du hast sch�ne Haare�, versuchte sie, mich aufzumuntern. �Du hast gut reden�, erwiderte ich und zeigte auf ihr schimmerndes, welliges dunkelbraunes Haar. �Ich w�rde es dir gerne geben, wenn ich k�nnte�, sagte sie, �aber das geht nun mal nicht. Und deshalb musst du lernen, deine Haare zu lieben. Irgendwann wirst du einsehen, dass ich Recht habe, wenn ich sage, dass du sch�ne Haare hast. � Damals h�tte meine Mutter sagen k�nnen, was sie wollte, ich w�re mit meinen Haaren und meinem Aussehen nicht zufriedener gewesen. Wie denn auch? Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass eine unvoreingenommene Person eine schmeichelhafte Bemerkung �ber mein Aussehen gemacht hatte, wohingegen die letzte abf�llige Bemerkung gerade erst einen Tag alt war. Allerdings gab es zwei Aspekte meiner �u�eren Erscheinung, die mir an mir nicht nur gefielen, sondern auf die ich sogar stolz war, obwohl es sich dabei vermutlich um rassische Merkmale handelte. Der erste war mein athletischer K�rperbau. Ich war zwar nur mittelgro�, aber ich hatte einen wohl proportionierten K�rper mit muskul�sen Armen und Beinen. Der andere waren meine Z�hne, f�r die ich viel Lob erntete, besonders bei der j�hrlichen zahn�rztlichen Untersuchung in der Schule. Der Zahnarzt forderte jedes Mal die gesamte Klasse einschlie�lich des Lehrers auf, sich hintereinander aufzustellen und einen Blick in meinen Mund zu werfen, damit sie mal sehen konnten, wie
�absolut perfekte Z�hne� aussahen. F�r mich war diese Prozession an meinem offenen Mund vorbei immer ein gro�er Triumph. Doch nichts w�hrt ewig, und eines Tages entdeckte der Zahnarzt zu meiner gro�en Entt�uschung zwei L�cher in einem Backenzahn, womit mein Anspruch darauf, �absolut perfekte Z�hne� zu haben, ein j�hes Ende fand.
Ich hatt' einen Kameraden
Zu den Klassenkameraden, die ich am wenigsten mochte, z�hlte unser Klassenclown Egon Faber, der Sohn eines Nazifunktion�rs. Der Grund f�r meine Abneigung gegen Egon war jedoch nicht die Besch�ftigung seines Vaters, sondern einfach der, dass er mir mit seinem st�ndigen Bed�rfnis, sich in den Mittelpunkt zu spielen, entsetzlich auf die Nerven ging. Soweit m�glich, mied ich Egon wie die Pest, und da die Antipathie anscheinend auf Gegenseitigkeit beruhte, ging er mir ebenfalls aus dem Weg, bis er eines Tages im wahrsten Sinne des Wortes einen Zusammensto� mit mir hatte, der sich auf mein ganzes Leben auswirken sollte. Wir waren zehn Jahre alt, in der f�nften Klasse und hatten uns wie immer am Ende der Pause in einer Reihe aufgestellt, um zur�ck in das Klassenzimmer zu marschieren. Egon stand unmittelbar vor mir und kitzelte den jungen vor sich. Als der junge pl�tzlich herumwirbelte, um seinen Peiniger zu schlagen, fuhr Egon zur�ck, so dass sein harter Sch�del mit voller Wucht auf mein linkes Auge krachte, das sofort zuschwoll. Ich tobte vor Wut und Schmerz und wollte es Egon sofort heimzahlen, wurde aber durch den gestrengen Blick eines Lehrers daran gehindert. Also konnte ich Egon, der den angerichteten Schaden gar nicht mitbekommen hatte, nur drohend zuzischen: �Das kriegst du wieder.� Mein Zorn auf Egon wuchs im weiteren Verlauf des Schultages ins Unermessliche, denn mein Auge nahm eine auff�llige F�rbung an irgendwas zwischen lila und schwarz -, was alle Welt au�er mir zu erheitern schien. Ich war fest entschlossen, am n�chsten Tag ein H�hnchen mit Egon zu rupfen. Als
ich am Morgen darauf in die Klasse kam, war ich bereit, die Angelegenheit so bald wie m�glich mit den F�usten zu kl�ren, doch von Egon war nichts zu sehen. W�hrend Herr Grimmelshauser die Anwesenheitsliste durchging, �ffnete sich die T�r, und ein �lterer Sch�ler kam herein. Er sprach leise mit Herrn Grimmelshauser, der pl�tzlich sichtlich ersch�ttert aufsprang. Nachdem er die Fassung wiedergefunden hatte, wandte er sich an die Klasse: �Jungs, ich muss euch etwas Trauriges mitteilen. Euer Klassenkamerad Egon Faber ist tot. Er hat sich gestern nach der Schule beim Hantieren mit einer Waffe erschossen.� Anschlie�end schickte Herr Grimmelshauser uns f�r den Rest des Tages nach Hause. Als ich die Bedeutung der Worte unseres Lehrers so richtig erfasst hatte, l�sten sie bei mir eine ganz besondere Art von Betroffenheit aus. Ich war mir pl�tzlich sicher, dass ich, auch wenn ich nicht selbst abgedr�ckt hatte, doch irgendwie f�r Egons Tod verantwortlich war, weil ich nach dem Zwischenfall am Vortag einen derart blinden Hass auf ihn empfunden hatte. Ich h�tte ihm gern gesagt, dass er kein schlechtes Gewissen wegen meines �Veilchens� zu haben brauchte, dass er es ja nicht absichtlich getan hatte und dass die Sache vergeben und vergessen sei. Die Erkenntnis, dass ich nie mehr Gelegenheit dazu haben w�rde, l�ste meine lang gehegte Abneigung gegen Egon in nichts auf, und ich versp�rte das �berw�ltigende Verlangen, ihn wie einen guten Freund zu betrauern. Allm�hlich sickerten die n�heren Umst�nde von Egons Tod durch. Der t�dliche Schuss war gegen vier Uhr nachmittags im Hausflur des Mietshauses in der Pestalozzistra�e gefallen, in dem Egon mit seinen Eltern wohnte, nur zehn Minuten zu Fu� von unserer Wohnung
entfernt. Offenbar hatte Egon zuf�llig die Dienstpistole seines Vaters in einer Schublade entdeckt und sie heimlich mit nach unten auf die Stra�e genommen. Er rief ein paar von seinen Spielkameraden zusammen und k�ndigte an, dass er ihnen etwas ganz Besonderes vorf�hren wolle. Anscheinend waren ihm sechs neugierige Kinder in den Hausflur gefolgt, wo er einige Minuten lang mit der Waffe herumspielte, �H�nde hoch!� rief, auf einige Kinder zielte und sogar ein paarmal den Abzug bet�tigte. Es passierte jedoch nichts, vermutlich war die Waffe noch gesichert. Mittlerweile hatte Egons Mutter das Fehlen der Waffe bemerkt. Da sie sich denken konnte, dass ihr Sohn dahinter steckte, kam sie die Treppe hinuntergelaufen und rief: �Egon, Egon, gib mir die Pistole! � Egon war zwar bereit, die Waffe zur�ckzugeben - aber nicht, ohne einen letzten Blick in den Lauf zu werfen und gleichzeitig den Abzug zu bet�tigen. Und diesmal hatte er die Waffe wohl unabsichtlich entsichert. Die Kugel drang durch das rechte Auge ins Gehirn, und Egon starb Sekunden sp�ter in den Armen seiner verzweifelten Mutter, unter den entsetzten Blicken von sechs Kindern. Am Tag der Beerdigung wurden wir mit dem Bus zum Friedhof Ohlsdorf gefahren. Wir nahmen Aufstellung neben dem offenen Grab und dem Sarg, der mir viel zu klein vorkam f�r den Leichnam unseres Klassenkameraden. Uns gegen�ber, auf der anderen Seite des Sarges, standen Egons starr dreinblickender Vater, seine haltlos schluchzende Mutter und seine tr�nen�berstr�mte achtj�hrige Schwester. Allein der Gedanke, dass die Waffe, die Egons Leben gefordert hatte, seinem Vater geh�rte, lie� mich schaudern.
Nachdem Herr Grimmelshauser ein paar kurze Worte gesagt und der lutherische Geistliche seine knappe Predigt gehalten hatte, wurde der Sarg ins Grab hinabgelassen, w�hrend wir Sch�ler mit getragener Stimme Ich hatt' einen Kameraden sangen. Etliche Tage nach der Beerdigung hatte ich noch immer ein blaues Auge. Doch es wurde von meinen Klassenkameraden nicht mehr bel�chelt, sondern im Gegenteil mit Ehrfurcht betrachtet, und ich trug es stolz wie eine Auszeichnung. Es hatte eine besondere Bedeutung angenommen, da es die letzte sichtbare Spur von Egons Leben war. Ich w�nschte mir inst�ndig, dass diese Verbindung zu dem Jungen, den wir beerdigt hatten, nie verschwinden w�rde, doch allm�hlich verblasste mein Veilchen, und eines Morgens fiel mir auf, dass es restlos verschwunden war. In diesem Augenblick erkannte ich tieftraurig, dass Egon Faber, der Klassenclown, mein Leben f�r immer verlassen hatte.
Ernst Kr�ger, der Mann f�r alle Lebensfragen
Karl Morell und ich verbrachten unsere Freizeit meist in der alten, ru�igen Schmiede von Eugen Braun auf dem Haferkamp, nur eine Querstra�e von unserer Wohnung entfernt. Meister Braun, ein Mann mit rauer Schale und butterweichem Kern, lie� uns dort herumstreichen, weil sein Sohn, Eugen jr., mit uns befreundet war. Immer wieder beobachteten wir fasziniert, wie Meister Brauns muskelbepackte Arme wei� gl�hende Eisenst�cke zu Hufeisen und anderen n�tzlichen Dingen verarbeiteten. Jeden Tag halfen wir, riesige Brauereipferde in die Schmiede zu f�hren, wo Meister Braun dann rot gl�hende Hufeisen in das Horn der Pferdehufe presste, so dass dichter, bei�ender Rauch den Raum erf�llte. Au�erdem versuchten wir uns n�tzlich zu machen, indem wir den gro�en Blasebalg bet�tigten oder Berge von dampfenden Pferde�pfeln zusammenkehrten. Aber beim Beschlagen der Pferde zu helfen war nicht die einzige Attraktion in der Schmiede. Alles, was wir Kinder aus der Nachbarschaft uns nie getraut h�tten, unsere Lehrer oder Eltern zu fragen, konnten wir von Meister Brauns Lehrling erfahren, einem schlaksigen, sommersprossigen, rothaarigen siebzehnj�hrigen Alleswisser namens Ernst Kr�ger. Von Kr�ger (keiner nannte ihn jemals Ernst) wussten wir nur, dass er in Hammerbrook wohnte, einem Arbeiterviertel s�dlich von Barmbek, das den Ruf hatte, die schlechteste Gegend in ganz Hamburg zu sein. Da Kr�ger niemals seine Eltern erw�hnte, konnten wir Kinder uns nicht vorstellen, dass er �berhaupt welche hatte. Wir hatten ebenfalls keine Ahnung, was er in seiner Freizeit
machte. Dass er auch noch ein Leben au�erhalb der Schmiede f�hrte, schlossen wir lediglich daraus, dass er jeden Abend, nachdem er sich den Ru� von Gesicht und H�nden in einem Holzeimer gewaschen und die Schmiede zugesperrt hatte, auf sein Fahrrad sprang und davonradelte, um am n�chsten Morgen in aller Fr�he wieder zu erscheinen, mindestens zwei Stunden bevor wir zur Schule mussten. Wenn er nicht gerade in der Schmiede zu tun hatte oder Boteng�nge f�r Frau Braun erledigte, nahm Kr�ger sich die Zeit, uns mit seiner scharfsinnigen Analyse aller Ph�nomene des Universums zu beeindrucken. Er erweiterte unseren Horizont und verriet uns alle m�glichen n�tzlichen Dinge, zum Beispiel wie man Giftpfeile herstellt, wie man vor einem w�tenden Krokodil Rei�aus nimmt (in engen Kreisen rennen, weil das Krokodil mit seinem schweren langen Schwanz dann nicht mitkommt) und, falls wir mal in die Verlegenheit k�men, wie man Schrumpfk�pfe macht. Noch interessanter f�r uns Jungs waren seine �beraus anschaulichen Vortr�ge �ber Sexualit�t. So schilderte er uns, angeblich aus eigener Erfahrung, �u�erst plastisch, wie das mit der menschlichen Paarung funktionierte, die, so erkl�rte er, ein entscheidender Schritt bei der Herstellung von Babys sei. Wir waren entsetzt und fasziniert zugleich, glaubten ihm aber kein Wort. Vielleicht wurden ja im unterprivilegierten Hammerbrook auf diese Weise Babys gemacht, r�umte ich ein, aber ich h�tte meine Hand daf�r ins Feuer gelegt, dass es in Barmbek und anderen kulturell h�her stehenden Teilen der Stadt daf�r eine respektablere Methode gab. Schon allein der Gedanke, dass meine Eltern das Unaussprechliche getan hatten, um mich zu erzeugen,
war v�llig ausgeschlossen. Folglich musste es eine andere M�glichkeit geben. Da ich eher gestorben w�re, als meine Mutter zu fragen, musste ich noch zwei Jahre warten, bis endlich einer unserer Lehrer nach endlosen Abschweifungen �ber die Blumen und die Bienen Kr�gers Behauptung best�tigte. Kr�ger tr�umte st�ndig von irgendwelchen Abenteuern, und nichts liebte er mehr als den Krieg - egal, welchen. Er konnte es kaum erwarten, endlich selbst einen zu erleben. Als Mussolinis Truppen im Herbst 1935 in �thiopien einfielen, vertraute Kr�ger uns an, dass er vorhabe, sich nach Afrika durchzuschlagen, um den bedr�ngten �thiopiern zu helfen. Obwohl jedermann wusste, dass Deutschland Mussolini aktiv unterst�tzte, hielt Kr�ger, der immer bekundet hatte, dass ihn die Hitlerjugend nicht interessierte, unverdrossen zum unterlegenen �thiopien. Er hatte vor, den �Eingeborenen� beizubringen, wie sie ihre Speere zur Panzerabwehr nutzen konnten, indem sie sie zwischen R�der und Ketten der Panzer rammten. Auf diese Weise w�rden die Panzer unweigerlich zum Stillstand gebracht, so dass sie mit Panzerabwehrgranaten leicht abzuschie�en w�ren. Kr�ger opferte einen Gro�teil seiner Freizeit (und seiner Arbeitszeit, wenn der Meister nicht da war), um aus uns Jungs S�ldner zu rekrutieren und um Speere, Macheten und andere Waffen zu schmieden, mit denen er seine Kampfeinheit ausr�sten wollte. Einige von meinen Freunden sagten, sie w�rden ihre Eltern fragen, ob sie mit nach �thiopien d�rften, aber ich erkl�rte Kr�ger von Anfang an, dass ich meine Mutter gar nicht erst fragen m�sste, weil sie mir ganz sicher verbieten w�rde, nach Afrika zu gehen. Dennoch durfte ich mit dabei sein, wenn er und seine �Truppen� in den Boberger
Sandd�nen au�erhalb Hamburgs �Man�ver� abhielten und er uns beibrachte, wie man in der W�ste Krieg f�hrte. Am Ende wurde nichts aus Kr�gers Expeditionskorps, weil er nicht genug Freiwillige zusammenbekam. Aber nichts konnte ihn davon abbringen, dass die �thiopier mit seiner Logistik und materiellen Unterst�tzung den Krieg gewonnen h�tten.
Auf der Suche nach �Gl�ubigen�
Nicht lange nach seiner Machtergreifung machte Hitler deutlich, dass die Unverbesserlichen, die sich gegen die NS-Ideologie sperrten, einer alten, dem Untergang geweihten Ordnung angeh�rten. Doch welche politische Haltung die Elterngeneration auch vertrat, er wollte daf�r sorgen, dass die deutschen S�hne und T�chter ihm ihre bedingungslose Hingabe und Treue entgegenbrachten. Deutschlands Jugend, so t�nte er, werde ihm geh�ren. Um das zu erreichen, wurden die Schulen in ganz Deutschland angewiesen, ihre Sch�ler f�r die Hitlerjugend zu begeistern. Unterst�tzt wurden sie dabei durch Goebbels' Propagandaministerium, das am laufenden Band Anschauungsmaterial produzierte Karten, Dias, Filme und Reportagen -, um Jugendliche auf die Seite des Nationalsozialismus zu ziehen. Die K�thnerkampschule mit dem Erznazi Wriede an der Spitze widmete sich energisch der Indoktrinierung ihrer Sch�ler und der Rekrutierung von Nachwuchs f�r das Jungvolk, der HJ-Abteilung f�r Zehn- bis Vierzehnj�hrige, die so genannten �Pimpfe�. Es verging kaum ein Tag, an dem wir nicht daran erinnert wurden, dass das Leben au�erhalb �der Bewegung� f�r einen deutschen Jungen im Grunde nicht lebenswert sei. Wriede verfolgte sein Ziel wie �blich mit gnadenlosem Fanatismus und lie� sich immer wieder neue Strategien einfallen. Eines Tages gab er bekannt, dass die Klasse, die als erste geschlossen dem Jungvolk beitrete, mit einem schulfreien Tag belohnt w�rde. Unser neuer Klassenlehrer, Herr Sch�rmann, entwickelte den Ehrgeiz, diese Lorbeeren f�r unsere Klasse und nat�rlich
auch f�r sich zu ernten. Er wurde zu einem besessenen Werber und versuchte ununterbrochen, uns zum Beitritt ins Jungvolk zu bewegen. Kernst�ck seiner Rekrutierungsbem�hungen war eine gro�e Grafik, die er mit wei�er Kreide auf die Tafel gemalt hatte: ein Rechteck, das in ebenso viele Quadrate unterteilt war, wie es Jungen in unserer Klasse gab. Jeden Morgen erkundigte sich Herr Sch�rmann als Erstes, wer der HJ beigetreten war, und trug dann die entsprechenden Namen in die Grafik ein. Nach und nach gab es mehr Quadrate mit Namen als ohne. Ich verfolgte seine Bem�hungen relativ desinteressiert, da einige meiner Klassenkameraden und Freunde klipp und klar ge�u�ert hatten, dass sie die HJ langweilig fanden und ihr niemals beitreten w�rden, ganz gleich, wie sehr Wriede oder Sch�rmann sich auch ins Zeug legten. Mir war das nur lieb, da auch ich nicht vorhatte, ins Jungvolk zu gehen. Doch allm�hlich gab einer nach dem anderen Sch�rmanns unerbittlichem Dr�ngen nach und trat in die Hitlerjugend ein. Eines Morgens nahm Herr Sch�rmann sich die letzten Z�gerer zur Brust und wollte wissen, warum sie �nicht genug Liebe f�r F�hrer und Vaterland� empfanden. Einige erkl�rten, dass sie nichts gegen F�hrer und Vaterland h�tten, dass sie aber die Aktivit�ten des Jungvolks - zelten, marschieren, Fanfaren blasen und auf altert�mlichen Trommeln herumhauen - ziemlich langweilig f�nden. Andere gaben an, dass ihre Eltern ihnen noch nicht erlaubt h�tten beizutreten, woraufhin Herr Sch�rmann sagte, ihre Eltern sollten zu einem pers�nlichen Gespr�ch mit ihm in die Schule kommen. Als ich an die Reihe kam, �ffnete ich den Mund, um etwas zu sagen, doch Herr Sch�rmann schnitt mir das Wort ab: �Schon gut; du bist ja sowieso
vom Jungvolk ausgeschlossen.� Ich war wie vom Donner ger�hrt. Ausgeschlossen? Wieso? Ich hatte ihm sagen wollen, dass ich mich noch nicht endg�ltig entschieden hatte. Und jetzt erfuhr ich, dass ich, selbst wenn ich wollte, nicht beitreten durfte. Herr Sch�rmann bemerkte meine Verwirrung und sagte mir, ich solle in der Pause zu ihm kommen. Bis zum Pausenklingeln war ich in einer Art Schockzustand und au�er Stande, dem Unterricht zu folgen. Ich f�hlte mich von meinen Freunden im Stich gelassen, und die Vorstellung, irgendwann der Einzige in der Klasse zu sein, der nicht im Jungvolk war, jagte mir Angst ein. Mit meinen zehn Jahren konnte ich es nicht ertragen, nicht dazuzugeh�ren und wie ein Ausgesto�ener behandelt zu werden. Sch�rmann forderte mich auf, neben seinem Pult Platz zu nehmen. �Ich dachte, du w�sstest, dass du nicht ins Jungvolk darfst, weil du Nicht-Arier bist�, fing er an. �Du wei�t doch, dass dein Vater Afrikaner ist und dass Afrikaner und andere nichteurop�ische Menschen als Nicht-Arier gelten. Nicht-Ariern ist es untersagt, der Hitlerjugend beizutreten.� �Aber ich bin doch Deutscher�, schluchzte ich unter Tr�nen. �Meine Mutter sagt, dass ich Deutscher bin, so wie alle anderen.� �Du bist ein deutscher Junge�, r�umte Herr Sch�rmann mitf�hlend ein, �aber leider nicht wie alle anderen. Es tut mir Leid, mein Junge, ich w�nschte, ich k�nnte dir helfen, aber das geht leider nicht. Die Gesetze sind nun mal so.� Als meine Mutter abends nach Hause kam, erz�hlte ich nicht, was in der Schule passiert war. Stattdessen bat ich sie, mit mir zum n�chsten HJ-Heim zu gehen, das ganz in der N�he lag, damit ich eintreten k�nnte. Meine
Entscheidung kam f�r sie v�llig �berraschend. Aber als sie versuchte, mir die Sache auszureden, und sogar andeutete, dass ich vielleicht nicht aufgenommen w�rde, �berkam mich schiere Verzweiflung. Ich konnte unm�glich der Einzige in meiner Klasse sein, der nicht HJ-Mitglied wurde. �Bitte geh mit mir dahin�, flehte ich. �Vielleicht machen sie ja eine Ausnahme.� Wider besseres Wissen gab meine Mutter schlie�lich nach. Als wir das HJ-Heim erreichten, herrschte dort emsiges Treiben, und paramilit�rische Kommandos ert�nten aus allen Ecken. Durch eine offene T�r sah ich eine Gruppe von Jungen in meinem Alter um einen langen Tisch sitzen. Anscheinend lauschten sie dem Vortrag eines Truppenf�hrers. Sie hatten schicke Uniformen an - schwarze kurze Hose, schwarze Jacke �ber Kakihemd und schwarzes Halstuch -, und die meisten von ihnen trugen, wie ich neidvoll registrierte, den kleinen schwarzen Dolch mit dem rautenf�rmigen Hakenkreuzemblem der HJ. Seit ich ihn das erste Mal in einem Schaufenster gesehen hatte, w�nschte ich mir insgeheim, auch so einen zu besitzen. Selbst die W�rter �Blut und Ehre�, die in die gl�nzende Klinge eingraviert waren, r�hrten mich irgendwie an, obwohl ich ihre Bedeutung gar nicht begriff. Ich w�nschte mir diesen Dolch so sehr, dass ich schon fast meinte, ihn in der Hand zu sp�ren. Meine Mutter fragte einen Pimpf, wer hier die Leitung innehabe, woraufhin der Junge die Hacken zusammenschlug und auf eine T�r mit dem Schild Heimf�hrer deutete. Auf unser Klopfen hin forderte eine durchdringende M�nnerstimme uns auf einzutreten.
�Heil Hitler! Was kann ich f�r Sie tun?�, fragte der gut aussehende Mann hinter dem Schreibtisch. Er trug die Uniform eines HJ-F�hrers und war etwa zwanzig Jahre alt. Meine Mutter erwiderte den Gru� und fragte dann: �Sind wir hier richtig, um die Mitgliedschaft zu beantragen? � Der junge Mann sah sie ungl�ubig an. �Mitgliedschaft f�r wen - f�r ihn?�, wollte er wissen und starrte mich an, als w�re ich ein ekliger Wurm. �Ja, f�r meinen Sohn�, erwiderte meine Mutter unger�hrt. Der Nazi fuhr zur�ck. �Ich muss Sie bitten, sofort zu gehen�, sagte er. �Falls Sie es noch nicht gemerkt haben, weise ich Sie jetzt darauf hin, dass es f�r Ihren Sohn hier keinen Platz gibt, weder in unserer Organisation noch in dem Deutschland, das wir gerade aufbauen. Heil Hitler! � Mit diesen Worten erhob er sich und hielt uns die T�r auf. Einen Moment lang glaubte ich, meine Mutter w�rde ihn ohrfeigen. Sie zitterte und sah ihn mit einer Wut an, wie ich sie noch nie bei ihr erlebt hatte. Aber sie gewann ihre Fassung zur�ck, nahm meine Hand und sagte ruhig: �Komm, wir gehen.� Auf dem Nachhauseweg sprachen wir kein Wort, und erst als wir in unserer Wohnung waren, dr�ckte sie mich an sich und weinte. �Es tut mir so leid, es tut mir so leid�, war alles, was sie hervorbrachte. Meine Mutter so zu sehen war mehr, als ich ertragen konnte. �Bitte Mutti, h�r auf zu weinen�, flehte ich. Es war ein seltener Augenblick, denn normalerweise bem�hte sich jeder von uns, seinen Schmerz mit sich selbst auszumachen. Schlie�lich waren wir ja Deutsche. Zwei Tage sp�ter war der Moment gekommen, vor dem es mir die ganze Zeit gegraut hatte. Mit an Verz�ckung grenzender Freude trug Herr Sch�rmann die letzten zwei
Namen in die Grafik ein. Dann wischte er mit einem feuchten Schwamm das letzte leere Quadrat, jenes Quadrat, das mich symbolisierte, von der Tafel und machte so meinen Status als Unperson �berdeutlich. �Herzlichen Gl�ckwunsch, Kinder!�, verk�ndete Herr Sch�rmann. �Von heute an sind alle Jungen unserer Klasse Mitglieder in der HJ. Ich bin stolz auf euch, und ich finde, wir sollten dem Schulleiter die frohe Kunde bringen.� Daraufhin verlie� er den Klassenraum und kehrte kurz darauf mit Wriede zur�ck. Der Schulleiter lobte unsere Klasse, weil �ihr euer Leben Adolf Hitler und seiner Vision des Dritten Reiches gewidmet habt�. Dann gab er der Klasse f�r den folgenden Montag schulfrei, was mit einem ohrenbet�ubenden Gejohle quittiert wurde. Das Einzige, was mir ein wenig Auftrieb gab, war der Gedanke, dass ich erst am Dienstag wieder zur Schule musste. Doch als ich nach Schulschluss mit einigen Klassenkameraden auf dem Weg nach drau�en war, h�rte ich eine mir bekannte Stimme rufen. �Du da, komm mal her!� Ich wandte mich um und sah den Schulleiter in der T�r zu seinem B�ro stehen. �Komm herein, ich muss mit dir reden�, erkl�rte Wriede. Ich hatte keine Ahnung, was der Schulleiter mit mir besprechen wollte, aber ich ahnte, dass es nichts war, was ich gerne h�ren w�rde. �Ich bin ein fairer Mensch�, begann Wriede, �und ich hoffe, du bist auch fair.� Ich versicherte ihm, dass ich das sei. �Sch�n�, fuhr er fort, �dann bist du doch bestimmt mit mir einer Meinung, dass es sehr unfair w�re, dir einen Tag freizugeben, wenn du nichts getan hast, um ihn dir
zu verdienen. Deshalb habe ich bereits mit Herrn Dutke gesprochen, dass du am Montag an seinem Unterricht teilnehmen wirst. Das ist alles. Heil Hitler! � Damit war ich entlassen. �Heil Hitler! �, gr��te ich zur�ck und ging nach Hause. Um meiner Mutter die Aufregung zu ersparen, erz�hlte ich ihr nicht, was passiert war. Am Montag ging ich wie �blich zur Schule und setzte mich als �Gast� in Herrn Dutkes Klasse, wo ich den ganzen Tag seine bei�enden rassistischen Bemerkungen �ber mich ergehen lassen musste.
Die Morells
Obwohl jetzt alle meine Klassenkameraden in der HJ waren, gingen wir weiterhin ganz normal miteinander um. Wir spielten zusammen und besuchten uns gegenseitig zu Hause, als w�re nichts geschehen. Nur wenige von ihnen waren wirklich �berzeugte Nazis. Manche waren lediglich in die Hitlerjugend gegangen, um endlich von Sch�rmann und Wriede in Ruhe gelassen zu werden. Andere waren von ihren V�tern unter Druck gesetzt worden, die berufliche Nachteile bef�rchteten, wenn ihre S�hne nicht in der HJ waren. Die �brigen waren blo� auf den fahrenden Zug aufgesprungen, um dazuzugeh�ren, ein Wunsch, den ich nur allzu gut nachf�hlen konnte. Was die Leute in unserer Nachbarschaft anbelangt, so vermute ich, dass die �berwiegende Mehrheit von ihnen nicht aus ideologischen Gr�nden f�r die Nazis waren. Den meisten ging es besser, als sie es sich je h�tten tr�umen lassen; sie hatten eine feste Arbeit, kostenlose Gesundheitsversorgung und viele andere noch nie da gewesene Vorteile. Sie waren der �berzeugung, dass eine Partei, die ihr Wahlversprechen gehalten und die Arbeitslosigkeit - die Gei�el der Arbeiterklasse beseitigt hatte, ihre Unterst�tzung verdiente. Die Verg�nstigungen, die ihnen unter den Nazis zuteil wurden, machten sie jedoch blind und taub f�r das Leid zahlloser Mitb�rger, die nicht in die NS-Ideologie passten. Manche M�nner traten der Partei bei, weil sie gerne Uniform trugen und ihnen die Paraden und paramilit�rischen Veranstaltungen gefielen. Pl�tzlich waren sie Respektspersonen, hatten vielerlei neue
Bet�tigungsfelder, und ihr �des Proletarierdasein bekam unversehens einen aufregenden, ja heroischen Beigeschmack. Typisch f�r die M�nner aus unserem Viertel, denen die NSDAP einen v�llig neuen Lebensstil und eine neue Identit�t beschert hatte, war Wilhelm Morell, ein einfacher, glatzk�pfiger Schlosser, der seine recht f�llige Gattin und seine drei S�hne, meinen Freund Karl, Hans und Gerd, �ber alles liebte. Vor meinen Augen durchlief Herr Morell eine erstaunliche Metamorphose, die in gewisser Weise erkl�rt, warum der Durchschnittsdeutsche sich f�r die NSDAP so begeisterte. Innerhalb weniger Monate nach seinem Eintritt in die Partei verwandelte Herr Morell sich von Grund auf. Aus dem langweiligen, stillen und bescheidenen Malocher wurde ein schneidig uniformierter Kleinstw�rdentr�ger, der entschlossen durch die Nachbarschaft stolzierte und dienstbeflissen seinen neuen Pflichten als Blockwart nachging. Morell betrachtete sich als die Augen und Ohren seiner Partei in unserem Viertel und versah eine Reihe von Aufgaben: Er sammelte parteifeindliche �u�erungen, verteilte das Mutterkreuz an Frauen, die vier oder mehr arische Kinder zur Welt gebracht hatten, und kontrollierte bei den F�rsorgeempf�ngern, ob sie nicht �ber ihre Verh�ltnisse lebten. Au�erdem nahm er an Versammlungen und Paraden teil und stand stundenlang auch bei schlechtem Wetter auf der Stra�e, um Geld f�r das Winterhilfswerk zu sammeln. Der Parteigenosse Morell akzeptierte vorbehaltlos die NS-Doktrin, dass die Juden die Wurzel allen �bels seien, obwohl er pers�nlich vermutlich nie ein negatives Erlebnis mit einem Juden gehabt hatte. Gleichzeitig war er absolut
farbenblind und legte eine eigenartige Schizophrenie an den Tag, wenn es um mich ging. Als Karls engster Freund wurde ich fast wie ein Mitglied der Familie behandelt. Zum Kummer meiner Mutter war ich bei dem gr��ten Nazi unseres Viertels - sozusagen in der H�hle des L�wen - praktisch wie zu Hause. Aber da sie Karl mochte und unserer Freundschaft nicht im Wege stehen wollte, sagte sie nichts und hoffte das Beste. Es war Morells Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass wir an Feiertagen keine Hakenkreuzfahne aus dem Fenster h�ngten, wie es ein ungeschriebenes Gesetz verlangte. Als er meine Mutter nach dem Grund daf�r fragte, erkl�rte sie, dass wir es uns einfach nicht leisten k�nnten, eine Fahne zu kaufen, was allerdings nur die halbe Wahrheit war. Gleich am n�chsten Tag �berreichte er uns stolz als Geschenk seiner Ortsgruppe eine nagelneue Fahne, komplett mit Fahnenstange, f�r die er sogar pers�nlich vor einem unserer Fenster die Halterung anbrachte. Da meine Mutter sich nun nicht mehr herausreden konnte, h�ngte sie, um Scherereien zu vermeiden, an Feiertagen fortan wohl oder �bel die Hakenkreuzfahne auf.
Herr Dutke
Es ist schwer zu sagen, wer von den zwei bigottesten und fanatischsten meiner Lehrer der schlimmere war, Herr Wriede oder Herr Dutke mit seiner Hornbrille. Letzterer trug stets stolz seine NS-Uniform zur Schau, wenn er seinen Volkskundeunterricht gab, den er Meist nutzte, um seiner Feindseligkeit gegen�ber Nicht-Ariern Luft zu machen. �Lass dieses negerhafte Grinsen�, fauchte er mich einmal an, als ich mit der ganzen Klasse �ber irgendetwas lachen musste. �Neger haben im nationalsozialistischen Deutschland keinen Grund zu grinsen.� Um diese Haltung zu untermauern, holte er h�ufig Sch�ler nach vorn, die er f�r typisch arisch hielt. Sie mussten sich vor der Klasse aufstellen, und Dutke wies dann auf ihr blondes Haar, die blauen Augen, den �edel geformten Sch�del� und andere �w�nschenswerte� k�rperliche Merkmale hin. Als ein Sch�ler einmal Dutkes Behauptung, dass Menschen �nichtarischen Blutes� intellektuell und k�rperlich minderwertig seien, mit dem Hinweis auf meine schulischen und sportlichen F�higkeiten in Frage stellte, kanzelte Dutke diesen Sch�ler ab, weil er es gewagt hatte, ihm zu widersprechen. Dann erkl�rte er der Klasse, dass ich nur die Ausnahme sei, die die Regel best�tige, und behauptete, dass ich s�mtliche �normalen Merkmale� von meinem arischen Elternteil geerbt habe. Schlie�lich spekulierte er, dass das letzte Wort ja noch nicht gesprochen sei und die M�glichkeit bestehe, dass mein minderwertiges Blut irgendwie doch noch die Oberhand gewinnen k�nnte. �Es gibt viele Arten der rassischen Minderwertigkeit�, argumentierte er. �Ich
w�rde mich nicht wundern, wenn euer Klassenkamerad eines Tages zum asozialen Subjekt wird, beispielsweise ein Krimineller oder Alkoholiker.� Anschlie�end wies Dutke mich an, nach dem Ende der Stunde den Raum nicht zu verlassen. �Was ich dir zu sagen habe, dauert nicht lange�, knurrte er, nachdem alle anderen Sch�ler fort waren. Er musterte mich ver�chtlich durch seine dicke Hornbrille und warf mir vor, die Klasse gegen ihn aufbringen zu wollen und ihm gegen�ber mit meinem dauernden �negerhaften Grinsen� ein respektloses Verhalten an den Tag zu legen. �Eins kann ich dir sagen, junger Mann. Dir wird das Lachen noch vergehen. Wenn wir mit den Juden fertig sind, bist du und deinesgleichen n�mlich als N�chstes dran. Heil Hitler.� Ich wusste zwar nicht, was �mit den Juden fertig sein� bedeuten sollte, aber mir war klar, dass sie die verhassteste Bev�lkerungsgruppe im Land und daher extrem gef�hrdet waren. Eine Weile erwog ich, meiner Mutter zu erz�hlen, was Dutke gesagt hatte, entschied mich dann aber dagegen. Was h�tte es auch gen�tzt? Meine Mutter h�tte sich nur auf eine Auseinandersetzung eingelassen, die sie unm�glich gewinnen k�nnte.
Joe und Jesse, meine neuen Helden
Im Sommer 1936 erlebte mein so oft maltr�tiertes Selbstwertgef�hl einen enormen Aufschwung. Der Grund daf�r waren zwei junge schwarze amerikanische Sportler, der Profiboxer Joe Louis und der Amateurleichtathlet Jesse Owens. Die beiden �bten einen gro�en und nachhaltigen Einfluss auf mein Leben aus, weil sie mich in dieser widrigen Zeit mit echtem Stolz auf mein afrikanisches Erbe erf�llten. Im Fr�hjahr 1936 wurde bekannt, dass ein schwarzer Amerikaner gegen Max Schmeling antreten w�rde. Joe Louis, so erfuhren wir, war eine zweiundzwanzigj�hrige Kampfmaschine von den Baumwollfeldern in Alabama und aus den Autofabriken Detroits, dessen ununterbrochene Serie von K.-o.-Siegen ihm den Spitznamen �der braune Bomber� eingebracht und ihn zum Topanw�rter auf den Weltmeistertitel gemacht hatte, der damals von James J. Braddock gehalten wurde. Als wir Kinder von dem bevorstehenden Ereignis h�rten, ruhten wieder einmal alle Augen auf mir. Getreu dem Motto �Alle Schwarzen sehen gleich aus� beteuerten viele von meinen Freunden: �Du siehst genauso aus wie Joe Louis.� Ungeachtet der mindestens siebzig Kilo Unterschied zwischen dem Boxer und mir waren sich alle einig, dass ich dem �braunen Bomber� wie aus dem Gesicht geschnitten sei. Je mehr die deutsche Presse die ph�nomenale Schlagkraft des �braunen Bombers� herausstellte, desto h�her stieg mein Ansehen unter meinen Freunden. Ich erz�hlte niemandem, dass ich wie jeder echte Hamburger Junge eigentlich ein begeisterter Schmeling-Fan war, und da ich von meinen
Schulkameraden als der Doppelg�nger des �braunen Bombers� gefeiert wurde, musste ich meinen Patriotismus hintanstellen und meinen schwarzen Bruder aus Amerika unterst�tzen. Leicht fiel mir das nicht, denn meine Treue zu Schmeling war so unersch�tterlich, wie das bei einem Zehnj�hrigen �berhaupt m�glich ist. Dann geschah etwas, das mir die Entscheidung einfach machte. In einem Zeitungsinterview, das Schmeling vor dem Kampf gab, las ich ein angebliches Zitat meines Helden: Er versprach, �den Negerboxer von einem >braunen Bomber< in einen gr�nen und blauen Bomber zu verwandeln�. Diese rassistische Bemerkung traf mich bis ins Mark. Ich f�hlte mich von dem Mann verraten, der mein Idol gewesen war, und beschloss, dass ich von nun an Joe Louis die Treue halten w�rde. Am 19. Juni 1936, dem Tag des Kampfes, sprachen die M�nner und jungen in meinem Viertel �ber nichts anderes mehr. Die meisten dr�ckten zwar Schmeling die Daumen, doch viele bezweifelten ernsthaft, dass ihr Mann gegen die be�ngstigende Schlagkraft des Amerikaners eine Chance haben w�rde. Die jungen, auch die �lteren, betrachteten mich als Autorit�t in Sachen Joe Louis, und ich malte ihnen lebhaft aus, wie Joe kurzen Prozess mit Maxens Ambitionen auf den Titel machen w�rde. Ich hatte alles �ber Joe Louis, dessen ich habhaft werden konnte, auswendig gelernt und konnte alle interessanten Fakten �ber meinen Helden nur so herunterrasseln. W�hrend mein Publikum ehrf�rchtig lauschte, sonnte ich mich in meinem neuen Status als Respektsperson. Ich genoss das Gef�hl, dass diese Menschen, die sich normalerweise Schwarzen �berlegen f�hlten, einem Schwarzen so viel Achtung entgegenbrachten und dass ein Teil dieser Achtung auf
mich abf�rbte. Der Kampf sollte um 21 Uhr in New York stattfinden, also um drei Uhr morgens unserer Zeit. Ich bat meine Mutter, den Wecker sicherheitshalber schon auf zwei Uhr nachts zu stellen, damit ich auch ja nichts von der Radio�bertragung des Kampfes verpassen w�rde. Punkt zwei Uhr wurde ich durch das schrille Klingeln geweckt, und nachdem ich mir eine nicht enden wollende Stunde lang angeh�rt hatte, wie der Radiosprecher die angespannte Atmosph�re unter den 40 000 Zuschauern im Yankee Stadium beschrieb, ert�nte endlich der Gong zur ersten Runde. Drei Runden lang schien der �braune Bomber� auf der Siegerstra�e zu sein, doch dann passierte in Runde vier das Unerwartete, nein, das Unm�gliche. Zwei knallharte Rechte meines Landsmannes schickten Joe Louis auf die Bretter. Er wurde bis vier angez�hlt. Ich schrie aus vollem Halse, dass Joe wieder hochkommen sollte, doch der einzige Mensch, der mich h�rte, war meine Mutter, die alarmiert in mein Zimmer gerannt kam. �Joe ist angeschlagen!�, schrie ich. �Er verliert!� Meine Mutter verstand nicht, wie ungeheuer bedeutsam diese Mitteilung war, und versuchte, mich zu beruhigen. �Das ist doch nur ein Boxkampf. Nimm so was doch nicht so ernst. � Ich konnte ihr unm�glich begreiflich machen, dass der Schwarze, der da rund achteinhalbtausend Kilometer weit entfernt k�mpfte, nicht nur f�r sich k�mpfte, sondern auch f�r mich, dass sein Sieg mein Sieg sein w�rde und seine Niederlage - Gott bewahre - eine pers�nliche Katastrophe f�r mich. Bis dahin hatte ich nicht im Traum daran gedacht, dass Joe Louis verlieren k�nnte. Jetzt bestand pl�tzlich die M�glichkeit, dass der Au�enseiter Schmeling entgegen
allen Erwartungen als Sieger aus dem Ring gehen k�nnte. Was sollte ich dann blo� meinen Freunden erz�hlen? Wie sollte ich ihnen je wieder unter die Augen treten? Derlei Gedanken qu�lten mich, w�hrend die Meldungen aus dem Yankee Stadium immer schlechter wurden. Louis war offensichtlich schwer angeschlagen, steckte weitere Schl�ge ein und hielt sich nur noch mit purer Willenskraft aufrecht. In der zw�lften Runde dann beendete Schmeling den Kampf mit einer wuchtigen Rechten auf Louis' Kinn, die ihn zu Boden streckte. Er blieb liegen und wurde ausgez�hlt. Der Mann, den ich f�r unbesiegbar gehalten hatte, der mir unter meinen Mitsch�lern Ansehen und Respekt verschafft hatte, war besiegt. Am Montag musste ich wohl oder �bel in die Schule und mich meinen Mitsch�lern stellen. Als ich den Klassenraum betrat, wurde ich zur Begr��ung von einigen der jungen verh�hnt, die mich noch wenige Tage zuvor ehrf�rchtig bestaunt hatten, weil ich einem vermeintlich unschlagbaren Mann �hnlich sah. �Na, was war denn mit deinem >braunen Bomber< los?�, fragte einer h�misch. �Der >braune Bomber< ist eine Flasche�, fiel ein anderer ein. �Du hast doch gesagt, Louis k�nnte k�mpfen�, h�hnte wieder ein anderer. �Wieso hat er sich dann von unserem Maxe zum Sandsack machen lassen? Ich kann dir sagen, wieso. Weil er ein Neger ist und ein Feigling! � Dabei sah er mich an, als wollte er mir zu verstehen geben: Wenn dir nicht passt, was ich sage, tu was dagegen. Ich st�rzte mich auf ihn und bombardierte sein Gesicht mit einer Serie von Linken und Rechten, die Joe Louis alle Ehre gemacht h�tten.
Meine Klassenkameraden bildeten einen Kreis um uns, und statt mich weiter zu verh�hnen, feuerten sie mich an. �Auf ihn, Joe Louis!� �Schlag ihn k.o., Joe!� � Wo bleibt dein linker Haken?� Mein Gegner war von meiner j�hen Attacke v�llig �berrumpelt worden und nach hinten gefallen. Mit meinen F�usten machte ich meiner ganzen Wut, Entt�uschung und Scham �ber die Niederlage meines gro�en Helden Luft. Aber bevor ich ernstlich Schaden anrichten konnte, wurde ich von hinten gepackt und hochgezogen. �Was geht hier vor?�, fragte eine M�nnerstimme. Herr Dutke war, von allen unbemerkt, ins Klassenzimmer gekommen. �Der hat gesagt, Joe Louis hat verloren, weil er ein Neger und ein Feigling ist�, rechtfertigte ich meinen Angriff. �Das ist noch lange kein Grund, einen anderen zu schlagen�, schnauzte Herr Dutke mich an. �Du kannst nicht einfach �ber jeden herfallen, der nicht wie du der Meinung ist, dass Hottentotten die besseren Boxer sind. Und jetzt entschuldige dich bei deinem Mitsch�ler�, befahl er. Ich war fest entschlossen, das nicht zu tun, egal, was das f�r Folgen h�tte. �Hast du geh�rt? Du sollst dich entschuldigen! �, sagte Dutke drohend. In diesem Augenblick kam unser Klassenlehrer Herr Sch�rmann herein, und Herr Dutke erz�hlte ihm emp�rt, was geschehen war. Bevor er ging, empfahl Dutke, �diesen wilden Kerl�, womit er mich meinte, geh�rig zu bestrafen, und Sch�rmann versprach ihm, �angemessen� zu reagieren. Sobald Dutke fort war, h�rte sich Herr Sch�rmann erst mal meine Version des Vorfalls an, die
von meinen Mitsch�lern best�tigt wurde. Dann ermahnte er mich eindringlich, mein Temperament zu z�geln, aber er bestrafte mich nicht. Zugleich wies er meinen Gegner zurecht und verbot ihm jegliche rassistischen Bemerkungen, die direkt oder indirekt auf mich abzielten. Dann erz�hlte Herr Sch�rmann der ganzen Klasse, dass auch er sich die �bertragung des Boxkampfes angeh�rt und dass Louis ehrenhaft verloren habe, weil er trotz der brutalen Schl�ge, die er einstecken musste, mindestens f�nf Runden l�nger auf den Beinen geblieben sei, als jeder es f�r m�glich gehalten h�tte. Obwohl die Niederlage von Joe Louis eine bittere Entt�uschung f�r mich war, tr�stete es mich, dass viele Leute ihn noch immer als den z�hesten Boxer respektierten, der je im Ring gestanden hatte. Wenn mich danach jemand �Joe Louis� nannte, was immer noch recht h�ufig geschah, streckte ich die Brust raus und f�hlte mich wie ein Champion. Der Kampf Louis gegen Schmeling war noch immer in aller Munde, als auch schon ein anderes Sportereignis in die Schlagzeilen r�ckte: die bevorstehende Er�ffnung der Olympischen Spiele in Berlin. Bereits Wochen vorher berichtete die Presse, dass die Vereinigten Staaten mit einer Mannschaft antraten, in der eine beachtliche Anzahl von schwarzen Sportlern waren. Lehrer Dutke kam jedem m�glichen Sieg eines schwarzen Olympioniken zuvor, indem er uns erz�hlte, dass es sich bei Schwarzen nicht um Sportler �im wahren Sinne des Wortes� handele, da sie �geborene L�ufer und Springer� seien - �wie Pferde und andere Tiere�. �Wenn ein deutscher L�ufer gegen einen von diesen Halbzivilisierten aus Amerika verliert�, so versicherte
Dutke der Klasse, �ist das ebenso wenig eine Schande, wie wenn er gegen ein Pferd verliert. Jeder wei�, dass ein Pferd dem Menschen k�rperlich �berlegen und geistig unterlegen ist. Dasselbe gilt f�r die Hottentotten aus Amerika.� Wenige Tage vor der Er�ffnungsfeier brachte Karl Morell mir sensationelle Neuigkeiten: Sein Vater wollte mit ihm, seinem �lteren Bruder Hans und einigen Jungs aus der Nachbarschaft f�r eine Woche nach Berlin fahren, und falls meine Mutter einverstanden war - und die Zugfahrkarte und ein paar Mark Taschengeld aufbringen konnte -, war ich herzlich eingeladen mitzukommen. Ich musste sie zun�chst mit einem zweist�ndigen Hungerstreik davon �berzeugen, dass mein Leben keinen Sinn mehr h�tte, wenn ich nicht nach Berlin fahren d�rfte. Aber nachdem die Morells ihr versichert hatten, dass ich in guten H�nden w�re und dass es f�r einen Jungen nichts Sch�neres g�be, als einmal die Hauptstadt zu sehen und bei den Olympischen Spielen dabei zu sein, gab sie schlie�lich widerwillig nach. Wir waren zirka zehn Jungen, und bevor wir am Morgen unserer Abfahrt, schwer bepackt mit Tornister und Feldflaschen, in den D-Zug nach Berlin stiegen, instruierte Herr Morell uns erst einmal in knappem milit�rischen Ton, was wir auf unserer Reise tun durften und was nicht. Auch er trug einen Tornister, und obwohl er auf seine NS-Uniform verzichtet hatte, lie�en seine blank gewienerten braunen Reitstiefel und die Breeches keinen Zweifel an seiner Parteizugeh�rigkeit. Als wir sp�tabends in Berlin ankamen, waren wir heiser vom vielen Singen und todm�de. Nach einer kurzen Busfahrt durch den dichten Abendverkehr und nach einem raschen Blick auf das Brandenburger Tor
erreichten wir die Jugendherberge am Stadtrand und wollten nur noch ins Bett. Herr Morell erinnerte uns noch daran, dass wir die gleiche Berliner Luft atmeten wie unser geliebter F�hrer, und schon allein bei dem Gedanken bekam ich eine G�nsehaut, die ich noch bis zum Einschlafen sp�rte. Anders als bei Joe Louis und Max Schmeling war es f�r mich nun keine Frage mehr, ob ich zu den schwarzen Olympiak�mpfern oder zu den Athleten meines Heimatlandes hielt. Von Anfang an war mir klar, dass die Siege der schwarzen Sportler meine Siege und ihre Niederlagen auch meine Niederlagen waren. Es gab viele erfolgreiche Sportler unter ihnen, aber keiner wurde mit so vielen Lobeshymnen �bersch�ttet wie mein neuer Held: Jesse Owens. Er kam wie Joe Louis aus Alabama und war die gr��te Medaillenhoffnung der USA in der Leichtathletik. Seine Leistungen �bertrafen dann jedoch die k�hnsten Tr�ume seiner frisch gebackenen deutschen Fans. Nach vier anstrengenden Tagen, an denen er vierzehnmal in den Vork�mpfen antreten musste, gewann Owens die Goldmedaille im Hundert- und auch im Zweihundertmeterlauf, f�hrte seine Vier-mal-hundert-MeterStaffel zum Sieg und stellte noch dazu einen olympischen Rekord im Weitsprung auf. Dass Herr Morell nur f�r einige wenige Veranstaltungen Karten bekam und wir von unseren Pl�tzen in den oberen R�ngen des voll besetzten Stadions nur wenig erkennen konnten, tr�bte unsere Begeisterung nicht im Geringsten. Noch Wochen nach unserer R�ckkehr verging kaum ein Tag, an dem ich nicht von den grandiosen Taten der olympischen Helden schw�rmte. Jesse Owens war so bekannt geworden, dass einige meiner Spielkameraden anfingen, mich Jesse zu nennen, so, wie sie mich vor
nicht allzu langer Zeit Joe genannt hatten. Und wieder fasste ich das als Kompliment auf, was es auch sein sollte. Viele Jahre sp�ter hatte ich im Rahmen meiner Arbeit f�r EBONY Gelegenheit, meine beiden Helden kennen zu lernen und ihnen pers�nlich zu danken. Sie waren zun�chst ein wenig verwundert, doch sie nahmen meinen Dank gerne entgegen, als ich ihnen erz�hlte, dass ich als Zehnj�hriger in Nazideutschland durch sie beide ein wenig stolzer auf meine schwarze Hautfarbe sein konnte.
Die Hindenburg
Viele Gro�vorhaben der Nazis sollten den Deutschen und dem Rest der Welt vor Augen f�hren, dass Deutschland wieder auf dem Weg zu einer angesehenen Weltmacht war, dass es wieder aufw�rts ging. H�chste Priorit�t hatte beispielsweise der Bau des gr��ten lenkbaren Luftschiffes aller Zeiten, der gigantischen LZ 129 Hindenburg. Mit ihren 245 Metern L�nge und 41,20 Metern Durchmesser stellte die Hindenburg ihr monstr�ses Schwesterschiff, die Graf Zeppelin, noch in den Schatten. Monate bevor die Hindenburg zu ihrer ersten regul�ren Atlantik�berquerung mit Passagieren an Bord startete, hatte Goebbels' Presse sie als gro�artiges technisches Wunderwerk des Nationalsozialismus und als den un�bersehbaren Beweis f�r Deutschlands F�hrungsrolle in �der wichtigsten Technologie des 20. Jahrhunderts� bejubelt. Wir Kinder, die wir die Hindenburg schon mehrfach in der Wochenschau und in den Zeitungen gesehen hatten, waren nat�rlich schwer beeindruckt von dem �k�hnen Sprung in die Zukunft�, den Deutschland mit diesem technischen Wunderding vollf�hrte, und wir unterhielten uns oft �ber die unglaublichen F�higkeiten des Luftschiffs. An dem Tag, an dem die Hindenburg der Stadt Hamburg mit einem Tiefflug �ber das Stadtgebiet ihre Reverenz erweisen sollte, war herrlicher Sonnenschein. Etwa eine Stunde vor dem Ereignis kletterten die Bewohner der St�ckenstra�e 3, mit Ausnahme von Tante M�ller, die sich f�r zu alt hielt und zu viel Angst hatte, mit einer Leiter durch eine kleine Luke auf das Dach des Hauses. In gespannter Erwartung
suchten wir den Himmel nach dem zigarrenf�rmigen Riesen ab, was ich umso aufregender fand, weil meine Mutter mir nie zuvor erlaubt hatte, einen Fu� auf das Dach zu setzen. Doch bis auf ein paar hohe wei�e W�lkchen waren am Himmel keine bekannten Flugobjekte auszumachen. Auf allen D�chern standen Menschen, die Zeuge des historischen Ereignisses werden wollten. Ich entdeckte einige Spielkameraden von mir, und schon bald vertrieben wir uns die Zeit damit, einander zuzuwinken und uns gegenseitig etwas zuzurufen. Schlie�lich zeigte jemand zum Himmel und br�llte: �Da kommt sie!� Und tats�chlich, in weiter Ferne war das Luftschiff zu sehen, das direkt auf uns zusteuerte. Zun�chst war ich entt�uscht, da es mir nicht ann�hernd so gro� vorkam, wie ich es mir vorgestellt hatte. Doch das sollte sich rasch �ndern. Langsam, aber sicher wurde die Hindenburg immer gr��er und das Dr�hnen ihrer Motoren immer lauter, bis sie schlie�lich zum Greifen nahe bedrohlich vor uns aufragte. Einen Augenblick lang fand ich ihre monstr�se Gr��e so erdr�ckend, dass ich kaum atmen konnte und mir richtig schlecht wurde. Ich war �berzeugt, dass das Ungeheuer, wenn es noch n�her kam, mich und alle anderen auf dem Dach zermalmen w�rde. Schlie�lich schwebte der Koloss genau �ber uns und warf seinen gewaltigen Schatten auf unsere Stra�e. Ich konnte deutlich vorne das Wort �Hindenburg� lesen, und ebenso klar zu erkennen waren die F�hrergondel an seinem Bauch und die vier Dieselmotoren, die so laut dr�hnten, dass die Fensterscheiben klirrten. Sekunden sp�ter war die Hindenburg schon �ber uns hinweggeflogen. Rasch schrumpfte sie wieder auf eine nicht ganz so furchterregende Gr��e, bis schlie�lich
auch die schwarzwei�roten Hakenkreuze an den vier gigantischen H�henflossen nicht mehr zu sehen waren.
Noch Tage nach dem Ereignis sprachen wir Kinder �ber nichts anderes. In gewisser Weise f�hlten wir uns durch dieses einzigartige Erlebnis mit dem Luftschiff verbunden und verfolgten gebannt die Berichterstattung �ber seine triumphalen Atlantik�berquerungen. Doch nicht mal ein Jahr sp�ter, am 7. Mai 1937, lagen unsere Hoffnungen und Tr�ume in Tr�mmern, denn die Nachricht ging um die Welt, dass dieses Wunderwerk der Technik bei der Landung in Lakehurst, New Jersey, explodiert war und sechsunddrei�ig Menschen dabei ihr Leben verloren hatten.
Kriegswolken am Horizont
Schon kurz nach der Hindenburg-Katastrophe besch�ftigten andere bedeutende Ereignisse die �ffentlichkeit, und unsere Nazi-Lehrer teilten uns Kindern mit stolzgeschwellter Brust die guten Neuigkeiten mit. �Heute�, so sagte Schulleiter Wriede, �hat der F�hrer uns von den schmachvollen Ketten des Versailler Vertrages befreit.� Er spielte damit auf Hitlers letzte Rede an, in der er Deutschlands Forderung nach �Lebensraum� dargelegt und seine Entschlossenheit beschworen hatte, die Landesgrenzen falls m�glich friedlich, falls n�tig mit Gewalt zu erweitern, was eindeutig gegen den Vertrag verstie�. Als N�chstes erfuhren wir, dass ein Schuft namens Kurt von Schuschnigg, der Kanzler des Nachbarlandes �sterreich, den Mitgliedern der �sterreichischen NaziPartei Schwierigkeiten machte, nur weil sie f�r die Vereinigung �sterreichs mit Deutschland demonstrierten. Unter dem wachsenden Druck Berlins trat Schuschnigg zur�ck, und sein Nachfolger wurde der F�hrer der �sterreichischen Nationalsozialisten Arthur Sey�-Inquart. Seine erste Amtshandlung war, Hitler zu bitten, deutsche Truppen nach �sterreich zu entsenden, angeblich um ein Blutvergie�en zu vermeiden. Am 12. 3. 1938 in den fr�hen Morgenstunden �berquerten deutsche Verb�nde die Grenze zu �sterreich, wo sie, wie wir in der Wochenschau sahen, von den �sterreichern mit offenen Armen empfangen wurden. Am selben Tag noch traf der geborene �sterreicher Hitler in Linz ein, wo er seine Kindheit verbracht hatte, und verk�ndete,
dass er seine Mission erf�llt habe, �die Wiedervereinigung meines geliebten Heimatlandes mit dem Deutschen Reich�. Wir Kinder waren begeistert, als man uns erz�hlte, dass Deutschland �ber Nacht um neun Millionen Menschen, 83 856 km2 und gewaltige industrielle, landwirtschaftliche und nat�rliche Ressourcen gewachsen war. Um uns die Tragweite so richtig vor Augen zu f�hren, mussten wir in der Schule das neu erworbene Gebiet anhand gro�er Landkarten studieren. Au�erdem lernten wir, dass �sterreich seit dem �Anschluss� an das Deutsche Reich �die Ostmark� genannt werden sollte. Als unsere Schule neue Karten mit den ver�nderten Grenzen erhielt, waren sie durch ein weiteres Ereignis schon wieder veraltet. Am 1. Oktober marschierten deutsche Truppen in die Tschechoslowakei ein und besetzten das Sudetenland. Diese Einverleibung bescherte dem Deutschen Reich ein neues Gebiet von zirka 28 000 km2 mit einer Bev�lkerung von 3,5 Millionen Menschen (darunter 700 000 Tschechen). In h�chsten T�nen priesen unsere Lehrer die Leistungen des �geliebten F�hrers�, der das Vaterland um riesige Gebiete erweitert habe, �ohne einen einzigen Schuss abzufeuern�. Es geh�rte nicht viel dazu, uns Sch�ler von der Allmacht des F�hrers zu �berzeugen und uns den unersch�tterlichen Glauben an seine F�hrungsqualit�ten einzufl��en. Die Parole �F�hrer befiehl, wir folgen dir� war f�r uns Knirpse mehr als nur eine Floskel. Es war ein Versprechen, das viele von uns unbedingt halten wollten, auch unter Einsatz des eigenen Lebens.
Wriedes Rache
W�hrenddessen wurden in unserer Schule Pl�ne laut, die f�r uns tief greifende Folgen haben sollten. Die K�thnerkampschule, so erfuhren wir, sollte in eine Sonderschule f�r Lernbehinderte umgewandelt werden, also in eine �Doofenschule�, wie wir Kinder abf�llig sagten. S�mtliche Sch�ler und Lehrer mussten auf andere Schulen im Bezirk verteilt werden. Ich wurde einer Schule auf der Schleidenstra�e am Osterbekkanal zugewiesen, wodurch sich mein Schulweg mehr als verdoppelte. Zum Gl�ck kamen rund zwanzig Jungen aus meiner Klasse, darunter einige meiner dicksten Freunde, auf dieselbe Schule. Am Morgen des letzten Tages an der K�thnerkampschule wurden alle Sch�ler in den Zeichensaal gef�hrt, der bei besonderen Anl�ssen auch als Aula diente. Der H�hepunkt war eine Abschiedsrede von Schulleiter Wriede. Wie �blich hatte er die Gelegenheit genutzt, seine �ber alles geliebte NSUniform anzuziehen, und als er hinter dem Rednerpult eine �hnliche Pose einnahm wie Hitler auf dem lebensgro�en Portr�t an der Wand, konnten sich einige Jungen ein Kichern nicht verkneifen. Sichtlich ver�rgert �ber die St�rer, lie� Wriede uns wissen, dass die unbeschwerten Zeiten f�r uns bald vorbei seien und dass wir in nicht allzu ferner Zukunft keine Jungen mehr sein w�rden, sondern M�nner, die den jeweils f�r uns vorgesehenen Platz im wirtschaftlichen und politischen Leben Deutschlands einzunehmen h�tten. Pl�tzlich schnappte seine Stimme
�ber und nahm einen schrillen Falsettton an, was bei den Sch�lern gr�lendes Gel�chter ausl�ste. Die ganze Zeit �ber war ich nerv�s auf meinem Stuhl hin und her gerutscht. Zwar entging auch mir nicht, wie l�cherlich diese stocksteife Figur dort auf dem Podium wirkte, doch ich hatte inzwischen gelernt, mich zu beherrschen und nicht mitzulachen, wenn meine Mitsch�ler ihrer Erheiterung hemmungslos Ausdruck verliehen. Mehr als einmal hatte Wriede mich f�r die S�nden der ganzen Klasse b��en lassen. Obwohl es mein letzter Tag an der K�thnerkampschule war, hielt ich es f�r kl�ger, auf Nummer Sicher zu gehen, solange ich noch Wriedes Gerichtsbarkeit unterstand, um dem b�sartigen Schulleiter keinen Vorwand f�r irgendwelche Strafaktionen zu bieten. Er erz�hlte seinen jungen Zuh�rern, dass ihnen eine beneidenswerte Zukunft bevorstehe und dass sie in einigen Jahren alt genug seien, in der besten Armee zu dienen, die die Welt je gesehen habe. Die deutsche Wehrmacht biete jungen M�nnern, die dem Ideal des F�hrers entspr�chen, unbegrenzte M�glichkeiten, sagte er und f�gte hinzu: �Ich wei�, dass ich mich, solltet ihr einmal dazu auserkoren werden, f�r euren F�hrer und euer Vaterland zu k�mpfen, darauf verlassen kann, dass ihr euer Bestes geben werdet.� Dann fixierte er mich mit einem vernichtenden Blick und sagte: �So mancher wird sich jedoch nicht die Ehre verdienen, die Uniform eines deutschen Soldaten zu tragen. Denen kann ich nur einen Rat geben: Verschwindet aus Deutschland, solange ihr noch k�nnt, denn das zuk�nftige Deutschland wird ein Deutschland von Soldaten und nicht von Feiglingen und Dr�ckebergern sein. Der F�hrer wird daf�r sorgen, dass Deutschland nie wieder zu einer Zufluchtsst�tte f�r
verr�terisches nichtarisches Gesindel wie Juden, Neger und andere Au�enseiter wird. Adolf Hitler l�sst nicht zu, dass sie das edle deutsche Blut sch�nden und das deutsche Volk um den Lohn seiner schwer errungenen Siege betr�gen. � Bei dem Wort �Neger� versuchte ich vergeblich, mich hinter dem R�cken eines kleineren Klassenkameraden zu verstecken. Wie auf Kommando hatten alle in der Aula den Kopf nach mir umgedreht, um sich den Jungen genauer anzusehen, den der Schulleiter soeben als Feind des deutschen Volkes gebrandmarkt hatte. Mein Herz klopfte so laut, dass ich f�rchtete, es w�re im ganzen Saal zu h�ren. Mir zitterten die Knie, und ich war in Schwei� gebadet. Ich w�nschte, der Boden w�rde sich �ffnen und mich verschlucken, damit ich nicht l�nger den dem�tigenden Blicken meiner Mitsch�ler ausgesetzt war. Doch der Boden verschluckte mich nicht, und ich musste die Blicke aushalten: Wie schon so oft hatte Wriede mich in seinem �rger �ber das Gel�chter der Sch�ler zum S�ndenbock gemacht. Unterdessen beschwor er weiter die Segnungen einer milit�rischen Laufbahn. �Einige von euch werden irgendwann auf dem Felde der Ehre fallen und damit zu den ehrenvollsten M�nnern im deutschen Staate �berhaupt z�hlen, zu denen, die von der Vorsehung als w�rdig erachtet wurden, ihr Leben f�r unseren geliebten F�hrer und die Zukunft unseres geliebten Vaterlandes hinzugeben. Mit diesen Gef�hlen im Herzen sage ich euch Lebewohl. Lang lebe unser F�hrer! Lang lebe Deutschland! � Weniger, weil sie die Rede des Schulleiters inspiriert hatte, als vielmehr aus Freude dar�ber, der Schule vor�bergehend entkommen zu k�nnen, brachen die Kinder in wildes Gejohle aus und st�rmten aus der Aula
und hinaus auf die Stra�e, als Wriede seine Rede beendet hatte. Jetzt achtete keiner mehr auf mich. Wieso sich um die Probleme anderer Leute scheren? Sie hatten eine Woche schulfrei, und dank Adolf Hitler sah die Zukunft rosiger aus denn je - so dachten sie zumindest. Langsam folgte ich den anderen nach drau�en.
Schleidenstra�e 11
Eine Woche sp�ter fand ich mich mit etwa zwanzig Klassenkameraden von der K�thnerkampschule an der neuen Schule Schleidenstra�e 11 ein, wo wir auf zwei Klassen verteilt wurden. Ich war nicht mehr das versch�chterte Kind, das sechs Jahre zuvor seinen ersten Schultag an der K�thnerkampschule angetreten hatte, sondern war inzwischen zu einem selbstbewussten Jungen herangewachsen. Ich versp�rte nichts mehr von der Panik, die mich damals erfasst hatte. Stattdessen war ich fast ein wenig gro�spurig geworden. Trotzdem war ich froh, dass meine Freunde Karl Morell und Fiffi Peters mit mir zusammen in eine Klasse kamen. Unser neuer Klassenlehrer war Herr Henry Herbst, ein noch recht junger Mann mit schwarzem Haar, schwarzen buschigen Augenbrauen, energischem Kinn und markanten Gesichtsz�gen. Da er dazu neigte, allen Dingen auf den Grund zu gehen, und einem zur damaligen Zeit beliebten Groschenheft-Krimihelden verbl�ffend �hnlich sah, nannten seine Sch�ler ihn hinter seinem R�cken Tom Shark. Der Spitzname war jedoch nicht abf�llig, sondern als Kompliment gemeint, denn Herr Herbst galt, wie der literarische Detektiv, als ungemein fairer, sachlicher Mensch, der sein Handwerk verstand. Nachdem er uns Neulinge begr��t hatte, z�hlte er auf, was er alles in seiner Klasse nicht dulden w�rde. �Wenn euch mal jemand gesagt hat, dass Lernen Spa� machen sollte�, fuhr er fort, �vergesst es! In meiner Klasse, meine Herren, ist Lernen Arbeit - sogar harte Arbeit.
Wer von den Neulingen meint, er k�nne sich auf die faule Haut legen, ist gewaltig im Irrtum.� Als es am Ende der letzten Stunde klingelte, bat Herr Herbst mich, noch kurz zu bleiben. Ich machte mich schon auf einige Beleidigungen � la Wriede gefasst, sollte aber angenehm �berrascht werden. �Ich m�chte nur etwas ein f�r alle Mal klarstellen�, begann er. �Deine Hautfarbe hat f�r mich absolut keine Bedeutung. In meiner Klasse wirst du behandelt wie alle anderen. Ich habe deine Zeugnisse gesehen und wei�, dass du ein guter Sch�ler bist. Wenn du weiterhin flei�ig arbeitest und dich gut benimmst, m�ssten wir eigentlich gut miteinander auskommen.� Ich versicherte ihm, dass ich mein Bestes geben w�rde, und er sch�ttelte mir die Hand und lie� mich gehen. In den fast zwei Jahren, die er mein Lehrer war, hielt er sein Wort. Er kam nie wieder auf meine Hautfarbe zu sprechen und machte auch nicht die leiseste Andeutung, dass sie f�r ihn irgendeine Rolle spielte. Auch die Eingew�hnung in meine neue Klasse verlief reibungslos. Zwar erregte meine Erscheinung wie immer gro�e Neugier, vor allem w�hrend der Pausen auf dem Schulhof, doch ich wurde niemals provoziert. In den ersten Wochen blieben wir Jungen von der K�thnerkampschule �berwiegend unter uns. Doch schon bald schlossen wir neue Freundschaften, so dass die Grenzen zwischen den Neulingen und alten Hasen immer mehr verwischten. Kurz nach meinem Wechsel auf die neue Schule machte ich eine bedeutsame Entdeckung, genauer gesagt, eine Wiederentdeckung M�dchen. Seit ich zur Schule ging, waren M�dchen f�r mich fast unsichtbar gewesen. Sie waren einfach da, auf der anderen Seite des Schulhofes, und weder ich noch
meine Altersgenossen schenkten ihnen irgendwelche Beachtung, geschweige denn, dass wir miteinander spielten. Mit einem Mal �nderte sich das. Ohne dass es einen bestimmten Ausl�ser gegeben h�tte, waren M�dchen von heute auf morgen f�r uns das Thema an sich. Zwar stellte das nach Geschlechtern getrennte Schulsystem noch immer eine unsichtbare Schranke zwischen Jungen und M�dchen dar, doch wir aus der siebten Klasse waren uns pl�tzlich unserer weiblichen Pendants im M�dchenfl�gel der Schule nicht nur deutlich bewusst, sondern f�hlten uns auch zu ihnen hingezogen. So, wie die M�dchen kicherten und uns aufmunternde Blicke zuwarfen, konnte kein Zweifel daran bestehen, dass das Gef�hl auf Gegenseitigkeit beruhte. Unser frisch erwachtes Interesse an M�dchen bekundeten wir auf ganz unterschiedliche Weise; entweder verhielten wir uns laut und ausgelassen, gaben mit irgendwelchen Kunstst�ckchen an oder rauften miteinander. Bei unseren K�mpfen ging es jedoch nicht darum, die Zuneigung eines bestimmten M�dchens zu gewinnen, sondern sie waren nur ein Mittel, um zu protzen und auf uns aufmerksam zu machen. Eine etwas unauff�lligere und weitaus wirkungsvollere Methode, unser Interesse am anderen Geschlecht zu signalisieren, war der Austausch von Briefchen, die von Boten wie mir heimlich �berbracht wurden. Da solche Leute wie Wriede und Dutke mir unmissverst�ndlich klar gemacht hatten, dass �jemand wie ich� sich niemals mit einem deutschen M�dchen einlassen d�rfte, begn�gte ich mich damit, meine amour�sen Bed�rfnisse dadurch zu stillen, dass ich bei verschiedenen P�rchen als Vermittler und Vertrauter fungierte. Wie Cyrano de Bergerac gab ich
einem Freund Ratschl�ge, wie er die Zuneigung eines M�dchens gewinnen konnte, ohne mir anmerken zu lassen, dass ich in die Betreffende genauso verknallt war wie er, wenn nicht noch mehr. Immerhin bot mir das einen Vorwand, meiner Angebeteten nahe zu sein, ohne das Risiko einzugehen, von ihr zur�ckgewiesen zu werden oder mir von Erwachsenen - vielleicht den Eltern des M�dchens - anh�ren zu m�ssen, dass ich nicht genehm war.
Ein neues Hobby
F�r meine Altersgenossen gab es nichts Wichtigeres und Faszinierenderes als Fu�ball. Alle Jungen in meiner Klasse waren fu�ballvernarrt, und wer selbst kein guter Fu�baller war, machte das Defizit dadurch wett, dass er ein begeisterter Zuschauer und Fu�ballfan war. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war ich weder das eine noch das andere. Ich war ein guter Leichtathlet, aber hinter einem Ball herzujagen oder anderen dabei zuzusehen interessierte mich einfach nicht, und diese Gleichg�ltigkeit machte mich in einer Stadt, die geradezu f�r Fu�ball lebte, genauso zu einem Au�enseiter wie meine Hautfarbe. Dass es mich kalt lie�, ob der HSV gewann oder verlor, war gleichbedeutend mit Hochverrat. F�r mich war Fu�ball und alles, was dazugeh�rte, einfach nur langweilig. Aus diesem Grund betrachteten mich meine Klassenkameraden, wenn es um Fu�ball ging, berechtigterweise als Flasche, und es war ihnen am liebsten, wenn ich nicht in ihrer Mannschaft spielte. Sosehr es auch meinen Stolz verletzte, im Fu�ball als Null zu gelten, konnte ich meine Abneigung gegen diese Sportart trotzdem nicht �berwinden. Da ich aber Sport im Allgemeinen liebte, hatte ich das starke Bed�rfnis, eine Sportart zu finden, die mich genauso begeisterte wie meine Fu�ball spielenden Freunde und die mir die dringend ben�tigte Anerkennung verschaffte. Der Zufall kam mir bald zu Hilfe. Eines Tages - ich war etwa zw�lf Jahre alt - ging ich mit einigen Freunden von der Schule nach Hause, als uns ein junger, sportlich wirkender Mann ansprach, den man als gut aussehend h�tte bezeichnen k�nnen, wenn er nicht eine viel zu
breite, platte Nase gehabt h�tte. Er stellte sich als Rudi vor und sagte, er sei Trainer in einem Amateurboxverein in Bramfeld. Dann wollte er wissen, ob wir uns f�r Boxen interessierten und ob wir nicht Lust h�tten, mal beim Training seiner Nachwuchsmannschaft zuzusehen. Falls es uns gefiel, k�nnten wir dem Verein beitreten. Ich war sicher, dass der Trainer nicht mich meinte, da ich zu der Zeit bereits wusste, dass s�mtliche Sportvereine in Deutschland dem NS-Ministerium f�r Sport unterstanden. Mein so verheerend gescheiterter Versuch, Hitlerjunge zu werden, hatte mir s�mtliche Hoffnungen genommen, jemals von irgendeiner Organisation mit offenen Armen aufgenommen zu werden. Aber als ich schon weitergehen wollte, da ich ohnehin gleich zu h�ren bekommen w�rde, dass der Verein keine Nicht-Arier aufnahm, sprach der Trainer mich direkt an. �Wenn du zu uns kommst, k�nnte ich einen sehr guten Boxer aus dir machen�, sagte er. Ich wollte meinen Ohren nicht trauen, aber ich sagte trotzdem sofort zu. �Kommt zum Neuen Sch�tzenhof�, sagte Rudi. �Wir trainieren jeden Dienstag- und Freitagabend und jeden Sonntagvormittag. � Wir f�nf versprachen zu kommen, vorausgesetzt nat�rlich, unsere Eltern w�rden es erlauben. Wie ich mir gedacht hatte, war meine Mutter nicht gerade begeistert, dass ich einem Boxverein beitreten wollte, aber sie gab mir trotzdem ihren Segen. �Sobald du einen Schlag abbekommst, der richtig wehtut, h�rst du sowieso wieder auf�, prophezeite sie. Meine Mutter kannte mich gut, aber so gut nun auch wieder nicht.
Die Trainingshalle, die sich in einem heruntergekommenen, umgebauten Schankraum des ehemaligen Sch�tzenhofes befand, war f�nfzehn Minuten mit dem Fahrrad entfernt. Als wir jungen dort eintrafen, waren etwa drei�ig M�nner und jungen, etliche davon in unserem Alter, mit den verschiedensten Aktivit�ten besch�ftigt. Neben wirbelnden Springseilen h�rten wir das blitzschnelle Aufprallen der Lederhandschuhe zweier M�nner beim Sparringskampf im Ring, w�hrend andere auf ein Arsenal von schweren Sands�cken und Punchingb�llen einschlugen, die von der Decke hingen. Schon wenige Monate sp�ter war diese rein m�nnliche Unterwelt aus Blut, �chzen und bei�endem Schwei�geruch zu meiner Welt geworden. Dreimal die Woche schwang ich mich in meinem Trainingsanzug aufs Fahrrad, die Boxhandschuhe um den Hals geschlungen, und machte mich auf den Weg nach Bramfeld. Schon bald fuhr ich allein zum Training, da meine vier Kumpel einer nach dem anderen ausgestiegen waren, sobald sie die unsanfte Erfahrung gemacht hatten, dass man beim Boxen nicht nur austeilt, sondern auch einstecken muss. Rudi, ein ehemaliger Amateur-Leichtgewichtschampion, der von Beruf Elektriker war, entpuppte sich als gestrenger Lehrmeister, doch er war ein g�tiger und einf�hlsamer Freund, der in uns die Liebe zum Boxen weckte und uns die Bedeutung von echter Fairness klar machte. Von ihm lernte ich, dass es nichts Niedrigeres gab als den Schlag unter die G�rtellinie, in die Nieren oder auf einen am Boden liegenden Gegner. Vor jedem Sparringskampf mussten wir uns die H�nde sch�tteln und uns hinterher kameradschaftlich umarmen.
Rudi war �berzeugt, dass ich das Zeug zu einem guten Boxer hatte, denn ich besa�, wie er sagte, eine �nat�rliche Begabung� - schnelle Beine, schnelle F�uste und schnelle Reflexe -, Voraussetzungen, die es lohnte auszubauen. Da ich an offiziellen Meisterschaften in der Juniorenmannschaft erst mit vierzehn Jahren teilnehmen konnte, rechnete Rudi sich aus, dass er mich in zwei Jahren so weit h�tte, es mit jedem in meiner Gewichtsklasse aufnehmen zu k�nnen. �Ich mache aus dir einen deutschen Juniorenmeister�, versprach Rudi. �Mach du einfach so weiter wie bisher, und �berlass alles �brige mir.� Der Gedanke, dass ich vielleicht eines Tages in die Fu�stapfen meines gro�en Helden Joe Louis treten k�nnte, der gerade seinen Bezwinger von vor zwei Jahren, Max Schmeling, besiegt hatte und neuer Weltmeister im Schwergewicht geworden war, spornte mich ungemein an. Doch auch ohne derart verstiegene Tr�ume empfand ich die Zeit im Boxverein als �beraus lohnend und sinnvoll. Abgesehen davon, dass ich dort meine Aggressionen, die ich als Reaktion auf die st�ndigen Kr�nkungen zunehmend entwickelte, abreagieren konnte, verbesserte sich meine k�rperliche Verfassung, und mein Ansehen unter meinen Altersgenossen wuchs betr�chtlich. Sogar die �lteren und gr��eren Jungen nahmen mich nun ernst und behandelten mich mit Respekt. Als sich in der Schule und in meinem Viertel allm�hlich herumsprach, dass ich ein veritabler Faustk�mpfer geworden war, verbreitete sich die �berzeugung, dass es kl�ger war, sich nicht mit mir anzulegen. Ein merkw�rdiger Zufall wollte es, dass die Nazis, kurz nachdem ich dem Boxverein beigetreten war, Boxen
zum festen Bestandteil des Sportlehrplans an allen Schulen machten, da sie �berzeugt waren, dass Boxen den Charakter festige und das Selbstvertrauen st�rke, zwei Eigenschaften, die sie den jungen deutschen M�nnern einfl��en wollten. Als die ersten Boxstunden an meiner Schule erteilt wurden, von einem Lehrer, der zuvor einen Schnellkurs absolviert hatte, war ich bereits ein recht erfahrener Amateurboxer. Da man im Land der Blinden als Ein�ugiger K�nig ist, wurde ich sogleich als Boxstar bejubelt. H�ufig bat mich der Lehrer, verschiedene Boxtechniken vorzuf�hren, und hin und wieder veranstaltete er Schauk�mpfe, in denen ich gegen eine ganze Reihe von Gegnern antreten musste. Da meine Sparringspartner alle unerfahren waren, hatte ich Gelegenheit, gefahrlos mein K�nnen unter Beweis zu stellen. Doch nachdem ich einige Wochen in meinem neu gewonnenen Ruhm baden durfte, teilte mir der Lehrer mit, dass er die Schauk�mpfe einstellen m�sse, weil sie nicht zum Lehrplan geh�rten. Das war sicher nicht der wahre Grund; bestimmt hatten einige seiner Kollegen die Bef�rchtung, dass es eine falsche Botschaft vermitteln k�nnte, wenn mir als Nicht-Arier Gelegenheit geboten wurde, in einem so beliebten Sport wie Boxen meine �berlegenheit zur Schau zu stellen. Doch inzwischen war mein Ruf als bester Boxer der Schule fest etabliert, und daran sollte sich auch bis zum Ende meiner Schulzeit nichts mehr �ndern. Im Boxverein musste ich mir dagegen meine Sporen sehr viel h�rter verdienen. Rudi lie� mich st�ndig in den Ring steigen, und ich musste gegen Jungen antreten, die sowohl schwerer waren als ich als auch eine gr��ere Reichweite besa�en. Auf diese Weise lernte ich, mir meine Schnelligkeit und die guten Reflexe zu Nutze zu
machen, denn ich konnte mich blitzartig ducken oder zur Seite ausweichen, bevor meine Gegner einen Schlag landeten. Manchmal aber lie� mich meine Reaktionsschnelligkeit im Stich, und ich handelte mir eine blutige Nase, eine gesprungene Lippe, ein blaues Auge oder einen ausgerenkten Kiefer ein. Etliche Male zog ich ernsthaft in Betracht, meine Boxhandschuhe f�r immer an den Nagel zu h�ngen, um nicht noch weitere harte Schl�ge einzustecken. Doch jedes Mal entschied ich mich dagegen, wenn ich mir vorstellte, wie meine Spielkameraden oder Mitsch�ler die Nachricht auffassen w�rden. Au�erdem brachte ich es nicht �ber mich, Rudi ins Gesicht zu sagen, dass ich klein beigeben wollte. Also gab ich nicht auf und entschied mich f�r die einzige andere M�glichkeit: Ich st�rzte mich mit allem Ehrgeiz in die Sache und trainierte immer h�rter, um meine technischen Schwachstellen zu beheben. Wenn ich mich nicht gerade am Punchingball oder mit Laufen oder Seilspringen verausgabte, stand ich im Ring und ma� mich mit den Jugendlichen aus der Juniorenmannschaft. Ganz allm�hlich entwickelte ich eine Gewandtheit, die es meinen Gegnern im Ring unm�glich machte, einen gezielten Schlag zu landen. Aber ich blieb dem Boxen nicht nur deshalb treu, weil ich f�rchtete, als Dr�ckeberger abgestempelt zu werden. Nein, ein weiterer Grund war der, dass die Atmosph�re im Bramfelder Boxverein seltsamerweise frei war von der Nazi-Ideologie, die alles andere zu durchdringen schien - eine apolitische Insel in einem Meer von Hitlerfanatismus. Was an Annehmlichkeiten fehlte - es gab keine Duschen und nur veraltete Sportger�te -, wurde durch den Zusammenhalt unter den Mitgliedern wieder ausgeglichen. Es waren einfache Leute aus der
Arbeiterschicht, die einander wirklich mochten und akzeptierten, mich eingeschlossen. Wenn meine Rassenzugeh�rigkeit zur Sprache kam - was ganz selten der Fall war -, dann nur, weil sie als ein beneidenswertes Plus betrachtet wurde. Die meisten aus meiner Mannschaft waren wie Rudi der �berzeugung, dass die afrikanischen Gene meines Vaters einen ausgesprochenen Vorteil im Ring bedeuteten. Obwohl ihre Ansicht nat�rlich einem Klischee entsprach, war ich nicht gekr�nkt, da ich das Gleiche dachte. Ich wusste zwar nicht, ob mein Vater sportlich war, aber ich war �berzeugt, dass ich mein Boxtalent ihm zu verdanken hatte. Als ich vierzehn Jahre alt wurde, fand Rudi, dass ich so weit war, an der Landesmeisterschaft teilzunehmen. Es war daher ein gro�er Schock f�r ihn wie f�r mich, als meine Anmeldung beim Reichssportverband mit dem alten Schreckgespenst abgelehnt wurde: Nicht-Arier. Ich hatte das schon so oft geh�rt und wusste, dass jeder Widerspruch aussichtslos war, aber Rudi weigerte sich, die Ablehnung so einfach zu schlucken. Ohne Z�gern setzte er einen Brief an die h�chste Sportautorit�t im Lande auf, Reichssportf�hrer Hans von Tschammer und Osten. Wie er mir erz�hlte, kannte er jemanden mit guten Beziehungen, der schon daf�r sorgen w�rde, dass der Reichssportf�hrer den Brief pers�nlich las. In seinem Brief erl�uterte Rudi, dass ich mich durch gro�e Fairness ausgezeichnet h�tte und ein herausragendes Boxtalent sei und dass ich, wenn mir Gelegenheit gegeben w�rde, an der Meisterschaft teilzunehmen, nicht nur den Titel �Deutscher Jugendmeister� im Federgewicht gewinnen, sondern auch meinem Verein und dem Boxsport im Allgemeinen gro�e Ehre einbringen w�rde. Am Schluss
des Briefes appellierte er an den Sportsgeist und die Fairness des Reichssportf�hrers. Ich war Rudi daf�r dankbar, dass er sich f�r mich einsetzte, aber ich wusste, dass gerade die Argumente, die er angef�hrt hatte, f�r einen Nazi-Rassisten Grund genug waren, mich nicht k�mpfen zu lassen. Mein Gef�hl erwies sich als richtig. Ich wei� nicht, ob von Tschammer und Osten Rudis Brief je zu Gesicht bekam, aber Rudi erhielt jedenfalls nie eine Antwort. Als sich der Anmeldeschluss f�r das Meisterschaftsturnier bedrohlich n�herte, wurde ein anderer, ein Junge, den ich beim Training schon h�ufig durch den Ring gejagt hatte, statt meiner auserkoren. Einige Wochen sp�ter musste ich zu meinem Verdruss erleben, wie mein Stellvertreter im Verein als Held gefeiert wurde, als er mit seinem frisch errungenen Meistertitel zur�ckkehrte. Mir war zwar klar, dass es nicht seine Schuld war, dass ich vom Turnier ausgeschlossen worden war, aber ich hegte trotzdem einen tiefen Groll gegen ihn, weil er in meinen Augen etwas hatte, das rechtm��ig mir geh�rte. Ich konnte es daher kaum erwarten, dem neuen Boxmeister im Ring gegen�berzustehen - wenn auch nur beim Training -, um ihm zu beweisen, dass er nur dem Namen nach Champion war. Als es so weit war, st�rzte ich mich mit unb�ndiger Heftigkeit in den Kampf und traktierte ihn mit Schl�gen, so dass er bald mit blutender Nase in die Seile taumelte. Selbst als Rudi mir zurief, ich sollte aufh�ren, lie� ich nicht ab, als g�lte es, meinen Todfeind zu bezwingen. Schlie�lich musste Rudi in den Ring steigen und mich von meinem arg l�dierten Gegner wegzerren. �Ich bedauere, was ich �ber deine Fairness
geschrieben habe�, schrie Rudi mit unverhohlener Emp�rung. �H�r mir blo� auf mit Fairness!�, schrie ich zur�ck, zog meine Handschuhe aus und verlie� die Trainingshalle mit dem festen Entschluss, nie wiederzukommen.
Der Krieg kommt nach Hamburg
Am 1. September 1939 wurde die Nachricht, dass Hitler den Angriff auf Polen befohlen hatte und deutsche Truppen in unser Nachbarland eingefallen waren, von mir und meinen Mitsch�lern mit offener Begeisterung aufgenommen. In unserem jugendlichen Patriotismus, der durch Berichte der perfiden Goebbelsschen Propagandamaschinerie �ber Provokationen der Polen gegen dort ans�ssige Deutsche sorgf�ltig gen�hrt worden war, fanden wir es h�chste Zeit, dass Deutschland den Polen einmal zeigte, dass Deutsche sich nicht herumschubsen lie�en. Wir bedauerten nur, dass wir mit dreizehn noch zu jung waren, um selbst dabei zu sein, und dass der Krieg l�ngst vergessen sein w�rde, wenn wir ins waffenf�hige Alter kamen. Und so beneideten wir Herrn Herbst, als der uns eines Tages verk�ndete, dass er zum Milit�rdienst eingezogen worden sei. Einige Wochen sp�ter besuchte er uns nach seiner Grundausbildung, um sich uns stolz mit B�rstenhaarschnitt und in Soldatenuniform zu pr�sentieren. Als er dann lustige Anekdoten �ber seine Eingew�hnung an das Leben beim Milit�r zum Besten gab, h�tte sich niemand von uns vorstellen k�nnen, dass weder Herr Herbst noch die meisten aus unserer Klasse den Krieg �berleben w�rden. Zu unserer gro�en Entt�uschung ging das Leben in Hamburg zun�chst so weiter, als w�re noch immer Frieden. Das Einzige, was uns daran erinnerte, dass wir Krieg hatten, waren die Berichte in der Tagespresse, die Sondermeldungen im Radio und die ausf�hrlichen
Wochenschauen im Kino. Aber das sollte nicht lange so bleiben. Als Gro�britannien und Frankreich Deutschland den Krieg erkl�rten, fanden wir Kinder das naiverweise aufregend. Schon bald ersetzten wir unsere Sportidole durch Kriegshelden, wie beispielsweise den U-BootKommandanten G�nther Prien, der das britische Schlachtschiff Royal Oak mit �ber achthundert Mann Besatzung in der Bucht von Scapa Flow versenkte, oder die Jagdflieger Werner M�lders und Adolf Galland, deren Abschusszahlen von der Presse t�glich wie Fu�ballergebnisse gemeldet wurden. Die Berichte �ber die Siege der Deutschen waren f�r mich jedoch nicht immer Anlass zur Freude. Nach der schweren Niederlage der franz�sischen Armee Anfang Juni 1940 zeigten Goebbels' Kameraleute gen�sslich, wie Tausende von zerm�rbten und demoralisierten franz�sisch-afrikanischen Soldaten in zerlumpten Uniformen in die Kriegsgefangenenlager getrieben wurden, unterlegt mit dem sarkastischen Kommentar: �Da kommen die Verteidiger der westlichen Zivilisation.� In Gegenschnitten wurden ausgesprochen arisch aussehende frische deutsche Truppen gezeigt, die selbstbewusst in disziplinierten Formationen marschierten. �Und da�, so der sp�ttische Kommentator, �kommen die Barbaren.� Jede Radiosondermeldung �ber einen weiteren deutschen Sieg wurde von einer schmetternden Fanfare begleitet und endete mit dem von einem Milit�rchor intonierten beliebten Marschlied �Denn wir fahren gegen Engeland�, das den Eindruck erweckte, als w�re es ein Riesenspa�, im �Kreuzzug� gegen England zu k�mpfen und zu sterben. Der deutsche Luftschutz
startete ein gewaltiges Programm zum Bau von �ffentlichen Luftschutzr�umen. Schon bald war Hamburg f�rmlich �bers�t mit Betonbunkern, darunter zwei hohe, festungs�hnliche Superbunker auf dem Heiligengeistfeld, wo im Winter der Hamburger Dom stattfand. Diese beiden Bunker, die am Horizont wie klobige schwarze Monster aufragten, verliehen Hamburgs eleganter Silhouette aus schlanken Kircht�rmen eine finstere Note. Sie boten nicht nur Tausenden von Zivilisten Schutz, sondern dienten auch als Standort f�r schwere Flakbatterien. Au�erdem waren sie mit modernsten �Horchger�ten� ausgestattet, den Vorl�ufern des Radars, die sich wie gigantische schwarze Metallohren eines futuristischen Ungeheuers ausnahmen. Erst nach dem Krieg erfuhr die �ffentlichkeit, dass der schalldichte Keller eines dieser so genannten Flakt�rme als Folterkammer der Gestapo diente, wo angeblich noch bis zum 6. April 1945 Widerstandsk�mpfer gefoltert wurden, um sie zur Preisgabe der Namen ihrer Mitstreiter zu zwingen. Um die zielgenauen Luftangriffe aus niedriger H�he zu verhindern, wurde am Himmel �ber Hamburg mit so genannten Sperrballons eine Luftsperre eingerichtet. Die Ballons waren am Boden mit starken Drahtseilen verankert. Diese Drahtseile sollten in der Lage sein, die Tragfl�chen von angreifenden Flugzeugen zu durchschneiden. Zudem galt von Einbruch der Dunkelheit bis zur Morgend�mmerung eine strenge Verdunkelungsvorschrift, die alle B�rger verpflichtete, die Fenster mit Decken so abzudichten, dass nicht der kleinste Lichtstrahl nach drau�en drang. Die ganze Nacht hindurch suchten Flakeinheiten mit ihren Scheinwerfern den Himmel ab. Um die feindlichen
Bomber zu verwirren und die Lombardsbr�cke zwischen der Binnen- und Au�enalster zu sch�tzen, wurde die Binnenalster vollst�ndig abgedeckt und mit Matten belegt und eine falsche Lombardsbr�cke parallel zu der echten aufgebaut. Weitere Ma�nahmen, um die Bev�lkerung auf etwas vorzubereiten, das laut G�ring nie passieren w�rde, waren die Verteilung von Gasmasken und Feuerschutz�bungen f�r Zivilisten, bei denen wir mit aufgesetzter Gasmaske durch ein gro�es, mit Gas gef�lltes Zelt gehen und ein kleines Feuer mit einem Feuerl�scher bek�mpfen mussten. Um die Brandgefahr nach einem Brandbombenangriff zu verringern, wurde die Hamburger Bev�lkerung angewiesen, an einer gro� angelegten Entr�mpelungsaktion teilzunehmen. Wie Tausende andere Hamburger auch r�umten meine Mutter und ich gehorsam unseren Dachboden leer; alles, was wir nicht unbedingt brauchten - alte Matratzen, M�bel, Spielzeug, B�cher und so weiter -, schafften wir auf den B�rgersteig, wo es von Lastwagen abgeholt wurde. Trotz dieser Luftschutzma�nahmen teilten viele Leute G�rings Optimismus hinsichtlich der deutschen Luftwaffe, die in der Lage sein sollte, uns vor Angriffen zu sch�tzen. Ihr Vertrauen wurde jedoch bald entt�uscht. Am 18. Mai 1940 kamen bei einem britischen Luftangriff auf Hamburg vierunddrei�ig Menschen ums Leben. Zun�chst jedoch wurde Hamburg nur relativ selten bombardiert, ja so selten, dass jedes Mal, wenn ein Geb�ude getroffen wurde, zahllose Neugierige, darunter auch ich, zum Schauplatz eilten und die Zerst�rungskraft einer Sprengbombe bestaunten. W�hrend dieser Ruhe vor dem Sturm erfuhr ich von Onkel Fritz, dass seine Mutter, meine Tante M�ller, die er, nachdem sie krank geworden
war, zu sich in die Wohnung auf der anderen Stra�enseite geholt hatte, im Alter von zweiundsiebzig Jahren gestorben war. Ich war sehr traurig, denn Tante M�ller war f�r mich wirklich die Gro�mutter gewesen, die ich nie gehabt hatte. Mehr als jeder andere Mensch hatte sie aus mir einen echten Hamburger gemacht und in mir eine lebenslange Liebe zu dieser Stadt geweckt. Als die Luftangriffe zunahmen, wurden wir nachts immer �fter von heulenden Sirenen geweckt. Wie Esel bepackt mit bereitstehenden Koffern, in denen wir unsere kostbarsten und unentbehrlichsten Habseligkeiten verstaut hatten, gingen meine Mutter und ich mit unseren Nachbarn zum n�chsten Luftschutzraum, der sich ein St�ck die Stra�e hinunter befand. Im Gegensatz zu den Hochbunkern handelte es sich bei unserem Luftschutzraum, der rund einhundert Menschen Platz bot, um einen massiv verst�rkten Keller unter der alten dreist�ckigen Waffelfabrik, die schon l�ngst nicht mehr in Betrieb war. In dem Keller standen Holzb�nke und matratzenlose Etagenbetten an den W�nden. Er hatte drei R�ume und war mit mehreren gro�en handbetriebenen Luftpumpen ausgestattet, mit denen verbrauchte Luft nach drau�en und Frischluft hereingepumpt werden konnte.
Wie fast alle Luftschutzr�ume war auch unser Keller nicht gerade vertrauenerweckend. Doch unser Luftschutzraum war schnell zu erreichen, und es hie�, er biete �ausreichend Schutz�. Wir waren zwar nicht davon �berzeugt, hofften aber das Beste, w�hrend wir mit dem Schlimmsten rechneten.
Das Leben geht weiter
Trotz unserer immer prek�rer werdenden Lage ging das Leben in Hamburg so normal weiter, wie es unter den gegebenen Umst�nden m�glich war. Dazu z�hlte auch die Einhaltung bestimmter religi�ser Br�uche wie der Konfirmation. Da wir alle getaufte Lutheraner waren, mussten wir zum Konfirmandenunterricht, was nicht auf die Fr�mmigkeit unserer Gemeinde schlie�en lie�, sondern lediglich die Dauerhaftigkeit einer Tradition bewies. In religi�ser Hinsicht waren wir jugendliche regelrechte Banausen und auch noch stolz darauf. Unsere Nazi-Lehrer, von denen einige die R�ckkehr zum teutonischen Heidentum und die Anbetung eines Pantheons germanischer Gottheiten bef�rworteten, hatten uns dahin gehend konditioniert, dass Kirchenbesuche und Beten etwas f�r ausgemachte Waschlappen sei. Daher hatten die meisten von uns seit ihrer Taufe keine Kirche mehr von innen gesehen. Doch obwohl wir die Kirche nicht sonderlich sch�tzten, war die Konfirmation f�r uns ungemein wichtig. Zu ihrer Vorbereitung mussten wir nach der Schule im Pfarrhaus der Heiligengeistkirche in unserem Viertel am Konfirmandenunterricht teilnehmen und ein ganzes Jahr vor dem gro�en Ereignis jeden Sonntag in die Kirche gehen. In meiner Konfirmandenklasse waren f�nfundsiebzig jungen, und es wurden wohl ebenso viele M�dchen konfirmiert, die allerdings an einem anderen Tag Unterricht hatten. Obgleich uns die Einschr�nkung unserer Freizeit geh�rig gegen den Strich ging, spielten wir widerwillig mit, und wenn auch nur, weil unsere Eltern uns keine Wahl lie�en. Der Mann, der mit der schier hoffnungslosen Aufgabe betraut worden war, aus
uns respektlosen Halbheiden in nur zw�lf Monaten gottesf�rchtige junge M�nner zu machen, war Pastor Ottmer, ein st�mmiger Mann, der seinen erkl�rten Glauben an Jesus Christus, einen Juden, m�helos mit seiner fanatischen Treue zu Hitler, dem gr��ten Antisemiten aller Zeiten, unter einen Hut bringen konnte. Als begeisterter Bef�rworter von Hitlers milit�rischem Abenteuer in Polen, das er als legitime Vergeltung f�r die an Deutschland begangenen Unrechte der Vergangenheit betrachtete, bat er Gott am Ende jeder Predigt, den Deutschen weitere Siege zu bescheren und �unseren geliebten F�hrer� zu besch�tzen und zu segnen. In der Ottmerschen Theologie war Jesus als Sohn eines �unzweifelhaft arischen Gottes� schlimmstenfalls ein Halbjude, und er hatte nachweislich keine der unerw�nschten Charaktereigenschaften seiner j�dischen Verwandten m�tterlicherseits geerbt. Als �Beweis� f�hrte Pastor Ottmer zwei gro�e Gem�lde an, die in unserem Unterrichtsraum hingen; auf einem war ein blonder, blau�ugiger erwachsener Jesus dargestellt, auf dem anderen ein noch helleres und blonderes niedliches Jesuskind. Da wir im Konfirmandenunterricht weder Hausaufgaben machen mussten noch Noten erhielten, schenkten wir Pastor Ottmers Unterricht ebenso wie seinen Predigten nur wenig Beachtung. Unsere Gleichg�ltigkeit erreichte ihren dramatischen H�hepunkt - Tiefpunkt w�re die treffendere Bezeichnung - gegen Ende des Jahres bei einer seiner Sonntagspredigten. Wie �blich hatten einige von uns auf der Empore der Kirche Platz genommen, wo der Pastor uns nicht so direkt im Blickfeld hatte und wir uns ungest�rt die Zeit vertreiben konnten. Einige d�sten vor sich hin, andere
spielten Karten, und ich war wie immer in einen Krimi mit John Kling oder Tom Shark vertieft. An besagtem Sonntag falteten einige von uns vor lauter Langeweile aus den Tagesprogrammen, die wir beim Betreten der Kirche bekommen hatten, Papierschwalben. Auf ein Kommando von einem der jungen hin warfen sie sie von der Empore. Wir mussten uns ungeheuer zusammenrei�en, um nicht laut loszuprusten, als das Geschwader aus aerodynamisch perfekten Schwalben ger�uschlos und in gro�en, eleganten B�gen langsam nach unten segelte. Obgleich so mancher Papierflugk�rper Pastor Ottmer be�ngstigend nahe kam, predigte der unbeirrt weiter. Erst als er fertig war und wie immer um g�ttlichen Schutz f�r �unseren geliebten F�hrer� gebeten hatte, reagierte er endlich. �Ich wei�, wer f�r den Unfug verantwortlich ist�, rief er den S�ndern auf der Empore mit vor unchristlicher Wut bebender Stimme zu, w�hrend seine funkelnden Augen hinter der dicken Brille uns wie Blitze trafen. �In der n�chsten Konfirmandenstunde werdet ihr mich kennen lernen.� Wir hatten keine Ahnung, was Pastor Ottmer mit den �belt�tern vorhatte, aber sein Wutausbruch lie� nicht darauf schlie�en, dass er die christliche Neigung zeigen w�rde, auch noch die andere Wange hinzuhalten. Da ich jedoch mit dieser spontan inszenierten Flugschau nichts zu tun hatte, machte ich mir weiter keine Gedanken. In der n�chsten Konfirmandenstunde las Pastor Ottmer ein halbes Dutzend Namen vor, darunter, zu meiner gr��ten Verbl�ffung und Entr�stung, auch meinen. Als ich ihm sagte, dass ich blo� ein unschuldiger Zuschauer gewesen sei und mit dem Streich nichts zu tun gehabt h�tte, erwiderte er, ich solle meine gerechte Strafe �wie ein Mann� tragen. Dann
befahl er uns, nach vorn zu kommen, und teilte uns mit, dass er an uns ein Exempel statuieren wolle, indem er uns von der Konfirmation ausschlie�e, die in wenigen Wochen stattfinden sollte. H�tte Pastor Ottmer gesagt, er w�rde uns die Daumen abhacken, der Schock h�tte nicht gr��er sein k�nnen. Wie sollten wir das unseren Eltern erkl�ren, die das bevorstehende Ereignis seit fast einem Jahr vorbereiteten? Meine Mutter hatte mir bereits einen dunklen Konfirmationsanzug gekauft, meinen ersten Anzug mit einer langen Hose. Was sollte ich unseren Freunden und Nachbarn erz�hlen, den vielen �Tanten� und �Onkeln�, die meine Mutter zur Konfirmationsfeier eingeladen hatte? Einfach, dass die Konfirmation nicht stattfand, weil ich daf�r bestraft wurde, mich angeblich in der Kirche danebenbenommen zu haben? W�hrend ich mir das Hirn zermarterte, wie ich meiner Mutter die schlechte Nachricht beibringen sollte, nahm Pastor Ottmer uns noch geh�rig ins Gebet. Nachdem er uns eine Weile hatte schmoren lassen, wandelte er unsere �Exkommunizierung� in Zwangsarbeit um. Jeden Tag nach der Schule sollten wir eine Stunde lang das Grundst�ck um die Kirche herum harken und sauber halten. Au�erdem verbot er uns, die Kirchenempore noch einmal zu betreten. �Ab jetzt setzt ihr euch vor die Kanzel, so dass ich euch im Auge habe�, bellte er. �Das ist alles. Heil Hitler!� Froh, dass uns das Undenkbare erspart geblieben war, verlie�en wir das Pfarrhaus so euphorisch, als w�re uns ein neues Leben geschenkt worden, und ich schwor mir, Pastor Ottmers mahnende Worte zu befolgen und mich zuk�nftig etwas mehr zu bem�hen, auf dem schmalen Pfad der Tugend zu bleiben.
Einige Wochen sp�ter, an einem strahlenden Ostermorgen, n�herte ich mich, nach einer ausgedehnten Konfirmationspredigt von Pastor Ottmer, in einer langen Prozession von Jungen in nagelneuen dunklen Anz�gen und mit frisch geschnittenen Haaren von einer Seite dem Altar, w�hrend eine Prozession von M�dchen in gest�rkten dunklen Konfirmationskleidern von der anderen Seite kam. Immer abwechselnd erhielten ein junge und ein M�dchen von Pastor Ottmer den Segen, einen H�ndedruck und die Konfirmationsurkunde. Ich wusste, dass meine Mutter anwesend war, konnte sie aber in der voll besetzten Kirche nirgends entdecken. Als ich an die Reihe kam, bemerkte ich, dass einige Leute auf den Kirchenb�nken die H�lse reckten, um mich besser sehen zu k�nnen. �Gott segne dich�, sagte Pastor Ottmer ohne jede Herzlichkeit und sch�ttelte mir mechanisch die Hand. Ich hatte das starke Gef�hl, dass er seine ganze Christlichkeit hatte aufbieten m�ssen, um mich wie jeden anderen Jungen zu behandeln.
Lehrzeit
An dem Tag, als mir Herr Grimmelshauser, mein Lehrer in der vierten Klasse, mit einem Ausdruck des Bedauerns er�ffnete, dass ich trotz meiner guten Zeugnisse nicht auf die Oberrealschule oder das Gymnasium durfte, weil ich Nicht-Arier war, bedeutete das im Grunde, dass mir der Zugang zu einer h�heren Ausbildung verschlossen bleiben w�rde. In Hitlerdeutschland waren weiterf�hrende Schulen nur solchen Sch�lern vorbehalten, die sich in der Volksschule besonders hervorgetan hatten und zudem in der Hitlerjugend waren. Wenn ein Sch�ler nicht zum Gymnasium oder nach Ende der Volksschule zum so genannten Oberbau zugelassen wurde, hatte er praktisch keine M�glichkeit mehr, dieses Manko zu einem sp�teren Zeitpunkt irgendwie auszugleichen. Diesen Sch�lern standen somit nur noch zwei Alternativen offen - eine dreij�hrige Lehre zu absolvieren oder sich den Rest ihres Lebens als schlecht bezahlte, ungelernte Arbeiter zu verdingen. Dass mir eine anspruchsvollere berufliche Zukunft verwehrt wurde, machte meiner Mutter zum damaligen Zeitpunkt mehr aus als mir. Sie hatte sich immer vorgestellt, dass ich mal Ingenieur werden w�rde. Doch jetzt, da mir diese Laufbahn versperrt war, schlug sie vor, dass ich eine Lehre als Bauschlosser machen sollte, was ihrer Meinung nach einem Ingenieur am n�chsten kam. Als Lehrling erhielt man damals kein Gehalt, nur ein symbolisches w�chentliches Taschengeld. Das bedeutete, dass meine Mutter mich nach den acht Jahren Volksschule noch weitere drei Jahre mit durchf�ttern musste. Als ich ihr entgegnete, dass ich das nicht wolle,
sagte sie kategorisch: �Du machst die Lehre und damit basta. Aber wenn du dich damit besser f�hlst�, f�gte sie hinzu, �kannst du mir das Geld ja zur�ckzahlen, wenn du reich bist.� Von jugendlichem Optimismus erf�llt, sagte ich, die Sache w�re abgemacht. Einige Monate vor unserem Schulabschluss wurden wir zur Berufsberatung ins Arbeitsamt geschickt. Es war ein kritischer Augenblick in unserem jungen Leben, denn wenn wir nicht die Gunst eines allm�chtigen Berufsberaters erlangten, konnte es sein, dass er unseren Berufswunsch ablehnte oder uns in irgendeine miese Tretm�hle steckte. Eingedenk dessen sah ich dem Gespr�ch mit dem f�r mich zust�ndigen Berater, einem Herrn von Vett, einigerma�en beklommen entgegen. Als ich an die T�r seines B�ros klopfte, war ich ein einziges Nervenb�ndel. Und als eine Stimme mich hereinrief und ich eintrat, setzte mein Herz eine Sekunde lang aus. Hinter dem Schreibtisch sa� in aufrechter Haltung ein blonder Mann mittleren Alters, doch in dem Augenblick sah ich nichts anderes als das schwarze SS-Abzeichen an seinem Revers. Das konnte nur bedeuten, dass der Mann, in dessen H�nden meine Zukunft lag, ein Mitglied der rassistischen Eliteorganisation der Nazis war. Ich wappnete mich innerlich gegen einen erniedrigenden Vortrag �ber die Notwendigkeit, Juden und andere Nicht-Arier an der Unterwanderung des deutschen Handwerks zu hindern. Doch zu meiner gro�en �berraschung und Verwirrung zwinkerte Herr von Vett mir freundlich zu und bat mich, Platz zu nehmen. Nachdem er sich meine Zeugnisse genau angesehen und anerkennend genickt hatte, fragte er, ob ich, wie gefordert, etwas selbst Gefertigtes mitgebracht h�tte.
Nerv�s packte ich eine kleine Axt aus, die ich in Eugen Brauns Schmiede hergestellt hatte. �Hast du die ganz allein gemacht? �, fragte von Vett sichtlich beeindruckt. �Jawohl�, erwiderte ich und erkl�rte, dass ich fast meine ganze Kindheit hindurch in einer Schmiede in meiner Nachbarschaft ein und aus gegangen sei. �Da kannst du f�r Deutschland eines Tages von gro�em Nutzen sein�, erkl�rte von Vett. Ich dachte, ich h�tte nicht richtig geh�rt oder von Vett konnte nicht ganz bei Trost sein. Nach all den Schm�hungen, die ich in der Vergangenheit hatte ertragen m�ssen, klangen seine Worte geradezu unglaubw�rdig. Aber von Vett meinte es offenbar ernst. Er prophezeite, dass Deutschland eines Tages, in gar nicht so ferner Zukunft, seine Kolonien in Ostund S�dwestafrika zur�ckgewinnen werde, und dann, so sagte er, w�rden gute Handwerker gebraucht, die nach Afrika gingen, um afrikanische Arbeitskr�fte auszubilden. �Mit deinem Hintergrund und als erstklassiger Bauschlosser�, erkl�rte er, �w�rst du f�r so eine Aufgabe wie geschaffen.� Er war �berzeugt, dass ich es in dem Beruf zu was bringen w�rde, und versprach mir am Ende des Gespr�chs eine gute Lehrstelle bei einer angesehenen Firma. Ich bedankte mich, verabschiedete mich mit einem obligatorischen �Heil Hitler! � und wollte gehen. Da sagte er: �Willst du mir nicht die Hand geben? � Ich tat wie gew�nscht. Als er meine Hand schlie�lich loslie� und ich den Raum verlie�, war ich zwar froh �ber den Ausgang des Gespr�chs, aber sehr verwirrt �ber von Vetts eigent�mliches Verhalten. Ich sah den SS-Mann nie wieder, aber er hielt sein Wort. Einige Tage nach dem Gespr�ch erhielt ich ein Schreiben von der Hamburger
Filiale der Gottfried Lindner AG, einer bekannten Firma, die Lastwagenanh�nger herstellte und ihren Hauptsitz in Halle an der Saale (der Geburtsstadt meiner Mutter) hatte, mit der Bitte, mich vorzustellen. An einem Montag im April 1940 trat ich in einem nagelneuen, noch steifen Blaumann meine dreij�hrige Bauschlosserlehre bei der Lindner AG auf der Bramfelder Stra�e, von uns aus zehn Minuten mit dem Fahrrad, an. Auch f�r drei weitere Lehrlinge war es der erste Tag: Heinz Scheel, ein sanfter Bursche mit der Statur eines Gewichthebers, Ingolf Dieter, der schlaksige, gutm�tige Sohn eines ranghohen Polizeibeamten, und Lisa R�hling, ein nat�rliches �M�dchen von nebenan�, das Buchhalterin werden wollte. Nachdem Meister Neumann uns Jungen in seinem B�ro begr��t hatte, nahm er uns mit in die Werkshalle, wo von gro�en Maschinen ein ohrenbet�ubender L�rm auf uns einst�rzte und aus allen Richtungen Blitzstrahlen von Schwei�brennern unsere Augen blendeten. �Nicht in das Licht gucken�, warnte Meister Neumann uns, �das schadet den Augen.� Nicht weniger unangenehm war der dichte Rauch, der durch die Werkhalle waberte und das Atmen erschwerte. Meine erste Reaktion war tiefes Bedauern ob meiner Berufswahl. Was hatte ich mir da blo� angetan? Wieso musste ich mir ausgerechnet eine so gef�hrliche, feindselige Umgebung aussuchen, wo ich bis ans Ende meines Arbeitslebens w�rde ausharren m�ssen? Wieso war ich nicht so schlau gewesen wie mein Freund Fiffi Peters, der am selben Tag in einem makellosen Frack seine Kellnerlehre in dem eleganten Ratsweinkeller im Hamburger Rathaus antrat? Aber mir war klar, dass meine Reue zu sp�t kam, und ich beschloss, statt in Selbstmitleid zu baden, das Beste aus meiner Situation
zu machen. Ich tr�stete mich auch mit dem Gedanken, dass mein Freund Karl Morell sich f�r eine Lehre als Schmied entschieden hatte, was in meinen Augen noch unangenehmer war als Bauschlosser. Meister Neumann, ein gro�er Mann im mittleren Alter, mit grau meliertem B�rstenschnitt, frischem Gesicht und einem unverkennbaren Berliner Akzent, brachte uns zu einem gro�en Drahtk�fig, in dem eine lange Werkbank mit vier Schraubst�cken stand. An der Wand �ber der Werkbank hing ein gro�es Plakat, auf dem ein blonder Siegfriedtyp mit aufgekrempelten �rmeln und dicken Muskeln mit einem schweren Hammer in der rechten Hand abgebildet war. �ARBEIT ADELT!� verk�ndete das Plakat in gro�en Lettern vor dem Hintergrund einer Hakenkreuzfahne. Falls das Plakat uns anspornen sollte, dann hatte es seinen Zweck bei mir gr�ndlich verfehlt. Meine unmittelbare Zukunft erschien mir als eine einzige stumpfsinnige Plackerei und alles andere als nobel. �Das ist euer Arbeitsplatz�, sagte Herr Neumann. Er erkl�rte, dass der �K�fig� zu unserem Schutz da sei und dass wir ihn nur verlassen d�rften, um �zum Abort� zu gehen, in der Pause oder wenn Feierabend sei. �Von Zeit zu Zeit�, sagte Meister Neumann weiter, �werdet ihr einem Gesellen in verschiedenen Produktionsphasen als Helfer zugeteilt. Ihr werdet stets h�flich zu den Gesellen sein und tun, was sie von euch verlangen. Habt ihr verstanden? � Wir sagten zwar alle Ja, aber ich konnte den beiden anderen am Gesicht ansehen, dass sie - wie ich - nicht aus vollem Herzen sprachen. Als Lehrlinge im ersten Jahr waren wir die reinsten Laufburschen, und man brachte uns bei, die vertraglich abgesegneten Sklavendienste, die wir einem Haufen
ordin�rer und h�ufig ausfallender Gesellen und einem Meister ohne Mitgef�hl zu leisten hatten, als Teil einer nat�rlichen und unver�nderlichen Weltordnung zu betrachten. Da wir diesen zumeist unfl�tigen und ungehobelten Arbeitern unterstellt waren, die ohne Ausnahme und ungeachtet ihres Alters eine kindische Vorliebe f�r obsz�nen �Humor� an den Tag legten, hatten wir Lehrlinge keine andere Wahl, als schnell erwachsen zu werden, wenn wir es in diesem ungesunden Klima aushalten wollten. Die Gesellen schienen es f�r ihre heiligste Pflicht zu halten, uns Anf�ngern bei jeder sich bietenden Gelegenheit - und derer gab es viele unmissverst�ndlich klar zu machen, dass wir unf�hige Schwachk�pfe seien und eine Schande f�r unser Handwerk. Das einzig Positive an meiner neuen Situation war, dass die Gesellen allen Lehrlingen, wenn auch vor allem denen im ersten Jahr, die gleiche Verachtung entgegenbrachten und dass ich, mit Ausnahme eines einzigen �blen Zwischenfalls, wegen meiner Hautfarbe niemals schlechter behandelt wurde als die anderen. Da wir Lehrlinge den Mund zu halten hatten, gestaltete sich die Kommunikation zwischen uns und den Gesellen als ziemlich einseitig und beschr�nkte sich im Gro�en und Ganzen auf die Arbeit. Doch indem ich den Mund geschlossen und Augen und Ohren offen hielt, bekam ich bald mit, was die Gesellen f�r eine politische Einstellung hatten. Obwohl sie sich h�teten, es offen auszusprechen, lie�en ihre zynischen Bemerkungen nach jeder Rundfunkmeldung der Regierung keinen Zweifel daran, dass sie keine Anh�nger Hitlers und des NSRegimes waren.
W�hrend ich zu den meisten Gesellen ein nicht gerade herzliches Verh�ltnis hatte, gab es dennoch eine bemerkenswerte Ausnahme: Hannes Mauer, der mein Freund und Vertrauter wurde. Herr Mauer, ein gut aussehender Mann in den Drei�igern mit dunkelbraunem, welligem Haar und Clark GableB�rtchen, war Schwei�er, dem ich verschiedentlich zugeteilt wurde. Nachdem er mich in sein Herz geschlossen hatte, brachte er mir bei, wie man eine tadellose Schwei�naht hinkriegt, obwohl Schwei�en gar nicht Teil meiner Ausbildung war. Als er mir erz�hlte, dass er vor seiner Heirat jahrelang mit einem Zirkus durchs Land gereist war und etliche Anekdoten aus dieser Zeit zum Besten gab, war ihm meine uneingeschr�nkte Bewunderung sicher. Schon bald war er nicht nur mein beruflicher Lehrer, sondern auch mein Mentor in Fragen, die nichts mit der Arbeit zu tun hatten.
Und nachdem er mich davon �berzeugt hatte, dass er die Nazis aus tiefstem Herzen hasste, war er der einzige Mensch in der Firma, mit dem ich getrost �ber alles reden konnte - auch �ber Politik.
Hans Vollmer
Eigentlich hatte ich meine Boxhandschuhe f�r immer an den Nagel h�ngen wollen, aber ich �nderte meine Meinung rasch wieder. Irgendwie lie� mich das Boxen nicht mehr los. Ich brauchte die k�rperliche Anstrengung, das Gef�hl, dass mein K�rper zu H�chstleistungen getrieben wurde. Au�erdem genoss ich die Kameradschaft und den Zusammenhalt innerhalb und au�erhalb des Rings. Rudi �berzeugte mich davon, dass Amateurboxen auch ohne Meisterschaftsg�rtel Spa� machte, und brachte mich dazu, weiter zu trainieren. Kurz darauf wurden er und einige �ltere Vereinsmitglieder jedoch zur Wehrmacht eingezogen, und der Bramfelder Boxverein l�ste sich auf. Die �briggebliebenen wurden vom Polizei-Boxverein �bernommen. Seltsamerweise hatte nie jemand etwas dagegen einzuwenden, wenn ich mit einigen anderen aus dem Bramfelder Klub in der Turnhalle der Polizeikaserne trainierte. Es wimmelte dort nur so von Polizisten, deren oberster Dienstherr niemand anders war als Reichsf�hrer SS und Chef der deutschen Polizei, Heinrich Himmler. Ich wei� bis heute nicht, wieso ich damals so tollk�hn war, mich sozusagen in die H�hle des L�wen zu begeben, denn wenn irgendein der SS nahe stehender Polizist sich durch die Anwesenheit eines Nicht-Ariers gest�rt gef�hlt h�tte, w�re mein Schicksal wohl besiegelt gewesen. Jedenfalls lernte ich dort einen jungen, gewieften Mittelgewichtsboxer namens Hans Vollmer kennen. Er war drei Jahre �lter und fast einen Kopf gr��er als ich, und trotz seiner Jugend besa� er die unglaubliche
F�higkeit, einen Gegner mit einer einzigen wuchtigen Rechten ins Land der Tr�ume zu schicken. Er wurde mein bester Freund und zum Ersatzventil f�r meine verhinderten Boxerambitionen. Jedes Mal, wenn er sich auf einen Kampf vorbereitete, erlebte ich die Anspannung und Nervosit�t genau wie er, und wenn er gewann, war es f�r mich wie mein eigener Sieg. Unsere Freundschaft beschr�nkte sich nicht auf das Boxen, sondern wir verbrachten auch sonst viel Zeit zusammen. Abends gingen wir entweder ins Caf� K�nig gleich bei mir um die Ecke oder in eine der vielen Spelunken auf der Reeperbahn. Da dort viele streitlustige junge Burschen verkehrten, lief man st�ndig Gefahr, in eine Rauferei zu geraten. Hans und ich vermieden meist jede Konfrontation, indem wir einfach weggingen, wenn wir provoziert wurden. Schlie�lich hatte unser Boxtrainer uns eingesch�rft, dass die F�uste eines Boxers ohne die d�mpfenden Handschuhe leicht zur t�dlichen Waffe werden konnten. Einmal jedoch schlug Hans die Warnungen des Trainers in den Wind. Wir waren gerade an vier jungen M�nnern vorbeigegangen, die vor einem Nachtklub in Barmbek standen, als einer von ihnen so laut fragte, dass wir es mitbekommen mussten: �Was hat denn der Neger hier zu suchen?� Wie von der Tarantel gestochen, fuhr Hans herum und sagte zudem Mann: �Was war das eben?� �Ich hab gefragt, was der Neger hier zu suchen hat�, wieder holte der andere. Dann baute er sich drohend vor Hans auf und sagte: �Was geht dich das an?� Ich hatte gehofft, dass der Mann, der mich provoziert hatte, sich Hans genauer ansehen und an der platten Nase, der Narbe �ber der linken Augenbraue und den breiten
Schultern erkennen w�rde, dass er einen erfahrenen Boxer vor sich hatte, um daraufhin den R�ckzug anzutreten. Doch stattdessen hob er die F�uste und trat auf Hans zu. Bevor er einen weiteren Schritt machen konnte, landete Hans' blitzschnelle Rechte mit einem Knirschen, als w�rden Knochen brechen, auf seinem Unterkiefer. Wie von einer Axt gef�llt, kippte der Mann nach hinten und blieb auf dem Boden liegen, wo er irgendetwas Unverst�ndliches lallte, w�hrend ihm d�nne Blutf�den aus beiden Mundwinkeln sickerten. Verschreckt suchten die drei anderen das Weite und blieben in sicherem Abstand stehen, sosehr Hans sie auch aufforderte, zur�ckzukommen und es mit ihm aufzunehmen. Ich redete Hans zu, dass wir schleunigst abhauen sollten. Falls er n�mlich seinem Gegner tats�chlich den Kiefer gebrochen hatte, k�nnte die Sache f�r uns b�se Folgen haben, erst recht, wenn sein Opfer ein Nazi war. Gl�cklicherweise konnten wir uns ungehindert verdr�cken, und Hans' tatkr�ftiger Einsatz f�r meine Ehre hatte kein weiteres Nachspiel. Einige Zeit sp�ter kam Hans �berraschend bei uns vorbei und unterbreitete uns eine erschreckende Nachricht. Das Haus, in dem er und seine Eltern im Stadtteil Hamm wohnten, war beim Bombenangriff in der Nacht zuvor durch einen Volltreffer total zerst�rt worden. Wie viele andere Hamburger auch waren er und seine Eltern nachl�ssig geworden und nicht mehr bei jedem Fliegeralarm in den n�chsten Luftschutzbunker gegangen, diesmal jedoch hatte ihnen ein siebter Sinn eingegeben, der Warnung Folge zu leisten. Einige Nachbarn, die in ihren Wohnungen geblieben waren, konnten nur noch tot aus den Tr�mmern geborgen werden. Er erz�hlte, dass er und seine Eltern in einer
Notunterkunft f�rstlich behandelt wurden. Schon wenige Wochen sp�ter bekamen die Vollmers eine gr��ere Wohnung in einer besseren Gegend zugewiesen. Die Presse berichtete ausf�hrlich �ber die gro�z�gigen Wiedergutmachungsleistungen gegen�ber den Opfern der ersten Bombenangriffe. Die Royal Air Force flog immer h�ufiger Vergeltungsangriffe gegen deutsche St�dte, und mittlerweile waren ausgebombte H�user in Hamburg ein allt�glicher Anblick. Weniger allt�glich war der Anblick von prominenten Nazis in zerbombten St�dten, und ich h�rte viele Leute dar�ber murren, dass Hitler selbst sich nie vor Ort blicken lie�, wo doch schon allein seine Anwesenheit den Menschen, die alles verloren hatten, neuen Mut gegeben h�tte. Erst nach dem Selbstmord Hitlers wurde bekannt, dass er, aus welchen Gr�nden auch immer, Hamburg - die zweitgr��te Stadt des Landes - w�hrend des Krieges nicht ein einziges Mal besucht hatte.
Swingboys
Gegen Ende meines zweiten Lehrjahres war es f�r mich zur Normalit�t geworden, so hart und so lange zu arbeiten wie ein Erwachsener. Doch selbst unter diesen anstrengenden Bedingungen hatte mein Leben auch noch angenehme Seiten. Jeden Abend nach der Arbeit machte ich wie Tausende anderer junger Burschen eine erstaunliche Wandlung durch. Aus den �lverschmierten und schmutzstarrenden Arbeitern wurden penibel frisierte, manik�rte und schick gekleidete M�nner von Welt - das glaubten wir zumindest. Mit jeder Wandlung lie�en wir die Welt der Maschinen, des Drecks und der Plackerei hinter uns und betraten das Phantasiereich der �Swingboys�, einer nicht eingetragenen, nicht organisierten und f�hrerlosen Gemeinschaft. Die SwingboyBewegung, wenn man sie so nennen wollte, rekrutierte sich zwar haupts�chlich aus der Arbeiterschaft, hatte aber in praktisch allen gesellschaftlichen Schichten ihre Anh�nger. �hnlich wie die Punker der achtziger Jahre empfanden die Swingboys das pubert�re Bed�rfnis, gegen jeden Konformismus zu rebellieren, in unserem Fall also gegen die Reglementierung durch die Nazis. Ebenso wie die Punker hatten wir weder eine politische �berzeugung noch ein Programm. Aber im Gegensatz zu den Grunge-Punkern waren wir �bertrieben ordentlich und kleideten uns st�dtisch elegant. Unsere unerkl�rten Ziele waren es, unsere establishmentfeindliche Haltung auszudr�cken, jedoch ohne uns dadurch �rger mit der Gestapo einzuhandeln, so oft wie m�glich Jazz zu h�ren, unsere Lieblingsmusik, die von den Nazis als �Negermusik�
verboten worden war, und schlie�lich Eindruck bei den M�dchen zu machen. Swingboys scheuten keine M�hen, wenn es darum ging, das genaue Gegenteil der NS-Jugend zu verk�rpern. Das bedeutete unter anderem, dass wir die Haare nicht milit�risch kurz wie in der HJ, sondern lang und mit Koteletten trugen. Ich hatte das Problem, dass mein Haar so unglaublich widerspenstig war. Erst mit Hilfe ungeheurer Mengen Pomade f�gte es sich dem vorgeschriebenen �ber-dem-Kragen-Stil der Swingboys. Die Koteletten stellten mich vor noch gr��ere Probleme.
Wie oft ich mich auch vor den Ohren rasierte, die Partie blieb so haarlos wie ein Kinderpopo. Dieser offensichtliche Makel wurde jedoch dadurch, dass mir bereits ein Schnurrbart wuchs, um den mich viele beneideten, wettgemacht. Er war zwar nicht gerade �ppig, aber immerhin mit blo�em Auge zu erkennen. Unser gro�es Vorbild war Johannes Heesters, und wie er trugen wir zweireihige Jacketts, weit ausgestellte Hosen, die fast unsere Schuhe verdeckten, gest�rkte Hemdkragen, marineblaue, taillierte M�ntel, Homburgs und - die ultimative Eleganz - wei�e Seidenschals. Nie kam uns in den Sinn, dass wir pickelgesichtigen, flaumwangigen pubertierenden jungen nicht wie Heesters aussahen, sondern eher wie HeestersKarikaturen. Da Tanzmusiker ganz weit oben auf der Prestigeskala der Swingboys standen, hatte ich beschlossen, meinem Image und meinem Ego etwas Gutes zu tun, indem ich den zweiten Versuch unternahm, ein Musikinstrument zu lernen. Eines Tages fiel mein Blick zuf�llig auf eine silbergl�nzende Trompete im Schaufenster eines
Musikgesch�fts, und es war Liebe auf den ersten Blick. Ich pl�nderte sofort meine Ersparnisse, und das Instrument wechselte den Besitzer. Bei meiner Suche nach einem Lehrer stie� ich auf das Vermeeren-Konservatorium, eine private Musikschule, die Trompetenunterricht zu einem Preis anbot, den ich mir leisten konnte. Ich machte mich mit Feuereifer an die Sache, doch obwohl ich mir redliche M�he gab, schaffte ich es nicht, die richtige �Embouchure� hinzukriegen, also die Mundstellung, die n�tig ist, um einem Blasinstrument Musik zu entlocken. Mein Lehrer, ein Mann mit dunkelbraunem Wallehaar, buschigen Brauen und einer kr�ftigen Kinnlade, beschloss nach gr�ndlicher Inspektion meiner Trompete, dass meine Lippen daf�r verantwortlich seien. �Ich denke, sie sind etwas zu voll zum Trompeteblasen�, sagte er. �Vielleicht solltest du ein anderes Blasinstrument nehmen, zum Beispiel die Klarinette, da spielt die Lippengr��e nicht so eine Rolle.� Als ich ihn darauf hinwies, dass der bekannte Louis Armstrong auch nicht gerade d�nnlippig sei, erwiderte er, dass die Ger�usche, die Satchmo seinem Instrument entlockte, auch nicht gerade Musik seien. Damit fanden meine Trompetenstunden am VermeerenKonservatorium ihr Ende, und ich beschloss, mich autodidaktisch weiterzubilden. Zum Leidwesen unserer Nachbarn �bte ich ohne Unterlass. Zwar wurde trotz meiner Bem�hungen aus mir nicht gerade ein Louis Armstrong, aber ich machte so gro�e Fortschritte, dass einige meiner Freunde aus der Nachbarschaft meinten, ich w�rde mich schon richtig gut anh�ren. Zentrum der Swingboyszene in unserer Gegend war das Caf� K�nig, ein gro�er Nachtklub, in dem eine flotte
Combo spielte, die sich aus Tenorsaxofon, Klavier, Schlagzeug und Bass zusammensetzte. Als F�nfzehnj�hriger ins Caf� K�nig zu kommen war leichter gesagt als getan. Jugendlichen unter achtzehn Jahren war das Betreten von Nachtklubs strengstens verboten, doch meine Freunde und ich wollten keinesfalls noch weitere drei Jahre warten. Folglich war es jedes Mal aufregend und spannend, wenn wir ins Caf� K�nig gingen, denn wir mussten irgendwie an Herrn Wilhelm K�nig vorbeikommen, dem Besitzer des Ladens. K�nig war ein angesehenes Mitglied der NSDAP und trug das Parteiabzeichen am Revers. Als ehemaliger Ringer fungierte der gedrungene, aber ungemein muskul�se K�nig auch als Rausschmei�er, und nachdem ich einmal mit angesehen hatte, wie er ganz allein rund ein Dutzend St�renfriede nach drau�en bef�rderte, wusste ich, dass mit ihm nicht zu spa�en war. Doch obwohl er regelm��ig etliche jungen und M�dchen abwies, nachdem er ihre Ausweise �berpr�ft hatte, dr�ckte er bei mir immer ein Auge zu. Au�erdem h�rte er stets weg, wenn die Band auf Dr�ngen der G�ste hin ein paar verbotene Jazztitel spielte. Wer von den falschen Leuten dabei erwischt wurde, dass er Jazz spielte, konnte verhaftet und - im Wiederholungsfall - sogar im Osten an die Front geschickt werden. Das Leben als Swingboy war auch deshalb so spannend, weil es naturgem�� immer wieder zu Reibereien mit der Hitlerjugend kam. Es verging kaum eine Woche, ohne dass eine HJ-Streife, die aus zehn bis zwanzig uniformierten jungen M�nnern bestand, in einem unserer Stammlokale auftauchte. Sie riegelten meist unauff�llig die Ausg�nge ab und gingen dann systematisch von Tisch zu Tisch, um die Haarl�nge der m�nnlichen G�ste
zu kontrollieren. Die Swingboys mit der l�ngsten Haarpracht wurden nach drau�en beordert und dann unter Bewachung irgendwo hingebracht, wo einige Friseure ihnen den Haarschnitt ihres Lebens verpassten. Da es einen unausgesprochenen Zusammenhang zwischen langen Haaren und einer nazifeindlichen Haltung gab, trugen diejenigen, die zwangsgeschoren worden waren, ihre Kahlheit wie eine Tapferkeitsmedaille. Wir betrachteten sie als M�rtyrer unserer Bewegung, junge M�nner, die f�r ihre �berzeugung den h�chsten Preis bezahlt hatten. Obgleich die Vorstellung, kahlk�pfig herumlaufen zu m�ssen, meiner Eitelkeit zuwiderlief, w�nschte ich mir manchmal, zu den Auserw�hlten der Streife zu geh�ren und auf diese Weise den begehrten Heldenstatus zu erringen. Aber das Gl�ck war mir nicht hold. Einmal war ich ganz nah dran, als ich von einem j�ngeren Mitglied einer HJ-Streife nach drau�en zitiert wurde. Voller Stolz ging ich erhobenen Hauptes zum Ausgang. Doch bevor ich die T�r erreicht hatte, stellte sich mir ein HJ-F�hrer in den Weg. �Du kannst dir die Haare so lang wachsen lassen, wie du willst, Kamerad�, sagte er �bertrieben h�flich. �Es interessiert uns n�mlich �berhaupt nicht, was du mit deinen Haaren anstellst.� Die Hamburger Swingboy-Bewegung war sicherlich harmlos und stellte f�r den NS-Staat eher ein �rgernis als eine Bedrohung dar. Dennoch war die Gestapo von den vielen dandyhaften jugendlichen alles andere als angetan. Bis zum Ende des Krieges wurden angeblich rund vierhundert Swingboys in der Stadt verhaftet, von denen zirka siebzig ins Konzentrationslager kamen.
Reingruber
W�hrend des Krieges war es fast unm�glich, den Arbeitsplatz zu wechseln, und so waren wir einigerma�en verwundert, als eines Tages ein neuer Schlossergeselle namens Reingruber in unserer Firma auftauchte. Das Einzige, was wir �ber diesen wei�haarigen, stockd�rren Mann Mitte f�nfzig erfuhren, war, dass er aus Bayern stammte und wie die meisten Bayern Katholik war. Im �berwiegend protestantischen Hamburg machte ihn diese Kombination zu einem Angeh�rigen der viel verl�sterten Minderheit der �Saubayern�. Die Bayern revanchierten sich dadurch, dass sie alle Nicht-Bayern als �Saupreu�en� bezeichneten. Mir waren Reingrubers Konfession und seine geografische Herkunft v�llig egal, daher beteiligte ich mich nie an den ver�chtlichen Bemerkungen hinter seinem R�cken. Ich fand Reingruber eigentlich ganz in Ordnung, zumal er sich gro�e M�he gab, sich mit mir anzufreunden. Anders dagegen mein Freund Hannes Mauer. �Sei blo� auf der Hut, alter Junge�, warnte er mich h�ufiger. �Ich wei� nicht, was es ist, aber irgendwas stimmt nicht mit diesem Reingruber.� Mauers Unkenrufe stie�en bei mir auf taube Ohren. Schlie�lich sagte oder tat Reingruber nie irgendetwas, das meinen Argwohn erregt h�tte. Daher war ich auch nicht ver�rgert, als Reingruber mir eines Tages mitteilte, dass er und ich gemeinsam zur Luftschutzwache eingeteilt worden waren. W�hrend des Krieges wurden s�mtliche Mitarbeiter - vom Betriebsleiter bis zum ungelernten Handlanger - in regelm��igen Abst�nden
dazu verpflichtet, eine Nacht als Luftschutzwart in der Fabrik zu verbringen. Die Wachen sollten eventuelle durch Brandbomben ausgel�ste Br�nde mit Feuerl�schern bek�mpfen und so das Werk retten. Es war im Herbst des Jahres 1942. Noch waren Luftangriffe auf Hamburg selten, so dass Reingruber und ich eigentlich mit einer ereignislosen Nacht rechnen konnten. Bevor wir uns zum Schlafen auf unsere Pritschen legten, lasen wir noch ein wenig und h�rten uns im Radio den Wehrmachtsbericht aus dem F�hrerhauptquartier an. Polen, Frankreich, Belgien und Holland waren besiegt. Deutsche Truppen standen tief in der Sowjetunion und hatten den Stadtrand von Stalingrad erreicht. Die britischen Streitkr�fte hatten bei Tobruk in Nordafrika eine schwere Niederlage einstecken m�ssen, und die Japaner machten den Amerikanern im Pazifik das Leben schwer. Trotz all der �guten� Nachrichten war Reingruber pessimistisch. Er erw�hnte, dass die Zeitungen von einem weiteren japanischen Seesieg berichtet hatten, und meinte, dass die Japaner jetzt nicht mehr aufzuhalten seien. �Glaub blo� nicht, die w�rden sich mit Asien begn�gen�, belehrte er mich. �Sobald die Deutschen und Japaner diesen Krieg gewonnen haben, schicken die Japaner ein Sonderkommando nach Berlin und lassen Hitler ermorden. Und dann erobern sie die ganze Welt. Jedenfalls sind die Nazis bald am Ende, ganz gleich, ob sie von den Alliierten oder den Japanern geschlagen werden.� Reingrubers Zukunftsvision erschien mir zwar ein wenig abwegig, aber es w�re mir nie in den Sinn gekommen, einem erfahrenen Gesellen zu widersprechen. Au�erdem musste ich an Hannes Mauer
denken, der bei Reingruber ein mulmiges Gef�hl hatte, und ich beschloss, meine Meinung in dieser Frage f�r mich zu behalten. Da alles gesagt war, l�schten wir das Licht und legten uns schlafen. Nach einer alarmfreien, ereignislosen Nacht gingen wir am n�chsten Morgen wieder an die Arbeit. Ich hatte Reingrubers d�stere Prognosen �ber den Ausgang des Krieges schon so gut wie vergessen; als eine Sekret�rin mich in das B�ro des Betriebsleiters rief. Dort wurde meinem Ged�chtnis auf �u�erst unliebsame Weise wieder auf die Spr�nge geholfen. Der Betriebsleiter Herr Habicht erwartete mich in Gesellschaft von Meister Neumann und - zu meiner Verbl�ffung - meinem Luftschutzwartkollegen Reingruber. Alle drei sahen mich mit ernster Miene an, was nichts Gutes ahnen lie�. Mir schwante, dass ich mich auf einen gewaltigen Anschiss gefasst machen musste, aber ich konnte mir einfach nicht erkl�ren, warum. Noch unverst�ndlicher war mir, was Reingruber damit zu tun hatte. Herr Habicht kam gleich zur Sache. �Wir haben von Herrn Reingruber erfahren, dass du letzte Nacht hochverr�terische �u�erungen gemacht hast. So hast du ihm beispielsweise gesagt, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, das Deutschland den Krieg verl�re. Die Schwere dieser Anschuldigung ist dir doch wohl klar, oder?� Ich war wie vor den Kopf geschlagen und brachte kein Wort heraus. Einen Moment lang verschwamm mir vor lauter Wut und Angst alles vor den Augen - Wut auf Reingruber, der dastand und mich mit einem unergr�ndlichen Grinsen betrachtete, und Angst vor der Gefahr, in die mich diese unverfrorene L�ge brachte. Schon oft hatte ich geh�rt, dass �hochverr�terische �u�erungen�, wie Hochverrat selbst, mit dem Tode
bestraft wurden. Bei diesem Gedanken fingen meine Knie zu zittern an, und mir wurde ganz schlecht. Ich begriff, dass man mich reingelegt hatte, dass ich von einem Mann, von dem ich geglaubt hatte, er sei mir wohlgesinnt, infam verraten worden war. Aber warum? Warum hasste Reingruber mich so sehr, dass er mich vernichten wollte? Was hatte ich ihm getan? Diese und �hnliche Fragen schossen mir durch den Kopf. �Nun, was hast du dazu zu sagen?� Herrn Habichts Stimme riss mich in die alptraumhafte Wirklichkeit zur�ck. �Das stimmt nicht�, stammelte ich. �Das ist gelogen. Er war es, der das gesagt hat, nicht ich. � Mir war klar, wie unglaubw�rdig ich mich anh�rte. Ich blickte hilflos von Herrn Habicht zu Meister Neumann und dann mit unverhohlener Verachtung zu Reingruber, der mich noch immer grinsend musterte. Ich versp�rte den wachsenden Drang, ihm ins Gesicht zu schlagen, noch mal und noch mal. Ich musste mich zwingen, sein unversch�mtes Grinsen zu ignorieren, weil ich sp�rte, dass ich den Impuls, Reingruber gleich hier an Ort und Stelle den Garaus zu machen, nicht mehr lange w�rde unterdr�cken k�nnen. Herr Habicht, der zu ahnen schien, was in mir vorging, schickte Reingruber aus dem Zimmer: �Sie k�nnen jetzt zur�ck an Ihre Arbeit gehen, Herr Reingruber.� Nachdem sich die T�r hinter Reingruber geschlossen hatte, sprach Herr Habicht mich erneut, aber diesmal in einem weniger unfreundlichen Ton, an. �Ich wei� nicht, wer von euch beiden l�gt�, stellte er fest. �Offensichtlich sagt einer hier nicht die Wahrheit. Ich muss dich ja wohl nicht erst darauf hinweisen, dass du mit derlei �u�erungen in Teufels K�che kommen
kannst. Wir sind mit deiner Arbeit bislang sehr zufrieden und s�hen es gar nicht gern, wenn dir etwas zusto�en w�rde. Aus diesem Grund werden wir davon absehen, die Angelegenheit bei den zust�ndigen Beh�rden zu melden. � Es gab keinen Zweifel dar�ber, wen er mit �den zust�ndigen Beh�rden� meinte. �Dir ist doch wohl klar�, sagte er weiter, �dass wir alle du, ich, jedermann - erledigt w�ren, sollte Deutschland den Krieg verlieren. Das ist dir doch klar, oder?� �Ja�, stammelte ich, wobei ich mich vergeblich bem�hte, meine zitternde Stimme glaubhaft klingen zu lassen. Die Wahrheit, die ich nat�rlich nicht eingestehen konnte, war jedoch, dass ich die weit und breit akzeptierte Goebbelssche Propaganda nie geglaubt hatte, der zufolge alle Deutschen gefoltert, vergewaltigt, gefangen genommen, versklavt oder liquidiert w�rden, falls die Alliierten den Krieg gew�nnen. Ich hielt mich an Herrn Habichts und Meister Neumanns Rat und mied Reingruber fortan wie die Pest. Als ich Hannes Mauer erz�hlte, was geschehen war, sah er sich in seiner Meinung best�tigt, doch selbst er hatte keine einleuchtende Erkl�rung daf�r, warum Reingruber meine Freundschaft gesucht hatte, um mich anschlie�end zu denunzieren. Knapp ein Jahr nach dieser denkw�rdigen Episode wurde die Fabrik im Juli 1943 bei den Luftangriffen, die den gr��ten Teil der Stadt zerst�rten, dem Erdboden gleichgemacht. Wie die meisten Arbeiter der Lindner AG, die die Bombardierungen �berlebt hatten, trat ich eine andere Arbeitsstelle an. Obwohl ich fest vorgehabt hatte, Reingrubers Verrat irgendwann auf den Grund zu gehen und vielleicht sogar nach dem Krieg mit ihm abzurechnen, bekam ich nie
Gelegenheit dazu. Sosehr ich auch nach ihm Ausschau hielt, ich sah und h�rte nie wieder etwas von ihm.
Gretchen
Trotz meiner vielversprechenden fr�hkindlichen Begegnungen mit dem anderen Geschlecht wurden meine Beziehungen zu Frauen immer sp�rlicher, je �lter ich wurde. Als ich vierzehn war, hatte ich so gut wie keinen Kontakt mehr zu M�dchen aus der Nachbarschaft und musste mich stattdessen mit Tagtr�umen und heimlichen Phantasien begn�gen. Angefangen hatte diese frustrierende Entwicklung mit einem vier Jahre zur�ckliegenden Ereignis. Damals teilte Herr Dutke der Klasse mit, dass es Nicht-Ariern �wie eurem Klassenkameraden Hans-J�rgen� nach den N�rnberger Rassengesetzen untersagt sei, Umgang mit deutschen Frauen zu pflegen oder sie zu heiraten. Zweck dieses Verbotes, so erkl�rte Dutke mit kaum verhohlenem Vergn�gen, sei die Unterbindung von �Rassenschande�, bei der edles arisches Blut mit minderwertigem nichtarischem Blut vermischt werde. Eine solche �Verw�sserung� k�nne letztlich den Untergang des deutschen Volkes herbeif�hren. Damals �rgerte ich mich eigentlich mehr dar�ber, mal wieder als Paradebeispiel des �minderwertigen NichtAriers� herhalten zu m�ssen, und weniger �ber die Mitteilung, dass ich keine deutsche Frau heiraten d�rfte. Ich war zehn Jahre alt, und Heiraten stand nun wirklich nicht ganz oben auf meinem Wunschzettel. Aber als ich in die Pubert�t kam und M�dchen immer wichtiger f�r
mich wurden, nahmen Dutkes Worte eine ganz neue, unangenehme Bedeutung an. Meine Angst, gegen das Gesetz zu versto�en, war jedoch nur eine Seite des Problems. Wenn es um das andere Geschlecht ging, hielt ich mich n�mlich f�r ein h�ssliches Entlein. Selbst wenn es kein Gesetz gegen �Rassenschande� g�be, welches M�dchen, das halbwegs bei Trost war, wollte sich wohl mit jemandem wie mir einlassen? Da ich fest davon �berzeugt war, dass sich kein M�dchen je f�r mich interessieren k�nnte, au�er vielleicht rein platonisch, lie� ich mir niemals anmerken, wenn mir eine gefiel, ganz gleich, wie gern ich sie hatte. Auf diese Weise meinte ich mir eine besch�mende Zur�ckweisung zu ersparen, die meiner Ansicht nach so sicher war wie das Amen in der Kirche. Die Situation �nderte sich erst, als ein gro�es, schlankes und ausgesprochen hochn�siges M�dchen mit zarten Gesichtsz�gen in unserer Nachbarschaft auftauchte. Ihr Name war Gretchen Jahn. Ich sah sie, als sie, ihr kleiner Bruder Ingmar und ihre Mutter in eine Wohnung ein paar H�user weiter auf unserer Stra�e einzogen, und von Stund an war es um mich geschehen. Dennoch h�tte ich nie zu hoffen gewagt, sie jemals kennen zu lernen. Die Jahns, so erz�hlte man sich in der Nachbarschaft, hatten zuvor in einer besseren Wohngegend gelebt, doch nachdem Frau Jahns Ehe mit einem h�heren Polizeibeamten gescheitert war, mussten sie sich an einen bescheideneren Lebensstil gew�hnen. Was Frau Jahn jedoch nicht daran hinderte, ziemlich arrogant aufzutreten. Sie beschr�nkte den Kontakt zu ihren Nachbarn auf ein Minimum und hielt ihre Kinder offensichtlich erfolgreich dazu an, das Gleiche zu tun. Jedenfalls w�rdigten Gretchen und ihr Bruder die Kinder
von der St�ckenstra�e keines Blickes, und die zahlten es ihnen mit gleicher M�nze heim. Die meisten meiner Freunde hielten Gretchen f�r �berheblich. Au�erdem fanden sie sie zu d�nn und daher vollkommen unerotisch. Mir war das nur lieb, denn irgendwelche Konkurrenten h�tten meine ohnehin schon hoffnungslose Situation nur noch hoffnungsloser gemacht. F�r mich war Gretchen das eleganteste und vornehmste Wesen, das ich je gesehen hatte, und im Vergleich zu ihr sahen die anderen M�dchen aus der Nachbarschaft aus wie plumpe Bauerntrampel. Doch wie immer behielt ich meine wahren Gef�hle f�r mich. Ich w�re wohl bis ans Ende meiner Tage Gretchens stiller Verehrer geblieben, wenn mir nicht eines Nachmittags im Herbst ein gl�cklicher Zufall zu Hilfe gekommen w�re. Ich war auf dem Nachhauseweg, als ich Gretchen mit einem gro�en Einkaufsnetz voller Kartoffeln aus unserem Gem�seladen kommen sah. Offensichtlich hatte sie M�he, die schwere Last zu tragen, doch noch ehe ich ihr meine Hilfe anbieten konnte, fragte sie mich auch schon, ob ich wohl so nett w�re, ihr zu helfen. Was f�r eine Frage! Ich nahm ihr das Netz ab und wollte mich vorstellen, aber sie unterbrach mich und sagte: �Ich wei�, wie du hei�t - Hans-J�rgen. � �Woher wei�t du das?�, fragte ich. �Ich wei� eine Menge �ber dich�, erwiderte sie, und dann z�hlte sie auf, in welche Schule ich ging, dass mein Vater in Afrika lebte, dass meine Mutter und ich in der St�ckenstra�e 3 wohnten, dass ich Amateurboxer war und so weiter und so weiter. Sie wusste gut Bescheid. Zu ihrer Verbl�ffung und Erheiterung drehte ich dann den Spie� um und erz�hlte ihr, was ich alles �ber sie wusste;
dass sie Gretchen hie� und ihr Bruder Ingmar, dass ihr Vater ein hohes Tier bei der Polizei war und dass sie vorher in Uhlenhorst gewohnt hatten, wo sie und ihr Bruder noch immer aufs Gymnasium gingen. Als wir kurz darauf vor ihrer Haust�r standen, fragte sie: �Hilfst du mir noch die bl�den Kartoffeln die Treppe rauftragen?� Wieder tat ich nichts lieber als das. Oben angekommen, wollte ich hastig den R�ckzug antreten, doch sie bat mich, noch zu warten. �Ich m�chte dich meiner Mutter vorstellen.� Und bevor mir eine Ausrede eingefallen war, hatte Gretchen auch schon an die T�r geklopft, und Frau Jahn �ffnete. �Danke, dass du Gretchen geholfen hast, Hans-J�rgen�, sagte sie freundlich l�chelnd, ohne abzuwarten, bis ihre Tochter mich vorgestellt hatte. Anscheinend h�tte auch sie schon von mir geh�rt. Frau Jahn, eine stattliche, bestimmt einmal sehr sch�ne Frau, war viel netter, als ich erwartet hatte. �Gern geschehen, Frau Jahn�, antwortete ich. Nachdem sie wieder in der Wohnung verschwunden war und ich mich zum Gehen wandte, dankte Gretchen mir f�r meine Hilfsbereitschaft, und dann - was mich v�llig �berrumpelte - fragte sie, ob ich abends schon etwas vorh�tte. Als ich verneinte, schlug sie vor, ob wir uns nicht �gegen sieben� zu einem Spaziergang treffen k�nnten. Ohne zu �berlegen, sagte ich Ja, und wir verabredeten uns vor der Kirche, zwei Querstra�en weiter.
Ich war fast eine halbe Stunde zu fr�h da, und von Minute zu Minute wurde ich nerv�ser oder besser gesagt panischer. Wor�ber sollte ich mit ihr reden? Wieso hatte sie sich �berhaupt mit mir verabredet? Was, wenn uns jemand sah und daran Ansto� nahm? Worauf lie�en wir
uns da blo� ein? Ich erkannte pl�tzlich, wie kompliziert mein Leben werden k�nnte und wie schlecht ich darauf vorbereitet war. In der D�mmerung sah ich Gretchens schlanke Gestalt n�her kommen. Genau in dem Augenblick, als sie bei mir war, schlug die Glocke im Kirchturm sieben. Ein sch�ner Auftakt f�r das erste Rendezvous meines jungen Lebens. Bei ihrem Anblick war meine Panik wie weggewischt, und schon bald plauderten wir ungezwungen �ber alles, was uns in den Sinn kam - unsere Hobbys, unsere Vorlieben und Abneigungen, unsere Lehrer und die Leute aus der Nachbarschaft. Sie erz�hlte mir, dass sie die anderen Jungs nicht mochte, weil sie grob und ungehobelt seien. Ich dagegen sei anders, und deshalb f�nde sie mich auch so nett. Mir war zwar nicht klar, inwieweit ich mich von den anderen unterschied, aber ich wollte ihr keinesfalls widersprechen. Von Anfang an waren wir uns beide dar�ber im Klaren, dass unser Interesse f�reinander alles andere als platonisch war. Doch wir waren im wahrsten Sinne des Wortes noch unschuldig - zwei junge Menschen, die sich zueinander hingezogen f�hlten, ohne genau zu wissen, wieso, die einander vertrauten und brauchten. Als ich ihr von meinen Bedenken erz�hlte, was passieren w�rde, wenn wir in der �ffentlichkeit zusammen gesehen w�rden, sagte sie zu meiner �berraschung, auch sie habe schon dar�ber nachgedacht. �Wir m�ssen einfach vorsichtig sein�, meinte sie. Aber ich war noch skeptisch. Vor allem wollte ich sie nicht in Schwierigkeiten bringen. �Was ist denn mit deiner Mutter? �, erkundigte ich mich. �Was h�lt sie davon, wenn wir uns treffen? �
�Sie hat nichts dagegen. Sie mag dich. Sie hat dich beobachtet, und sie h�lt dich f�r gut erzogen. Es ist ihr lieber, wenn ich mich mit dir treffe als mit irgendeinem von den anderen Jungs.� Sie gab zwar zu, dass ihr Vater das bestimmt ganz anders sehen w�rde, aber sie und ihre Mutter hatten jeden Kontakt zu ihm abgebrochen, weil er sie beide misshandelt hatte. Wie sie erz�hlte, hatte er sie gezwungen, dem BDM beizutreten, und als SS-Mann sogar versucht, sie f�r das Projekt �Lebensborn� zu begeistern, ein Lieblingskind von Reichsf�hrer SS Heinrich Himmler. Der �Lebensborn� hatte das Ziel, durch die selektive Paarung von SS-M�nnern mit �Frauen guten Blutes� einen �berlegenen arischen Nachwuchs zu z�chten. W�hrend wir plaudernd durch die dunklen Stra�en gingen, hatten wir gar nicht gemerkt, wie sp�t es geworden war, und als wir irgendwann erneut an der Kirche vorbeikamen, schlug die Uhr bereits neun. Den ganzen Abend �ber hatten wir uns nicht ein einziges Mal ber�hrt, doch jetzt ergriff ich, durch die Dunkelheit ermutigt, ihre Hand, dr�ckte sie sanft und hielt sie fest, bis wir vor ihrem Haus angekommen waren. Als wir uns verabschiedeten, trafen wir nicht gleich eine neue Verabredung, aber wir wussten beide, dass wir uns bald wiedersehen w�rden. Allm�hlich wurden unsere abendlichen Treffen immer h�ufiger und intensiver. Eine Zeit lang wusste ich nicht, wie ich meine nichtplatonischen Liebesgef�hle f�r Gretchen ausdr�cken sollte, bis sie eines Tages das Eis brach. Ich wollte mich gerade wie �blich vor ihrer Haust�r verabschieden, als sie pl�tzlich ohne jede Vorwarnung die Arme um mich schlang und mich
mitten auf den Mund k�sste. Von diesem Moment an war unsere Beziehung v�llig ver�ndert. Nach nur wenigen weiteren Treffen und nach ausgiebigen Knutsch�bungen waren Gretchen und ich keine sch�chternen und unbeholfenen Anf�nger mehr, sondern das leidenschaftlichste heimliche Liebespaar seit Romeo und Julia. Gretchen brachte mir sogar den Zungenkuss bei, den sie, wie sie beteuerte, in einem Buch kennen gelernt hatte. Doch trotz aller Leidenschaft hatte Gretchen eine unumst��liche Regel aufgestellt, die ich zu respektieren hatte - alles unterhalb der G�rtellinie war tabu. Uns beiden fiel das Einhalten dieser Regel schwer, aber Gretchen war fest entschlossen, der Versuchung zu widerstehen und Jungfrau zu bleiben. Nat�rlich bekamen die Nachbarn irgendwann mit, dass zwischen Gretchen und mir etwas im Gange war. Aber bis auf einige Frotzeleien von meinen Freunden, die mich fragten, was ich denn mit diesem ��berheblichen Knochenger�st� wolle, und der Warnung eines M�dchens, Gretchen werde irgendwann �ein kariertes Baby zur Welt bringen�, gab es keine unangenehmen Reaktionen. Trotzdem hatten wir nie das Gef�hl, au�er Gefahr zu sein, und wir verhielten uns weiterhin so unauff�llig wie nur m�glich. Wenn wir unsere unmittelbare Nachbarschaft verlie�en, zum Beispiel, um ins Kino zu gehen, oder wenn wir mal einen Tagesausflug machten, nahm ich zur Tarnung immer einen Kumpel mit, weil ich mir �berlegt hatte, dass drei junge Leute nicht so verd�chtig wirkten wie ein P�rchen. Au�erdem verhielt ich mich stets so, dass ein unbefangener Beobachter eigentlich annehmen musste, dass ich, und nicht mein Freund, in unserem Trio das f�nfte Rad am Wagen war. Es dauerte nicht lange, bis
mir klar wurde, dass ich mit Gretchen wirklich das ganz gro�e Los gezogen hatte. F�r mich war sie schon immer eine Augenweide gewesen, doch wenige Monate nachdem wir �ein Paar� geworden waren, nahm sie allm�hlich rundere Formen an und erbl�hte zu einer kurvenreichen Sch�nheit. Pl�tzlich nahmen die anderen Jungen sie nicht nur zur Kenntnis, sondern sie umschw�rmten sie regelrecht. Aber zu meinem Gl�ck hielt das Fundament, das ich zuvor gelegt hatte. F�r Gretchen waren und blieben meine Konkurrenten �primitive Proleten�, und sie hatte nur Augen f�r mich. Ihre vorbehaltlose Zuneigung zu mir st�rkte mein Selbstbewusstsein, das nach Jahren der Diskriminierung, Verh�hnung und Feindseligkeit auf einem historischen Tiefpunkt angelangt war. Leider sollte mein neu gefundenes Liebesgl�ck schon bald einen schweren R�ckschlag erleben. Ich hatte mich gerade nach einem unserer ausgedehnten abendlichen Spazierg�nge von Gretchen verabschiedet und war auf dem Weg nach Hause, als ich pl�tzlich von dem grellen Lichtstrahl einer Taschenlampe geblendet wurde. �Sicherheitsdienst!�, knurrte eine M�nnerstimme, und bei diesem Wort jagte mir ein kalter Schauer den R�cken hinab. Schlie�lich wusste ich nur allzu gut, dass der SD als die brutalste und am meisten gef�rchtete Unterabteilung der SS galt. �Was l�ufst du denn hier nachts bei Verdunkelung herum? �, wollte ein Mann im schwarzen Ledermantel und mit einem breitkrempigen Hut auf dem Kopf wissen, nachdem er mir einen Ausweis gezeigt hatte, den ich so schnell nicht lesen konnte. �Ich bin blo� spazieren gegangen�, antwortete ich lahm. �Ich wohne hier auf der Stra�e, nur ein paar H�user weiter. � Der Mann glaubte mir offensichtlich nicht und
befahl mir, zur n�chsten Polizeiwache mitzukommen. Ich �berlegte kurz, ob ich im Schutze der Dunkelheit fliehen sollte, aber wohin h�tte ich schon laufen k�nnen? Und selbst wenn mir die Flucht gl�ckte, �ber kurz oder lang w�rden sie mich ohnehin schnappen, wenn der Mann der Polizei erst einmal eine Beschreibung von mir gegeben h�tte. Auf der Wache zeigte der Mann dem Dienst habenden Beamten seinen Ausweis, packte mich dann am Arm und schob mich nach vorn. �Den Burschen habe ich nicht weit von hier aufgegriffen�, erkl�rte er. �Ich hatte den Eindruck, dass er es auf wehrlose Frauen abgesehen hat oder vielleicht irgendwo was stehlen wollte.� In diesem Augenblick kam ein �lterer Polizeibeamter herein, den ich praktisch schon mein ganzes Leben lang kannte. Er mischte sich ein und gab an, dass er zwar meinen Namen nicht kenne, dass ich aber hier in der Gegend aufgewachsen sei. � Was soll er denn angestellt haben? �, erkundigte er sich. Der Mann vom SD wiederholte seinen Verdacht, h�rte sich aber schon weniger �berzeugt an. �Sie haben den Falschen erwischt�, stellte der Polizist fest. �Der Junge ist Lehrling bei der Lindner AG. Da muss er viel zu schwer schuften, um nachts noch irgendwelchen Unfug anzustellen. Ich wei� das, weil der Sohn von einem unserer Kollegen auch als Lehrling da arbeitet. � �Wenn das so ist, betrachte ich die Sache als erledigt�, sagte der Mann vom SD. �Aber heutzutage kann man ja gar nicht vorsichtig genug sein.� Ohne sich bei mir zu entschuldigen, hob er den Arm zum Hitlergru� und ging. Dieser Zwischenfall brachte mir klar zum Bewusstsein, dass Gretchen und ich uns auf sehr d�nnem Eis
bewegten. Wenn der Mann vom SD uns beide zusammen erwischt h�tte, w�re es uns eindeutig schlecht ergangen. Ich beschloss, dass unsere regelm��igen Treffen ab sofort ein Ende haben mussten, so schwer es uns auch fallen w�rde. Als ich Gretchen am folgenden Tag erz�hlte, was ich erlebt hatte, und ihr erkl�rte, dass wir uns nicht mehr so oft treffen k�nnten, gab sie mir Recht, war aber nicht gewillt, unsere Beziehung zu beenden. �Wir m�ssen einfach Geduld haben und abwarten, bis sich die Dinge �ndern�, munterte sie mich auf, aber sie klang nicht sehr �berzeugt. Wir wussten, dass sich die Dinge nur �ndern konnten, wenn Deutschland den Krieg verlor und das NS-Regime gest�rzt wurde, und uns beiden war klar, dass wir darauf noch lange w�rden warten m�ssen.
Heimatfront
Je l�nger der Krieg dauerte und je h�ufiger wir den Luftschutzraum aufsuchen mussten, desto gr��ere Bedeutung gewann der feuchtkalte Keller der alten Waffelfabrik f�r unser Leben. Er wurde uns f�rmlich zu einem zweiten Zuhause, einer Art Begegnungsst�tte, wo Nachbarn, die sich vorher nur vom Sehen her kannten, Freundschaft schlossen und wo man miteinander �ber die Probleme des Alltags, die Kinder, die M�nner an der Front und die vielen kriegsbedingten Schwierigkeiten sprach. W�hrend meine Mutter und die anderen Erwachsenen �ber die n�chtlichen Besuche im Luftschutzkeller jammerten, fieberte ich ihnen entgegen, weil sie f�r Gretchen und mich eine der wenigen Gelegenheiten boten, eine Art Beziehung zu f�hren, denn wir trafen uns heimlich in einer der beiden stockfinsteren Gasschleusen. Ansonsten vertrieb ich mir die Zeit mit meinem neuen Freund Karl-Heinz B�low, einem dunkelhaarigen Burschen in meinem Alter, der wenige Monate zuvor mit seinen Eltern in ein Haus auf unserer Stra�e gezogen war. Er war Lehrling bei der Reichspost, und sein Vater, Filmvorf�hrer im EuropaPalast, geh�rte zu den ersten M�nnern aus unserer Nachbarschaft, die zur Wehrmacht eingezogen worden waren. Binnen kurzem hatte Karl-Heinz seinen Ruf als gr��ter Weiberheld in ganz Barmbek weg, und ich, der ich sozusagen noch unschuldig war, bewunderte seinen unbek�mmerten Wagemut, mit dem er den Frauen
nachstieg und �berhaupt das Leben in Angriff nahm. Wie viele jugendliche damals hatte er zwar eine tiefe Abneigung gegen die Nazis, war aber ganz vernarrt in Milit�runiformen, die, so seine Hypothese, f�r Frauen einfach unwiderstehlich seien. Die beste M�glichkeit, diese Hypothese auf ihren Wahrheitsgehalt zu �berpr�fen, bot unser Luftschutzkeller an den Wochenenden. Dann waren n�mlich zahlreiche Soldaten dort, die mit ihren Freundinnen durch den Fliegeralarm aus dem Tanzcaf� Classen vertrieben worden waren. Meistens spielte die Combo im Luftschutzkeller weiter, die Party wurde einfach fortgesetzt. Manche P�rchen tanzten, andere dagegen zogen sich in die dunklen Ecken zur�ck, wo sie v�llig ungeniert herumknutschten, sehr zur Emp�rung der �lteren Leute und unter den neidischen Blicken von Karl-Heinz und mir. Ansonsten verlief unser Leben ziemlich eint�nig, so dass wir st�ndig nach irgendwelchen Ablenkungen suchten, um nicht vor Langeweile zu sterben. Eines Tages hatte KarlHeinz eine Idee. Er zeigte mir einen Schl�sselbund, den er bei den Sachen seines Vaters gefunden hatte. Es waren die Schl�ssel zum Europa-Palast, und Karl-Heinz versprach mir eine Privatvorf�hrung, wenn ich den Mut h�tte mitzumachen, und ich lie� mich z�gerlich darauf ein, weil ich nicht als Feigling dastehen wollte. Wir warteten also, bis das Kinopersonal nach der letzten Vorstellung um 22 Uhr gegangen war. Dann schlichen wir uns die Feuertreppe hoch, �ber die man zum Vorf�hrraum gelangte, und Karl-Heinz schloss die T�r auf. Er legte eine Rolle in einen der riesigen Projektoren ein, bet�tigte mehrere Schalter und lie� den Film anlaufen, als h�tte er sein Lebtag nichts anderes getan. Die Kr�nung war, als Karl-Heinz am Ende der ersten
Rolle eine meisterhafte �berblendung auf die zweite Rolle hinlegte. Ich war geh�rig beeindruckt, aber hatte viel zu viel Angst, um sein K�nnen oder den Film angemessen zu w�rdigen. Au�erdem konnte ich der Handlung, die ich mittlerweile ebenso vergessen habe wie den Titel des Films, vor lauter Unruhe �berhaupt nicht folgen. Als der Film zu Ende war, packte Karl-Heinz seelenruhig alles wieder an seinen Platz, und wir machten uns aus dem Staub. Erst als ich in meinem Bett lag, wurde mir so richtig klar, was ich da eigentlich getan hatte. So harmlos unsere Absichten auch waren, ich war an einem Einbruch beteiligt gewesen, und das war, wie man es auch drehte und wendete, ein Verbrechen. Wir waren widerrechtlich unter Ausnutzung der Verdunkelung in fremde R�umlichkeiten eingedrungen, was unter den Nazis als schwere Gesetzes�bertretung galt. Bei dem Gedanken an die m�glichen Konsequenzen unserer Missetat brach mir der kalte Schwei� aus, und ich schwor, mich nie wieder auf so eine Dummheit einzulassen. Am n�chsten Tag, ich war gerade von der Arbeit nach Hause gekommen, h�rte ich Karl-Heinz drau�en pfeifen. Ich sah aus dem Fenster, und er fragte mich, ob ich Lust auf eine weitere �Privatvorf�hrung� h�tte. �Tut mir Leid�, erwiderte ich, �aber ich hab schon was vor. � �Erz�hl mir nix, du hast doch blo� Schiss! �, raunzte er mich an und trollte sich ver�rgert. Er hatte v�llig recht, aber ich hatte nicht die geringste Absicht, ihn vom Gegenteil zu �berzeugen. Was mein Gl�ck war, wie sich bald herausstellen sollte. In der Nacht wurden meine Mutter und ich wach, weil auf der anderen Stra�enseite irgendetwas los war. Wir
sahen einige Polizisten mit Taschenlampen auf der Feuerleiter des Europa-Palastes. Es war zu dunkel, um Genaueres zu erkennen, aber ich hatte so eine Ahnung, was da vor sich ging: Karl-Heinz war erwischt worden. Am n�chsten Tag best�tigte Karl-Heinz meinen Verdacht. Er hatte einen anderen Freund gefragt, ob er mitkommen wolle, und die beiden waren von der Polizei �berrascht und eingesperrt worden. Zum Gl�ck war die Kinobesitzerin, eine gutm�tige alte Dame, am Morgen herbeigeholt worden, hatte in ihm den Sohn eines ihrer eingezogenen Angestellten erkannt und ein gutes Wort f�r ihn eingelegt, woraufhin die Anklage wegen Hausfriedensbruch fallen gelassen wurde. Ich freute mich f�r Karl-Heinz, aber ich war ziemlich sicher, dass ich, h�tte man mich auf frischer Tat ertappt, nicht so glimpflich davongekommen w�re. Also fasste ich den Vorsatz, mich in Zukunft noch mehr in Acht zu nehmen.
Der letzte Tango in Hamburg
Da wir Swingboys vor allem eines im Kopf hatten, n�mlich tanzen, versuchte das Regime uns dadurch zu treffen, dass es verbot, den Swing zu tanzen. Da die meisten, wenn nicht alle jungen Leute in Deutschland nicht die blasseste Ahnung hatten, wie man Swing tanzte, au�er dass dabei ziemlich viele �negerhafte�, sexuell aufreizende Verrenkungen mit im Spiel waren, konnte das Verbot kaum durchgesetzt werden. Doch dieses Problem war schon bald rein akademischer Natur, denn per Regierungserlass wurde das Tanzen in allen �ffentlichen Einrichtungen generell verboten. Da dieses Verbot sich jedoch nicht auf das Tanzen lernen erstreckte, meldeten sich viele junge Leute zu Tanzkursen an, ob sie nun schon tanzen konnten oder nicht. Nach dem Anf�ngerkurs gingen �fortgeschrittene Sch�ler� in einen Kurs, der ihnen Gelegenheit bot, das Gelernte zu �ben, das hei�t, nach Herzenslust zu tanzen. Ich wusste von dieser Gesetzesl�cke und h�tte sie liebend gern ausgenutzt, wie so viele meiner Altersgenossen es taten, aber ich traute mich nicht, weil ich mir hundertprozentig sicher war, doch nur wieder abgewiesen zu werden. Ich h�rte f�rmlich schon die Sp�tteleien, die mir bei dem Versuch, mich in einer Tanzschule anzumelden, zwangsl�ufig bl�hten. �Du willst mit unseren blonden, blau�ugigen, arischen Frauen tanzen? Du bist wohl nicht bei Trost! � Also beschloss ich, mir diese Dem�tigung zu ersparen. Eines Tages jedoch machte mein Boxkumpel Hans Vollmer den
Vorschlag, wir sollten uns zum Tanzunterricht anmelden. Ohne ihm meine Gr�nde zu erkl�ren, erwiderte ich blo�, dass ich keine Lust dazu h�tte, aber bereit sei mitzukommen, um mir den Laden mal anzusehen. Unsere Wahl fiel auf die Tanzschule Arthur Lucas' am Bahnhof Dehnhaide, nicht weit von der St�ckenstra�e entfernt. Als wir das B�ro betraten, waren schon einige junge Leute da, die sich ebenfalls anmelden wollten. Der glatzk�pfige Mann mit der randlosen Brille, der hinter dem Schreibtisch sa�, war, so sagte man uns, Herr Lucas, Tanzlehrer und Besitzer des Etablissements. Als Hans an der Reihe war, wollte ich zur Seite treten, aber Herr Lucas lud uns beide ein, Platz zu nehmen, und gab jedem ein Anmeldeformular. �Jetzt kommt's�, dachte ich und �berflog das Blatt auf der Suche nach irgendeiner besch�menden Fangfrage, wie zum Beispiel: �Sind Sie Arier? Falls nicht, bitte genauere Angaben.� Doch nichts dergleichen. Man musste nur Namen, Alter, Anschrift und den gew�nschten Kurs angeben. Nachdem wir Herrn Lucas die ausgef�llten Formulare zur�ckgegeben und eine bescheidene Anmeldegeb�hr entrichtet hatten, waren wir ordnungsgem�� Sch�ler der Arthur-LucasTanzschule. Nichts an Herrn Lucas' Benehmen deutete darauf hin, dass er meine Anmeldung irgendwie ungew�hnlich fand. Unser Anf�ngerkurs, rund zwei Dutzend junge M�nner und Frauen, dauerte drei Monate und bestand aus je zwei �bungsstunden Sonntagnachmittags und Mittwochabends, die in einem gro�en Tanzsaal stattfanden. Vor der ersten Stunde lie� Herr Lucas die Jungen auf der einen Seite und die M�dchen auf der anderen Seite des Saales Platz nehmen und hielt uns einen Vortrag �ber Etikette. Die meisten Benimmregeln f�r den �feinen
Herrn�, mit denen Arthur Lucas recht erfolglos versuchte, uns Arbeitertypen einen Hauch von Klasse zu vermitteln, waren jedoch Perlen vor die S�ue geworfen. Vor allem missachteten wir seine Anweisungen, wo unsere H�nde beim Tanzen nicht hingeh�rten und was wir nicht mit Knien und Oberschenkeln anstellen sollten. Wir fanden, dass Herr Lucas v�llig verkannte, worum es beim Tanzen eigentlich ging. Eine weitere wichtige Regel, gegen die wir h�ufig verstie�en, besagte, dass wir �ber die Tanzfl�che schreiten und nicht wie eine Herde wild gewordener B�ffel �ber sie hinwegdonnern sollten, um die M�dchen zum Tanzen aufzufordern. Unsere Eile hatte jedoch Methode. Wir Machos hatten n�mlich ziemlich schnell kapiert, dass die Letzten nehmen mussten, was �brig blieb - also die M�dchen, die unseren sexistischen Standards weiblicher Sch�nheit nicht ganz entsprachen. Herr Lucas erwies sich als sehr guter Lehrer und ich mich als ziemlich guter Sch�ler. Im Handumdrehen hatte ich Walzer, Tango, Polka und schlie�lich auch meinen Lieblingstanz, den Foxtrott, erlernt. Da ich zu den besseren T�nzern im Kurs z�hlte, blieb mir das Schicksal des Mauerbl�mchens erspart, wenn Herr Lucas �Damenwahl! � rief. Einige von uns hatten geh�rt, dass der Jitterbug in Amerika gro� in Mode war, und wollten ihn unbedingt in unser Repertoire aufnehmen, aber noch nie hatte jemand gesehen, wie man ihn tanzte, da amerikanische Filme verboten waren. Wir griffen daher auf unsere Phantasie zur�ck und wandelten den Foxtrott ab, so dass er, wie wir hofften, ein richtiger Jitterbug wurde. Das Ergebnis war eine wirre Mischung aus Drehungen und Schritten, die so viel �hnlichkeit mit dem echten Jitterbug hatte wie ein Menuett, uns aber ungeheuren Spa� machte.
Eines Sonntags - Herr Lucas f�hrte gerade ein paar neue Schritte vor - str�mten pl�tzlich zirka zwanzig HJler in unseren Tanzsaal. Ihr Anf�hrer verk�ndete, dass die Haarl�nge der m�nnlichen T�nzer �berpr�ft werden sollte. W�hrend seine Leute die Notausg�nge und die Herrentoilette nach m�glichen Fl�chtlingen absuchten, marschierte er langsam an unserer Stuhlreihe vorbei. Die Inspektion der Haarl�nge beunruhigte mich nicht sonderlich, aber ich f�rchtete, dass diese Fanatiker daran Ansto� nehmen w�rden, dass ich als Nicht-Arier hier in der Tanzschule k�rperlichen Kontakt mit arischen M�dchen hatte. Ich kannte meine Feinde nur allzu gut. Der Anf�hrer kam immer n�her, und als ich in sein Blickfeld geriet, stockte er und machte einen Schritt auf mich zu. �Was haben wir denn da?�, fragte er, als s�he er ein seltenes Exemplar aus der Tierwelt vor sich. �Was, in Gottes Namen, hast du hier zu suchen?� In diesem Augenblick schaltete sich der ansonsten zur�ckhaltende Herr Lucas ein und bat den HJ-Anf�hrer und mich in sein B�ro nebenan. Dort holte Herr Lucas mehrere Dokumente hervor, die er dem Braunhemd �berreichte. �Wie Sie sehen�, erkl�rte er, �bin ich Mitglied der NSDAP und der NS-Kulturkammer. Au�erdem habe ich im Weltkrieg als Hauptmann gedient, bin verwundet worden und trage das Eiserne Kreuz erster und zweiter Klasse. Ich verbitte mir jeglichen Zweifel an meiner Kompetenz, wie ich sie aus Ihrer Unterstellung heraush�re, dieser junge Mann geh�re nicht in meinen Kurs. Nur zu Ihrer Information, der Vater dieses jungen Mannes war Offizier in General Lettow-Vorbecks Schutztruppe in Deutsch-Ostafrika und hat dort h�chste Verdienste errungen.�
Der HJ-Mann war offensichtlich tief beeindruckt und entschuldigte sich �berschw�nglich bei Herrn Lucas und mir. �Nichts f�r ungut�, wiederholte er mehrfach, schlug dann die Hacken zusammen und hob den Arm zum Hitlergru�. Als wir in den Tanzsaal zur�ckkehrten, hatte die HJ bereits ein paar Burschen herausgesucht, um ihnen einen Haarschnitt zu verpassen. �Lasst die Kameraden laufen�, pfiff ihr Anf�hrer sie zur�ck. Dann sammelte er seine Truppe um sich und trat hastig den R�ckzug an. Von da an betrachtete ich Herrn Lucas mit anderen Augen. Statt der Witzfigur, die ich zuvor in ihm gesehen hatte, einen Mann, der mit seiner randlosen Brille und dem rundlichen Gesicht ein Doppelg�nger Molotows h�tte sein k�nnen, war er f�r mich nun ein Held, der sich furchtlos der Barbarei in den Weg stellte. Nach dem Zwischenfall dankte ich ihm, dass er mir zu Hilfe gekommen war, doch abgesehen davon sprachen wir nie wieder dar�ber. Daher wei� ich bis heute nicht, ob er die Geschichte von meinem Vater, der angeblich unter General Lettow-Vorbeck gedient hatte, erfunden hatte oder ob sie ihm ger�chteweise zu Ohren gekommen war.
Schnelles Geld
Mir war aufgefallen, dass mein Boxkumpan Hans Vollmer seit neuestem ungemein gro�z�gig mit seinem Geld umging. Als ich ihn deswegen aufzog, vertraute er mir an, dass er eine neue M�glichkeit aufgetan habe, Geld zu machen - viel Geld -, und dass er mir, falls ich Interesse h�tte, gern zeigen w�rde, wie. Nat�rlich hatte ich Interesse, doch dann verriet er mir N�heres. Ich m�sste nur nachts mit ihm zu dem Vulkanisierwerk gehen, wo er arbeitete, �ber einen Zaun klettern, in dessen N�he er tags�ber einen Stapel Autoreifen versteckt hatte, und die Reifen �ber den Zaun auf einen wartenden Lkw schmei�en. Bezahlt wurde an Ort und Stelle - hundert Reichsmark f�r jeden Reifen. Urheber des Ganzen war ein Lkw-Fahrer, der anschlie�end sofort mit seiner Fracht in die Niederlande fuhr. Als ich das h�rte, wollte ich von Hans wissen, ob er wahnsinnig sei. �Was meinst du, was die mit dir machen, wenn sie dich erwischen?� Dann erkl�rte ich ihm, dass er f�r den Diebstahl von kriegswichtigem Material, das inzwischen �u�erst knapp geworden war, ganz sicher zum Tode verurteilt w�rde. Er zuckte jedoch blo� die Achseln und erwiderte, er habe nicht vor, sich erwischen zu lassen. �Ich wollte dir blo� einen Gefallen tun�, sagte er, offensichtlich gekr�nkt, weil ich die Gelegenheit, �schnelles Geld� zu machen, nicht mit
beiden H�nden ergriff. �Ich h�tte den Mund halten sollen.� �Ja, das h�ttest du�, pflichtete ich ihm bei. �Sag blo� keiner Menschenseele, dass du mir was davon erz�hlt hast. Ich will nicht, dass irgendjemand wei�, dass ich wei�, was du da treibst.� Es tat mir zwar Leid, seine Gef�hle zu verletzen, aber ich wollte ihm eine Heidenangst einjagen, damit er sich nicht so leichtfertig auf einen weiteren Reifenklau einlie�. �Gib doch einfach zu, dass du Schiss hast, und die Sache ist erledigt�, sagte er gereizt. �Na sch�n, dann bin ich eben ein Schisser�, entgegnete ich, und wir sprachen nicht mehr dar�ber. Zum Gl�ck hatte er keine Gelegenheit mehr, noch einmal Reifen zu klauen. Kurz nach unserer Meinungsverschiedenheit teilte er mir mit, dass er seinen Stellungsbefehl erhalten habe. Er war zwar einer m�glichen Todesstrafe entgangen, aber nur die Zukunft w�rde zeigen, ob er nicht vom Regen in die Traufe geriet. Einige Monate nach seiner Einberufung erz�hlte mir seine Mutter, dass Hans in einem Infanterieregiment irgendwo zwischen Sewastopol und Stalingrad diente.
Unschuld ade
Wir Lehrlinge bei der Lindner AG sa�en alle im gleichen Boot, was uns zu einer verschworenen Gemeinschaft machte. Besonders gut verstand ich mich mit Walter Bauer, einem hoch aufgeschossenen blonden Stift im zweiten Lehrjahr. Seine Eltern hatten im l�ndlichen Teil von Langenhorn einen winzigen Bauernhof und z�chteten dort H�hner und Schweine. Da unsere Essensrationen immer kleiner wurden, schob Walter mir hin und wieder ein dick belegtes Butterbrot von zu Hause zu, eine Wohltat f�r meinen st�ndig knurrenden Magen. Daf�r half ich ihm dann bei schwierigen Aufgaben, wenn sein technisches K�nnen ihn im Stich lie�. Die Tatsache, dass er ein Mitglied der Hitlerjugend war, tat unserer Freundschaft keinen Abbruch. Eines Tages kam Walter sichtlich aufgew�hlt zur Arbeit. Ich fragte ihn, was denn passiert sei, und nachdem er mich zu strengstem Stillschweigen verpflichtet hatte, vertraute er mir an, dass er und ein Freund dabei erwischt worden seien, wie sie sich gegenseitig befriedigten. Sein Vater hatte ihm die H�lle hei� gemacht und ihm jeden Kontakt mit dem anderen Jungen strengstens verboten. Dann hatte er ihm zehn Mark in die Hand gedr�ckt und gesagt, er solle, wenn er das n�chste Mal �seinen Saft steigen sp�re�, in den Puff gehen und dort einen �richtigen Mann� aus sich machen lassen. Walter beteuerte, dass seine homosexuelle Begegnung nur deshalb zu Stande gekommen sei, weil er
keine Frauen kannte, die sich mit ihm einlassen wollten, und nicht etwa, weil er schwul sei. Da er noch nie mit einer Prostituierten oder �berhaupt mit einer Frau geschlafen hatte, bat er mich, ob ich nicht mitkommen k�nnte, um ihn moralisch zu unterst�tzen. Au�erdem erg�be sich dabei vielleicht auch f�r mich die Gelegenheit, ein �richtiger Mann� zu werden. Ich zauderte. Obwohl ich den Augenblick kaum erwarten konnte, endlich �ein Mann zu werden�, f�rchtete ich mich auch davor. Zudem hatte ich ein schlechtes Gewissen Gretchen gegen�ber, obwohl sie erkl�rt hatte, dass Sex vor der Ehe f�r sie absolut nicht in Frage k�me. Aber meine gr��te Sorge war, dass ich nicht wusste, ob das Gesetz, dass Nicht-Arier nicht mit Ariern verkehren durften, auch auf Prostituierte zutraf. Dennoch beschloss ich, alle Vorsicht in den Wind zu schlagen und mitzukommen, wenn auch nur, um �mich mal umzusehen�. Hamburg hatte drei einschl�gig bekannte Stra�en - Kalkhof, Herbertstra�e und Winkelstra�e. Walter und ich entschieden uns f�r Letztere, da der Kalkhof unweit des eleganten Jungfernstiegs in dem Ruf stand, dass dort zwar die sch�nsten, aber eben auch die teuersten Damen aus dem Gewerbe arbeiteten. Auf der Herbertstra�e in St. Pauli waren die Preise zwar erschwinglicher, doch sie war f�r uns zu weit abgelegen. Bevor wir die Sache in Angriff nahmen, fragten wir noch einige etwas �ltere Kollegen um Rat. Bereitwillig lie�en sie uns wissen, worauf sich zwei Anf�nger mit Lehrlingsbudget einzustellen hatten. So erfuhren wir unter anderem, dass der Winkelstra�entarif f�r eine schnelle Nummer, die nicht l�nger als f�nfzehn Minuten dauerte, f�nf Mark betrug.
An einem Sonntagnachmittag trafen Walter und ich uns also am Anfang der Winkelstra�e, einer schmalen, Lf�rmigen Gasse, ges�umt von alten H�usern. An beiden Eing�ngen zur Stra�e verhinderten zueinander versetzt stehende Stahlplatten wie eine Art optische Schleuse den direkten Einblick in die Stra�e. Ein Schild wies uns drohend darauf hin, dass der Zutritt zur Stra�e f�r jugendliche unter achtzehn Jahren verboten sei. Walter war sechzehn, aber er hatte ja praktisch den v�terlichen Befehl, sich die Dienste einer Prostituierten zu erkaufen, und daher machte ihm der damit verbundene Gesetzesbruch nicht viel aus. Ich mit meinen f�nfzehn Jahren hatte dagegen keine Entschuldigung, da meine Mutter mir schlie�lich nicht die Erlaubnis erteilt hatte, das zu tun, was ich vorhatte. �Lass uns nur mal gucken�, schlug Walter vor, als er sah, dass ich im Begriff war, meine Meinung zu �ndern. �Was kann das schon schaden?� Ich gab nach und folgte Walter in die verbotene Zone. Auf der Stra�e wimmelte es von den unterschiedlichsten M�nnern jeden Alters. Die meisten wirkten jedoch wie ehrbar aussehende Familienv�ter. Sie gingen langsam die Stra�e auf und ab und musterten die Angebote in den Fenstern. In den ebenerdigen Schaufenstern sa�en die unterschiedlichsten Frauen jeden Alters auf Hockern und boten ihre Waren feil. Da gab es den Typ des M�dchens von nebenan in adretter Bluse und Rock; elegante Vamps in hautengen Abendkleidern und tiefen Dekollet�s, die den Blick auf �ppige Br�ste preisgaben; schlanke sportliche Typen in Bikinis; �bergewichtige, �ltliche Matronen, die mit reichlich Makeup, Mascara und schummrigem Rotlicht ihre verlorene Jugend auszugleichen versuchten; kettenrauchende Wasser-
stoffblondinen mit harten Gesichtern. Sie standen im schroffen Kontrast zu den s��en jungen Dingern, die aussahen, als w�ren sie gerade mal achtzehn. Alle versuchten sie, die Aufmerksamkeit der vorbeigehenden M�nner zu erregen, indem sie mit Schl�sseln oder M�nzen an die Fensterscheiben klopften. Ich hatte die gewaltige Summe von f�nfzehn Mark dabei, wusste aber noch immer nicht, ob ich meiner Jungfr�ulichkeit tats�chlich Lebewohl sagen wollte. Als eine der j�ngeren Frauen besonders heftig mit ihren Schl�sseln ans Fenster h�mmerte, um uns herbeizulocken, f�hlten wir uns durch ihren Eifer geschmeichelt und gingen hin, um uns anzuh�ren, was sie zu sagen hatte. �Willst du nicht reinkommen und dich ein bisschen am�sieren?�, fragte sie mich. Ich antwortete: �Vielleicht sp�ter.� �Und was ist mit deinem Freund?� Dabei zeigte sie auf Walter. �Wie viel?�, fragte er, und seine Stimme verriet mir, dass er �reif� war. �F�nf Mark�, lautete die Antwort. �Warte hier auf mich�, sagte Walter zu mir, und schon war er durch die T�r nach drinnen verschwunden. Als Walter rund zehn Minuten sp�ter zur�ckkam und ich ihn fragte, ob er �es� wirklich getan hatte, nickte er. Bis auf sein breites Grinsen von einem Ohr zum anderen kam er mir �berhaupt nicht ver�ndert vor. Irgendwie hatte ich immer geglaubt, dass dieser wichtige Initiationsritus im Leben eines Mannes deutlichere Spuren hinterlassen m�sste. �Und wie war es?�, erkundigte ich mich neugierig. Er erkl�rte, dass �es� in Wirklichkeit gar nicht so schwierig sei, wie oft erz�hlt werde, und dass es wie von selbst gegangen sei, sobald
er richtig in Fahrt gekommen w�re. Beeindruckt von Walters Erfolg, beschloss ich auf der Stelle, nun auch selbst mein Gl�ck zu versuchen, eine Entscheidung, die Walter begeistert begr��te. Ich machte mich also auf die Suche nach einer passenden Partnerin f�r meinen �bergang ins Mannesalter, und meine Wahl fiel auf eine h�bsche, kurzberockte Br�nette mit vollen Br�sten und �ppigen Oberschenkeln. Sie merkte, dass ich interessiert war, und reagierte mit dem obligatorischen Klopfen an die Fensterscheibe. Als ich ihr sagte, dass ich nur f�nf Mark h�tte, lamentierte sie, dass sie sich mit solchen Sozialf�llen wie mir in den finanziellen Ruin treiben w�rde, aber sie sei bereit, eine Ausnahme zu machen, �nur dieses eine Mal�. Sekunden sp�ter folgte ich ihr schon die, wie es mir vorkam, steilste Treppe hinauf, die ich je in meinem Leben hochgestiegen war. Mit jeder Stufe f�hlte ich mich mehr wie ein Verurteilter auf dem Weg zum Galgen. Oben angekommen, �ffnete meine Gastgeberin die T�r zu einem winzigen Zimmer. Die Luft war stickig und von einem kleinen gusseisernen Ofen in der Ecke v�llig �berheizt. Ein ekeliger Geruch nach billigem Parf�m und verbranntem Gummi erf�llte den Raum, der fast v�llig von einem gro�en Bett eingenommen wurde. Sie kam gleich zur Sache und streckte die Hand aus. �Hast du nicht was vergessen?� Mir fiel ein, dass die Gesellen aus unserer Firma erz�hlt hatten, Prostituierte w�rden immer im Voraus kassieren. Verlegen wegen meiner Unerfahrenheit gab ich ihr den F�nfmarkschein, der postwendend in ihrem schon �bervollen BH verschwand. W�re mir in diesem Augenblick noch eine Entschuldigung f�r einen w�rdevollen R�ckzug
eingefallen, ich h�tte mich ganz sicher verdr�ckt, auch wenn ich dann die f�nf Mark f�r nichts und wieder nichts bezahlt h�tte. Doch mir fiel einfach nichts Plausibles ein. Sie befahl mir, Hose und Unterhose auszuziehen. Dann nahm sie - so gekonnt wie eine Hohepriesterin bei einem heiligen Ritual - einen Kessel vom Ofen, goss Wasser in eine Emaillesch�ssel, tauchte einen Waschlappen hinein und fing an, mich unter der G�rtellinie zu waschen. Wie sie mir er z�hlte, musste sie �u�erst vorsichtig mit ihren Kunden sein, denn sollte sich bei den regelm��igen �rztlichen Untersuchungen durch die Sittenpolizei je herausstellen, dass sie eine Geschlechtskrankheit hatte, w�rde sie ihre Arbeitserlaubnis verlieren. Nach einer kurzen �Inspektion� trocknete sie mich mit einem trockenen Handtuch ab, holte ein Kondom hervor, und bevor ich noch �Danke sch�n� sagen konnte, hatte sie mich �angekleidet� und startklar gemacht. Ohne gro�e Umst�nde lie� sie sich nach hinten aufs Bett fallen, spreizte die Schenkel und sagte gereizt, Zeit sei Geld und f�nf Mark g�ben mir nicht das Recht, die ganze Nacht dazubleiben. Zu meiner eigenen �berraschung machte ich in diesem entscheidenden Moment nicht schlapp, wie ich bef�rchtet hatte, sondern tat instinktiv und mit nur minimaler Unterst�tzung durch meine gesch�ftsm��ige und unromantische Partnerin just das, was sich fast von allein ergab, bis ich schlie�lich den Punkt erreicht hatte, an dem es kein Zur�ck mehr gab. Mit ge�bten H�nden befreite mich die Prostituierte vom Kondom, warf es in den Ofen und wusch mich noch einmal fl�chtig mit dem Waschlappen. Nachdem ich mich wieder angezogen hatte, gingen wir die Treppe
hinunter, und sie sagte mir ziemlich n�chtern auf Wiedersehen. Meine Mission war vollbracht. Den Normen meiner Altersgenossen entsprechend, hatte ich eine bedeutsame Initiation durchgestanden und war ein �echter Mann� geworden. Doch diese Erfahrung von Sex f�r Geld war nicht nur gef�hlsm��ig unbefriedigend, sie erf�llte mich auch mit Ekel vor mir selbst und diesem bl�henden Gewerbe. Anders als Walter, dem es nicht um ein emotionales Erlebnis gegangen war und der sich bereits vorgenommen hatte, Stammgast in der Winkelstra�e zu werden, schwor ich mir damals, nie wieder mein Gl�ck im Puff zu suchen.
Meine Freunde gehen in den Krieg
Einer nach dem anderen verschwanden meine alten Spielkameraden aus der Nachbarschaft. Die meisten waren zum Heer eingezogen worden, und einige hatten sich - nicht etwa aus Liebe zu Hitler oder ihrem Vaterland - freiwillig gemeldet. Karl-Heinz B�low, der erkl�rte Antinazi, war allein deshalb zur Marine gegangen, weil er sich so bessere Chancen ausrechnete, an eine Frau zu kommen, getreu seiner �berzeugung, dass Frauen nun mal eine Schw�che f�r M�nner in Uniform, erst recht in Marineuniform, h�tten. Wie ich aus einem zensierten Brief von ihm erfuhr, war er auf einem U-Boot im Atlantik stationiert. Er hatte bereits an etlichen Gefechten teilgenommen, wie auch meine anderen Freunde Eugen Braun, die Br�der Hans und Karl Morell und Fiffi Peters. Jack Spederski, ein erkl�rter Kommunist, ging zum Heer, um dem eint�nigen Leben als ungelernter Arbeiter zu entkommen, und wurde zur gefeierten Panzerdivision Gro�deutschland nach Russland geschickt. Ernst Kr�ger, der ehemalige Schmiedelehrling, konnte seinen Traum vom Abenteuer in fernen L�ndern als Unteroffizier in Rommels Afrikakorps wahr machen, und Walter Bauer war Kradmelder geworden. Hans Vollmer, mein Boxkumpan, diente in einem Infanterieregiment irgendwo in Russland. Nur Wolfgang Neumann, mein ehemaliger Leibw�chter in der Schule, hatte sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet. Er brachte es zweimal in die Lokalzeitung: einmal, nachdem er einen
Orden wegen Tapferkeit vor dem Feind erhalten hatte, und dann erneut, als sein Name als einer der ersten in den immer l�nger werdenden Gefallenenlisten auftauchte. Trotz der steigenden Anzahl get�teter deutscher Soldaten an den verschiedenen Kriegsschaupl�tzen konnte ich es kaum erwarten, selbst in den Krieg zu ziehen, wenn auch nur, um zu beweisen, dass ich so gut war wie alle anderen. Ich f�rchtete aber, als Nicht-Arier mal wieder abgelehnt zu werden, und wagte es deshalb nicht, mich freiwillig zu melden. Umso gr��er war meine Freude, als ich eines Tages meinen Musterungsbescheid f�r den sechsmonatigen Arbeitsdienst erhielt, den jeder Siebzehnj�hrige ableisten musste, bevor er in die Wehrmacht und damit in den Krieg �durfte�. Wenn man f�r mich keine Verwendung h�tte, so schloss ich hoffnungsvoll, w�rde man mich wohl kaum zur Musterung bestellen. Gab es f�r mich eine bessere M�glichkeit, meine Vaterlandstreue zu beweisen und die rassischen Unterschiede zwischen mir und meinen engsten Freunden f�r immer aus der Welt zu schaffen, als die Uniform eines deutschen Soldaten zu tragen? Am Morgen der Musterung wurde ich mit mehreren hundert jungen M�nnern des 26er-Jahrgangs - darunter etliche langhaarige und adrette Swingboys - in die gro�e Turnhalle einer Schule in der Innenstadt getrieben. Ringsum an den W�nden standen Tische, und dahinter sa�en Offiziere der Wehrmacht und des Arbeitsdienstes in ihren jeweiligen Uniformen, �ber denen einige einen wei�en Arztkittel trugen. Die dr�hnende Stimme eines Offiziers befahl uns, unsere Gespr�che einzustellen, woraufhin schlagartig Ruhe eintrat. Nachdem die
Stimme uns als einen j�mmerlichen Haufen tituliert hatte, dem dringend Zucht und Ordnung beigebracht werden m�sse, kam die Anweisung, dass wir uns nackt ausziehen und unsere Kleidung s�uberlich auf den Boden legen sollten. Dann mussten wir in einer Reihe von Tisch zu Tisch gehen, wo wir von Kopf bis Fu� untersucht und die Ergebnisse in Formulare eingetragen wurden. Den Kommentaren, die ich an den einzelnen Untersuchungstischen mitbekam, konnte ich entnehmen, dass ich mich bester Gesundheit erfreute, dass meine Sehkraft, mein Geh�r und meine Z�hne �berdurchschnittlich gut waren, dass ich aber einige Pfund Untergewicht hatte, was wohl auf die strenge Lebensmittelrationierung zur�ckzuf�hren war. �Wirklich schade, dass wir dich nicht einziehen k�nnen�, sagte ein mitf�hlender Arbeitsdienstoffizier zu mir. �Ein paar Monate bei uns mit guter Verpflegung und regelm��iger Arbeit an der frischen Luft, und du h�ttest wieder einiges mehr auf den Rippen.� So gut es der Offizier auch meinte, er riss mich mit seinen Worten wieder j�h in die Nazi-Realit�t zur�ck und zerst�rte meine Hoffnung, dieses verfluchte rassische Stigma je loszuwerden. Wenn man mich nicht f�r gut genug hielt, im Arbeitsdienst L�cher zu buddeln und Autobahnen zu bauen, dann hielt man mich auch bestimmt nicht f�r gut genug, f�r das Heer ein Gewehr abzufeuern. Mein Verdacht best�tigte sich, als mir ein Offizier am letzten Tisch meinen Wehrpass mit dem Vermerk �n.z.v.�, also �nicht zu verwenden�, aush�ndigte. Jetzt, da alle meine Freunde zum Milit�rdienst eingezogen waren, wurde mein Leben an der Heimatfront sterbenslangweilig - nur noch Arbeit und keinerlei Vergn�gen. Auch in der Firma waren inzwischen alle j�ngeren M�nner entweder
eingezogen worden, oder sie hatten sich freiwillig gemeldet. Somit hatte ich praktisch keinen Kontakt mehr zu M�nnern meines Alters. Aber die Langeweile war eigentlich noch das kleinste Problem. Mittlerweile gab es kaum noch gesunde junge M�nner, die nicht in Uniform herumliefen, so dass ich jetzt erst recht auffiel, weil ich Zivil trug, was mich umso befangener machte. Angesichts der st�ndigen Lobges�nge auf �unsere M�nner in Uniform, die ihr Leben f�r F�hrer, Volk und Vaterland aufs Spiel setzen�, f�hlte ich mich nicht nur unertr�glich minderwertig, sondern auch v�llig isoliert. Dieses Gef�hl erreichte seinen H�hepunkt, als mich ein verwundeter Soldat der Waffen-SS, der an Kr�cken �ber die Stra�e ging, lauthals beschimpfte, ich h�tte es nicht verdient, hier wohlbehalten herumzuspazieren, w�hrend �tapfere deutsche M�nner� Leib und Leben in der Schlacht riskierten. Da wurde mir klar, dass ich als offensichtlich nichtarischer Zivilist �u�erst gef�hrdet war. Ich musste an die Prophezeiung von Lehrer Dutke denken, dass sich die Nazis, sobald sie mit den Juden fertig seien, die Neger vorkn�pfen w�rden, und pl�tzlich hatte ich das Gef�hl, auf einer Zeitbombe zu sitzen. Meine einzige Rettung, so glaubte ich, w�re es, in der Wehrmacht zu k�mpfen, denn niemand genoss in Deutschland h�heres Ansehen als ein deutscher Soldat. Trotz der Gefahr, die Zahl der Gefallenen an der Front zu erh�hen - was Mitte 1942 schon h�chst wahrscheinlich war -, und trotz meiner �berzeugung, dass Hitler sich irrte und Deutschland in die Katastrophe steuerte, wollte ich unbedingt zum Milit�r. Das Risiko, verwundet oder get�tet zu werden, war mir lieber, als der SS in die H�nde zu fallen. Ja, ich war bereit, an Bord eines sinkenden Schiffes zu gehen, obwohl ich an Land
zu diesem Zeitpunkt noch relativ sicher war. Die entscheidende Frage war nur, wie ich es schaffen konnte, zum Heer zu kommen. Vielleicht gelang es mir ja, wenn ich mich freiwillig meldete. Ich war zwar bei der Musterung als untauglich eingestuft worden, setzte aber meine ganze Hoffnung darauf, dass die Wehrmacht wegen der schweren Verluste in allen Truppengattungen inzwischen auf jeden kampff�higen Mann angewiesen war. Als ich Meister Neumann von meinem Vorhaben erz�hlte, gab er mir einen Tag frei, und ich fuhr mit dem Zug nach Rahlstedt zum Hamburger Wehrbezirkskommando. Dort wimmelte es nur so von Soldaten aller Waffengattungen und von getarnten Fahrzeugen mit dem vertrauten Kreuzemblem der deutschen Wehrmacht. Die meisten Soldaten, an denen ich vorbeikam, nahmen in ihrer Hektik keinerlei Notiz von mir, doch diejenigen, die mich bemerkten, schienen ihren Augen nicht trauen zu wollen, so verbl�fft waren sie offenbar �ber den Anblick eines jungen und noch dazu schwarzen Mannes in Zivil. Pl�tzlich hielt ein offener Wagen mit quietschenden Bremsen neben mir. �Sie da! Wer sind Sie, und was machen Sie hier?�, fragte ein Oberstleutnant, der auf dem R�cksitz hinter seinem Fahrer sa�, mit nasaler Stimme, die eine Mischung aus Verachtung und Misstrauen verriet. Statt einer Antwort holte ich meinen Wehrpass hervor und reichte ihn ihm. Nachdem er das Dokument sorgf�ltig studiert hatte, blickte der Offizier mich an. �Und was wollen Sie hier? �, setzte er sein Verh�r fort. �Ich m�chte mich freiwillig zum Heer melden, Herr Oberstleutnant�, erwiderte ich, in der Hoffnung, dass er mir wohlgesinnter sein w�rde, weil ich seinen Rang erkannte. Aber nichts da.
�Was wollen Sie?�, fragte er so fassungslos, als h�tte ich ihn um die Hand seiner Tochter gebeten. �Freiwillig melden? Sind Sie wahnsinnig? Sie wissen doch, dass Nicht-Arier aus der Wehrmacht ausgeschlossen sind? Sogar in Ihrem Wehrpass steht, dass Sie untauglich sind.� �Das wei� ich�, r�umte ich ein, �aber ich hatte gehofft, das Heer w�rde eine Ausnahme machen, weil es doch dringend M�nner braucht. � Der Offizier wurde sichtlich w�tend. �H�ren Sie�, fauchte er, wobei sich seine stahlblauen Augen zu schmalen Schlitzen verengten, �Deutschland ist nicht und wird auch in Zukunft nicht auf solche wie Sie angewiesen sein, um den Krieg zu gewinnen. Ich rate Ihnen, schleunigst wieder an Ihren Arbeitsplatz zu gehen und mit Ihren Hirngespinsten nicht noch mehr kostbare Produktionszeit zu vergeuden. Verstanden?� Ohne auf eine Antwort zu warten, warf er mir meinen Wehrpass zu und wies seinen Fahrer an weiterzufahren. Ich war wie vor den Kopf gesto�en. Ich hatte zwar damit gerechnet, dass man mich nicht nehmen w�rde, aber auf derartige Beleidigungen war ich nicht gefasst gewesen. Ohne es �berhaupt noch bei der Rekrutierungsstelle zu versuchen, ging ich niedergeschlagen zum Bahnhof und fuhr mit dem n�chsten Zug zur�ck nach Hamburg. W�hrend der Fahrt war ich noch immer wie gel�hmt von der r�den Abfuhr, die mir erteilt worden war, und die Worte des Offiziers gingen mir nicht mehr aus dem Kopf: �Deutschland ist nicht und wird auch in Zukunft nicht auf solche wie Sie angewiesen sein, um den Krieg zu gewinnen. � Ich musste daran denken, dass ich ganz �hnliche Worte zu h�ren bekommen hatte, als meine Mutter mich damals bei der Hitlerjugend anmelden
wollte. Im zuk�nftigen Deutschland, hatte der HJ-F�hrer auf mich deutend zu meiner Mutter gesagt, sei kein Platz f�r meinesgleichen. Die Erinnerung riss mich aus meiner Erstarrung und l�ste unb�ndige Wut in mir aus. Ich beschloss, dass ich die Nazis, wenn sie mich schon nicht haben wollten und wenn ich sie nicht bek�mpfen konnte, fortan aus tiefstem Herzen hassen w�rde. Und dieser Hass half mir, die Jahre bis zum Ende des Krieges zu �berstehen.
Verbotene Fr�chte
Eher angenehme Erinnerungen an meine Lehrzeit bei der Firma Lindner verbinde ich mit Gerda Schmidt, einer der Sekret�rinnen. Gerda, eine kleine, dralle br�nette Frau in den Drei�igern mit einem einnehmenden breiten L�cheln, wurde wegen ihrer guten Figur von allen M�nnern in der Fabrik umschw�rmt. Jeden Freitag, etwa eine Stunde vor Feierabend, kam Gerda mit einer gro�en Schachtel, in der sich unsere Lohnt�ten befanden, in die Werkhalle, was stets l�sternes Gebr�ll, bewundernde Pfiffe und anz�gliche Angebote ausl�ste. Doch Gerda lie� sich nicht verunsichern, setzte blo� ein strahlendes L�cheln auf und schwang provozierend die H�ften. Im Laufe der Jahre hatte die H�lfte der M�nner in der Produktion versucht, bei Gerda zu landen, doch sie hatte sie alle abblitzen lassen, sogar den angeblichen Supersexprotz Heini Salzmann. Schlie�lich wurde gemunkelt, sie h�tte entweder eine heimliche Aff�re mit einem �wichtigen� verheirateten Mann oder sie w�re lesbisch oder sie w�re sich zu fein, um mit einem Arbeiter ins Bett zu gehen. Obwohl mir die Ger�chte bekannt waren, �nderten sie nichts daran, dass ich mich Hals �ber Kopf in Gerda verknallte. Ich konnte kaum bis zum n�chsten Freitag warten, nicht wegen meines mickrigen Lehrlingslohns, sondern weil ich dann die Frau meiner Tr�ume wiedersah. Sobald sie die Werkhalle betrat, nahmen meine �bersteigerten Sinne den s��en Duft ihres Parf�ms wahr, der sich mit den bei�enden Industrieger�chen der Fabrik vermischte. Doch sobald
der lang ersehnte Augenblick kam und das Objekt meiner Begierde endlich vor mir stand, war ich zu nichts anderem f�hig, als mein Geld zu z�hlen und ein kaum vernehmliches Danke zu stammeln, wobei ich den Blick abwandte, um meine wahren Gef�hle nicht zu verraten und mich nicht l�cherlich zu machen. Wenn sie dann wieder gegangen war, h�tte ich mich daf�r ohrfeigen k�nnen, dass ich mich nicht ein wenig geschickter angestellt hatte, und schwor mir, es beim n�chsten Mal besser zu machen. Trotzdem h�tte ich mir nie eine Chance bei ihr ausgerechnet. Schon allein der Gedanke, dass eine attraktive, erfahrene Frau wie Gerda, die jeden Mann haben konnte, sich f�r einen Halbstarken interessieren w�rde, der noch dazu als rassisch minderwertig galt, w�re schierer Gr��enwahn gewesen. Doch ehe ich mich's versah, bot sich mir eine ungeahnte Gelegenheit. Eines Nachmittags, kurz vor Feierabend, traf ich Gerda im Gemeinschaftsraum der Firma. Sie heftete gerade eine Mitteilung ans Schwarze Brett. Bis auf sie, ihr Parf�m und mich war niemand sonst im Raum. Nachdem ich einen unverst�ndlichen Gru� genuschelt hatte, wollte ich an ihr vorbei und zur�ck in die Werkhalle gehen, doch sie sprach mich an. �Sag mal, hast du Angst vor mir? � �Nein, wieso?�, erwiderte ich, v�llig perplex. �Warum verh�ltst du dich dann immer so, als h�ttest du Angst? �, bohrte sie weiter. �Wie meinst du das?�, entgegnete ich verlegen, obwohl ich genau wusste, was sie meinte. Was sie offenbar nicht wusste, war, dass mein unsicheres Verhalten in ihrer Gegenwart absolut nichts mit Angst zu tun hatte. Das
Einzige, wovor ich Angst - nein, Panik - hatte, war, dass ich mich l�cherlich machen k�nnte. �Tja, wenn du keine Angst vor mir hast, warum kommst du dann nicht ein bisschen n�her? �, neckte sie mich. Ich machte einige Schritte auf sie zu, um ihr zu beweisen, dass sie sich t�uschte, aber sie war noch immer nicht �berzeugt. �Noch n�her, ganz nah�, spornte sie mich an. Ich machte noch einen Schritt, bis unsere K�rper sich beinahe ber�hrten. �Vorsicht, du machst mich noch ganz schmutzig�, sagte sie, auf meinen dreckigen Monteuranzug deutend. Dann neigte sie den Kopf und k�sste mich mitten auf den Mund. �Vielleicht hast du ja wirklich keine Angst�, bemerkte sie. �Wenn du Lust hast, k�nnen wir heute Abend zusammen ins Kino gehen�, fl�sterte sie. �Im Am Zoll l�uft Hallo Janine! mit Marika R�kk und Johannes Heesters.� Obwohl ich ein gro�er Fan der beiden Tanz- und Gesangsstars war, h�tte ich mich wirklich mit jedem Film einverstanden erkl�rt. Wir verabredeten uns also um Punkt acht Uhr vor dem Kino. In dem Augenblick war ich v�llig willenlos und h�tte mich �berall mit ihr getroffen. Pl�tzlich kam mir der Gedanke, dass sie sich vielleicht nicht dar�ber im Klaren war, was f�r Folgen eine Verabredung mit jemandem wie mir haben k�nnte, und ich hielt es f�r meine Pflicht, sie darauf hinzuweisen, selbst auf die Gefahr hin, dass sie einen R�ckzieher machte. �Du wei�t doch sicher, dass es den Nazis nicht gefallen wird, wenn du mit mir ausgehst�, f�hlte ich vor. �Nat�rlich wei� ich das, aber die Nazis k�nnen mich mal�, lautete ihre hochverr�terische Antwort. �So, jetzt muss ich aber wieder an die Arbeit�, beendete sie unser Gespr�ch. �Bis heute Abend.�
Als ich von der Arbeit nach Hause kam, wusch ich mich besonders gr�ndlich und warf mich richtig in Schale. S�mtliche Bedenken, die mir in den Sinn kamen, wurden von meiner gespannten Vorfreude gleich wieder zerstreut. Mit nahezu fatalistischer Resignation folgte ich dem alten deutschen Sprichwort �Wer A sagt, muss auch B sagen�, so unlogisch es vielleicht auch war. Den ersten Schritt hatte ich ja gemacht, und den zweiten w�rde ich auf jeden Fall versuchen. Wenn alles nach Plan lief, war heute - der 31. Juli 1941 - der gro�e Tag, an dem ich zum ersten Mal erfahren w�rde, was richtige Liebe ist. Gerda wartete bereits vor dem Kino, als ich ankam. Als sie mich sah, kaufte sie ihre Karte. Anschlie�end kaufte ich meine, und wir reihten uns in den Strom der anderen Kinobesucher ein. F�r einen Uneingeweihten waren wir zwei Fremde, die wie Hunderte andere Fremde auch zuf�llig nebeneinander sa�en. Dann ging das Licht aus, und die Wochenschau fing an. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass der Mann links von mir auf das Leinwandgeschehen konzentriert war, schob ich meine rechte Hand ganz sachte zu Gerda hin�ber, bis ich ihren Oberschenkel ber�hrte. Da ich auf keinerlei Widerstand stie�, fing ich an, meine Hand auf und ab zu bewegen und dabei immer mehr Druck auszu�ben. Zum Gl�ck war das Gesch�tzfeuer auf der Leinwand so ohrenbet�ubend, dass nur ich Gerdas schweres Atmen und das gelegentliche St�hnen h�ren konnte, das aus ihrem Mund drang. In der kurzen Pause zwischen der Wochenschau und dem Hauptfilm sa� ich wieder wie zuvor v�llig unbeteiligt mit verschr�nkten Armen da. Sobald das Licht aber erneut aus ging, machte ich dort weiter, wo ich aufgeh�rt hatte, mit beunruhigend
vielsagendem Ergebnis. Ich sp�rte, dass Gerda erbebte, und bemerkte, dass sie jetzt h�rbar atmete. Als ich gerade fand, dass ich wohl besser aufh�ren sollte, damit niemand im Saal etwas mitbekam, beugte Gerda sich zu mir und fl�sterte: �Ich warte drau�en auf dich�, dann stand sie auf und verlie� das Kino. Nat�rlich folgte ich ihr. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und es war stockfinster. �Was sollte das denn vorhin? Wolltest du mich in den Wahnsinn treiben?�, fragte Gerda l�chelnd. Dann schlug sie vor, einen Spaziergang auf dem Wiesendamm zu machen, einer zweispurigen Stra�e mit einem Fu�weg in der Mitte, der mit seinen B�umen und Str�uchern und den Holzb�nken f�r Liebesp�rchen wie geschaffen war. Es war keine Menschenseele zu sehen, und wir suchten uns eine strategisch g�nstige Bank, die von zwei B�umen flankiert wurde. Von da an �berlie� ich mich nur noch Gerdas erfahrenen H�nden. Als wir Schritte n�her kommen h�rten, befiel mich eine seltsame Mischung aus Ekstase und Furcht, w�hrend wir uns umschlungen hielten und uns der Atem stockte. Je n�her die Schritte kamen, desto gr��er wurde meine Angst. Ich rechnete schon damit, dass jeden Moment der Strahl einer Taschenlampe aufblitzen und eine M�nnerstimme �Sicherheitsdienst! � bellen w�rde. Doch die Schritte gingen vorbei. Sobald sie au�er H�rweite waren, erwachten wir wieder zum Leben und erfreuten uns aneinander, so lange, bis wir beide die k�rperliche Lust und Befriedigung gefunden hatten, f�r die wir bereit gewesen waren, unser Leben aufs Spiel zu setzen. Anschlie�end lehnte Gerda es strikt ab, sich von mir nach Hause bringen zu lassen. �Wir wollen unser Gl�ck
nicht �berstrapazieren�, sagte sie. Ihre Worte rissen mich j�h in die Wirklichkeit zur�ck. Obwohl sie Recht hatte, deprimierte mich der Gedanke, dass ich im Gegensatz zu meinen Freunden, die nach Herzenslust mit jungen M�dchen ausgehen konnten, wie ein Dieb in der Nacht herumschleichen musste und Gefahr lief, den H�schern der Gestapo in die H�nde zu fallen. Als ich nach Hause kam, merkte ich, dass Gerdas Parf�m mich wie eine Wolke umh�llte, und ich wusste, dass es der feinen Nase meiner Mutter nicht entgehen w�rde. Sie war jedoch so taktvoll, mich nicht darauf anzusprechen. Stattdessen erkundigte sie sich, wie mir der Film gefallen habe. Mein erster Impuls war, ihr etwas vorzul�gen, doch ich brachte es nicht �ber mich. �Ich hab im Kino eine Bekannte getroffen, und wir sind fr�her aus der Vorstellung gegangen, um einen Spaziergang zu machen�, sagte ich, m�glichst wahrheitsgem��. �Ist sie nett?�, fragte meine Mutter mit typisch m�tterlicher Neugier. �Ja, sehr nett�, erwiderte ich. �Aber sei vorsichtig, Hans-J�rgen. Du wei�t, was ich meine�, ermahnte sie mich mit einem besorgten Blick, der auf meinem Gewissen lastete wie eine ganze Tonne Ziegelsteine.
Der Anfang vom Ende
Nach der katastrophalen Niederlage der 6. deutschen Armee im Winter 1942/43 im Kessel von Stalingrad konnten selbst die optimistischsten Deutschen nicht mehr die Augen davor verschlie�en, dass der Krieg nicht so verlief, wie sie gehofft hatten. Ein Anzeichen daf�r, dass die deutschen Truppen auf die eisigen Temperaturen in der Sowjetunion nicht vorbereitet waren, war schon ein Jahr vorher der Aufruf der Regierung an die deutschen Frauen gewesen. Nachdem der deutsche Vormarsch im Winter 1941/42 vor Moskau zusammengebrochen war, sollten sie ihre Pelz- und Wintersachen spenden, damit daraus warme Kleidungsst�cke f�r die Frontsoldaten gemacht werden konnten, die sich regelrecht zu Tode froren. Mehr als einmal bekam ich mit, wie Frauen, die dem Aufruf offensichtlich nicht gefolgt waren und noch ihre Pelzm�ntel trugen, von anderen Frauen bespuckt und als Verr�terinnen und Huren beschimpft wurden. Um die Moral an der Front und zu Hause aufrechtzuerhalten, lief Goebbels' Propagandamaschinerie auf Hochtouren und verwandelte die Niederlagen in Siege. Es wurden Propagandafilme gedreht, die die romantischen Abenteuer schneidiger Offiziere erz�hlten, wie beispielsweise Die gro�e Liebe, ein Streifen, in dem Filmstar Zarah Leander die optimistische Botschaft verbreitete: �Ich wei�, es wird einmal ein Wunder gescheh'n.� Schon bald war der Schlager in aller Munde, Ausdruck der verzweifelten Hoffnung der Deutschen,
dass ihr Ungl�ck sich wie durch ein Wunder umkehren und der Krieg ein Ende nehmen w�rde. Goebbels' Bem�hen, den Siegeswillen zu st�rken, war auch am Arbeitsplatz sp�rbar. Mehrmals bekamen wir in unserer Firma Besuch von �Kraft durch Freude�-Unterhaltungsk�nstlern - in der Regel zwei oder drei -, die uns mit Sp��en und Akkordeonst�cken aufzuheitern versuchten. Obwohl wir uns �ber jede noch so kleine Ablenkung vom erbarmungslosen Druck der R�stungsproduktion freuten, wussten wir genau, dass wir nur die Kr�mel von anderer Leute Tische abbekamen. Wir alle hatten in der Wochenschau gesehen, dass in den gro�en R�stungsbetrieben so renommierte Sinfonieorchester aufspielten wie die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Wilhelm Furtw�ngler. Ein weiteres Propagandamittel war der von den Nazis kontrollierte Deutsche Rundfunk, dessen Wahrheitsverdrehungen und L�gen selbst die leichtgl�ubigsten B�rger mit zunehmender Skepsis betrachteten. Um nicht allein auf diese einseitige Berichterstattung angewiesen zu sein, h�rte ich heimlich die deutschsprachigen Sendungen der BBC, was bei den Nazis als Hochverrat galt. Wer dabei erwischt wurde, musste mit der Todesstrafe oder Konzentrationslager rechnen. Ich wusste zwar nicht genau, was sich in den Konzentrationslagern abspielte, aber es sickerte immer mehr durch, dass sie die H�lle auf Erden waren. Paradoxerweise h�rte ich die Meldungen der Alliierten an unserem kleinen Volksempf�nger, einem billigen Rundfunkger�t, das im Auftrag der Regierung auf den Markt gebracht worden war, damit sich alle Deutschen ein Radio leisten konnten und wunderbar mit Propaganda zu manipulieren waren. Trotz der st�ndigen Klagen meiner Mutter �ber
die Gefahren meiner illegalen Aktivit�t wurde ich abh�ngig von den Nachrichten der BBC. Zur Vorsicht legte ich das Radio aufs Bett und zog mir eine Wolldecke �ber den Kopf, w�hrend meine Mutter an der Wohnungst�r lauschte, um sich zu vergewissern, dass niemand die Treppe hochkam. Dank der BBC konnte ich mir ein recht genaues Bild von der katastrophalen Lage der deutschen Truppen machen, und das lange bevor diejenigen meiner Landsleute, die sich voll und ganz auf Goebbels' Rundfunk und Presse verlie�en, auch nur eine Ahnung hatten, dass Hitlers Kriegsmaschinerie einer verheerenden Niederlage entgegensteuerte.
Doch nicht nur die britischen Radiomeldungen lie�en darauf schlie�en, dass es mit Hitlers Kriegsanstrengungen nicht zum Besten bestellt war. Vom ersten Tag meiner Lehre an hatte Meister Neumann meine Kollegen und mich immer wieder dazu angehalten, bei der Fertigung der Munitionsanh�nger �u�erste Sorgfalt walten zu lassen, damit dem hohen deutschen Standard Rechnung getragen w�rde. Damit nur einwandfreie Anh�nger f�r den Einsatz an der Front die Fertigungshalle verlie�en, wurde jede Schwei�naht, jede Niete und jede Schraube von einer kleinen Armee milit�rischer Inspekteure kontrolliert. Bei der geringsten Abweichung von den Produktionsvorschriften wurde das Fahrzeug nicht �bernommen, und der f�r den Fehler verantwortliche Arbeiter bekam von Meister Neumann geh�rig den Kopf gewaschen. Praktisch von heute auf morgen �nderte sich das Verfahren. Mit der Begr�ndung, dass es durch die vielen Einberufungen zu einem eklatanten Personalmangel in der Fabrik gekommen sei und wir deshalb mit der Produktion bedenklich in
Verzug geraten seien, gab Meister Neumann die Anweisung, dass wir fortan in m�glichst kurzer Zeit m�glichst viele Anh�nger produzieren sollten. Und dann sagte er etwas, das wir aus dem Munde des wohl besessensten Perfektionisten der Firma nie und nimmer erwartet h�tten: �Es macht nichts, wenn die Anh�nger nicht perfekt sind. Einwandfreie Munitionsanh�nger, die die Front nicht rechtzeitig erreichen, sind wertlos, wenn wir den Krieg gewinnen wollen. � Zusammen mit den hohen Produktionsstandards verschwanden auch die Milit�rinspekteure, die, wie wir erfuhren, an die Front kommandiert worden waren, wo sie offensichtlich dringender gebraucht wurden. Bei alldem hatte ich kaum wahrgenommen, dass meine dreij�hrige Lehrzeit sich dem Ende zuneigte und ich die Gesellenpr�fung ablegen musste, die aus einer zweit�gigen praktischen und m�ndlichen Pr�fung bestand. Obwohl ich mich auf den Tag gefreut hatte, an dem ich in den Rang eines ausgebildeten Bauschlossers aufsteigen w�rde, war das Hochgef�hl bereits verpufft, als ich erfuhr, dass ich die Pr�fung bestanden hatte, und meinen Gesellenbrief erhielt. Auf Grund der Beschr�nkungen, die w�hrend des Krieges in Kraft waren, durfte ich mir n�mlich nicht, wie es in meinem Beruf eigentlich Tradition war, einen anderen Arbeitgeber suchen. Ich musste also an meiner alten Arbeitsstelle bleiben, wo ich von meinen ehemaligen Vorgesetzten niemals den mir geb�hrenden Respekt bekommen w�rde, ungeachtet meines offiziellen Status. Au�erdem war ich es satt, wie am Flie�band Munitionsanh�nger herzustellen. Auch der Gedanke, dass ich jetzt einen vollen Gesellenlohn bekam, trug nur wenig dazu bei, meine Stimmung zu heben. Ich w�nschte, es w�rde irgendetwas passieren,
das mich von der eint�nigen Plackerei und meinem faden Leben befreite, irgendeine Abwechslung, irgendetwas Aufregendes. Wenn mich doch nur jemand vor derlei W�nschen gewarnt h�tte. Schon bald erlebte ich so viel Abwechslung und Aufregung, dass es bis ans Ende meiner Tage gereicht h�tte.
Operation Gomorrha
�Operation Gomorrha� war der Deckname f�r die zehn Tage dauernden erbarmungslosen Luftangriffe auf Hamburg durch schwere britische Lancaster- und HalifaxBomber im Sommer 1943. F�r mich und meine Mutter begann die H�lle am 29. Juli 1943, einem dr�ckend hei�en Donnerstag, etwa um neun Uhr abends, als die Sirenen Voralarm gaben. Wieder einmal hatten feindliche Bomber den �rmelkanal �berquert und waren im Anflug auf Hamburg. Wie schon Hunderte Male zuvor schnappten meine Mutter und ich je zwei Koffer mit unseren wichtigsten Habseligkeiten und eilten zum �ffentlichen Luftschutzbunker auf unserer Stra�e. F�r uns wie f�r die �brige Bev�lkerung der Stadt war es Routine geworden, abends und nachts die Luftschutzr�ume aufzusuchen. Doch an diesem Abend war es anders. Da in den vorangegangenen zwei N�chten bereits riesige Teile der Stadt dem Erdboden gleichgemacht worden und Tausende von Menschen im Bombenhagel umgekommen waren, hatte das Heulen der Sirenen einen neuen, unheilvolleren Klang angenommen. Einige von unseren Nachbarn waren aus Furcht vor weiteren Angriffen mit allem, was sie tragen konnten, aus der Stadt zu Freunden oder Verwandten geflohen, so auch Gretchen, ihre Mutter und ihr Bruder Ingmar. In der Nacht zuvor hatte Gretchen mir im Bunker erz�hlt, dass sie bereits gepackt hatten und sich bei Tagesanbruch auf den Weg nach G�ttingen machen wollten, wo sie
Verwandte hatten. Auch meine Mutter und ich hatten �berlegt, ob wir die Stadt verlassen sollten, uns aber dagegen entschieden, da auf den Bahnh�fen von Hamburg wegen der Massenflucht das reinste Chaos herrschte. In einem �berf�llten Zug von einem Tiefflieger beschossen zu werden war genauso gut m�glich, wie in einem Luftschutzbunker von einer Bombe getroffen zu werden. Wir beschlossen, es darauf ankommen zu lassen und in der Stadt zu bleiben. In den ersten beiden Stunden nach dem Alarm war alles t�uschend ruhig. Wie immer war ich zur Gasschleuse am Haupteinstieg gegangen, wo etwa ein Dutzend M�nner standen und rauchten und durch die offene T�r in den Sternenhimmel blickten, w�hrend sie �ber die Angriffe der vergangenen Tage sprachen. Zu meiner Freude entdeckte ich unter ihnen einen meiner ehemaligen Freunde aus der Nachbarschaft, Jack Spederski, den ich schon seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Er war hoch dekoriert und trug die schmucke Uniform der ber�hmten Panzerdivision Gro�deutschland. Jack erz�hlte, dass er auf Heimaturlaub von der Ostfront sei. Als ich anerkennend zu ihm sagte, er sei ja nun ein richtiger Held, schnaubte er abf�llig: �Ich habe die Nase voll vom Krieg, aber ich habe gelernt, das Beste aus einer miesen Lage zu machen.� Obwohl es als Hochverrat galt, wenn man nur einen leisen Zweifel am Sieg der Nazis �u�erte, spekulierten die M�nner, die am Eingang standen, offen dar�ber, wie lange Deutschland diese massive Zerst�rung seiner Industriezentren noch aushalten k�nne. Ohne sich dadurch beirren zu lassen, dass auch ein Soldat dabei war, gab einer der M�nner dem Hitler-Regime nur �noch einen Monat, wenn �berhaupt�. Niemand widersprach
ihm. Offenbar hielt der �einfache Mann auf der Stra�e� umso weniger mit seiner Meinung hinter dem Berg, je mehr er das Regime in Schwierigkeiten w�hnte. Leider sollte das prophezeite baldige Ende der Nazis noch zwei Jahre auf sich warten lassen. Ich ging zur�ck in den Bunker, um meiner Mutter zu sagen, dass drau�en alles ruhig sei und dass wir, zumindest in dieser Nacht, wahrscheinlich von einem Angriff verschont bleiben w�rden. Pl�tzlich, es war inzwischen kurz nach Mitternacht, brach die H�lle los. Es dr�hnte wie von Tausenden schwerer Bomber, und unabl�ssig h�rten wir das schrille Crescendo von heulenden Bomben in der Luft, bevor sie mit urgewaltiger Wucht in den Boden einschlugen. Bei jeder Explosion zitterte der ganze Bunker wie bei einem Erdbeben, und die Leute - �berwiegend Frauen, Kinder und �ltere M�nner - schrien in Panik. Als Minuten nach dem ersten Angriff das Licht ausging und der Drahtfunk ausfiel, wurden die Schreie noch lauter. Nach jeder Detonation folgte drau�en ein Augenblick der Stille, doch nach und nach wurden die ruhigen Intervalle immer k�rzer, bis es schlie�lich ohne Unterlass krachte. Etwa eine Stunde nach Beginn des Angriffs stieg die Temperatur in unserem Bunker rapide an. Wir vermuteten, dass die Fabrik �ber uns von Brandbomben getroffen worden war und in Flammen stand. Unser Verdacht best�tigte sich, als wenige Minuten sp�ter dichter Rauch durch Risse in der Decke quoll. Pl�tzlich machte der Luftschutzwart, ein Schneider aus unserer Nachbarschaft, auf sich aufmerksam, indem er sich mit einer Taschenlampe ins Gesicht leuchtete. Bislang hatten sich viele h�ufig hinter seinem R�cken �ber ihn lustig gemacht wegen seines �bertrieben diensteifrigen,
pseudomilit�rischen Gebarens. Doch jetzt sp�ttelte niemand, w�hrend er uns unsere bedrohliche Lage erl�uterte. Nachdem er mehrere batteriegespeiste Notlampen aufgestellt hatte, wies er alle kr�ftigen M�nner an, die handbetriebenen Luftpumpen zu bet�tigen. Jack und ich fingen an zu pumpen, doch schon bald stellte sich heraus, dass alle unsere M�he das Gegenteil bewirkte. Statt frischer Luft bef�rderten die Pumpen dichten, bei�enden Rauch in den Bunker. Jack sagte, es sei ja schon schlimm, mit Frostbeulen an den H�nden gegen den Iwan k�mpfen zu m�ssen, aber noch schlimmer sei es, hilflos in �so einem gottverdammten Loch in der Erde� zu hocken und darauf zu warten, entweder bei lebendigem Leibe ger�stet zu werden oder zu ersticken.
Endlich h�rten die Detonationen auf. Wir vernahmen nur noch ein lautes Zischen von drau�en, das wir f�r das Ger�usch von Wasser speienden Feuerwehrschl�uchen hielten. Wie wir sp�ter erfuhren, wurde das Ger�usch jedoch von dem Feuersturm verursacht, den die Brandbomben ausgel�st hatten und der die Stra�en �ber uns in ein Inferno mit bis zu 800 Grad Hitze verwandelte. Langsam, aber sicher f�llte sich der Bunker immer st�rker mit Rauch, und die Leute fingen an zu husten und zu keuchen. Bei der d�mmrigen Notbeleuchtung, die immer schw�cher wurde, da die Batterien kaum noch Saft hatten, sahen wir, dass der Qualm immer dichter wurde. Uns standen jetzt zwei Alternativen offen: Entweder wir blieben im Bunker und erstickten, oder wir gingen nach drau�en und verbrannten bei lebendigem Leibe. Doch als pl�tzlich die Au�enw�nde der Fabrik mit ungeheurem Get�se
einst�rzten und die Ausg�nge blockierten, war uns jede Wahlm�glichkeit genommen. Dann fasste jemand die Decke an und stellte fest, dass sie gl�hend hei� war, so dass wir damit rechnen mussten, dass sie jeden Augenblick einsackte. Die Folge war, dass sich eine Welle von Resignation im Bunker breit machte; die Menschen, die sich an ihre Angeh�rigen klammerten, schienen die Hoffnung aufgegeben zu haben, dieser H�lle jemals lebend zu entrinnen. Bis auf das ununterbrochene trockene Husten wegen des Rauches war es im Bunker mucksm�uschenstill geworden. Sogar die Kinder hatten aufgeh�rt zu weinen. Ich sa� auf dem Zementboden neben meiner Mutter, die genau wie ich unter Atemschwierigkeiten und brennenden Augen litt. Wir wussten zwar, dass unsere Gasmasken nicht gegen Rauch sch�tzten, doch in unserer Verzweiflung hatten wir sie trotzdem aufgesetzt, nur f�r den Fall, dass sie vielleicht doch etwas n�tzen k�nnten. Wir stellten allerdings bald fest, dass sie das Atmen h�chstens noch schwieriger machten. Trotzdem wollten wir uns nicht eingestehen, dass sie untauglich waren, und behielten sie hartn�ckig auf, als w�ren sie das Einzige, das uns noch vor dem Tod bewahren k�nnte. Obwohl mir unsere ausweglose Lage bewusst war, wollte ich einfach nicht glauben, dass das mein Ende sein sollte - dass ich, ganz gleich welchen Sinn und Zweck mein Dasein auf dieser Erde auch immer gehabt haben mochte, in diesem �gottverdammten Loch� krepieren w�rde. Ich sp�rte weder Optimismus noch Pessimismus noch Angst, blo� Ungl�ubigkeit, dass es das gewesen sein sollte. Je anstrengender das Atmen unter der Gasmaske wurde, desto unwirklicher kam mir alles vor, aber ich verlor nicht das Bewusstsein. Noch
immer wusste ich, dass meine Mutter bei mir war und dass wir uns an der Hand hielten, doch mit ihrer Gasmaske wirkte sie fremd auf mich, wie ein Wesen von einem anderen Planeten. Wie lange ich in diesem apathischen Zustand blieb, wei� ich nicht mehr. Ich kann mich nur noch erinnern, dass pl�tzlich ein Mann an meiner Gasmaske riss -und mich anschrie, ich solle sie abnehmen. Zuerst dachte ich, es w�re jemand, der auf meine Kosten seinen eigenen Hals retten wollte, und hielt meine Maske mit aller Kraft fest. Erst als ich sah, dass er eine Uniform trug, lie� ich los. Blendendes Tageslicht fiel durch den Eingang des Bunkers, und als ich wie gehei�en die Gasmaske abnahm, str�mte frische Luft in meine nach Sauerstoff lechzenden Lungen. Auch meine Mutter hatte ihre Gasmaske abgenommen und erwachte augenblicklich wieder zum Leben. Auf meiner Uhr war es neun Uhr morgens. Unser Martyrium hatte genau zw�lf Stunden gedauert.
Ausgebombt
Langsam, als erwachten wir aus einem Alptraum, stiegen wir aus dem Keller - eine lange Reihe von Menschen, denen das Leben noch einmal geschenkt worden war. Oben erwarteten uns die Leute vom Luftschutz, die uns befreit hatten. Auf ihre Anweisung hin legten wir uns Decken oder Handt�cher �ber den Kopf, zum Schutz vor dem Funkenflug, der die Luft erf�llte. Die Rettungshelfer beschworen uns, ruhig zu bleiben, egal, was wir sehen w�rden, und das war gut so, denn uns erwartete einer der entsetzlichsten und traurigsten Anblicke unseres Lebens. Die St�ckenstra�e - nein, ganz Barmbek - unser geliebtes Viertel - war praktisch dem Erdboden gleichgemacht. So weit das Auge reichte, nichts als totale Zerst�rung. Im Gegensatz zu dem ohrenbet�ubenden Krach der letzten Nacht lag nun ged�mpfte Stille �ber der schaurigen Szenerie. Hier und da waren mumienartige, verkohlte Leichen zu sehen. Offenbar hatten diese Menschen sich zu sp�t entschlossen, ihre Wohnungen zu verlassen, um noch einen Schutzraum zu erreichen. Die meisten H�user waren bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Andere standen noch in Flammen, und wieder andere waren nur noch ausgebrannte Ruinen. Einer dieser noch rauchenden Tr�mmerhaufen war von Kindheit an mein Zuhause gewesen. Als wir mit den vier Koffern, in denen sich nun unsere ganze Habe befand, daran vorbeigingen, beobachtete ich meine Mutter aus den Augenwinkeln, um zu sehen, wie sie damit fertig wurde,
all das verloren zu haben, f�r das sie jahrelang so hart gearbeitet hatte. Zu meiner �berraschung blieb sie ruhig und gefasst. �Wichtig ist nur, dass wir leben und unverletzt sind�, versicherte sie mir und sich selbst, �alles andere k�nnen wir irgendwann ersetzen.� Erst nach Kriegsende erfuhren wir das ganze Ausma� der Katastrophe, die Hamburg durch die �Operation Gomorrha� erlitten hatte, und erst dann konnten wir richtig ermessen, was f�r ein ungeheures Gl�ck uns beschieden war, zu den �berlebenden zu z�hlen. �ber 41 000 Menschen waren in dem gewaltigen Feuersturm ums Leben gekommen. Die meisten waren entweder in den Luftschutzr�umen erstickt oder bei lebendigem Leibe in dem Inferno verbrannt, das in den Stra�en tobte. Rund 900 000 Menschen verloren ihr Zuhause. Fast die H�lfte aller Geb�ude der Stadt und zirka sechshundert Fabriken wurden zerst�rt, darunter auch die vier gr��ten Schiffswerften. Als der Rauch verflogen war, lagen zweihundertsiebenundsiebzig Schulen, vierundzwanzig Krankenh�user und achtundf�nfzig Kirchen in Schutt und Asche. Noch ehe wir die Hochbahnbr�cke erreichten, unter der wir vor den herumfliegenden brennenden Tr�mmerteilen Schutz suchen wollten, nahm meine Mutter die Decke ab, die sie sich �ber den Kopf gelegt hatte. -Pl�tzlich schrie sie auf: �Meine Haare! � Ich fuhr herum und sah, dass ein lodernder Fetzen Zeitungspapier auf ihrem Kopf gelandet war und in Sekundenschnelle ein gro�es Loch in ihr volles braunes Haar sengte. Rasch erstickte ich die Flammen mit meiner Decke, so dass meine Mutter gl�cklicherweise nur leichte Brandverletzungen auf der Kopfhaut davontrug. Allm�hlich fanden sich die �berlebenden aus unserem Keller unter der
Hochbahnbr�cke ein, und ihnen allen stand das Grauen der vergangenen Nacht ins Gesicht geschrieben. Fast jeder von uns hatte Tr�nen in den Augen, w�hrend wir uns umarmten - ganz gleich, ob wir befreundete Nachbarn, entfernte Bekannte oder Wildfremde waren -, traurig, alles verloren zu haben, doch gl�cklich, noch am Leben zu sein. Als ich Jack unter den anderen sah, fragte ich ihn, wie er zur�ck zu seiner Einheit k�me. �Erz�hl blo� keinem, was ich dir jetzt sage�, fl�sterte er, �aber ich gehe nicht mehr zur�ck. Nach dem, was hier letzte Nacht passiert ist, bin ich sicher, dass der Krieg h�chstens noch ein paar Wochen dauert, vielleicht nur ein paar Tage. Bis dahin lasse ich mich mit den anderen Familien zusammen irgendwohin evakuieren. � Er deutete auf seinen Koffer und erkl�rte, dass er sich bei der n�chstbesten Gelegenheit Zivilkleidung anziehen und �diese Schei�uniform� loswerden w�rde. �Und was, wenn der Krieg nicht in ein paar Wochen vorbei ist? �, fragte ich. �Mach dir mal keine Sorgen um mich�, sagte er selbstsicher, �ich wei� schon, was ich tue.� �Hoffentlich�, meinte ich und w�nschte ihm alles Gute. Wir sch�ttelten uns die Hand, und er wandte sich ab. Meine Augen folgten seiner st�mmigen Gestalt, bis sie in der Menge untertauchte. Ich versp�rte eine seltsame Traurigkeit, als ahnte ich, dass ich Jack nie wiedersehen w�rde. Gegen Mittag kamen einige Milit�rlastwagen, die uns zur Moorweide brachten, einer gro�en, parkartigen Rasenfl�che vor dem Bahnhof Dammtor, der als eine der vielen Fl�chtlingssammelstellen diente. Dort stie�en wir zu den Tausenden anderer �berlebender der Bombenn�chte und standen in endlos langen Schlangen an, um
uns von Rotkreuzhelfern Brot und Milch zuteilen zu lassen. Da Ausgebombte kostenlos mit dem Zug zu jedem beliebigen Ziel in Deutschland gebracht wurden, beschlossen meine Mutter und ich, nach Salza zu fahren, wo wir bei unseren Verwandten unterkommen konnten. Es gab aber ein Problem. Im Bahnhof standen inzwischen so viele hoffnungslos �berf�llte Fl�chtlingsz�ge, die auf die Abfahrt warteten, dass es unter Umst�nden Tage dauern w�rde, bis wir wegkamen. Also beschlossen wir, mit einem der zahlreichen Hilfslaster die Stadt zu verlassen und sp�ter auf den Zug umzusteigen. Aber das war leichter gesagt als getan, denn Tausende von Fl�chtlingen hatten genau denselben Einfall. Nach vielen Stunden und etlichen vergeblichen Versuchen ergatterten wir schlie�lich einen Platz auf einem Milit�rlastwagen, der Fl�chtlinge aus der Stadt fuhr. W�hrend wir mit anderen Fl�chtlingen zwischen unseren wenigen Habseligkeiten auf der Ladefl�che kauerten, alle ungewaschen, ungek�mmt, verschwitzt und ersch�pft, dachte ich dar�ber nach, dass eine einzige gro�e Katastrophe uns alle gleich gemacht hatte - gleich arm, gleich schmutzig und gleich elend. Mein �Anderssein�, das stets und �berall die Blicke auf sich gezogen hatte, interessierte pl�tzlich niemanden mehr. Die Menschen waren viel zu sehr damit besch�ftigt, sich an ihren letzten d�rftigen Rest Zivilisation zu klammern, um sich noch �ber die Haare oder Hautfarbe eines anderen Gedanken zumachen. Eine junge Frau, die auf ihrem ramponierten Koffer neben meiner Mutter sa�, bot uns an, ihre letzten drei Zigaretten mit uns zu teilen, und w�hrend wir dankend ablehnten, wurde mir klar, dass Katastrophen das Beste im Menschen hervorbringen k�nnen. �berall sah ich
Menschen, die einander halfen und versuchten, die Drangsal ihrer Mitb�rger zu lindern. Leider verschwand diese selbstlose F�rsorglichkeit, die unmittelbar nach dem Desaster so allgegenw�rtig schien, mit der R�ckkehr einer gewissen Normalit�t wieder. Nach zweist�ndiger Fahrt erreichte unser Lastwagen L�neburg, wo wir mit knapper Not noch einen Fl�chtlingszug er wischten, der aus Hamburg kam und in Richtung S�den fuhr. Die Stimmung im Zug war angespannt. Es gab Ger�chte, dass einige Fl�chtlingsz�ge von Tieffliegern angegriffen worden waren, wobei es viele Tote und Verletzte gegeben hatte. An diesen Ger�chten schien etwas dran zu sein, denn die Bahnpolizei wies uns an, im Falle eines Luftangriffs ruhig zu bleiben und ohne Gep�ck aus dem Zug zu springen, sobald er zum Stillstand k�me. Dann sollten wir m�glichst weit vom Zug weglaufen oder unter B�schen und B�umen Deckung suchen. Wir f�hlten uns wie zum Abschuss freigegeben, und der schien auch nicht lange auf sich warten zu lassen. Irgendwo zwischen L�neburg und Hannover hielt unser Zug auf freier Strecke quietschend an, und es wurde mehrmals �Fliegeralarm� gerufen. Meine Mutter und ich dr�ngelten mit den anderen zur n�chsten T�r. Nach einem tiefen Sprung auf die Erde rannten wir wie alle anderen vom Zug weg. Ich zerrte meine Mutter hinter mir her in Richtung auf ein paar B�sche, die ich in der Ferne ersp�ht hatte. Doch bevor wir sie erreicht hatten, br�llte schon eine M�nnerstimme: �Hinlegen!� Gleichzeitig h�rten wir das stotternde Ger�usch eines Flugzeugmotors am Himmel. Wir warfen uns auf die Erde, und als ich mich umblickte, sah ich, wie ein Jagdflieger herabstie� und in niedriger H�he �ber die ge-
samte L�nge des Zuges hinwegflog. Das Flugzeug flog so tief, dass ich die Markierungen auf den Tragfl�chen und der Heckflosse erkennen konnte - drei konzentrische Kreise in Rot, Wei� und Blau, das Zeichen der Royal Air Force. Das Jagdflugzeug, das, dem stotternden Ger�usch nach zu urteilen, Probleme mit dem Motor hatte, verschwand hoch am Himmel und wiederholte dann das Man�ver � ein Tiefflug �ber den Zug. Wie beim ersten Mal h�rten wir keinen einzigen Schuss. Wir blieben noch eine Weile auf der Erde liegen, aus Furcht, dass das Flugzeug erneut zur�ckkehren k�nnte. Doch schlie�lich signalisierte das Pfeifen des Zuges, dass die Gefahr vor�ber war. Wenige Minuten sp�ter waren wir schon wieder unterwegs, und jetzt herrschte eine fast euphorische Stimmung der Erleichterung im Zug. Als wir im Hauptbahnhof von Hannover einfuhren, reichten uns Mitarbeiter des Roten Kreuzes Butterbrote, Milch und �pfel durch die Waggonfenster. Irgendwann kam ein Mann in brauner Nazi-Uniform in Sicht, und eine Frau schrie ihn aus dem Zug an: �Ihr Schweine habt uns das eingebrockt!� und �hnliche staatsgef�hrdende Anschuldigungen, bis jemand von ihrer Begleitung sie im wahrsten Sinne des Wortes knebelte, indem er ihr ein Handtuch vor den Mund hielt. Nach einer m�rderischen dreizehnst�ndigen Zugfahrt erreichten wir unser wenig verlockendes Ziel, das kleine D�rfchen Salza. Es war schon weit nach Mitternacht, als wir endlich auf dem menschenleeren Bahnsteig standen. Der Zug fuhr weiter und verschwand in der Ferne. Zum ersten Mal seit unserer Flucht aus dem Hamburger Inferno erlebten wir v�llige Stille. Diese Erfahrung war so ungewohnt, dass uns die eigenen Stimmen fremd vorkamen. Bis zum heutigen Tag ist f�r
mich keiner der Schicksalsschl�ge, die meine Mutter und ich w�hrend des Krieges erleben mussten, mit diesem Gef�hl der Hoffnungslosigkeit vergleichbar, das mich befiel, als der Zug weiterfuhr und wir allein auf diesem menschenleeren, sp�rlich erleuchteten Bahnsteig standen, zitternd vor K�lte, schwach vor Ersch�pfung und mit dem Gef�hl, von Gott und der Welt verlassen zu sein. So m�de wir auch waren, irgendwie schafften wir den f�nfzehnmin�tigen Fu�weg �ber Salzas dunkle und schmale Hauptstra�e bis zur Harzstra�e 6, wo unsere Verwandten wohnten. Wir brauchten nichts zu erkl�ren. Ein Blick auf uns gen�gte, und Tante Grete wusste, was uns widerfahren war. Im n�chsten Moment lagen meine Mutter und sie sich schluchzend in den Armen. Es war das erste Mal seit den schrecklichen Geschehnissen der letzten vierundzwanzig Stunden, dass ich meine Mutter weinen sah. Zuletzt war ich sechs Jahre zuvor in den Sommerferien in Salza gewesen, und Onkel Karl und Tante Grete sahen noch genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Trudchen dagegen hatte sich sehr ver�ndert. Bei meinem letzten Besuch war sie ein molliger, f�nfzehnj�hriger Backfisch gewesen, jetzt war sie eine mollige junge Dame von einundzwanzig und mit einem Unteroffizier namens Kurt Degenhard verlobt, der irgendwo in Russland an der Front war. Alle schienen sich ehrlich zu freuen, dass wir bei ihnen waren. Es brauchte seine Zeit, aber schlie�lich passten meine Mutter und ich uns so einigerma�en an das d�rfliche Leben in Salza an. Onkel Karl, Tante Grete und Trudchen halfen uns, so gut sie konnten, damit wir das Grauen verga�en und uns wie zu Hause f�hlten. Aber das war nicht leicht. Anders als in Hamburg, wo der Zorn der Menschen auf die Nazis oft deutlich sp�rbar gewesen
war und die Nazis immer weniger selbstbewusst auftraten, tr�umten die Menschen in Salza immer noch von Hitlers Tausendj�hrigem Reich. Zumindest vordergr�ndig sah es so aus, als st�nde das ganze Dorf noch geschlossen hinter Hitler. Da in Salza jeder von jedem praktisch alles wusste, hatten Onkel Karl und Tante Grete gelernt, ihre politischen Ansichten f�r sich zu behalten, selbst uns gegen�ber. Und sie mussten uns nicht erst sagen, dass wir das Gleiche tun sollten. Bei unserer Ankunft sprach das ganze Dorf noch immer dar�ber, dass Mussolini wenige Tage zuvor von deutschenfeindlichen Truppen unter F�hrung von Marschall Badoglio abgesetzt und verhaftet worden war. Die erste Reaktion auf den Sturz des Duce war die Massenfahnenflucht italienischer Truppen und der Beinahezusammenbruch des italienischen Widerstandes gegen die alliierten Streitkr�fte. Die Dorfbewohner, die noch nicht mal einen Vorgeschmack des Kriegs abbekommen hatten und auch daher noch begeisterte Anh�nger Hitlers und seiner milit�rischen Abenteuer waren, nahmen die Nachricht vom Auseinanderbrechen der Achse Berlin-Rom wie einen pers�nlichen Verlust auf. Viele machten ihrer Best�rzung durch laute Schm�hungen der �feigen Italiener� Luft. Wenige Wochen nach Mussolinis Festnahme bekam die Moral der Menschen in Salza wieder Auftrieb. Eine Sondermeldung aus dem F�hrerhauptquartier verk�ndete, dass Mussolini befreit worden war. Sp�ter sahen wir in der Wochenschau, wie ein Fallschirmj�gerkommando unter F�hrung des schneidigen SS-Obersten Otto Skorzeny den Duce aus seiner Haft auf dem Campo Imperatore befreite und in Sicherheit brachte.
Wie viele Veteranen des Ersten Weltkrieges war Onkel Karl eingezogen worden, als der Nachschub an jungen Rekruten immer knapper wurde. Offiziell war er eine Zugstunde entfernt in Erfurt stationiert, aber in Wirklichkeit f�hrte er ein fast normales Zivilistenleben daheim. Dieses seltene Privileg verdankte er seinem Beruf. Da Onkel Karl Schneidermeister war, lie� ihn der kommandierende General zu Hause fesche Uniformen f�r sich und seine h�heren Offiziere schneidern. Mein Onkel legte nur dann seine eigene Unteroffiziersuniform an, wenn er zu seiner Garnison nach Erfurt fuhr, um fertige Uniformen abzuliefern und neue Arbeit abzuholen. Gelegentlich wurde ich von ihm zwangsverpflichtet und musste graue, mit Gold- und Silberlitzen verzierte Uniformjacken anziehen, damit er letzte Hand anlegen konnte. Irgendwie empfand ich eine zynische Genugtuung, wenn ich mir vorstellte, was General Dingsbums und Oberst Soundso wohl davon gehalten h�tten, dass ihre Uniformen von jemandem anprobiert wurden, der noch nicht einmal f�r w�rdig befunden worden war, eine einfache Soldatenuniform zu tragen. Der wohl schmerzhafteste Verlust, den ich beim Feuersturm in Hamburg erlitten hatte, war der meiner Trompete. Umso gr��er war meine Freude, als Onkel Karl mir eines Tages eine alte Klarinette schenkte, die er bei einem befreundeten Dorfmusiker abgestaubt hatte und die ganz sicher schon bessere Tage gesehen hatte. �Ich wei�, es ist keine Trompete, und sie macht nicht viel her�, sagte mein Onkel, �aber was Besseres hab ich nicht kriegen k�nnen.� Mit liebevoller Pflege und F�rsorge sah das gute alte Instrument bald wieder fast wie neu aus. Ich �bte jede freie Minute, und nachdem
ich endlich dahinter gekommen war, dass ich das Mundst�ck verkehrt herum aufgesetzt hatte, erstaunte ich schlie�lich alle mit einigen flotten modernen Melodien. Aber der Krieg ging weiter, und ich konnte meinem musikalischen Hobby nicht lange ungest�rt fr�nen. Meine Mutter und ich hatten uns vorschriftsm��ig bei der �rtlichen Polizei gemeldet und somit die Einwohnerzahl von Salza um zwei erh�ht. Um Bezugsscheine f�r Lebensmittel und Kleidung zu erhalten, mussten alle diensttauglichen M�nner nachweisen, dass sie in der kriegswichtigen Produktion arbeiteten. Also bewarb ich mich als Bauschlosser bei Schmidt, Kranz & Co., einer riesigen Stahlbaufirma in Nordhausen, und wurde sofort eingestellt. Im Vergleich zu meinem neuen Arbeitgeber kam mir die Lindner AG wie eine kleine Klitsche vor. Jetzt arbeitete ich in einem h�hlenartigen, ohrenbet�ubend lauten Hangar, wo gewaltige Stahlteile bedrohlich �ber mir hinwegschwebten, pr�zise gesteuert von einem unsichtbaren Kranf�hrer, der hoch oben unter der Decke in einer Kabine sa�. Obwohl ich als Schlossergeselle eingestellt worden war, teilte man mir nur Arbeiten zu, f�r die ich deutlich �berqualifiziert war. Mein Meister war ein freundlicher, unkomplizierter Mann, der mir diese langweiligen T�tigkeiten ganz sicher nicht aus Boshaftigkeit zuwies. Es gab einfach keine anspruchsvollen Arbeiten, f�r die ich ausgebildet worden war. Kein Wunder also, dass ich das Leben in Nordhausen t�dlich langweilig und uninteressant fand und mich nach meinem alten Hamburg sehnte, auch wenn es nichts als ein Tr�mmerhaufen war. Aber zum damaligen Zeitpunkt sah es leider so aus, als ob es mein Schicksal sei, den Rest meines Lebens im
sch�nen Harzerland zu verweilen - ein Gedanke, der mich mit Grauen erf�llte.
Das Geheimnis des Kohnsteins
Es wurde Herbst, und ein neues Ph�nomen fesselte meine Aufmerksamkeit. T�glich fuhr ein Konvoi von offenen Milit�rlastwagen unter meinem Fenster in der Harzstra�e 6 vorbei. Die Lastwagen trugen eine seltsame Fracht - kahl geschorene, ausgemergelte M�nner in l�ngs gestreiften Str�flingsuniformen mit hohlen Wangen und riesigen, ausdruckslosen Augen, die ihre K�pfe wie Totensch�del wirken lie�en.
Sie standen zusammengepfercht wie Vieh, bewacht von bewaffneten SS-M�nnern, die auf den Heckklappen sa�en. Diese Konvois von jeweils bis zu zw�lf Lastwagen fuhren zum Kohnstein, einem nahe gelegenen bewaldeten Berg, den Onkel Karl und ich fr�her oft bestiegen hatten. F�r die M�nner auf den Lastwagen war es offensichtlich eine Reise ohne Wiederkehr, denn wenn die Konvois zur�ckkehrten, waren sie stets leer. Der Kohnstein, so erz�hlte mir mein Onkel, war jetzt ein umz�untes und streng bewachtes Sperrgebiet. Au�erdem sah man von Salza aus im Berghang ein riesiges g�hnendes Loch, offensichtlich der Eingang zu einem gigantischen Tunnel. Als ich Onkel Karl fragte, was denn auf dem Kohnstein vor sich ginge, legte er den Finger auf die Lippen und fl�sterte, das sei ein Staatsgeheimnis und ginge uns nichts an. �Komm blo� nicht auf die Idee, �berall im Dorf dumme Fragen zu stellen�, ermahnte er mich.
�Damit bringst du uns nur alle in Schwierigkeiten. Am besten machst du es wie alle hier: Vergiss, was du gesehen hast, und tu so, als g�be es den Kohnstein gar nicht.� Aber das war leichter gesagt als getan. Erst nach Kriegsende erfuhr ich - und die Welt - das entsetzliche Geheimnis des Kohnsteins und seinen offiziellen Namen: Konzentrationslager Dora-Mittelbau. Die Nazis verfolgten dort zwei wesentliche Ziele: die Produktion einer �Wunderwaffe�, der Rakete V2, die Deutschland doch noch den Sieg bringen sollte, und die Vernichtung von Tausenden M�nnern, die aus irgendwelchen Gr�nden als Feinde des Hitlerstaates galten. In den Gesichtern der M�nner auf den Lkws hatte ich tiefe Verzweiflung gesehen, aber trotzdem h�tte ich mir niemals die Qualen von Folter, Hunger, Schwerstarbeit und Tod durch Ersch�pfung, Unterern�hrung und Krankheit vorstellen k�nnen, die auf diese M�nner warteten, sobald sie im Lager angekommen waren. Ich hatte keine Ahnung, dass nur f�nfzehn Minuten Fu�weg von meinem Wohnort entfernt zahllose M�nner misshandelt wurden und sich zu Tode schuften mussten, bevor viele von ihnen dann in Krematorien verbrannt wurden. Damals lie� mir meine Neugier keine Ruhe, und so beschloss ich eines Sonntags, Richtung Kohnstein zu spazieren, um herauszufinden, wie weit ich noch auf den Spuren meiner Kinderzeit wandeln konnte. Kurz nachdem ich die letzten H�user von Salza hinter mir gelassen hatte, kam ich an einen hohen Stacheldrahtzaun. Etliche Schilder am Zaun verk�ndeten, dass der Zutritt f�r Unbefugte verboten sei. Von meinem Standort aus konnte ich deutlich den Eingang zum Tunnel erkennen, aber sonst nichts. Au�er
einem einsamen SS-Wachmann, der mit seinem Sch�ferhund jenseits des Zauns langsam auf mich zukam, sah ich keine Menschenseele. Da ich mir keinen �rger mit dem SS-Mann und seinem Hund einhandeln wollte, drehte ich um und ging zur�ck nach Salza. Wenige Tage sp�ter begr��te mich meine Tante, als ich abends von der Arbeit kam, mit einem Gesichtsausdruck, der nichts Gutes verhie�. Wortlos reichte sie mir einen offiziell aussehenden Briefumschlag aus der Stadtverwaltung von Salza. Ich wurde aufgefordert, mich in einer dringenden Angelegenheit so bald wie m�glich dort zu melden. Also ging ich am n�chsten Morgen zum Rathaus, wo ich nach kurzem Warten von einer Sekret�rin zum B�rgermeister gef�hrt wurde. Der gro�e Mann in brauner Uniform, der an seinem gro�en Schreibtisch vor einer monstr�sen Hakenkreuzfahne sa�, erinnerte mich ein wenig an meinen alten Feind Wriede, was ich als b�ses Omen auffasste. Der B�rgermeister erwiderte meinen Heil-Hitler-Gru� mit nichts sagender Miene und wollte dann meine Papiere sehen. Nachdem er besonders den Wehrpass eingehend studiert hatte, kam er gleich zur Sache. �Mir liegt ein Bericht vor, dass man Sie gesehen hat, wie Sie am Kohnstein herumspioniert haben. Was sagen Sie dazu?� Zuerst bekam ich vor �berraschung und Schrecken kein Wort �ber die Lippen. Das Ausspionieren geheimer milit�rischer Einrichtungen galt als schweres Verbrechen. Schlie�lich antwortete ich: �Ich habe weder am Kohnstein noch sonst wo herumspioniert.� �Was, um alles in der Welt, hatten Sie denn dort zu suchen? �, wollte der B�rgermeister wissen.
Ich erwiderte, dass ich fr�her mit meinem Onkel dort gewandert sei und mir einfach diese Landschaft meiner Kindheit noch einmal hatte ansehen wollen. Nat�rlich verschwieg ich ihm meine Neugier wegen der Konvois und ihrer seltsamen Fracht. �Sobald ich den Zaun und die Schilder gesehen habe�, versicherte ich, �bin ich umgekehrt.� Dem B�rgermeister schien meine Erkl�rung zu gen�gen, aber er ermahnte mich dringend, diesem Gebiet in Zukunft fernzubleiben. �Ich kenne Schneidermeister Baetz und seine Frau schon seit vielen Jahren�, erkl�rte er. �Es sind anst�ndige Leute. Deshalb m�chte ich nicht, dass Sie sie in Schwierigkeiten bringen. Haben Sie mich verstanden?� Ich versicherte ihm, dass ich ihn hundertprozentig verstanden h�tte, dann verabschiedeten wir uns mit einem �Heil Hitler�, und ich war entlassen. Onkel Karl und Tante Grete wollten sich gar nicht mehr beruhigen, als ich ihnen erz�hlte, was ich beim B�rgermeister erlebt hatte, und ich musste ihnen versprechen, von nun an vorsichtiger zu sein.
Wieder in Hamburg
Im Laufe der Zeit h�rten wir immer wieder, dass Hamburg doch nicht v�llig zerst�rt worden war, wie wir geglaubt hatten, und wir versp�rten zunehmend den Wunsch, nach Hause zur�ckzukehren. Wir waren einfach nicht f�r das Landleben geschaffen, so idyllisch es auch sein mochte, und die Berge, die wir fr�her als sch�ne Touristenattraktionen bewundert hatten, waren f�r uns mittlerweile zu finsteren Gef�ngnismauern geworden, die uns zu ersticken drohten. Wir sehnten uns nach der flachen norddeutschen Landschaft. Obwohl Onkel Karl und Tante Grete alles taten, damit wir uns bei ihnen wie zu Hause f�hlten, wurde unser Heimweh von Tag zu Tag st�rker. Schlie�lich hielten wir es nicht mehr aus und beschlossen, ihnen zu sagen, dass wir zur�ckwollten. Da sie einsehen mussten, dass wir uns nicht mehr von unserem Entschluss abbringen lassen w�rden, gaben sie uns schlie�lich ihren Segen und w�nschten uns Gl�ck. An einem sch�nen Fr�hlingstag verabschiedeten sie uns schlie�lich mit vielen Umarmungen und Tr�nen und der Ermahnung, sofort zur�ckzukommen, falls die Dinge nicht so liefen, wie wir hofften, oder falls die Luftangriffe wieder anfingen. Da die Z�ge fast wieder normal fuhren, brauchten wir nur sieben Stunden bis Hamburg. Gl�cklicherweise war es schon dunkel, als wir die Stadt erreichten, so dass uns der Anblick der Verw�stungen, die der Feuersturm
angerichtet hatte, zun�chst erspart blieb. Von der gewaltigen Glaskuppel �ber dem Hamburger Hauptbahnhof war zwar nur noch ein st�hlernes Skelett �brig geblieben, aber der Bahnhof selbst war so belebt wie eh und je, und meine Mutter und ich wurden von dem Gef�hl �berw�ltigt, endlich wieder zu Hause zu sein. An einem Informationsschalter f�r heimkehrende Fl�chtlinge erfuhren wir, dass es in der ehemaligen Volksschule auf der Brucknerstra�e, an der ich t�glich auf meinem Schulweg vorbeigekommen war, eine Fl�chtlingsunterkunft gab, und nach einer zwanzigmin�tigen U-Bahn-Fahrt nach Barmbek mussten wir nur noch ein paar Schritte bis zur Unterkunft laufen. Der Leiter der Unterkunft lie� sich unsere Papiere zeigen, notierte unsere Namen und reichte dann jedem von uns eine saubere, nach Mottenkugeln stinkende Decke. Dann erkl�rte er, dass wir t�glich zwei kostenlose warme Mahlzeiten bekommen w�rden, dass es im Keller Toiletten gab und Waschbecken mit kaltem Wasser, um zu �baden�. Schlie�lich f�hrte er uns in einen Klassenraum, der zum Schlafsaal umfunktioniert worden war. Der Raum war voller h�lzerner Etagenbetten, auf denen etwa ein Dutzend M�nner und Frauen mittleren Alters lagen oder sa�en und einem kleinen Volksempf�nger lauschten. Der Leiter riet uns, unser Gep�ck nicht aus den Augen zu lassen, da es keine Spinde oder Schr�nke gab. Meine Mutter und ich entschieden uns f�r zwei nur durch einen schmalen Gang getrennte untere Betten in der hintersten Ecke des Raumes. Auf jedem Bett lagen einige steife, raue S�cke aus irgendeinem undefinierbaren Material, die mit Stroh und S�gesp�nen gef�llt
waren. Doch selbst die Aussicht, auf diesen monstr�sen Dingern zu schlafen, konnte unsere Freude �ber die R�ckkehr in unsere geliebte Stadt nicht tr�ben. Wir verstauten unsere Koffer unter den Betten und gesellten uns dann zu unseren Zimmergenossen an einen gro�en Tisch im vorderen Teil des Raumes, wo es gerade Abendessen gab, das in gro�en, kochend hei�en Beh�ltern von einer K�che irgendwo im Stadtzentrum geliefert worden war. Wir erfuhren, dass auch die anderen aus Barmbek stammten und w�hrend der Luftangriffe im Juli 43 praktisch alles verloren hatten, dass auch sie zur�ckgekehrt waren, weil sie nirgendwo sonst als in Hamburg leben wollten. Alle hofften sie, Verwandte und Freunde wiederzufinden und sich irgendwie ein neues Leben aufzubauen. Als das Licht um zehn Uhr gel�scht wurde, schlief ich trotz der befremdlichen Umgebung und dem unbequemen Bett sofort ein. Zwei Tage sp�ter kamen zwei uniformierte NS-Beamte in unsere Unterkunft, um die Insassen routinem��ig zu �berpr�fen. Sie lie�en sich unsere Papiere zeigen und wiesen uns an, uns sofort bei unseren alten Arbeitsstellen zu melden oder, falls das nicht m�glich war, uns vom Arbeitsamt f�r andere Arbeiten einteilen zu lassen. Wir sollten unseren Beitrag dazu leisten, dass Deutschland den Krieg gewann. Die Gummifabrik, in der meine Mutter gearbeitet hatte, war fast v�llig zerbombt worden und besch�ftigte nur noch eine Hand voll Mitarbeiter, aber wir beschlossen, es trotzdem dort zu versuchen. Und wir hatten Gl�ck. Der Personalchef gab meiner Mutter sofort Arbeit in der K�che und besorgte ihr ein Bett in einem improvisierten Frauenschlafsaal.
F�r mich als Bauschlosser hatte er nur Arbeit in der noch intakten Zweigstelle der Firma in Harburg, Hamburgs Nachbarstadt s�dlich der Elbe. Falls ich die Stelle annahm, so sagte er, k�nne ich kostenlos im dortigen M�nnerschlafsaal unterkommen. Ohne lange zu �berlegen, unterschrieb ich, und am n�chsten Morgen meldete ich mich nach einer einst�ndigen Stra�enbahnfahrt bei meinem neuen Boss, Meister Erdmann, dem Leiter der Schlosserwerkstatt im Harburger Werk.
Zwei St�dte
Herr Erdmann und ich waren uns auf Anhieb unsympathisch. Erdmann, der aus seinen Gef�hlen mir gegen�ber keinen Hehl machte, war ein hutzeliger Mann mit stets grimmigem Blick, und er be�ugte mich argw�hnisch, w�hrend er mir meine zuk�nftigen Aufgaben erkl�rte. Ich sollte vor allem St�rungen des Betriebsablaufs beheben. Das Werk hatte Tausende von Dampfpressen, die in �ber einem Dutzend Geb�uden untergebracht waren. In den Pressen wurde Hartgummi unter Hitze und Druck geformt. Vor dem Krieg hatte man hier hochwertige K�mme, Pfeifenh�lse und andere n�tzliche Gegenst�nde hergestellt, jetzt jedoch war die Produktion wie in fast allen Fabriken Deutschlands auf kriegswichtige Materialien umgestellt worden. Die Schlosser hatten in erster Linie die Aufgabe, das weitl�ufige System von Rohren zu warten, die den Dampf von den Kesseln zu den Pressen leiteten. Au�erdem mussten verschlissene Maschinenteile neu gefertigt und ausgetauscht werden. Abgesehen von Erdmann gefiel mir meine neue Arbeit, vor allem weil sie mir eine relative Unabh�ngigkeit und Mobilit�t gew�hrte. Au�erdem verstand ich mich gut mit meinen Kollegen, besonders denjenigen aus Hamburg. Mein Leben h�tte also einigerma�en ertr�glich sein k�nnen, w�re ich nicht gezwungen gewesen, es in Harburg zu fristen, damals eine h�ssliche Industriegegend, in der es bis auf ein paar Kinos und
Kneipen keinerlei Freizeitm�glichkeiten gab. Deshalb freute ich mich auch immer auf den Sonnabend, wenn ich mittags gleich nach der Arbeit die Stra�enbahn nach Hamburg bestieg und meine Mutter besuchte. Mit Erlaubnis ihrer Zimmergenossin, einer freundlichen alten Dame, �bernachtete ich von Sonnabend bis Montag in ihrem Schlafraum und kehrte erst Montag fr�h nach Harburg zur�ck. Eines Sonnabends, als ich nach Feierabend gerade zur Stra�enbahnhaltestelle eilen wollte, rief mich Meister Erdmann in sein kleines, rundum verglastes B�ro, von dem aus er die ganze Werkstatt �berblicken konnte. Er reichte mir eine Arbeitsanweisung und sagte, dass ein gro�es Dampfrohr in einer der Werkshallen leck sei und geschwei�t werden m�sse. Ich faltete das Blatt Papier sorgf�ltig zusammen, steckte es in die Tasche, versprach Erdmann, mich Montagmorgen gleich als Erstes darum zu k�mmern, und wandte mich zum Gehen. �Nicht so hastig, mein Freund�, hielt er mich auf. Dann erkl�rte er, dass das Loch nicht geschwei�t werden k�nne, solange das Rohr unter Dampfdruck st�nde, und dass die Arbeit folglich getan werden m�sse, wenn die Dampfzufuhr unterbrochen sei, n�mlich am Sonntag. �Also�, er�ffnete er mir grinsend, �wirst du morgen hier antanzen.� �Wieso ich?�, wollte ich wissen und wies darauf hin, dass ich am Sonntag schon was vorh�tte, aber er entgegnete blo� schroff, dass ich, da ich keine Familie h�tte wie meine Schlosserkollegen, der nahe liegende Kandidat f�r die Arbeit sei, ob es mir nun passe oder nicht. Ich sagte ihm ziemlich deutlich meine Meinung und st�rmte dann aus dem B�ro, Erdmanns Drohung im Ohr, ich k�nne mich auf was gefasst machen, falls ich am Sonntag nicht erscheinen w�rde. Es kam f�r mich
nicht in Frage, den w�chentlichen Besuch bei meiner Mutter ausfallen zu lassen. Au�erdem war ich nicht gewillt, mich von diesem hutzeligen Erdmann schikanieren zu lassen. Eine Stunde sp�ter war ich auf dem Weg nach Hamburg. Montagmorgen betrat ich, stolz wie Oskar, weil ich mich nicht hatte einsch�chtern lassen, die Fabrik. Ich hatte das ganze Wochenende keinen Gedanken an Erdmann verschwendet. Zu meiner Verwunderung begr��te er mich mit einem breiten Grinsen. �Komm mal mit�, forderte er mich munter auf. Kurz darauf betraten wir eine der Hallen mit den Dampfpressen. Normalerweise herrschte um diese Zeit schon ein H�llenl�rm vom Zischen des entweichenden Dampfes und vom dumpfen Stampfen der Pressen. Jetzt jedoch war alles ruhig, bis auf das Stimmengemurmel von rund f�nfzig M�nnern und Frauen, die unt�tig herumstanden. �Fass mal dahin�, sagte Erdmann und zeigte auf eine Presse. Ich tat wie gehei�en und merkte, dass sie eiskalt war. �Du steckst in der Schei�e, mein Freund�, grinste Erdmann. �Das hier nennt man Sabotage, und du wei�t selbst, was die mit Saboteuren machen.� Dann teilte er mir h�misch mit, dass das Leck in der Dampfr�hre, das ich am Sonntag h�tte reparieren sollen, zu einem enormen und nicht wieder gutzumachenden Produktionsausfall gef�hrt habe, um mir schlie�lich zu er�ffnen, dass der Gesch�ftsf�hrer mit mir sprechen wolle. Auf dem Weg zum Verwaltungsgeb�ude sch�chterte mich die Aussicht, dem allm�chtigen obersten Boss der Firma vorgef�hrt zu werden, derma�en ein, dass mein nassforscher Trotz sich in Luft aufl�ste und ich Blut und Wasser schwitzte.
Wir betraten ein ger�umiges, holzget�feltes B�ro, wo der Gesch�ftsf�hrer, ein gepflegter wei�haariger Mann mit dunkler Hornbrille, hinter seinem Schreibtisch sa�. Vor ihm sa� der Chefingenieur der Firma, Erdmanns unmittelbarer Vorgesetzter. Die beiden M�nner betrachteten mich ernst. �Was haben Sie sich blo� dabei gedacht, einfach nicht zur Arbeit zu erscheinen, wie das von Ihnen verlangt wurde?�, ergriff der Gesch�ftsf�hrer schlie�lich das Wort. �Sie wissen doch wohl, dass gezieltes St�ren der Kriegsproduktion Sabotage ist?� Ich beteuerte, dass Sabotage nun wirklich nicht meine Absicht gewesen sei und dass ich Erdmanns Anweisung nur deshalb missachtet h�tte, weil ich mich ungerecht behandelt f�hlte. Als ich fertig war, hielt mir der Gesch�ftsf�hrer eine Standpauke. Er wies darauf hin, dass ein paar Stunden Arbeit am Sonntag doch wohl nichts im Vergleich zu den Opfern sei, die unsere tapferen Soldaten an der Front t�glich bringen mussten. �Was gibt Ihnen das Recht, die Anweisungen von Herrn Erdmann einfach zu missachten? �, br�llte er mich an. �Sie haben das Leben unserer Soldaten gef�hrdet!� Innerlich verfluchte ich mich f�r meine Dummheit, Erdmanns Anweisung nicht befolgt zu haben. Mich erfasste so gro�e Panik, dass mir fast schlecht wurde, doch da schlug der Gesch�ftsf�hrer einen ruhigeren Ton an. �Da Ihre Mutter eine verl�ssliche langj�hrige Arbeiterin von uns ist, werde ich, um ihr Kummer zu ersparen, die Angelegenheit nicht der Gestapo melden�, sagte er. �Aber�, fuhr er wieder mit lauterer Stimme fort, �ich kann Ihre dreiste Arbeitsverweigerung nicht ungestraft durchgehen lassen. In den kommenden f�nf Wochen werden Sie daher jeden Sonntag zur Arbeit erscheinen. Haben wir uns
verstanden?� Nachdem ich dem Chef versichert hatte, dass er sich in Zukunft auf mich verlassen k�nne, durfte ich gehen, �ber die Ma�en erleichtert, so billig davongekommen zu sein. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass mein Schicksal besiegelt gewesen w�re, wenn man meinen �Sabotageakt� der Gestapo gemeldet h�tte. Zwei unvorhergesehene Ereignisse trugen erheblich dazu bei, mein Leben und meine Arbeit in Harburg zu erleichtern. Das erste war, dass meine Mutter in die Kantine des Harburger Werkes versetzt wurde, das zweite war, dass sie eine M�glichkeit f�r uns fand, in Hamburg wieder unter ein und demselben Dach zu leben, und zwar in der ehemaligen Volksschule auf der Von-Essen-Stra�e. Das Geb�ude war eines der wenigen, die die Bombardierungen im Juli 43 �berstanden hatten, und war zur Notunterkunft f�r ausgebombte Obdachlose umfunktioniert worden. Es gab dort eine Hausmeisterin, eine strenge Aufseherin, die unsere Anmeldung entgegennahm und meine Mutter und mich dann auf zwei weit auseinander liegende Schlafr�ume verteilte. Bis neun Uhr abends durften M�nner und Frauen - also auch S�hne und M�tter - sich gegenseitig in ihren Schlafr�umen besuchen. Obwohl meine Mutter und ich morgens schon um f�nf Uhr aufstehen mussten und mindestens eine Stunde mit der Bahn bis Harburg brauchten, waren wir nach langer Zeit zum ersten Mal wieder richtig zufrieden. Wichtig war nur, dass wir wieder zusammen waren. Der Gedanke, dass einer von uns in einen Luftangriff geraten k�nnte, w�hrend wir getrennt waren, hatte uns unglaublich belastet, denn absurderweise f�hlten wir uns sicherer, wenn wir zusammen waren.
Unser Leben war zwar noch immer hart, aber es nahm wieder eine gewisse Normalit�t an. Wir standen morgens fr�h auf, gingen etwa zehn Minuten zu Fu� durch die Ruinenlandschaft zur Stra�enbahnhaltestelle Dehnhaide, wo schon Kollegen aus der Gummifabrik warteten. Da meine Mutter nicht wie ich einen zehnst�ndigen Arbeitstag hatte, fuhr sie fr�her wieder nach Hamburg zur�ck und bereitete dann in der Gemeinschaftsk�che im Schulkeller unser karges Abendessen zu. Im t�glichen �berlebenskampf der Kriegsjahre hatten meine Mutter und ich die rassisch bedingten Probleme fast vergessen, die uns fr�her geplagt hatten. Dann jedoch geschah etwas, das uns j�h zur�ck in die Realit�t riss. Meine Mutter und ich fuhren wie jeden Morgen mit der Stra�enbahn zur Arbeit. Da die Bahn fast immer gerammelt voll war, hatten wir uns angew�hnt, abwechselnd zu sitzen, wenn einer von uns das Gl�ck hatte, einen Platz zu ergattern. An diesem Morgen war ich gerade mit Sitzen an der Reihe und d�ste vor mich hin, w�hrend meine Mutter vor mir stand. Ein hoch dekorierter, einbeiniger Soldat, der an Kr�cken ging, packte mich pl�tzlich am Kragen und riss mich hoch. �Steh gef�lligst auf, du ausl�ndisches Dreckschwein, und lass die deutsche Frau sitzen!�, br�llte er lauthals und zeigte auf meine Mutter. �Wir haben nicht an der Front gek�mpft, damit solches Pack wie du es sich hier gut gehen l�sst.� Offensichtlich sch�tzte der gute Mann die derzeit herrschende Situation v�llig falsch ein und hatte keine Ahnung, dass viele der deutschen Arbeiter alles, was mit dem Krieg zu tun hatte - einschlie�lich seiner Helden -, mit wachsender Abscheu betrachteten. �Halt doch die
Schnauze und k�mmer dich um deinen eigenen Kram�, schaltete sich einer meiner Kollegen ein. Als der fassungslose Soldat meinen Kollegen zu einer Schl�gerei provozieren wollte, erntete er die schonungslos ehrliche Antwort: �Du k�mpfst bestimmt mit keinem mehr. Vielleicht hast du's noch nicht gemerkt, Kamerad, aber deine k�mpferische Zeit ist endg�ltig vorbei. H�r auf, meinen Freund hier zu bel�stigen, sonst schmei� ich dich aus der Bahn.� Dem Soldaten schien erst jetzt klar zu werden, dass er aufs falsche Pferd gesetzt hatte, und unter den feindseligen Blicken der anderen Fahrg�ste lie� er von mir ab. Zutiefst gedem�tigt, humpelte er zum Ausgang und stieg an der n�chsten Haltestelle wortlos aus. Als die Bahn weiterfuhr, sah ich ihn niedergeschlagen auf seinen Kr�cken lehnen, was mir die Schadenfreude �ber seine, wenngleich verdiente, Abfuhr verg�llte. Meine Mutter und ich waren ger�hrt �ber die Solidarit�t, die mein Kollege gezeigt hatte. Als wir ihm daf�r dankten, winkte er ab und sagte: �H�chste Zeit, dass diese so genannten Kriegshelden endlich kapieren, dass ihre ruhmreiche Zeit vorbei ist und ihre Orden keinen Pfifferling mehr wert sind.� Er sagte das so laut, dass alle es h�ren konnten, und mir wurde klar, wie sehr sich die Zeiten ge�ndert hatten. Aber ein anderer Zwischenfall, nur wenige Tage sp�ter, machte mir nur allzu deutlich, dass der nationalsozialistische Terror noch immer nicht untersch�tzt werden durfte. Es war an einem bitterkalten Wintertag. Erdmann hatte mich zu einem Geb�ude geschickt, wo ich einen besch�digten Metallfensterrahmen schwei�en sollte. Vom Erdgeschoss aus hatte ich einen freien Blick auf die Stra�e, die zu den Elbbr�cken f�hrte.
Pl�tzlich fiel mir eine seltsame Prozession von Frauen auf, die sich, von bewaffneten SS-M�nnern flankiert, langsam in meine Richtung bewegte. Als sie n�her kamen, konnte ich erkennen, dass es sich �berwiegend um junge Frauen handelte und dass alle den gelben Davidstern trugen. Die Wachen behielten sie und gelegentliche Passanten genau im Auge, w�hrend die Frauen mit schweren Besen und Schaufeln die Stra�e reinigten. Trotz der schneidenden K�lte hatten die meisten nur einen d�nnen Mantel an, und manche trugen weder Handschuhe noch M�tze, aber sie verrichteten ihre Arbeit schweigend und mit v�llig ausdruckslosen Gesichtern, wie lebende Tote. Kurz darauf waren sie um eine Stra�enbiegung verschwunden, und ich wandte mich wieder meiner Arbeit zu. Aber noch etliche Tage lang verfolgte mich die Erinnerung an diese stumme Gruppe von jungen Frauen, die kurz meinen Weg gekreuzt hatte.
Meine Mitbewohner
Der Schlafsaal in der Von-Essen-Stra�e, dem mich die Hausmeisterin zugewiesen hatte, war mit etwa einem Dutzend Doppelbetten aus Metall und ebenso vielen Spindschr�nken m�bliert. Au�erdem stand in der Mitte des Raumes ein Tisch, um den meist f�nf �ltere M�nner sa�en und aufmerksam einem kleinen knisternden Radio lauschten. Sie waren typische Hamburger Arbeiter, die wegen ihres schon fortgeschrittenen Alters nicht mehr zum Milit�rdienst eingezogen worden waren. Alle arbeiteten sie irgendwo in der Stadt.
Nach anf�nglichem Argwohn akzeptierten sie mich bald als ihresgleichen, und zu meiner nicht enden wollenden Erheiterung entpuppten sie sich als �u�erst streitlustige Gesellen. Von dem Augenblick an, wenn wir fr�hmorgens aufstanden, bis um zehn Uhr abends, wenn das Licht ausgeschaltet wurde, zankten und stritten sie sich ohne Unterlass. In einem waren sie sich jedoch einig, n�mlich in ihrer Verachtung f�r Hitler und sein Regime, der sie auch offen Luft machten. Die t�glichen Radiomeldungen des OKW, des Oberkommandos der Wehrmacht, mit denen das deutsche Volk �ber den Fortgang des Krieges informiert wurde, bedachten sie mit bei�endem Spott. Sie glaubten dem Sprecher kein Wort und prophezeiten gen�sslich, dass der �Schweinehund Hitler� und seine anderen �Schweinehunde� bald
vor einem Hinrichtungskommando der Alliierten das bekommen w�rden, was sie verdienten. Das war Musik in meinen Ohren, aber ich hielt es f�r kl�ger, mich weder an ihren subversiven Diskussionen zu beteiligen, noch f�r irgendwen Partei zu ergreifen, wenn sie sich mal wieder stritten. Am 20. Juli 1944 verk�ndete unser Radio die sensationellste Meldung des Jahres: Eine Gruppe deutscher Offiziere hatte ein Bombenattentat auf Hitler ver�bt, doch der F�hrer war wie durch ein Wunder nur leicht verletzt worden. Meine Mitbewohner machten aus ihrer Entt�uschung keinen Hehl. Sie fluchten und warfen sich in gespielter Verzweiflung auf die Betten, weil �dieser Schweinehund davongekommen� war. Als immer mehr Einzelheiten �ber den gescheiterten Anschlag und schlie�lich auch der Name des Attent�ters, Oberst Claus Graf Schenk von Stauffenberg, bekannt wurden, machte sich dieses Gef�hl der Entt�uschung in der Hamburger Arbeiterschaft breit, wenn gleich die meisten in ihren �u�erungen zur�ckhaltender waren. Obgleich die Kampfmoral zu Hause und an der Front rapide sank, hatte Hitler noch immer einen Trumpf in der Hand, n�mlich einen schw�chlich wirkenden, klumpf��igen Mann mit sch�tterem Haar auf einem �bergro�en Kopf und riesigen, durchdringenden dunklen Augen - Propagandaminister Joseph Goebbels. Kurz nach dem gescheiterten Staatsstreich wurde Goebbels zum Reichsbevollm�chtigten f�r den totalen Kriegseinsatz ernannt. Im Jahr zuvor hatte er im Berliner Sportpalast bereits den totalen Krieg proklamiert und mit beschw�render Stimme an das deutsche Volk appelliert, die letzten Kraftreserven zu mobilisieren, um den �sicheren Endsieg� zu erringen.
Trotz der allseits bekannten Tatsache, dass Deutschland durch Hitlers Krieg fast ausgeblutet war, besa� Goebbels die Dreistigkeit, dem deutschen Volk weiszumachen, dass geheime Wunderwaffen das Schicksal zu Deutschlands Gunsten wenden w�rden. Doch auf Grund seiner gnadenlosen �bertreibungen, Tatsachenverdrehungen und nicht gehaltenen Versprechungen von unmittelbar bevorstehenden Siegen war sein Name schon l�ngst zum Synonym f�r L�gner geworden. Ein gro�er Teil der Bev�lkerung betrachtete die ganze Kampagne um den �totalen Krieg� als das, was sie war, n�mlich das verbrecherische Bem�hen der NS-Elite, auf Kosten ihres Volkes noch ein paar Monate l�nger zu �berleben. Im Rahmen der Mobilisierungsanstrengungen zum �totalen Krieg� wurde die Sechzig-Stunden-Woche eingef�hrt, s�mtliche Feiertage wurden abgeschafft und alle Schulen geschlossen. Au�erdem wurden so genannte Etappenschweine und Dr�ckeberger, also Soldaten, die nicht bei der k�mpfen den Truppe, sondern beim Nachschub Dienst getan hatten, an die Front versetzt, ungeachtet ihrer k�rperlichen Verfassung. Eine weitere Ma�nahme war die Bildung des Volkssturms, zu dem alle M�nner eingezogen wurden, die zuvor als zu alt, zu gebrechlich oder wie ich aus anderen Gr�nden als f�r den Milit�rdienst ungeeignet eingestuft worden waren. Ausnahmslos jeder zwischen 16 und 65 musste sich zum Volkssturm melden. An einem sch�nen Sonntagmorgen im Herbst trottete ich daher zu einer nahe gelegenen Armeekaserne, um dem Befehl Folge zu leisten. Da ich meine milit�rischen Ambitionen schon l�ngst abgelegt hatte, hoffte ich, dass ich postwendend wieder nach Hause geschickt werden
w�rde. Aber nein. Diesmal jagte mich leider niemand mit der Begr�ndung davon, Nicht-Arier h�tten die Ehre nicht verdient, f�r Deutschland sterben zu d�rfen. Ein Unteroffizier dr�ckte mir ein ramponiertes altes Gewehr in die Hand und befahl mir, mich zu dem j�mmerlichen Haufen von alten M�nnern in Zivil zu gesellen, die gerade �hnliche Gewehre wie meines schulterten. Die Dienst tuenden Offiziere und Unteroffiziere waren ausnahmslos hoch dekorierte, erfahrene Kriegsveteranen. Einige trugen Augenklappen oder hatten einen Arm in der Schlinge. Der rangh�chste Offizier, ein junger Major und Ritterkreuztr�ger, salutierte mit links, weil sein rechter Arm fehlte. Nachdem er uns im Volkssturm begr��t hatte, erz�hlte er uns, dass wir, um den Endsieg zu erringen, die Pflicht und die Ehre h�tten, notfalls unser Leben f�r das Vaterland zu opfern, das durch Verrat an der Heimatfront und im Ausland in gr��te Not geraten sei. Dann erkl�rte er, diese erste Zusammenkunft diene haupts�chlich der Orientierung und wir w�rden am folgenden Sonntag vereidigt werden. Dann wurden wir rund eine Stunde lang gedrillt und anschlie�end in kleine Gruppen aufgeteilt. Man zeigte uns, wie man eine Panzerfaust bediente, mit der man angeblich jeden Sherman- oder Stalin-Panzer zerst�ren konnte. Ein Ausbilder erkl�rte uns, dass wir blo� im Hinterhalt lauern m�ssten, bis ein Panzer vorbeik�me, den Ausl�ser bet�tigen und - puff - sei es um Panzer und Besatzung geschehen. Pl�tzlich musste ich an den deutschen Oberstleutnant denken, der mich zwei Jahre zuvor verh�hnt hatte, als ich mich freiwillig melden wollte. Damals hatte er in all seiner rassistischen Arroganz behauptet: �Deutschland
ist nicht und wird auch in Zukunft nicht auf solche wie Sie angewiesen sein, um den Krieg zu gewinnen.� Wenn ich noch irgendeinen schlagenderen Beweis daf�r gebraucht h�tte, dass Deutschland erledigt war und kurz vor der endg�ltigen Niederlage stand, ein Blick in den Spiegel h�tte gen�gt. Hitlerdeutschland war unbestreitbar an dem Punkt angelangt, wo es verzweifelt auf �solche wie mich� angewiesen war, nicht etwa um den Krieg zu gewinnen, sondern nur noch, um ein paar Tage l�nger durchzuhalten, bevor es von der alliierten Kriegswalze �berrollt wurde. Nach einer weiteren Durchhalterede des Majors durften wir gehen, wurden aber angewiesen, am folgenden Sonntag um die gleiche Zeit wiederzukommen. Ich fand jedoch, dass ich schon alles Wissenswerte �ber die Panzerfaust gelernt hatte, und beschloss, dem Volkssturm den R�cken zu kehren. Da keiner meinen Namen notiert oder meine Anwesenheit irgendwie festgehalten hatte, ging ich davon aus, dass mich wohl kaum jemand vermissen w�rde. Irgendwelche Bedenken, dass ich wegen Fahnenflucht vor ein Milit�rgericht gestellt werden k�nnte, zerstreute ich wie �blich mit jugendlicher Unbefangenheit. Es wird schon nichts passieren, redete ich mir ein, und gl�cklicherweise behielt ich mit dieser Einsch�tzung tats�chlich Recht.
Verwechselt
Im Herbst des Jahres 1944 bef�rchteten immer mehr Bewohner von Harburg, dem das Schicksal Hamburgs bislang erspart geblieben war, dass ihr Gl�ck nicht mehr lange w�hren w�rde. Die meisten deutschen Industriest�dte lagen bereits in Tr�mmern, und auch ich hatte von Tag zu Tag gr��ere Zweifel, dass Harburg verschont bleiben w�rde. Unsere dunklen Ahnungen sollten sich bald best�tigen. Es war ein strahlender Nachmittag. Ich war gerade damit besch�ftigt, ein undichtes Dampfrohr auszutauschen, als der Fliegeralarm losging. Alle Arbeiter liefen in den unterirdischen Luftschutzbunker der Fabrik, wo wir uns, wie immer froh �ber die kleinste Verschnaufpause w�hrend unseres anstrengenden Zehnstundentages, entspannten und miteinander plauderten. Pl�tzlich meldete eine Stimme �ber den Drahtfunk, dass ein gro�es US-Bombergeschwader im Anflug auf Harburg und Wilhelmsburg sei. Schlagartig erstarben alle Gespr�che, und angespannte Stille machte sich im Bunker breit. Ich dachte, dass meine Mutter gl�cklicherweise in Hamburg und damit in Sicherheit sein m�sste, da das K�chenpersonal nach der Mittagspause Feierabend hatte. Schon war das Heulen der ersten fallenden Bomben zu h�ren. Kurz darauf setzte eine Serie von ohrenbet�ubenden Detonationen ein, gefolgt von gewaltigen erdbebenartigen Er-
sch�tterungen. Mir, der ich erst vor etwas mehr als einem Jahr die schweren Luftangriffe auf Hamburg �berlebt hatte, war das Szenario nur allzu vertraut. Irgendwie f�hlte ich mich seltsam entr�ckt und ruhig, fast so, als w�re ich sicher, mit heiler Haut davonzukommen. F�r die meisten meiner Harburger Kollegen dagegen war dieser Gro�angriff die �Feuertaufe�. Gleich darauf lie� eine gewaltige Detonation die Erde so heftig erzittern, dass es uns im Bunker von den Sitzen riss. Die Stromversorgung fiel aus, und wir sa�en in v�lliger Finsternis. Als die Bombardierung schlie�lich aufh�rte, gelang es jemandem, im Schein einer Taschenlampe eine Ausgangst�r zu �ffnen, und wir, arg mitgenommen, aber unversehrt, kletterten die Treppe hoch, die in den Fabrikhof f�hrte. Und dort bot sich uns ein Anblick, �ber den ich in meiner damaligen Situation sehr angetan war: Das Geb�ude, in dem die Schlosserwerkstatt untergebracht war, bestand nur noch aus einem riesigen, rauchenden Schuttberg. Da die Werkstatt f�r die Produktion unerl�sslich war und die meisten Arbeiter ohnehin noch unter Schock standen, teilte die Gesch�ftsleitung uns mit, wir k�nnten nach Hause gehen und sollten uns am n�chsten Tag wieder zur Arbeit melden. In meinem Fall war das leichter gesagt als getan. Wie sollte ich zur�ck nach Hamburg kommen, denn schlie�lich waren auch die Stra�enbahnschienen zerst�rt? Mir blieb nur eine M�glichkeit: Ich w�rde auf gut Gl�ck zum Harburger Hauptbahnhof gehen, wo hoffentlich noch Vorortsz�ge Richtung Hamburg abgingen. Der Luftangriff hatte gro�fl�chige Verw�stungen angerichtet. Eine unheimliche Stille hatte sich �ber Harburg gesenkt. Ich
war noch ganz taub von den Bombenexplosionen, und der dichte Rauch, der die ganze Gegend einh�llte, machte mir das Atmen schwer, w�hrend ich �ber schwelende Tr�mmer stolperte und an brennenden H�usern, entwurzelten B�umen und verbogenen Stra�enbahnschienen vorbeiging. Mit gr��ter Vorsicht wich ich den zahlreichen Stromkabeln aus, die von den Bomben aus der Erde gerissen worden waren und sich nun wie w�tende Schlangen auf der Stra�e wanden, bereit, jeden zu t�ten, der mit ihnen in Ber�hrung kam. Ich versuchte, m�glichst nicht auf die schrecklich verkohlten und verst�mmelten Leichen zu achten, die �berall herumlagen. Nur wenige Stunden zuvor waren diese Toten noch lebende, atmende Menschen wie ich gewesen. Mit einem Mal zerriss ein Schrei die Stille und holte mich j�h aus meinen Gedanken �ber die Verg�nglichkeit des Lebens. �Da ist einer von denen!�, schrie eine Frau aus vollem Hals und zeigte auf mich. �Einer von diesen M�rdern. Bringt das Ami-Schwein um. Er soll sp�ren, wie es ist, bei lebendigem Leib zu verbrennen!� Durch die Schreie der Frau alarmiert, kamen aus allen Richtungen Leute herbeigelaufen, um zu sehen, was los war. Binnen Minuten war ich von einem w�tenden, zeternden und wild gestikulierenden Mob umringt. Ich war zuerst so perplex �ber den Menschenauflauf, dass ich absolut nicht verstand, was der Grund f�r die Aufregung war. Aber als ich dann an mir hinunterblickte und die Schwei�erbrille um meinen Hals, meinen �lverschmierten Blaumann und - ja - meine braunen H�nde sah, begriff ich: Sie hielten mich f�r einen schwarzen US-Piloten, der aus seiner abgeschossenen Maschine abgesprungen war. Am liebsten h�tte ich laut
losgelacht und den Leuten gesagt, wie falsch sie lagen. Aber ich hielt mich zur�ck, weil mir klar wurde, wie prek�r meine Situation war. Rasend vor Wut �ber die Zerst�rung ihrer H�user und die vielen Opfer, waren die Menschen wei� Gott nicht f�r vern�nftige Argumente aufgeschlossen, schon gar nicht angesichts dieser Umst�nde, die doch in ihren Augen keine anderen Schl�sse zulie�en. Die Frau, die den ganzen Tumult ausgel�st hatte, verlangte nun, �die Sache endlich zu erledigen� und mich in eines der brennenden H�user zu werfen. Ich sp�rte, dass die aufgebrachte Menge kurz davor stand, mich zu lynchen. Die hassverzerrten Gesichter lie�en keinen Zweifel daran, dass ich f�r diese Leute ein willkommener S�ndenbock war, an dem sie ihre lang aufgestaute, ohnm�chtige Wut auf die Peiniger in der Luft abreagieren konnten. Das Einzige, was sie jetzt noch z�gern lie�, mich in einen schrecklichen Tod zu schicken, war ihre tief sitzende Autorit�tsh�rigkeit. Ohne Befehl einer F�hrungspers�nlichkeit wollte keiner handeln. Aber ich wusste nicht, wie lange dieses Z�gern noch dauern w�rde. Zum ersten Mal an diesem Tag hatte ich wirklich Angst um mein Leben. Kurz bevor das Fass �berlief, erhielt ich von unerwarteter Seite Hilfe. Pl�tzlich teilte sich die Menschenmauer, die sich immer dichter um mich geschlossen hatte, und ein strammer Polizeileutnant trat vor. �Ruhe! Alle zur�ck auf die andere Stra�enseite! �, rief er, die rechte Hand auf dem Halfter seiner gro�en Dienstpistole. Die Leute, die darauf gedrillt waren, einer Uniform Respekt zu zollen, gehorchten sofort. Ich atmete erst einmal erleichtert auf, obwohl ich mich fragte, auf wessen Seite sich der Polizist letzten Endes schlagen w�rde. Nachdem er meine blaue Kennkarte,
einen Ausweis, den man stets bei sich tragen musste, genau studiert hatte, lockerte sich das bis dahin streng dienstliche Auftreten des Beamten, und er sah mich fast v�terlich g�tig an. �So, was ist los mit Ihnen?�, wollte er wissen. Als ich ihm erz�hlte, was mit der Fabrik passiert war und dass man alle Arbeiter nach Hause geschickt hatte, war er rasch davon �berzeugt, dass mein Hamburger Dialekt trotz meiner braunen Haut unverkennbar echt war. �Was f�r ein Haufen hysterischer Idioten�, sagte er mit einem ver�chtlichen Nicken in Richtung der Leute auf der anderen Stra�enseite. Ich sah keinen Grund, ihm zu widersprechen. �Dann wollen wir mal sehen, ob wir Sie sicher nach Hause kriegen�, sagte er und hielt gleich darauf einen bereits �berf�llten Bus an, der Richtung Hamburg fuhr. �Haben Sie Fahrgeld?�, fragte er. Als ich ihm sagte, dass mein Fahrgeld in meinem Spind in der zerst�rten Fabrik war, griff er in seine Tasche und gab mir das n�tige Kleingeld. �Bringen Sie den jungen Mann hier sicher nach Hamburg. Ich mache Sie pers�nlich daf�r verantwortlich�, sagte der Polizist zu dem Busfahrer. �Jawohl, Herr Wachtmeister�, erwiderte der Fahrer. �Einsteigen, junger Mann.� Bevor ich einstieg, bedankte ich mich bei meinem guten Samariter, der mir zum Abschied �Hals- und Beinbruch� w�nschte. Der Bus fuhr los, und ich stie� einen Seufzer der Erleichterung aus, als ich die Entt�uschung in den Augen sah, die mir nachblickten, bis ich au�er Sichtweite war.
Kein Raum in der � Herberge �
Als ich mich am Morgen nach dem Bombenangriff wie gehei�en zur Arbeit zur�ckmeldete, wurde uns mitgeteilt, dass die Firma wegen Bombenschaden geschlossen sei und dass s�mtliche Schlosser an andere kriegswichtige Arbeitsstellen abgetreten w�rden. Nach geltendem Gesetz war es Arbeitern nicht erlaubt, ohne Genehmigung vom Arbeitsamt zu k�ndigen oder die Stelle zu wechseln. Ich wurde zu einer kleinen Autoreparaturwerkstatt in Harburg geschickt, wo auf Grund der immer schlimmer werdenden Benzinknappheit Lkws und Pkws auf Holzgas umgestellt wurden. Dazu wurden die Vergaser ausgebaut und hinten an den Fahrzeugen gro�e Holzbrenner angebaut, die aussahen wie Kanonen�fen und per Gasleitungen mit dem Motor verbunden waren. Die Fahrzeuge wurden dann �getankt�, indem man einfach ein paar Holzscheite in den Brenner warf. Die Werkstatt leitete ein kleiner schrumpeliger Mann, der nur selten sein winziges, voll gestopftes B�ro verlie�. Die Belegschaft bestand aus acht Mitarbeitern, die meisten davon italienische Kriegsgefangene und zwei deutsche Automechanikerlehrlinge, die es irgendwie geschafft hatten, nicht zur Wehrmacht eingezogen zu werden. Die Italiener, die das Ende des Krieges ahnten und sich schon auf ihre baldige Heimkehr freuten, sangen von morgens bis abends �0
sole mio� und alle bekannten Arien von Verdi und Puccini, taten aber kaum einen Handschlag. Ich hatte auf Anhieb ein gutes Verh�ltnis zu ihnen. Einer von ihnen, ein gut aussehender Sizilianer mit gl�nzendem, pechschwarzem Haar und einer Haut, die sogar noch dunkler war als meine, sollte mich auf Anordnung des Chefs einarbeiten. Nino machte mich jedoch nicht nur mit den Arbeitsabl�ufen vertraut, sondern er erweiterte bereits im Laufe des ersten Tages mein ohnehin schon stattliches Vokabular an russischen, polnischen und franz�sischen Schimpfw�rtern um eine geh�rige Anzahl italienischer. Die Arbeit war zwar nicht besonders anspruchsvoll, doch die freundliche und entspannte Atmosph�re in der neuen Firma war sehr viel angenehmer als in der Gummifabrik, wo Schikanen von Meister Erdmann an der Tagesordnung gewesen waren. An meinem zweiten Arbeitstag, kurz vor der Mittagspause, h�rten wir hoch oben am Himmel ein Flugzeug. Da uns inzwischen jede Flugaktivit�t aufmerken lie�, blickten wir alle nach oben. Statt eines Flugzeugs sahen wir aber nur eine Art Konfettiwolke. Je mehr die Wolke herabsank, desto gr��er wurde das Konfetti, bis wir erkannten, dass es Tausende von Flugbl�ttern waren, die tr�ge auf uns zusegelten. Anscheinend war ein feindliches Flugzeug in den Luftraum von Harburg eingedrungen, und zwar so hoch, dass es keinen Fliegeralarm ausgel�st hatte. Nat�rlich wussten wir, dass es strengstens verboten war, feindliche Propaganda zu lesen und zu verbreiten, doch einige der Italiener und ich verga�en alle Vorsicht, rannten nach drau�en und hoben ein paar Flugbl�tter von der Stra�e auf. Sie waren auf beiden Seiten klein bedruckt. Das Einzige, was ich auf den ersten Blick
erkennen konnte, war die �berschrift in gro�en Buchstaben: DER KRIEG IST VERLOREN. Ich konnte es gar nicht erwarten, den Rest der guten Nachricht zu lesen, doch kaum hatte ich das Flugblatt in die Tasche gesteckt, da befahl uns eine donnernde M�nnerstimme, die Flugbl�tter nicht anzur�hren. Ich drehte mich um und sah einen wild gestikulierenden NS-Funktion�r in seiner braunen Uniform auf uns zulaufen. Panik erfasste mich, als mir pl�tzlich bewusst wurde, was ich soeben getan hatte. Falls der Nazi mich mit dem Flugblatt in der Tasche erwischte, war es um mich geschehen. Ich eilte zur�ck in die Werkstatt und schloss mich auf der Toilette ein. Ohne das Flugblatt zu lesen, zerriss ich es in kleine St�cke und sp�lte sie im Klo hinunter. Kaum war der letzte Schnipsel im gurgelnden Strudel verschwunden, da h�rte ich auch schon die aufgeregte Stimme des Nazis, der in der Werkstatt herumtobte. Laut schreiend teilte er unserem Boss mit, er habe gesehen, wie mindestens zwei �Makkaronifresser� verbotene Flugbl�tter aufgehoben h�tten, und er bestehe darauf, eine Durchsuchung vorzunehmen. In dem daraufhin einsetzenden Durcheinander schlich ich mich aus dem Waschraum und mischte mich unbemerkt unter meine Kollegen. Auf Anordnung des NS-Funktion�rs mussten wir uns alle in einer Reihe aufstellen, nacheinander vortreten und unsere Taschen leeren. Ich f�rchtete schon, dass Nino, der auch ein Flugblatt aufgehoben hatte, vielleicht nicht mehr dazu gekommen war, es rechtzeitig loszuwerden. Als der Mann ihn aufforderte, seine Taschen zu leeren, erwiderte Nino unger�hrt: �Ich nix verstehen�, die Standardfloskel von Kriegsgefangenen, wenn sie nicht kooperieren wollten.
�Ich sorge schon daf�r, dass du verstehst! �, schrie der Nazi Nino w�tend an. Aber Nino stellte sich weiter dumm, was den NS-Funktion�r vollends aus der Fassung brachte. Jetzt schaltete sich unser Boss ein und sagte zu Nino, dass es ernste Folgen haben k�nne, wenn er nicht kooperierte. Schlie�lich f�gte Nino sich, und mit einem immer unversch�mteren Grinsen st�lpte er s�mtliche Taschen nach au�en. Als Nino fragte, ob er auch noch die Hose herunterlassen sollte, entgegnete der Nazi, er solle den Mund halten und ihm aus den Augen gehen. Ich stie� einen stummen Seufzer der Erleichterung aus. Nino hatte ein Flugblatt aufgehoben, daran bestand kein Zweifel, aber ich konnte mir nicht erkl�ren, wie er den Nazi get�uscht hatte. Als die Reihe schlie�lich an mich kam, fixierte der Mann mich mit durchdringendem Blick und sagte, er sei sich ganz sicher, dass ich �einer von den Italienern� gewesen sei, die Flugbl�tter aufgehoben h�tten. �Ich bin kein Italiener, ich bin Deutscher�, erwiderte ich in meinem besten Deutsch, �und ich habe nie ein Flugblatt auch nur anger�hrt.� Mit diesen Worten st�lpte ich alle meine Taschen um. Der Nazi starrte mich fassungslos an, stellte meine Aussage aber nicht weiter in Frage. Bevor er frustriert den R�ckzug antrat, sagte er noch zu unserem Boss, er solle seine �verlogenen und hinterh�ltigen Italiener� besser im Auge behalten. Am sp�ten Nachmittag, als der NS-Funktion�r l�ngst gegangen war, begegnete ich Nino im Waschraum. �Du lesen Deutsch?�, fragte er mich. �Nat�rlich�, antwortete ich. �Dann du lesen f�r Nino.� Er gab mir einen Zettel, den ich sogleich als eines der Flugbl�tter erkannte, die uns gut und gern den Kopf h�tten kosten k�nnen.
�Wo hattest du den denn versteckt?�, wollte ich wissen. Nino deutete auf seinen Schritt. �Und was h�ttest du getan, wenn der Nazi wirklich gewollt h�tte, dass du die Hose runterl�sst?� �Hat er aber nicht�, lautete Ninos lachende Antwort. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass wir auch wirklich allein waren, las ich Nino das Flugblatt vor. Es besagte im Wesentlichen, dass der Krieg in seine Endphase eingetreten sei und dass der Sieg der Alliierten unmittelbar bevorstehe. Die Deutschen sollten einsehen, dass jeder weitere Widerstand sinnlos sei und ihr Leiden nur verl�ngern werde. Sie k�nnten sicher sein, dass sie von den Besatzungsm�chten nichts zu bef�rchten h�tten. Ich wei� nicht, ob Nino alles verstand, aber er war sichtlich erfreut �ber das, was ich ihm vorlas. �Mussolini kaputt�, strahlte er. �Bald Goebbels und Hitler auch kaputt, und bald geht Nino zur�ck nach Sicilia. � Zum Schluss unseres konspirativen Treffens zerriss ich das Flugblatt und lie� den Schnipseln eine �Seebestattung� im Klo zuteil werden. Einige Tage sp�ter unterbrach kurz nach der Mittagspause das allzu bekannte Heulen der Sirene unsere Arbeit. Der Boss sagte einem der Lehrlinge, er solle den Firmenlastwagen nehmen und zusehen, dass er aus Harburg rausk�me. Er selbst wollte mit seinem Pkw fahren. Wir Arbeiter hatten die Wahl, hinten auf dem Lastwagen mitzufahren oder unser Gl�ck in einem �ffentlichen Bunker in der N�he zu versuchen. In Erinnerung an den letzten Luftangriff auf Harburg entschieden wir uns f�r den Lkw. Kaum hatten wir den Randbezirk von Harburg erreicht, als wir auch schon das w�tende Dr�hnen der Bomber in der Luft h�rten. Sekunden sp�ter schlugen �berall um uns herum
Bomben ein. Sobald der Lkw zum Stehen kam, sprangen wir von der Ladefl�che und warfen uns auf die bebende Erde. Erst nach dem Ende der ersten Angriffswelle traute ich mich, den Kopf zu heben und mich umzublicken. Ich sah mehrere Leute �ber die Stra�e hasten und rief: �Wo ist der n�chste �ffentliche Luftschutzkeller?� Die Leute sahen nur kurz zu uns her�ber und setzten, ohne zu antworten, ihren Weg fort. Wir liefen ihnen nach und kamen einige Querstra�en weiter zu einem Luftschutzkeller. Als wir ihn erreichten, h�rten wir auch schon, dass sich ein zweites Angriffsgeschwader n�herte. Froh, es noch gerade rechtzeitig bis zum Bunker geschafft zu haben, wollten wir den anderen Leuten ins Innere folgen, als sich uns der Luftschutzwart in den Weg stellte. �Wo wollt ihr denn hin?�, fragte er �berfl�ssigerweise. �Wir haben hier keinen Platz f�r Ausl�nder�, teilte er den drei Italienern und mir mit, w�hrend er die beiden deutschen Lehrlinge hineinlie�. Ich war mir sicher, dass die �Vorschrift�, auf die er sich berief, auf seinem eigenen Mist gewachsen war, aber niemand setzte sich f�r uns ein. Im Gegenteil. Hinter dem Luftschutzwart sah ich die finsteren Gesichter von anderen Deutschen, die keinen Zweifel daran lie�en, dass sie uns den Zutritt notfalls mit Gewalt verwehren w�rden. Mit einem grausam endg�ltig klingenden dumpfen Schlag schloss sich die schwere Stahlt�r vor unserer Nase, und wie auf dieses Zeichen hin setzten die Bomben wieder ein. Unter den Umst�nden taten wir das nahe Liegende: Wir legten uns flach auf den Bauch und pressten uns an die Bunkerwand. W�hrend wir auf dem Boden lagen, der von den Bombeneinschl�gen erbebte, und Bombensplitter ringsherum heulten und zischten,
sah ich, wie Nino seinen Rosenkranz betete: �Madonna vera! Madonna vera!� Auch der zweite Angriff dauerte nur wenige Minuten, doch als er vorbei war, hatten wir alle das Gef�hl, um Jahre gealtert zu sein. Nachdem wir uns wieder etwas erholt hatten, gingen wir zur�ck zum Lastwagen, der zu unserer Erleichterung unversehrt geblieben war. Nach einigen Umwegen, da viele Stra�en durch die gro�fl�chigen Zerst�rungen unpassierbar geworden waren, erreichten wir schlie�lich die Firma, wo uns erneut eine �berraschung erwartete. Ein Gro�teil der Werkstatt stand nicht mehr. Diesmal war der Spind mit meinen Sachen jedoch verschont geblieben. Nachdem ich mich von Nino und seinen Landsleuten verabschiedet hatte, sagte ich Harburg endg�ltig Lebewohl und fuhr mit dem n�chsten Zug nach Hamburg zur�ck.
Max Roepke
Am folgenden Tag ging ich zum Arbeitsamt in Hamburg und lie� mir eine neue Stelle zuweisen. Nachdem der Beamte meine Akte und Zeugnisse studiert hatte, bat er mich, einen Moment zu warten. �Ich glaube, ich habe da genau das Richtige f�r Sie�, sagte er und verlie� den Raum. Als er wiederkam, war er in Begleitung eines gro�en, massigen Mannes mit rotem Gesicht und einer noch r�teren Schnapsnase. Er trug einen teuren Kamelhaarmantel, wie ihn sich kein normaler B�rger seit Anfang des Krieges mehr leisten konnte. �Ich bin Max Roepke�, stellte der Mann sich vor und streckte mir eine riesige Pranke entgegen. �Ich habe eine Spedition in Hoheluft, und ich k�nnte einen Schlosser gebrauchen, der so ziemlich alles kann.� Ich erkl�rte, dass ich zwar nicht viel von Motoren verst�nde, da ich ja kein Automechaniker sei, dass ich aber praktisch alles k�nnte, was von einem Schlosser verlangt w�rde. Roepke sah in meiner Akte nach, wo ich bisher gearbeitet hatte, nickte dann dem Beamten zu und sagte: �Ich denke, er ist, was ich brauche. � Dann wandte er sich an mich und sagte: �So, damit w�re wohl alles klar. Du f�ngst sofort an.� Roepke unterschrieb einige Papiere, sch�ttelte dem Beamten die Hand und fl�sterte etwas, das sich anh�rte wie: �Um alles Weitere k�mmere ich mich dann.� Damit war er offiziell mein Herr und Meister, und selbst wenn ich gewollt h�tte, ich
h�tte nicht einfach wieder k�ndigen k�nnen. Irgendwie beschlich mich das unbestimmte Gef�hl, dass ich soeben Gegenstand eines dubiosen Handels geworden war, ein Eindruck, der sich verst�rkte, als Roepke mir auf der Stra�e sagte, ich solle in seinen Wagen steigen, einen schicken gelben BMW-Sportwagen. Mir wurde zunehmend bewusst, dass mein neuer Boss ein sehr einflussreicher Mann sein musste. Schon allein die Tatsache, dass er an Benzin f�r seinen Privatwagen kam, wo doch Treibstoff ausschlie�lich f�r Milit�rfahrzeuge reserviert war, verriet mir, dass dieser Mann enorme Beziehungen hatte. Wenige Minuten sp�ter kamen wir zu seiner Firma - ein zweist�ckiges Backsteingeb�ude, das auf einem gro�en, umz�unten Hof stand und in dem eine kleine Werkstatt, eine Garage und mehrere Lagerr�ume untergebracht waren. Bis auf einen jungen, blonden Mann im Overall, der die olivgr�ne M�tze der polnischen Armee auf dem Kopf trug, war sonst niemand da. �Das ist Stanislaus Dobrowolski, mein Hofverwalter�, sagte Roepke. �Er wird dir zur Hand gehen, wenn du Hilfe brauchst. Er zeigt dir, wo alles ist, und erkl�rt dir alle Einzelheiten. Zurzeit haben wir nicht viel Arbeit, aber keine Sorge, wir werden schon genug f�r dich zu tun kriegen.� Dann stieg Roepke wieder in seinen Sportwagen und brauste davon. Stanislaus versicherte mir, dass mein neuer Job ein Kinderspiel sei - wie er es ausdr�ckte, �kein problema� und dass er mir zeigen w�rde, wie alles lief. In den Wochen darauf bekam ich Roepke kaum zu Gesicht und hatte praktisch nichts anderes zu tun, als mein Polnisch aufzupolieren. Eines Tages erkl�rte mir Stanislaus aus keinem ersichtlichen Grund tats�chlich, �wie alles lief�, und das zweifellos sehr viel
ausf�hrlicher, als Roepke lieb war. In bilderreichem, gebrochenem Deutsch, das er, wie er sagte, in seiner bereits f�nfj�hrigen Kriegsgefangenschaft gelernt hatte, erz�hlte er mir, dass Roepke ein Schieber ersten Ranges mit besten Beziehungen zu hohen Nazifunktion�ren sei und lukrative Schmuggelgesch�fte mit dem besetzten Holland mache. Roepke, so Stanislaus, �essen, trinken und ziehen sich besser an als Hitler�. Seine Lkws brachten Waren, von denen die meisten von uns vergessen hatten, dass sie �berhaupt existierten. Zum Beweis griff Stanislaus in seine Jackentasche und holte eine Tafel Schokolade hervor. Er brach sie mit der Verpackung in zwei H�lften und reichte mir eine. Als ich die Schokolade roch, begriff ich, was Stanislaus meinte. Ich hatte beinahe vergessen, wie Schokolade roch und schmeckte. �Wo hast du die her? �, fragte ich. �Komm, ich zeige dir.� Ich folgte ihm nach oben, wo er mit dem Hinweis, ich solle aufpassen, dass Roepke uns nicht erwische, eine T�r �ffnete. Ein Blick in den Lagerraum gen�gte, dass mir die Augen �bergingen. Stanislaus hatte Recht. Da t�rmte sich vieles, was ich und die meisten Deutschen aus dem Bewusstsein verdr�ngt hatten, weil es schon so lange nicht mehr zu bekommen war, und die Stapel reichten fast bis zur Decke. Berge von Schokolade, �lsardinen, Corned Beef, Schinken, Kaffee, Kakao, Zigaretten, Pfeifentabak, erstklassige Seife, Handcremes, Parf�ms, Lippenstifte und Nylonstr�mpfe - einfach alles. Bevor ich meine Fassung wiedergewonnen hatte, sagte Stanislaus, dass es zur Abwechslung ein �gro�es problema� gab. Er gestand mir, dass er sich manchmal mit Hilfe eines primitiven selbst gemachten Dietrichs heimlich Zutritt in den Raum verschaffte und sich hier
�eine kleine bisschen� bediente. Als er an diesem Morgen f�r �uns� die Tafel Schokolade geklaut hatte und anschlie�end wieder abschlie�en wollte, sei ihm der Dietrich im Schloss abgebrochen. Wenn Roepke entdecken w�rde, dass die T�r unverschlossen sei, s��e er ganz sch�n �in die Schei�e�. Um das zu verhindern, so bat Stanislaus mich, sollte ich als Schlosser den Schaden beheben. Deshalb also hatte Stanislaus mich ins Vertrauen gezogen. Mein erster Impuls war, Nein zu sagen und ihn mit seinem Problem allein zu lassen. Dann fiel mir ein, dass Stanislaus, wenn er zur Rede gestellt w�rde, behaupten k�nnte, nicht er, sondern ich w�re in den Lagerraum eingebrochen. Da Roepke mich noch nicht gut kannte, wem w�rde er wohl glauben - Stanislaus oder mir? Ich hielt es f�r ratsam, die Antwort auf diese Frage nicht abzuwarten. Ohne Stanislaus zu sagen, was mir durch den Kopf ging, um ihn nicht auf falsche Gedanken zu bringen (falls er sich das alles nicht schon selbst gedacht hatte), willigte ich ein, ihm zu helfen. Da nun jede Sekunde z�hlte, sagte ich, er solle einen neuen Dietrich anfertigen, w�hrend ich versuchte, das abgebrochene St�ck aus dem Schloss zu holen. Nachdem unser Schlachtplan feststand, machten wir uns mit der Pr�zision eines eingespielten Teams an die Arbeit. Nach wenigen Minuten hatte ich das Schloss ausgebaut, das abgebrochene Dietrichst�ck entfernt und das Schloss wieder eingebaut. Als ich fertig war, verpasste Stanislaus in der Garage gerade seinem Dietrich den letzten Schliff. Da h�rten wir Roepkes Wagen in den Hof fahren. Um keinen Verdacht zu erregen, machten wir uns eifrig daran, den
Garagenboden zu fegen, als Roepke auch schon hereinkam. �Alles in Ordnung?�, fragte er. �Ja, Pan, kein problema�, erwiderte Stanislaus, und ich nickte, w�hrend mir das Herz bis zum Halse schlug. Und dann bekam ich fast eine Herzattacke, denn Roepke schritt zielsicher auf die Treppe zu. �Was soll ich mit der kaputten Ladeklappe machen, die einer von den Fahrern gestern hier gelassen hat?�, fragte ich in dem verzweifelten Versuch, ihn aufzuhalten. Der Trick funktionierte. Roepke drehte sich um und folgte mir nach drau�en in den Hof, um sich den Schaden anzusehen. �Meinst du, du kriegst das wieder hin?�, fragte er. �Klar. Die mache ich wieder wie neu.� �Sch�n, dann zeig mal, was du kannst.� Mit einem Blick auf seine Uhr stieg Roepke wieder in den BMW, winkte mir zu und fuhr davon. Die Erleichterungsseufzer von Stanislaus und mir fielen eher wie Jubelschreie aus, die man in der halben Nachbarschaft h�ren konnte. Sobald Roepke au�er Sicht war, eilten wir die Treppe hinauf und probierten den Dietrich aus. Nach einigen kleinen Korrekturen drehte er sich im Schloss wie geschmiert. Nun, da das Schlimmste verh�tet war, �berlegten wir in aller Ruhe, wie wir mit den Kostbarkeiten im Lagerraum verfahren sollten. Zwar geh�rte uns die illegale Schmuggelware nicht, aber Roepke eben auch nicht, und deshalb fanden wir, dass wir der Gerechtigkeit dann und wann mal unter die Arme greifen sollten. Wir gedachten, dieser moralischen Verpflichtung durch gelegentliche Beutez�ge in �unserer Vorratskammer� nachzukommen. Als ich an diesem Abend mit meinen Sch�tzen nach Hause kam und die leuchtenden Augen meiner Mutter sah, f�hlte ich mich, wie Robin Hood sich gef�hlt haben
muss, wenn er den Armen gab, was er den Reichen geraubt hatte.
Die Giordanos
Eines Abends - ich kam aus dem Kino - stieg ich am Bahnhof Friedrichsberg aus dem Zug und machte mich auf den Weg zu der Schule, die mittlerweile seit einigen Monaten unser Zuhause war. Es war schon sp�t, und ich ging eilig durch den gro�en Park am Eilbektal, der dunkel und menschenleer war. Pl�tzlich h�rte ich Schritte hinter mir und dachte an einen �berfall. Ich warf einen Blick �ber die Schulter und sah im d�mmrigen Mondlicht die Silhouette eines Mannes. Sofort verlangsamte ich meinen Schritt, damit der Fremde aufholte. Als er neben mir war, erkannte ich einen jungen Mann - etwa in meinem Alter - von untersetzter Statur und mit dicker Hornbrille, den ich fr�her oft in der Swingboy-Szene im Caf� K�nig gesehen hatte. Auch er erkannte mich wieder. �Ich kenne dich�, sagte er. �Du warst doch immer im Caf� K�nig. Ich bin Egon Giordano. � �Ja, ich erinnere mich auch an dich�, erwiderte ich, und wir gaben uns die Hand. �Zigarette?�, fragte Egon. �Nein, danke, ich bin Nichtraucher.� W�hrend Egon sich eine anz�ndete, gingen wir weiter und plauderten �ber die gute alte Zeit in unserem Lieblingsetablissement, das 1943 von den Bomben dem
Erdboden gleichgemacht worden war. Zwangsl�ufig kamen wir auf den Krieg zu sprechen. �Es dauert nicht mehr lange, dann sind diese gottverdammten Nazischweine am Ende�, sagte Egon. Ich war verbl�fft �ber den Hass in seiner Stimme, erwiderte aber nichts. Obwohl ich �hnliche Gef�hle hegte, hatte mich die Erfahrung gelehrt, meine Meinung �ber die Nazis und meine negative Prognose f�r den Ausgang des Krieges f�r mich zu behalten, wenn ich mit Leuten sprach, die ich nicht gut kannte. Als Egon meine Zur�ckhaltung bemerkte, lachte er. �Du brauchst keine Angst vor mir zu haben�, versicherte er mir. �Ich dachte, du w�sstest, dass ich Jude bin.� Ich fuhr zusammen. Denn ich hatte zwar gr��tes Mitgef�hl f�r die Juden, doch auf Grund meiner eigenen prek�ren Lage konnte ich mir nicht leisten, bei einem vermeintlich heimlichen Treffen mit einem Juden erwischt zu werden. �Nein, ich hatte keine Ahnung, dass du Jude bist�, antwortete ich schlie�lich. �Wieso sollte ich das wissen?� �Ich dachte, jeder im Caf� K�nig h�tte es gewusst�, sagte er. �Und wieso tr�gst du dann keinen Stern?�, fragte ich argw�hnisch. �Na ja, ich bin Halbjude. Nur Volljuden m�ssen den Davidstern tragen�, erkl�rte Egon. �Meine Mutter ist Vollj�din, und mein Vater ist ein in Deutschland geborener Italiener. � Auch die Tatsache, dass er Halbjude war, w�rde uns nicht helfen, wenn uns eine Gestapopatrouille anhielte. Keiner w�rde uns glauben, dass wir uns rein zuf�llig getroffen hatten. Ich sah schon die Zeitungsschlagzeilen vor mir: �Jude und Neger bei konspirativem n�chtlichem Treffen in Park ertappt Todesstrafe. �
Offenbar ohne mein Unbehagen zu bemerken, sprach Egon weiter. Er erz�hlte, er wisse aus zuverl�ssiger Quelle, dass allen Nicht-Ariern die Vernichtung drohe. �Die Nazis wissen schon eine Weile, dass ihr Spiel aus ist�, erkl�rte er, �dass der Krieg verloren ist, dass sie am Ende sind. Aber sie sind fest entschlossen, m�glichst viele von uns mit ins Grab zu nehmen. �
Dann erz�hlte Egon, dass �berall dort, wo das deutsche Milit�r noch an der Macht sei, spezielle Gestapokommandos mit allen Mitteln versuchten, Nicht-Arier aufzusp�ren, die ihnen bislang durch die Finger geschl�pft seien. Er sagte, seine Eltern, seine beiden Br�der und er h�tten schon die ganze Zeit versucht, m�glichst nie irgendwie aufzufallen, doch falls die Sache noch brenzliger werde, w�rden sie untertauchen und sich versteckt halten, bis die Alliierten da waren. �Wenn du willst, kannst du gern mitkommen�, bot er an. �Wir haben vertrauensw�rdige deutsche Freunde, die uns verstecken und versorgen werden, bis alles vor�ber ist. Sei blo� nicht so naiv und bilde dir ein, dir wird nichts passieren, weil die Gestapo dich bisher in Ruhe gelassen hat. �berleg doch mal! Wieso sollten die Nazis, die doch genau wissen, dass die Zeit der Abrechnung f�r sie gekommen ist, dich und mich in Frieden lassen, w�hrend sie entweder ins Gef�ngnis wandern oder an den Galgen kommen?� Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Was Egon da sagte, hatte durchaus Hand und Fu�. Ohne jeglichen Kontakt zu anderen NichtAriern hatte ich trotz allem ein falsches Sicherheitsgef�hl entwickelt. Egon brachte mir zu Bewusstsein, dass wir alle im selben Boot sa�en und dass dieses Boot jeden Augenblick sinken konnte.
Obwohl ich deutlich sah, in welcher Gefahr ich mich befand, f�hlte ich mich pl�tzlich gut, ja fast euphorisch. So weit ich zur�ckdenken konnte, hatte ich stets allein mit der Bedrohung fertig werden m�ssen, die von den Nazis ausging. Au�er meiner Mutter hatte ich nie wirkliche Verb�ndete gehabt, mit denen ich dar�ber h�tte reden k�nnen, wie be�ngstigend es doch war, in einem Staat zu leben, dessen erkl�rtes Ziel es war, mich und meinesgleichen zu vernichten. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich jetzt einen wahren Bruder gefunden, jemanden, der aus eigener Erfahrung um die Schrecken des Lebens unter einem Regime wusste, das uns als Untermenschen betrachtete, jemanden, dessen Existenz genauso gef�hrdet war wie meine. Unversehens empfand ich eine starke Verbundenheit mit Egon, der noch wenige Minuten zuvor praktisch ein Fremder f�r mich gewesen war. Wir erreichten das Ende des Parks und betraten nun eine Tr�mmerlandschaft - endlose Zeilen ausgebrannter Mietsh�user, deren Gerippe sich als gespenstische schwarze Skelette gegen den Himmel abhoben. Wir gingen zwischen den Schuttbergen hindurch die Stra�e entlang, deren Mitte s�uberlich freiger�umt worden war. Als wir in die Von-Essen-Stra�e einbogen und vor der Schule standen, im weiten Umkreis das einzige Geb�ude, das aus unerkl�rlichen Gr�nden von den Bomben verschont geblieben war, wollte ich mich schon von Egon verabschieden, als er sagte: �Komm doch noch mit zu uns. Wir wohnen nicht weit von hier in einem Keller, den wir hergerichtet haben. Meine Familie w�rde sich freuen, dich kennen zu lernen.� Irgendwie brachte ich es nicht �bers Herz, meinem neu gewonnenen Verb�ndeten den Wunsch abzuschlagen.
Wir gingen etwa zehn Minuten durch die zerbombten Stra�enz�ge, vorbei am Barmbeker Bahnhof, bis wir zu einer Seitenstra�e der Fuhlsb�ttlerstra�e kamen. �ber eine schmale, von Tr�mmern befreite Schneise gelangten wir schlie�lich zu einer Ruine, die sich auf den ersten Blick in keiner Weise von den �brigen unterschied. Wir blieben eine Weile stehen, und Egon lauschte, wohl um sicherzugehen, dass niemand uns gefolgt war, bevor er vorsichtig an ein Kellerfenster klopfte. Anscheinend hatten sie ein bestimmtes Klopfzeichen vereinbart. Langsam wurde im Innern eine Decke beiseite geschoben, und ein Gesicht war kurz zu sehen. Gleich darauf �ffnete sich die T�r neben dem Fenster, und Egon f�hrte mich in einen stockdunklen, muffigen Raum, der voller Menschen zu sein schien, obwohl ich niemanden erkennen konnte. Nachdem die T�r geschlossen worden war, flammte ein Streichholz auf, und eine Petroleumlampe wurde angez�ndet. In dem d�mmrigen Licht sah ich pl�tzlich mehrere M�nner und eine Frau, die mich anstarrten. �Das ist Mickey�, stellte Egon mich mit dem Spitznamen vor, den ich mir in meiner Swingboyzeit selbst gegeben hatte. �Bestimmt habt ihr ihn fr�her mal in Barmbek gesehen.� Dann deutete er auf einen gut aussehenden Mann in mittlerem Alter mit grau meliertem, welligem Haar und auf eine bl�ssliche Frau mit dunklen Ringen um die gro�en Augen. �Das sind meine Eltern�, sagte er, �Alfons und Lilly Giordano.� Sein Vater war Pianist und Akkordeonspieler, seine Mutter Klavierlehrerin. Die beiden jungen M�nner, der eine siebzehn, der andere zweiundzwanzig Jahre alt, waren Egons Br�der Rocco und Ralph. Ralph, den ich auch als Stammgast im Caf� K�nig wiedererkannte, erz�hlte mir, dass ich ihm zum
ersten Mal bereits als Kind aufgefallen sei, als unsere Stra�en miteinander �Krieg� f�hrten. Bei einem dieser Stra�enk�mpfe standen wir uns pl�tzlich gegen�ber, doch statt aufeinander loszugehen, wandten wir uns unerkl�rlicherweise beide ab, und jeder ging seines Weges. Nachdem wir einander vorgestellt worden waren, fielen die Giordanos f�rmlich �ber mich her, umarmten mich und sch�ttelten mir die Hand, als w�re ich ein seit langem verschollener Bruder. Offensichtlich hatten sie schon l�ngere Zeit keinen Besuch mehr gehabt. Sie l�cherten mich mit Fragen, wollten vor allem wissen, wie die �Nazi-Schweine� mich behandelten und wie ich mein �berleben sichern wolle, wie meine Mutter zurechtk�me und was ich vom Verlauf des Krieges hielt. Dann forderten sie mich auf, mit in einen kleinen Raum im hinteren Teil des Kellers zu kommen, um die neuesten Nachrichten zu h�ren. Ich wusste sofort, was f�r Nachrichten sie meinten, als ich sah, wie Ralph sich eine dicke Wolldecke �ber den Kopf legte und an den Kn�pfen eines Volksempf�ngers herumdrehte. Nach einigen Sekunden Pfeifen und Rauschen ert�nte die vertraute Stimme des deutschen Nachrichtensprechers der BBC. Zu unserer gro�en Freude h�rten wir, dass die Sowjettruppen etwa zweitausend Insassen des Konzentrationslagers in Auschwitz befreit hatten und angeblich nur noch wenige Kilometer vor Berlin standen. Die Giordanos nahmen die Neuigkeiten mit gemischten Gef�hlen auf. �Je n�her das Ende r�ckt�, sagte Herr Giordano, �desto gef�hrlicher werden die Nazis, und desto brenzliger wird es f�r uns. � Er erkl�rte, dass die Familie ihren Kontakt zur Au�enwelt auf ein Minimum beschr�nkt habe, um keine unn�tige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. �Ich
rate dir unterzutauchen, bevor es zu sp�t ist�, sagte auch er zu mir und f�gte hinzu, dass meine Mutter und ich jederzeit willkommen seien, wenn wir uns bei ihnen verstecken wollten. Ich dankte ihm und versprach, mir das zu �berlegen. Als es Zeit f�r mich war, nach Hause zu gehen und etwas zu schlafen, beschworen die Giordanos mich, sie bald wieder zu besuchen. Nach einem Abschied, der ebenso herzlich ausfiel wie die Begr��ung, ging ich durch die dunkle Ruinenlandschaft zur�ck nach Hause. Tief in Gedanken und innerlich aufgew�hlt, verga� ich alles um mich herum, bis ich an der Schule ankam.
Endlich frei!
Die Nachricht von Hitlers Tod am 30. April 1945 erreichte Hamburg erst am n�chsten Tag. Doch wie es sich f�r einen Mann geziemte, der das deutsche Volk belogen, verraten, hintergangen und schlie�lich in eine verheerende Katastrophe gest�rzt hatte, war auch die offizielle Meldung der Umst�nde seines Todes eine groteske L�ge. Der F�hrer Adolf Hitler, so die knappe Verlautbarung aus dem F�hrerhauptquartier in Berlin, habe auf seinem Posten in der Reichskanzlei bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus gek�mpft, bevor er f�r Deutschland �gefallen� sei. Kein Wort dar�ber, dass sich der Mann, f�r den so viele Deutsche ihr Leben gelassen hatten, durch Selbstmord seiner Verantwortung entzogen hatte. Doch auch mit dieser L�ge gelang es nicht mehr, das Bild des Helden wiederherzustellen, das sich die Deutschen einmal von ihrem F�hrer gemacht hatten. Sensationeller als die eigentliche Nachricht von Hitlers Tod war die wenig sp�ter durch die Alliierten in Umlauf gebrachte Enth�llung, dass Hitler gemeinsam mit seiner Geliebten, die er am Tag zuvor geheiratet hatte, aus dem Leben geschieden war: Er hatte sich mit einer Pistole in den Kopf geschossen, und sie hatte Gift genommen. Als der
Name Eva Braun in den Nachrichten auftauchte, erfuhren wir in Deutschland erstmals von der Existenz jener Frau, die zwanzig Jahre j�nger als Hitler gewesen war. Nun erst wurde auch bekannt, dass Hitler nicht nur ein Verh�ltnis mit ihr gehabt hatte, sondern dass die beiden fast die gesamten zw�lf Jahre seiner Zeit als Reichskanzler ein Paar gewesen waren. Die meisten Leute hatten der offiziellen Erkl�rung geglaubt, dass Hitler ein frauenloses Leben f�hrte, weil er seine Zeit und Energie einzig und allein seinem Volk widmen wollte. Niemand konnte sich erkl�ren, wie dieser Mann, der praktisch jede Minute von der nationalen und internationalen Presse beobachtet wurde, Eva Braun so lange vor der �ffentlichkeit hatte geheim halten k�nnen. Noch vor Hitlers Selbstmord und unter Missachtung eines ausdr�cklichen Befehls Hitlers, Hamburg bis zum letzten Mann zu verteidigen, beschloss NS-Gauleiter und Reichsstatthalter Karl Kaufmann, die Stadt widerstandslos an den Feind zu �bergeben. Er gab bekannt, er wolle das retten, was von Hamburg noch �brig sei, und den Menschen weiteres Blutvergie�en und Leid ersparen. Die Meldung von Hamburgs bevorstehender Kapitulation, die die kriegsm�den Einwohner kaum noch erwarten konnten, erschien in einer Extraausgabe der Hamburger Zeitung, einer so genannten Kriegsarbeitsgemeinschaft dreier Hamburger Tageszeitungen, mit folgendem Wortlaut:
Hamburger!
Nach heldenhaftem Kampf, nach unerm�dlicher Arbeit f�r den deutschen Sieg und unter grenzenlosen Opfern ist unser Volk dem an Zahl und Material �berlegenen
Feind ehrenvoll unterlegen. Der Feind schickt sich an, das Reich zu besetzen, und steht vor den Toren unserer Stadt. Verb�nde der Wehrmacht und des Volkssturmes haben sich gegen�ber dem vielfach �berlegenen Gegner vor unserer Stadt tapfer geschlagen. Unersch�tterlich haben die Hamburger an der Front und in der Heimat ihre Pflicht erf�llt: Z�h und unersch�ttert nahmt ihr auf euch, was der Krieg von euch forderte.
Der Feind schickt sich an, Hamburg auf der Erde und aus der Luft mit seiner ungeheuren �bermacht anzugreifen. F�r die Stadt und ihre Menschen, f�r Hunderttausende von Frauen und Kindern bedeutet dies Tod und Zerst�rung der letzten Existenzm�glichkeiten. Das Schicksal des Krieges kann nicht mehr gewendet werden; der Kampf aber in der Stadt bedeutet ihre sinnlose restlose Vernichtung. Wem soldatische Ehre gebietet weiterzuk�mpfen, hat hierzu Gelegenheit au�erhalb der Stadt. Mir aber gebietet Herz und Gewissen, in klarer Erkenntnis der Verh�ltnisse und im Bewusstsein meiner Verantwortung, unser Hamburg, seine Frauen und Kinder vor sinn- und verantwortungsloser Vernichtung zu bewahren. Ich wei�, was ich hiermit auf mich nehme. Das Urteil �ber meinen Entschluss �berlasse ich getrost der Geschichte und euch. Hamburger! Meine ganze Arbeit und Sorge haben stets nur euch und der Stadt und damit unserem Volke geh�rt. Das wird so bleiben, bis mich das Schicksal abruft. Dieser Krieg ist eine nationale Katastrophe f�r uns und ein Ungl�ck f�r Europa. M�gen dies alle erkennen, die Verantwortung tragen. Gott sch�tze unser Volk und unser Reich!
Karl Kaufmann
Am Tag vor der vereinbarten �bergabe Hamburgs an die Briten fuhr ich in die Stadt, um sie mir noch ein letztes Mal unter Nazi-Herrschaft anzusehen. In erster Linie wollte ich nach weiteren sichtbaren Zeichen f�r den nahenden Zusammenbruch des deutschen Widerstandes suchen, und ich wurde nicht entt�uscht. Die Stadt war ein Pand�monium: Tausende deutscher Soldaten str�mten mit Lastwagen, Autos, Motorr�dern, Fahrr�dern und zu Fu� in die Stadt. Manche waren desertiert, andere von ihren Einheiten getrennt worden, nachdem die deutsche Befehlskette auseinander gebrochen war und die Truppen in heillosem Chaos versanken. Trotz ihrer ungewissen Zukunft wirkten alle erleichtert, dass sie nicht das gleiche Schicksal ereilt hatte wie ihre Kameraden, die noch im letzten Moment in einem l�ngst verlorenen Krieg ums Leben gekommen waren. In dem Menschengewirr fehlten auff�lligerweise Angeh�rige der Waffen-SS und die einst allgegenw�rtigen Nazi-Funktion�re in ihren braunen Uniformen. Wo waren sie alle hin? Eine Frage, die sich in den Tagen, Wochen, Monaten und sogar Jahren danach viele Menschen immer wieder stellen sollten. Als ich am Abend ins Bett ging, konnte ich einfach nicht einschlafen. Ich h�rte das Grollen der britischen Artillerie, und wenn ich aus dem Fenster blickte, sah ich am s�dlichen Horizont Lichter wie Blitze aufzucken. Niemand behauptete mehr, wie noch wenige Tage zuvor, dass die Lichter und das Grollen von deutschen, nicht von feindlichen Gesch�tzen stammten. Sogar diejenigen, die am hartn�ckigsten von einem deutschen Sieg
�berzeugt gewesen waren und die in den letzten beiden Jahren mit Scheuklappen gelebt hatten, mussten nun zugeben, dass der Krieg verloren war. Trotz meiner Aufregung schlief ich irgendwann doch ein, und das N�chste, was ich bewusst wahrnahm, war die Stimme eines meiner Zimmergenossen: �He, aufwachen! Deine Freunde sind hier!�
Als die Bedeutung dieser Worte in mein verschlafenes Gehirn drang, war ich auf der Stelle hellwach. Es war helllichter Tag. Ich lief zum Fenster, um einen Blick hinauszuwerfen, doch jemand sagte: �Lass dich nicht sehen, sonst halten sie dich noch f�r einen Heckensch�tzen und schie�en auf dich.� Ganz vorsichtig lugte ich nach drau�en, und was ich da sah, war zu sch�n, um wahr zu sein. Unz�hlige Male hatte ich Szenen wie diese in der Wochenschau gesehen, nur diesmal waren es fremde Fahrzeuge und Uniformen. Eine lange Reihe von olivenfarbenen Panzern, Panzerkampfwagen und Lkws rollte die Von-EssenStra�e entlang, die auf beiden Seiten von Tommys flankiert wurde. Sie waren bis an die Z�hne bewaffnet und trugen ihre typischen flachen Stahlhelme mit Tarnnetzen. Die lange Fahrzeugschlange kam an der �ber drei Meter hohen Barrikade vor der Schule zum Stillstand, eine Panzersperre, wie sie die Nazis in den letzten Monaten in der ganzen Stadt hastig errichtet hatten. Die Briten be�ugten argw�hnisch die Schule das einzige intakte Geb�ude in einer Ruinenlandschaft. Dann kletterte ein Trupp von zirka zehn Mann �ber die Barrikade und n�herte sich dem Eingang, ihre automatischen Waffen im Anschlag. Kurz darauf h�rten wir laute englische Befehle aus dem Korridor. Ich
meinte zu verstehen: �Alle nach drau�en! � �Sieh doch mal nach, was die wollen�, schlug einer in meinem Zimmer �ngstlich vor. �Die tun dir schon nichts. Au�erdem sprichst du Englisch. Sag ihnen einfach, dass die Schule sich ergibt. Sag ihnen, dass wir deine Freunde sind und dass keiner von uns bei den Nazis war.� Ich bereute zutiefst, jemals in ma�loser �bertreibung behauptet zu haben, dass ich Englisch sprach. Ich konnte h�chstens ein paar Brocken, was wei� Gott nicht ausreichte, um mit den Besatzern �ber unsere Kapitulation zu verhandeln. Doch da ich nun mal zum Sprecher der Gruppe ernannt worden war, konnte ich die zweifelhafte Ehre nicht ausschlagen, ohne das Gesicht zu verlieren. Ich zog mich rasch an und ging hinaus auf den Korridor. Beim Anblick der schwer bewaffneten Soldaten mit ihren finsteren Gesichtern verlie� mich der Mut, und ich w�nschte, ich h�tte die Rolle des Unterh�ndlers abgelehnt. Aber daf�r war es jetzt zu sp�t. �Do you speak English?�, fragte mich der Truppenf�hrer. �A little�, antwortete ich kleinlaut. �That's good�, entgegnete der Truppenf�hrer, ein gro�er Mann mit einem buschigen roten Walrossschnauzbart und ebenso buschigen roten Augenbrauen, barsch. Er war der Einzige in der Gruppe, der nicht eine Waffe auf mich gerichtet hielt. Stattdessen hatte er etwas, das aussah wie eine Reitpeitsche, in der Hand. Ich kannte mich zu der Zeit noch nicht mit den milit�rischen Rangabzeichen der Briten aus, aber ich dachte mir, dass die drei gro�en braunen Sterne auf den Epauletten des Walrosses Offiziersabzeichen waren. �Ich bin Captain Soundso�, best�tigte der Mann meine Vermutung auf Englisch und tippte mit der Reitpeitsche an sein schwarzes Barett. �Was ist Ihre Nationalit�t?� Ich
erkl�rte, so gut ich konnte, dass ich halb liberianischer, halb deutscher Abstammung sei, in dieser Reihenfolge. �Wie viele Leute wohnen in diesem Geb�ude, und was sind das f�r Leute? �, fragte der Captain und bot mir eine Zigarette aus einer unbekannten wei�blauen Packung mit der Aufschrift Senior Service an. Bis dahin hatte ich jedem Gruppenzwang unter Gleichaltrigen widerstanden und keine Zigarette anger�hrt, aber jetzt hielt ich es f�r ratsam, auf diese erste freundliche Geste seitens meiner Befreier nicht ablehnend zu reagieren. Ich nahm also die Zigarette und z�ndete sie an, als symbolischer Ausdruck meiner Solidarit�t. Dann erkl�rte ich dem Offizier mit meinen wenigen Brocken Englisch, dass die Schule als Notquartier f�r ausgebombte deutsche Zivilisten diente, von denen etwa achtzig Prozent Frauen und die restlichen zwanzig Prozent �berwiegend �ltere M�nner seien. �Sie sollen sich sofort auf dem Schulhof versammeln, damit ich mit ihnen reden kann. Und da mein Deutsch noch viel schlechter ist als Ihr Englisch, m�chte ich, dass Sie f�r mich �bersetzen.� Ich versicherte dem Captain, dass ich mein Bestes tun w�rde. Stolz auf meinen neuen halboffiziellen Status als Dolmetscher im Dienste Seiner Majest�t ging ich zur�ck auf mein Zimmer und erz�hlte den anderen, was passiert war. Anschlie�end ging ich von Raum zu Raum, um den Befehl des Captain weiterzugeben. �berall best�rmten mich die Menschen mit Fragen und baten mich, als Vermittler zu fungieren. Ich musste lachen, als selbst die Mitbewohner, die mich stets unfreundlich behandelt hatten, jetzt beschworen, wie gut wir uns doch immer verstanden h�tten. Der pl�tzliche Wandel in ihrer Einstellung zu mir �berraschte mich nicht, wusste ich
doch, dass viele mit einer brutalen Behandlung seitens der Briten rechneten und Massenexekutionen im Stile der SS f�rchteten. Einige Frauen hatten sich aus lauter Angst vor Vergewaltigungen, die die Nazipropaganda im Falle einer deutschen Niederlage prophezeit hatte, auf der Toilette eingeschlossen. Und je mehr ich sie zu beruhigen versuchte, desto panischer wurden sie. Schlie�lich versammelte sich ein j�mmerlicher Haufen auf dem Schulhof, einige Frauen schluchzten, w�hrend die M�nner sich bem�hten, so unerschrocken wie unter den Umst�nden m�glich dreinzublicken. �Sagen Sie ihnen�, wies der Captain mich an, �sie sollen eine so gro�e L�cke in die Barrikade rei�en, dass unsere Fahrzeuge passieren k�nnen. Ich m�chte, dass alle gesunden M�nner hier bleiben. Die Frauen k�nnen wieder reingehen.� Ich verstand zwar nicht jedes Wort, aber immerhin so viel, dass ich wusste, was der Captain wollte. Als ich �bersetzt hatte, waren die Insassen der Schule sp�rbar erleichtert. Einige M�nner des Captain hatten bei einer nahe gelegenen Baufirma eine Ladung Hacken und Schaufeln konfisziert und verteilten die Werkzeuge nun an die Deutschen. Dann lie� der Captain ihnen wieder �ber mich sagen, sie h�tten bis vier Uhr nachmittags Zeit, mit der Arbeit fertig zu werden. Trotz dieser gesetzten Frist und obwohl sich die M�nner ungeheuer ins Zeug legten, war es bereits dunkel, als die Bresche in der Barrikade gro� genug f�r das breiteste Fahrzeug im Konvoi war. Nachdem der letzte Lastwagen durchgefahren war, bat der Captain mich, den Leuten zu sagen, sie k�nnten wieder ins Geb�ude gehen, und lie� mich mehrere Packungen Zigaretten verteilen. Dann dankte er mir, gab mir zwei versiegelte Blechdosen mit insgesamt
hundert Zigaretten, stieg in seinen Jeep und verschwand in der Nacht. Damals wusste ich es noch nicht, aber das war das erste Mal, dass ich mit Deutschlands neuer W�hrung bezahlt wurde. Es war nach Mitternacht, als ich schlie�lich ins Bett ging. Meine Mitbewohner sagten kein Wort, und mir war unmissverst�ndlich klar, dass sich ihre Haltung mir gegen�ber ge�ndert hatte. In ihren Augen war ich nicht mehr einer von ihnen wie noch am Tag zuvor, sondern stand jetzt �auf der anderen Seite�. Allm�hlich begriff ich, dass ich auf einmal nicht mehr das war, wof�r ich mich immer gehalten hatte - ein Deutscher. Aber irgendwie beunruhigte mich der Gedanke nicht. Als es den Deutschen noch gut ging, wollten sie mich nicht an ihrem Gl�ck teilhaben lassen, jetzt konnte ich gut darauf verzichten, an ihrem Ungl�ck teilzuhaben. W�hrend ich wach auf meinem Bett lag und �ber den vergangenen Tag nachdachte, kam ich zu dem Schluss, dass ich an einem Wendepunkt meines Lebens angelangt war. Ich sp�rte, dass das Schicksal sich zur Abwechslung mal zu meinen Gunsten wandte, und fragte mich, warum es so lange gedauert hatte. Zum ersten Mal seit Jahren war ich von der l�hmenden Angst befreit, die ich aus Stolz bisher niemandem eingestanden hatte - nicht einmal mir selbst -, die mich aber Tag und Nacht unbarmherzig verfolgt hatte. Es war keine Angst, wie sie andere auch hatten, beispielsweise die Angst davor, bei einem Bombenangriff um Leben zu kommen oder in einem Vernichtungslager der Nazis umgebracht zu werden. Nein, es war die Angst davor, erniedrigt, verspottet, meiner W�rde beraubt zu werden, das Gef�hl vermittelt zu bekommen, minderwertiger zu sein als die Menschen, in deren Mitte ich lebte. Pl�tzlich fiel die
Angst von mir ab wie eine schwere Last, die ich, ohne es richtig zu wissen, mit mir herumgeschleppt hatte. Kurz nach Aufhebung der tags�ber geltenden Ausgangssperre machte ich mich auf den Weg in die Stadt, um zu sehen, was sich dort alles ver�ndert hatte. Deutsche Zivilisten, wohl weil sie noch nicht recht wussten, was von den Siegern zu erwarten war, lie�en sich kaum blicken, daf�r aber wimmelte es �berall von britischen Milit�rlastern und Jeeps. �ber Nacht waren an gr��eren Kreuzungen Schilder angebracht worden, auf denen Pfeile gemalt waren und die W�rter UPTOWN und DOWNTOWN standen, damit britische Fahrer sich in der Stadt zurechtfanden. Mir fiel auf, dass die Soldaten in den britischen Fahrzeugen nicht zur�ckgr��ten, wenn Deutsche ihnen zuwinkten. Sie starrten blo� grimmig geradeaus oder blickten sogar betont in die andere Richtung. Ich wusste, dass viele Hamburger von Hitlers Krieg die Nase voll gehabt hatten und die Briten als ihre Besatzer und nicht als ihre Besieger betrachteten. Umso mehr wunderte ich mich �ber diese offensichtliche Barschheit seitens der Briten. Erst Monate sp�ter fand ich eine offizielle Erkl�rung f�r dieses Verhalten, als ich auf Plakaten mit den neuen Besatzungsvorschriften f�r die Hamburger Bev�lkerung eine Sonderbotschaft des britischen Feldmarschalls, Viscount Bernard Montgomery, las. Er beschrieb seine Landsleute als freundliche und gutm�tige Menschen und erkl�rte, seine Truppen winkten den Deutschen deshalb nicht zu, weil er ihnen jede Fraternisierung verboten habe. Er erkl�rte, dass er es eingedenk des erbitterten Kampfes, der gerade erst zu Ende gegangen sei, f�r noch zu fr�h hielt, das Vergangene ruhen zu lassen. Zudem stellte er fest, dass der Erste Weltkrieg nicht auf deutschem Boden, sondern
in Frankreich und Belgien ausgefochten worden sei und dass die deutschen Machthaber, nachdem die geschlagene deutsche Armee scheinbar intakt zur�ckgekehrt sei, die L�ge verbreitet h�tten, die deutsche Armee sei nie besiegt worden. Damit sich die Geschichte nicht ein weiteres Mal wiederhole und um einen dritten Weltkrieg zu verhindern, so der Feldmarschall, m�sse den Deutschen eine Lektion erteilt und ihnen verst�ndlich gemacht werden, dass eine Nation die Regierung habe, die sie verdiene. Bis die Deutschen das nicht begriffen h�tten, sei es f�r eine Vers�hnung noch zu fr�h. �Unser Ziel ist es�, so schloss er, �das �bel des nationalsozialistischen Systems auszurotten. Es ist noch zu fr�h, um mit Sicherheit zu sagen, dass dieses Ziel erreicht worden ist.� So gut durchdacht die Nichtfraternisierungspolitik des Mannes, der �W�stenfuchs� Rommel geschlagen hatte auch sein mochte, sie hatte einen kapitalen Fehler. Sie lie� n�mlich ein nicht zu unterdr�ckendes menschliches Bed�rfnis au�er Acht: den Geschlechtstrieb. Noch bevor eine Woche um war, jedenfalls ganz sicher bevor Montgomery schlie�lich seine Meinung �nderte, sah ich mit eigenen Augen, wie Tommys und deutsche Fr�uleins seinen Erlass tatkr�ftig der L�cherlichkeit preisgaben. Da war kein Hauseingang zu klein, keine Parkbank zu hart, kein Jeep zu eng, um der Natur nicht ihren Lauf zu lassen. Montgomery mochte ja ein genialer Feldmarschall sein, aber von der Macht der Liebe hatte er offenbar nicht die geringste Ahnung. Ich hatte mich oft gefragt, was wohl aus den Giordanos geworden war, doch aus Angst, zu erfahren, dass ihnen etwas zugesto�en sei, hatte ich es immer wieder verschoben, sie zu besuchen. Etwa zwei Wochen nach der Kapitulation von Hamburg �berwand ich mich
schlie�lich und machte mich auf den Weg zu ihrer Kellerwohnung in der Diesterwegstra�e. Zu meiner gro�en Erleichterung war die ganze Familie relativ wohlauf, wenn man bedachte, dass sie eben erst eine ungeheuer qualvolle Zeit �berstanden hatte; wochenlang hatten sich die f�nf n�mlich fast ohne Nahrung und Wasser in den Ruinen versteckt gehalten. Sogar Frau Giordano sah nicht mehr so besorgt aus und schien sichtlich erleichtert, dass ihre Familie das Martyrium hinter sich hatte. Alle waren �bergl�cklich �ber die Befreiung. Sie konnten es noch immer nicht richtig fassen, dass sie den Holocaust tats�chlich �berlebt hatten. Nach einer �berschw�nglichen Begr��ung gingen Egon, Ralph und ich spazieren, um unsere Befreier zu beobachten und um �ber die vergangenen Wochen zu sprechen. Unterwegs sahen wir lange Reihen von abgestellten Panzern, Lkws und Jeeps, und �berall l�mmelten Soldaten herum, die Wei�brot kauten und Tee schl�rften. Sie wirkten allesamt ungemein gut in Form und bester Laune. Es war lange her, seit wir zuletzt so wohlgen�hrte M�nner gesehen hatten. Sie bildeten einen krassen Gegensatz zu den deutschen Kriegsgefangenen, die, von britischen Soldaten flankiert, massenweise zu Lagern au�erhalb der Stadt gebracht wurden. Viele humpelten an Kr�cken oder trugen schmutzige Verb�nde. Manche waren un�bersehbar unterern�hrt und niedergeschlagen, und alle waren himmelweit entfernt von den im Stechschritt marschierenden jungen Siegfrieds, die noch vor gar nicht so langer Zeit im Eroberungsrausch ein europ�isches Land nach dem anderen in die Knie gezwungen hatten. Als Ralph und Egon mir von ihren Pl�nen erz�hlten,
begriff ich, dass wir trotz unserer vielen Gemeinsamkeiten ganz unterschiedliche Vorstellungen f�r die Zukunft hatten. Oder besser gesagt, sie hatten bestimmte Vorstellungen, ich hatte keine. Ich war vor allem froh dar�ber, den Nazis heil entkommen zu sein; ich wollte die traumatische Vergangenheit auf sich beruhen lassen und mir dar�ber klar werden, was f�r M�glichkeiten die Zukunft f�r mich bereithielt. Sie dagegen waren nicht gewillt, die Vergangenheit zu vergessen, sondern waren stattdessen im Begriff, den Kampf gegen die politischen Todfeinde aufzunehmen. Sie nannten mich naiv und uninformiert und lachten �berrascht, als ich meinte, dass die Nazis mit Hitlers Tod und der Vernichtung der Wehrmacht der Vergangenheit angeh�rten. Die Nazis und ihre Ideologie, so beteuerten sie, waren im deutschen Volk nach wie vor lebendig. Beide Br�der schworen, nicht eher Ruhe geben zu wollen, bis das letzte Nazischwein aufgekn�pft und der Nazismus f�r immer von der Erde verbannt sei. W�hrend sie ihrem so lange angestauten Zorn und Hass Luft machten, funkelte wilde Entschlossenheit in ihren Augen. Obwohl ich meine eigene Frustration nicht auf �hnliche Weise abreagieren konnte, wusste ich doch genau, wie ihnen zu Mute war. Auch ich wollte, dass die Nazi-Verbrecher vor Gericht kamen und dass die letzten �berreste des Nationalsozialismus zerst�rt wurden, aber das konnten meinetwegen gern die Alliierten besorgen. Egon und Ralph waren dagegen auf dem besten Wege, eine Laufbahn als k�mpferische Anti-Nazi-Journalisten einzuschlagen. Sie hatten bereits n�chtelang auf einer klapprigen Schreibmaschine, die sie Gott wei� wo aufgetrieben hatten, etliche polemische Artikel geschrieben,
von denen sie hofften, dass eine der Hamburger Tageszeitungen sie drucken w�rde. In jedem dieser Artikel forderten sie die britische Besatzungsmacht auf, mit den Nazis kurzen Prozess zu machen. Doch die britischen M�hlen der Justiz, so mussten wir erleben, mahlten qu�lend langsam und kamen in vielen F�llen v�llig zum Stillstand. In einem Kriegsverbrecherprozess im Hamburger Curio-Haus an der Rothenbaumchaussee wurden vierzehn SS-M�nner und -Frauen zum Tode durch den Strang verurteilt, weil sie nachweislich im Konzentrationslager Neuengamme in HamburgBergedorf, in dem mindestens 50 000 Insassen gestorben waren, uns�gliche Grausamkeiten begangen hatten. Aber den meisten Nazi-Gr��en gab man sozusagen nur einen Klaps auf die Finger und lie� sie dann laufen. Der Hamburger Nazi-B�rgermeister Carl Vincent Krogmann zum Beispiel, der zum F�hrerkorps der NSDAP geh�rt hatte, wurde lediglich zu 10 000 Mark Geldstrafe verurteilt. Sein Chef, Gauleiter und Reichsstatthalter Karl Kaufmann, kam noch glimpflicher davon. Er, der treue Hitler-Anh�nger und -Vertraute, wurde wegen seiner Angina Pectoris f�r prozessunf�hig erkl�rt. Genauso dringlich wie die Frage der Vergeltung war f�r die Br�der Giordano das Thema Wiedergutmachung, auf die ihrer Meinung nach alle Nicht-Arier Anspruch hatten, die in irgendeiner Form unter den Nazis gelitten hatten. Wir beschlossen, ins Hauptquartier der britischen Milit�rregierung zu gehen und uns zu erkundigen, wie wir diesen Anspruch geltend machen konnten. Im ehemaligen Hotel Esplanade am Stephansplatz, wo die Milit�rregierung untergebracht war, wurden wir in das B�ro eines britischen Majors geschickt. Der freundliche Offizier versicherte Ralph und Egon, dass
ihnen als Halbjuden von den Alliierten diverse Hilfsma�nahmen gew�hrt w�rden, wie beispielsweise Beschaffung einer Wohnung, zus�tzliche Lebensmittelrationen und bevorzugte Ber�cksichtigung bei der Stellenvergabe. Als ich einen Antrag auf Unterst�tzung stellen wollte, da ich ja schlie�lich, wie die Giordanos, als Nicht-Arier von den Nazis verfolgt und in vielerlei Hinsicht benachteiligt worden war, sagte der Major, nachdem er sich meine Geschichte h�flich angeh�rt hatte, dass er f�r mich nichts tun k�nne. �Es tut mir Leid�, erkl�rte er, �aber f�r die britische Milit�rregierung sind Sie Deutscher. Wir d�rfen nur Juden, Zwangsumsiedlern, nichtdeutschen Kriegsgefangenen und ehemaligen KZ-Insassen helfen. Und Sie werden zugeben m�ssen, dass Sie in keine dieser Kategorien geh�ren. � Alles wie gehabt, dachte ich. Zwar hatte �meine Seite� gewonnen, aber wie immer geh�rte ich nirgendwo so richtig dazu.
Auf Messers Schneide
Die �berraschende Ablehnung meines Wiedergutmachungsantrags entt�uschte mich zwar, konnte meinen Optimismus aber nicht tr�ben. Meine �berzeugung, dass es mir jetzt, nach dem Untergang der Nazis und dem Ende des Krieges, einfach besser ergehen musste, war unersch�tterlich. Der neuerliche R�ckschlag war blo� eine Erinnerung daran, dass mir nichts auf einem Silbertablett serviert werden w�rde, und ich war fest entschlossen, mein Schicksal tatkr�ftig in die Hand zu nehmen, auch wenn ich nicht die blasseste Vorstellung hatte wie. Ich wusste blo�, dass ich, wenn irgend m�glich, nie wieder f�r andere als Schlosser arbeiten wollte. Ich war meiner Mutter dankbar, dass sie es mir erm�glicht hatte, ein Handwerk zu lernen, aber nach vier Jahren Knochenarbeit in Gestank und Krach war ich mehr als bereit f�r eine Ver�nderung. Ich wollte eine Arbeit, bei der ich mir nicht mehr die Finger schmutzig machen w�rde, aber wie mir das gelingen sollte, wusste ich nicht. Allerdings war mir klar, dass ich im Nachkriegsdeutschland unter britischer und amerikanischer Besatzung mehr als nur ein paar Brocken Englisch ben�tigen w�rde, um Erfolg zu haben. Als Erstes kaufte ich mir ein kleines deutsch-englisches W�rterbuch, das mein st�ndiger Begleiter wurde. Zun�chst versuchte ich, es wie ein ganz normales Buch zu lesen und mir die W�rter einzupr�gen, machte mit dieser Methode jedoch kaum nennenswerte Fortschritte. Dann entdeckte ich durch Zufall ein anderes System, das wesentlich bessere Resultate zeitigte. Ein britischer Soldat, mit dem ich ins Gespr�ch gekommen war,
schenkte mir eine zerlesene Taschenbuchausgabe von Somerset Maughams Auf Messers Schneide und prophezeite mir, wenn ich erst angefangen h�tte zu lesen, k�nnte ich es nicht mehr aus der Hand legen. Als ich mich jedoch an die erste Seite machte, wurde mir erschreckend klar, wie j�mmerlich unzureichend mein englischer Wortschatz war. Doch ich lie� mich nicht entmutigen; m�hselig schlug ich jedes einzelne Wort nach, das ich nicht verstand, und arbeitete mich Zeile f�r Zeile, Seite f�r Seite vor. Zuerst kam ich frustrierend langsam voran und langweilte mich dabei fast zu Tode. Immer wieder passierte es mir, dass ich die Bedeutung eines Wortes vergessen hatte, das ich erst kurz zuvor nachgeschlagen hatte. Doch ganz allm�hlich wurde ich von der Romanhandlung gepackt, und es blieben mir immer mehr W�rter im Ged�chtnis haften. Als ich das Buch halb durchhatte - nach etwa einem Monat angestrengter Lekt�re -, konnte ich schon manche Seiten ganz ohne Hilfe des W�rterbuchs lesen. Zus�tzlich zu meiner Lekt�re nutzte ich jede Gelegenheit, mit britischen Soldaten ins Gespr�ch zu kommen, so dass ich nach einiger Zeit recht fl�ssig Englisch sprach und mich f�r die Herausforderungen der Zukunft gewappnet f�hlte. Die deutsch-britische Ann�herung konnte ich am besten beobachten, wenn ich die von der britischen Milit�rregierung verh�ngte Ausgangssperre missachtete, die von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang galt. Jeder Deutsche, der bei einem Versto� erwischt wurde, musste mit einer Strafe von sieben bis zu sechzig Tagen Gef�ngnis rechnen. Ich verlie� mich auf meine neu erworbenen Englischkenntnisse sowie auf mein undeutsches Aussehen und bewegte mich nachts durch
Hamburg, als ginge mich die Ausgangssperre nichts in. Wenn mich eine Milit�rstreife anhielt, erz�hlte ich, ich sei liberianischer Staatsb�rger und warte auf meinen liberianischen Pass, um endlich wieder in mein Vaterland zur�ckkehren zu k�nnen. Nur ein einziges Mal musste ich trotzdem mitkommen, aber als ich einem vorgesetzten Offizier die gleiche Geschichte auftischte, entschuldigte er sich f�r die Unannehmlichkeiten, die mir seine M�nner bereitet hatten, und lie� mich gehen. Schon bald wurde die strenge Ausgangssperre gelockert, so dass sich Deutsche nun bis 22.15 Uhr frei auf der Stra�e bewegen durften. Meine pers�nliche Befreiung wurde erst sp�ter gleichsam rechtskr�ftig, und zwar nachdem Generaloberst Alfred Jodl am 7. Mai die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht unterzeichnet hatte und die alliierte Milit�rregierung einundzwanzig Tage sp�ter s�mtliche Nazi-Gesetze aufhob, insbesondere die so genannten N�rnberger Gesetze, die dem �Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre� hatten dienen sollen.
Home, sweet home
Einige der Leute in unserer Unterkunft beneideten mich um die Zigaretten und Lebensmittel, die ich �ber meinen rasch wachsenden Bekanntenkreis unter den britischen Soldaten gelegentlich schnorren konnte. Prompt hetzten ein paar von ihnen hinter meinem R�cken, ich w�rde �mit dem Feind paktieren�. Als meine Mutter mir davon erz�hlte, sagte ich ihr, ich f�nde es an der Zeit, dass wir uns nach einer anderen Bleibe ums�hen. Sie stimmte mir zu und �berraschte mich dann damit, dass sie mich offiziell zum Oberhaupt unserer kleinen �Familie� erkl�rte. �Unter der britischen Besatzung finde ich mich nicht mehr zurecht�, sagte sie. �Also triffst du ab jetzt die Entscheidungen f�r uns beide.� Ich war tief ger�hrt und stolz und nahm mir fest vor, unser kleines Boot nach bestem Wissen und Gewissen zu lenken. Die Frage war jetzt, wohin konnten wir gehen? Ralph und Egon machten mir Hoffnung, dass bestimmt schon bald von irgendwoher Hilfe kommen w�rde. Ich glaubte nicht so recht daran. Meiner Meinung nach brauchte ich dringend Kontakt zu Vertretern der liberianischen Regierung, aber es konnte noch Jahre dauern, bis wieder ein liberianisches Konsulat in Deutschland eingerichtet w�rde. Als ich schon die Hoffnung aufgeben wollte, je eine brauchbare Unterkunft f�r uns zu finden, machten mich die Giordanos mit einer �lteren Witwe bekannt, von der es hie�, sie sei mit einem hochrangigen Nazi verwandt, und die ihnen ihre Hilfe angeboten hatte. Sie erkl�rte sich sofort bereit, meiner Mutter und mir ein Zimmer in
ihrem Haus zu vermieten. �Ihr k�nnt gerne bleiben, bis ihr etwas Besseres gefunden habt�, versicherte sie mir, und ich nahm das Angebot dankbar an. Wir packten umgehend unsere wenigen Habseligkeiten zusammen und verlie�en die Schule, die ein Jahr lang unser Zuhause gewesen war, ohne eine Spur des Bedauerns. Das m�blierte Zimmer war kaum gro� genug f�r ein Bett, eine kleine Couch, eine Kommode und einen Schrank, aber f�r meine Mutter und mich war es das reinste Paradies. Zum ersten Mal, seit wir im Juli 1943 ausgebombt worden waren, genossen wir den Luxus, ein Zimmer f�r uns allein zu haben. Leider war unsere Freude nur von kurzer Dauer. Schon bald n�mlich wurde deutlich, dass die vermeintlich altruistische Geste unserer Vermieterin in Wahrheit k�hle Berechnung gewesen war. Vermutlich hatte sie Angst, dass die Briten hinter ihre Nazi-Kontakte kamen, und erhoffte sich Pluspunkte bei der zust�ndigen Milit�rbeh�rde, indem sie Verfolgte des Nationalsozialismus wie die Giordanos und mich unterst�tzte. Als sie jedoch merkte, dass die Briten gar nicht alle Nazis zur Rechenschaft zogen, l�ste sich ihre Angst in Luft auf, und ihre Hilfsbereitschaft fand ein abruptes Ende. Praktisch von einem Tag auf den anderen �nderte sich ihre Haltung uns gegen�ber. Statt freundlicher Begr��ungen erwarteten uns jetzt abweisende Blicke und Schweigen. Bevor der Monat, f�r den wir bereits die Miete gezahlt hatten, um war, er�ffnete sie mir, dass sie den Raum brauche und uns dankbar w�re, wenn wir so bald wie m�glich wieder ausziehen w�rden. Sie bot sogar an, uns die gesamte Miete zur�ckzuzahlen, wenn wir nur unsere Sachen packten und verschwanden.
In unserer Verzweiflung, da wir keinesfalls wieder in die Schule zur�ckwollten, durchk�mmten meine Mutter und ich die Gegend nach einem leeren Keller unter einem ausgebombten Wohnhaus. Zum Gl�ck wurden wir ganz in der N�he des Hauses, aus dem wir soeben mehr oder weniger rausgeworfen worden waren, f�ndig. Wir machten Gebrauch von einem gemeinhin anerkannten ungeschriebenen Gesetz und zogen einfach in den Keller ein. Unser neues �Apartment� hatte etliche unsch�tzbare Vorz�ge: ein funktionsf�higes WC, flie�endes kaltes Wasser, elektrisches Licht in Form einer nackten Gl�hbirne, die von der Decke baumelte, und eine Eingangst�r, die wir mit einem Vorh�ngeschloss sichern konnten. Au�erdem hatten wir sympathische Nachbarn, ein Ehepaar mittleren Alters, das nach den gro�en Bombenangriffen gleich nebenan eingezogen war. Nachdem wir unsere sp�rlichen Habseligkeiten verstaut hatten, gingen meine Mutter und ich M�bel �besorgen�, das hei�t, wir durchst�berten die verlassenen Keller auf den Tr�mmergrundst�cken und nahmen alles mit, was uns n�tzlich erschien. Binnen kurzem hatten wir unser neues Zuhause �u�erst eklektisch m�bliert: zwei Holzbetten, vier St�hle, ein kleiner K�chentisch mit dreieinhalb Beinen, eine Kommode, eine Emailsch�ssel fast ohne Email und ein gro�er, arg ramponierter, aber ungemein praktischer Wasserkrug. Als wir umgeben von unseren Sch�tzen die erste Mahlzeit in unserem neuen Zuhause einnahmen, waren wir restlos gl�cklich. Die Tatsache, dass das Essen, das meine Mutter auf einem Kocher zubereitet hatte, nur aus gekochtem Kohl bestand, tat unserer Freude keinen Abbruch.
Hunger - der neue Feind
W�hrend des Krieges hatten die Nazis es in erster Linie geschafft, die Bev�lkerung mit Nahrung zu versorgen, indem sie die von ihnen besetzten L�nder ausbeuteten und den L�wenanteil von deren Lebensmittelproduktion nach Deutschland brachten. Damit war es nach der Niederlage vorbei. Die Folge war, dass in Hamburg und anderen deutschen St�dten eine katastrophale Lebensmittelknappheit herrschte. Zum ersten Mal in meinem Leben lernte ich die wahre Bedeutung des Wortes �Hunger� kennen. Die Einsicht, dass wir jetzt ja nur das ernteten, was die Nazis ges�t hatten, war ein schlechter Trost angesichts von Lebensmittelrationen, die auf ein unmenschliches Minimum gek�rzt waren. Wir bekamen zum Sterben zu viel und zum �berleben zu wenig und wurden immer d�nner und apathischer. Die Lebensmittelmarken boten beileibe keine Garantie, dass die wenige Nahrung, auf die wir ein Anrecht hatten, auch tats�chlich vorhanden war. Wenn sich herumsprach, dass die L�den eine frische Lieferung Fleisch, Brot oder Kartoffeln erhalten hatten, standen wir h�ufig qu�lend lange vor den entsprechenden Gesch�ften an, nur um kurz vor der Theke erfahren zu m�ssen, dass alles ausverkauft war. Die Mischung aus Entt�uschung, Wut, Panik, Hoffnungslosigkeit und Niedergeschlagenheit, die uns �berkam, wenn wir mal wieder vergebens unsere Zeit und unsere letzten Energiereserven vergeudet hatten, ist kaum zu beschreiben. Manchmal waren wir vor Hunger und Verbitterung derart ausgelaugt und apathisch, dass wir uns noch nicht mal mehr anstellten, wenn es hie�, es
seien wieder neue Nahrungsmittel geliefert worden. Unsere Hoffnung, dass mit dem Kriegsende das Schlimmste �berstanden sein w�rde, hatte sich in Luft aufgel�st. Pl�tzlich erschien es uns gar nicht so abwegig, dass wir Hitlers Verfolgungen und die Bomben der Alliierten nur �berlebt hatten, um schlie�lich in Friedenszeiten zu verhungern. Es kam vor, dass wir beim Aufwachen feststellten, dass unsere Gesichter fast bis zur Unkenntlichkeit verquollen waren, eine Erscheinung, die meine Mutter als Hunger�dem diagnostizierte. Einmal fuhr ich gerade in der �berf�llten U-Bahn, als ich sp�rte, dass ich vor Entkr�ftung gleich ohnm�chtig werden w�rde, etwas, das mir noch nie in meinem Leben passiert war. Ich wollte auf keinen Fall umkippen und Aufsehen erregen, deshalb lehnte ich mich mit dem R�cken fest gegen die Wand des U-Bahn-Wagens und dr�ckte die Beine durch. Dann verlor ich das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, stand ich tats�chlich noch immer, aber ich war eine Station zu weit gefahren. Ein anderes Mal ging ich gerade die Stra�e entlang, als neben mir ein Lastwagen hielt und der Fahrer mich fragte, ob ich ihm helfen w�rde, den Wagen abzuladen, der mit Kisten voller Speise�lflaschen gef�llt war. Zur Belohnung w�rde ich eine Flasche �l bekommen. Ich war vor Hunger so geschw�cht, dass ich zun�chst ablehnte, doch dann �berlegte ich es mir anders. Speise�l, so wusste ich, z�hlte wie Butter und andere Fette zu den begehrtesten Lebensmitteln �berhaupt, und meine Mutter w�rde es bestimmt gut verwenden k�nnen. W�hrend ich in der sommerlichen Mittagshitze wie ein Galeerensklave schuftete und die schweren Kisten in ein Lagerhaus schleppte, konnte ich schon fast die
k�stlichen Bratkartoffeln schmecken, mit denen ich meine Mutter �berraschen wollte. Nach mehreren Stunden Knochenarbeit war ich endlich fertig und bekam meine Flasche �l. Als ich meiner Mutter die �berraschung unterbreitete, sagte sie, ich solle mich ausruhen, w�hrend sie uns eine Pfanne Bratkartoffeln machte. Doch als das �l in die hei�e Pfanne tropfte, verwandelte sich unsere Vorfreude schlagartig in herbe Entt�uschung. Statt des appetitlichen Bratkartoffelduftes quoll dichter gelber Rauch durch den Raum und nahm uns die Luft zum Atmen. Ich war reingelegt worden, denn dieses �Speise�l�, f�r das ich geschuftet hatte, war Industrie�l und zum Verzehr v�llig ungeeignet. Wutschnaubend lief ich zur�ck zu dem Lagerhaus, um es dem Lkw-Fahrer heimzuzahlen, aber als ich dort ankam, war die T�r bereits verschlossen und der Fahrer samt Wagen verschwunden. W�hrend jener Hungermonate nach Kriegsende stand ich eines Tages an einer Kreuzung in der Innenstadt und wartete, dass die Ampel auf Gr�n sprang. Ich zitterte in meinem d�nnen, abgetragenen Mantel und �berlegte, wie ich meinen w�tend knurrenden Magen zum Schweigen bringen k�nnte. �Was ist los mit dir, Mann?�, unterbrach eine tiefe Stimme meine d�steren Gedanken. Verbl�fft blickte ich auf und sah einen Soldaten aus einem schweren Laster der US Army steigen, der neben mir angehalten hatte. Der Soldat war ein Schwarzer, der erste �Bruder�, den ich in meinen zwanzig Lebensjahren zu Gesicht bekam. �Was in aller Welt machst du denn hier unter all diesen Krauts?�, fragte der GI. Eifrig bem�ht, meine frischen Englischkenntnisse anzuwenden, erkl�rte ich ihm, so gut ich konnte, dass
�diese Krauts� meine Landsleute seien und Hamburg meine Heimatstadt. �Wo bist du w�hrend des Krieges gewesen?�, wollte der Soldat wissen. �Hier in Hamburg�, erwiderte ich. Der Soldat betrachtete die Ruinen um uns herum und dann meine abgetragenen Sachen. �Und wie geht's jetzt?�, erkundigte er sich. �Nicht viel besser, vermute ich.� Das konnte ich nur best�tigen. Er sagte, ich sollte einen Moment warten, und stieg wieder in den Lkw. Als er zur�ckkam, hatte er seinen Stahlhelm mit Schokoladenriegeln, Konservendosen und Zigaretten gef�llt. �Ich nehme an, dass du das gut gebrauchen kannst�, sagte er, und dabei hatte ich ihm gar nicht erz�hlt, dass mir vor Hunger ganz schwindelig war. Unf�hig, meine Dankbarkeit in Worten auszudr�cken, stopfte ich mir die Sch�tze in die Taschen. Am liebsten w�re ich auf die Knie gefallen, um meinem schwarzen Samariter zu danken, doch bevor ich noch ein Wort herausgebracht hatte, war er schon wieder in seinen Lastwagen gestiegen und winkend davongefahren. Damals wusste ich nicht, wie sehr die kurze Begegnung mit jenem namenlosen Wohlt�ter mein zuk�nftiges Leben ver�ndern sollte. Aber w�hrend dieser paar Minuten �berfiel mich erstmals die Sehnsucht, Deutschland zu verlassen und �mein Volk� in den Vereinigten Staaten kennen zu lernen. Allerdings war mein leerer Magen daran sicher nicht ganz unbeteiligt. Ebenso heikel wie die Lebensmittelknappheit war der Mangel an Kohle und anderen Brennstoffen. Um die ihnen zugeteilte Kohleration aufzustocken, st�rmten verzweifelte M�nner, Frauen und Kinder stillstehende Kohlez�ge, oder sie schw�rmten �ber Frachtpl�tze, wo
Kohle gelagert oder verladen wurde, um ihre S�cke, Eimer und K�rbe zu f�llen. Dabei kam es oft zu Zwischenf�llen mit der Polizei, die einen aussichtslosen Kampf gegen das Hamstern von Brennmaterial f�hrte. Nachdem meine Mutter und ich einmal fast in eine Massenschl�gerei zwischen Hamsterern und Polizei geraten w�ren, bei der es auf beiden Seiten schwer Verletzte gab, beschlossen wir, uns nicht an den Diebst�hlen zu beteiligen. Schlie�lich, so meinten wir, konnten wir uns im Notfall mit Decken w�rmen, was immerhin besser war, als f�r das bisschen zus�tzliche W�rme mit einem Arm oder einem Bein zu bezahlen. Die zwangsl�ufige Folge der schlimmen Not war die rasche Ausbreitung eines schamlos offenen Schwarzmarktes, auf dem man praktisch alles bekam von Lebensmitteln �ber Zigaretten bis hin zu Kleidung -, und zwar im Austausch gegen Schmuck, Fotoapparate, Ferngl�ser, Musikinstrumente und andere Wertsachen, die einige Menschen durch den Krieg hindurch gerettet hatten. Schon wenige Tage nach dem Einmarsch der britischen Truppen sah man �berall in der Stadt, wie diese neue, ungemein vitale Wirtschaftskraft an Stra�enecken, in Parks und auf Pl�tzen erbl�hte. Amerikanische und englische Zigaretten wurden die neue W�hrung auf dem Schwarzmarkt, und ihr astronomischer Wechselkurs betrug 1 zu 5, eine Zigarette f�r f�nf Mark. Der Schwarzmarkt war zwar h�chst illegal, aber nur wenige Schwarzmarkth�ndler waren tats�chlich Kriminelle im wahren Sinne des Wortes. Bei der Mehrheit der Menschen, die auf dem Schwarzmarkt verbotene Gesch�fte machten, handelte es sich um ganz normale M�nner und Frauen, die beschlossen hatten, sich von ihren geliebten Eheringen
oder Fotoapparaten zu trennen, um ihr tristes Dasein mit ein paar Zigaretten, einem Festmahl aus Corned Beef aus der Dose, mit ein paar Tassen Kaffee oder einigen Tafeln Schokolade ein wenig ertr�glicher zu machen. Da ich nicht rauchte und auch keine Wertsachen besa�, die ich gegen Lebensmittel h�tte eintauschen k�nnen, interessierte mich der Schwarzmarkt zu Anfang nicht sonderlich. Das sollte sich jedoch nach einigen unvorhersehbaren Ereignissen, die meinem Leben eine v�llig andere Richtung gaben, �ndern. Dabei war ich wei� Gott nicht der Einzige, dessen Leben auf den Kopf gestellt wurde. Die Monate nach Kriegsende brachten f�r praktisch jeden drastische Ver�nderungen mit sich. Tausende von Hamburgern waren arbeitslos und schlugen sich irgendwie durch. Ich war jetzt fest entschlossen, meinen �lverschmierten Blaumann endg�ltig an den Nagel zu h�ngen und mich irgendwie zu verbessern, und vertraute darauf, dass meine dunkle Hautfarbe unter der alliierten Besatzung kein so gro�es Hindernis mehr sein w�rde und dass ich, koste es, was es wolle, eine M�glichkeit finden w�rde, meine Mutter und mich zu ern�hren.
Eine neue Karriere - mein erster Auftritt
Eines Tages - ich war noch immer auf der Suche nach neuen M�glichkeiten - begegnete ich zuf�llig Herrn Giordano, der mir erz�hlte, dass er als Pianist f�r den British Army Welfare Service arbeitete. Als ich beil�ufig erw�hnte, dass ich Klarinette spielte, sagte er: �Die Briten suchen st�ndig Musiker f�r die Truppenunterhaltung. Vielleicht w�re das ja was f�r dich. � Auf meinen kleinlauten Einwand, dass ich nicht gut genug w�re, um professionell zu spielen, meinte er, ich solle es trotzdem unbedingt versuchen, denn so schlecht wie einige von den �St�mpern�, die die Briten engagierten, k�nne ich gar nicht sein. Ich war mir da nicht so sicher, aber eingedenk meiner leeren Taschen und meines knurrenden Magens hatte ich schlie�lich nichts zu verlieren. Am n�chsten Tag entstaubte ich also meine alte �Lakritzstange�, die ich seit Monaten nicht mehr anger�hrt hatte, und machte mich auf den Weg zum Hamburger Staatstheater, wo ich mich unter die bunte Schar von Musikern mischte, die unter dem Theatervordach standen und hofften, ein Engagement f�r den Nachmittag zu bekommen. Ich entdeckte Herrn Giordano, der mich in den �blichen Ablauf einweihte. �Jeden Mittag stellen die Briten hier ein paar Bands aus je zw�lf Mann zusammen. Wenn sie einen Klarinettisten brauchen, meldest du dich. Vielleicht hast du ja Gl�ck. Nach dem Auftritt kriegst du Tee und Butterbrote. Bis jetzt bin ich erst zweimal genommen worden, weil es jede Menge Klavierspieler gibt.� Nach etwa einer Stunde kam ein mit einer Plane abgedeckter Armeelastwagen angefahren, und ein
Offizier rief die Instrumente auf, die ben�tigt wurden. Sobald er ein Dutzend Musiker zusammenhatte, wurden sie auf den Wagen geladen und ohne Probe zu einer der vielen britischen Garnisonen in und um Hamburg gekarrt, um f�r die Soldaten aufzuspielen. Zu meiner eigenen �berraschung z�hlte ich zu der zweiten Wagenladung, die engagiert wurde. Als der Wagen losfuhr und ich Herrn Giordano noch immer zwischen den wartenden Musikern stehen sah, hatte ich fast ein schlechtes Gewissen, aber zugleich dr�ckten mich schon andere Sorgen. Wie sollte ich es blo� anstellen, dass die anderen Musiker mich f�r einen Profi hielten? Je n�her wir unserem Ziel kamen - eine Garnison in der N�he des Flughafens mit einigen hundert Tommys -, desto mehr bereute ich es, dass ich mich zu diesem Abenteuer hatte �berreden lassen. Aber nun gab es kein Zur�ck mehr. Im Lager angekommen, wurden wir in eine gro�e Wellblechbaracke gef�hrt. Auf dem h�lzernen Podium stand ein Klavier, und wir nahmen daneben Platz. Ein Offizier erkl�rte, dass das Konzert Punkt drei Uhr beginnen solle, was uns noch exakt eine halbe Stunde Zeit lie�, um alles vorzubereiten und unsere Instrumente zu stimmen, von proben ganz zu schweigen. Dann verteilte der Offizier mehrere Notenbl�tter mit beliebten britischen und amerikanischen Schlagern und wies uns an, einen Bandleader zu w�hlen. Wir entschieden uns einstimmig f�r das �lteste Mitglied der Gruppe, einen untersetzten, wei�haarigen, bebrillten Saxofonisten und Klarinettisten mit gebieterischem Auftreten, den alle respektvoll mit Kapellmeister Fuller anredeten. Wie ich erfuhr, hatte Herr Fuller fr�her ein eigenes Orchester geleitet. Kurz darauf str�mten die Soldaten in die Baracke, und nach einer kurzen Ansprache des Offiziers legte unsere
Band mit Glenn Millers In the Mood los, eine Melodie, die das besetzte Deutschland bald im Sturm erobern sollte. Es lag nicht an mir, aber die Band klang besser, als man unter den Umst�nden h�tte erwarten k�nnen. Leider war ich mit Abstand das schw�chste Glied in unserer musikalischen Kette. Dass ich in der ersten Reihe sitzen musste, zwischen Kapellmeister Fuller und einem schwungvollen jungen Tenorsaxofonisten, der ein brillantes Solo hinlegte, steigerte mein Selbstvertrauen nicht gerade. Als meine Klarinette dann auch noch in der Mitte von At Last ein lautes Quieken von sich gab, das auf meine unzul�ngliche Embouchure und ein zu trockenes Rohrblatt zur�ckzuf�hren war, musste ich mich beherrschen, um nicht einfach aufzustehen und von der B�hne zu gehen. Doch anstatt mich zu tadeln oder l�cherlich zu machen, zwinkerte Herr Fuller mir nur aufmunternd zu. �Ist nicht schlimm�, sagte er zwischen zwei St�cken zu mir: �Das wird schon werden.� Selbst Addi Wulf, der etwas gro�spurige Tenorsaxofonist, machte mir Mut, und dank ihrer moralischen Unterst�tzung �berstand ich meinen ersten Auftritt. Hinterher wurden wir Musiker zu einem langen Tisch gef�hrt, auf dem Butterbrote und gro�e Kannen mit s��em Tee mit Milch f�r uns bereitstanden. Wir durften uns nach Herzenslust bedienen, und so ausgehungert, wie wir waren, lie�en wir uns das nicht zweimal sagen. Dass wir als Gage kein Geld bekamen, war mir v�llig egal, zumal ich sogar noch eine T�te voller Butterbrote mit nach Hause nehmen durfte. Am n�chsten Tag ging ich wieder zum Theater, in der Hoffnung, erneut �engagiert� zu werden. Dort teilte man uns mit, dass wir in derselben Formation wie am Vortag bleiben sollten und dass das von jetzt an auch so
beibehalten w�rde. Das bedeutete praktisch, dass ich von nun an einen festen Job hatte und nicht mehr Tag f�r Tag darauf hoffen musste, dass mir das Gl�ck hold war. Obwohl die Bezahlung, welche die Engl�nder uns anboten, l�cherlich gering war, freute ich mich wie ein Kind. Ich bekam etwas zu essen, und ich hatte fr�her als erwartet einen entscheidenden Durchbruch erzielt - den Abschied von der k�rperlichen Schwerarbeit als Schlosser. Diesmal, so fand ich, war das Gl�ck wirklich auf meiner Seite gewesen. Eines Abends, auf dem R�ckweg zum Theater nach einem Konzert, machte Herr Fuller mir ein �berraschendes Angebot. �Du k�nntest ein richtig guter Musiker werden�, sagte er, �aber du wei�t selbst, dass du noch viel lernen musst. Wenn du willst, gebe ich dir Klarinetten- und Saxofonunterricht. � Er erbot sich sogar, mir daf�r ein Altsaxofon zur Verf�gung zu stellen. Als ich ihn fragte, wie viel der Unterricht denn kosten sollte, erwiderte er: �Gar nichts, wenn du mir versprichst, so viel zu �ben, wie du nur kannst.� Mir war zwar nicht ganz klar, welchen Vorteil er davon hatte, aber ich freute mich so sehr �ber diese Chance, dass ich das Angebot auf der Stelle und ohne weitere Fragen annahm. Unter der strengen Anleitung meines neuen Mentors �bte ich in den folgenden Monaten Klarinette und Saxofon mit einer Begeisterung, die an Besessenheit grenzte. Au�er nachmittags, wenn wir vor britischen Soldaten spielten, �bte ich ununterbrochen in unserer Kellerwohnung. Mein Repertoire wurde gr��er und umfasste bald sowohl die ber�hmte Klarinettenkadenz in Franz von Suppes Leichte Kavallerie als auch das Saxofonsolo in Glenn Millers Arrangement von In the
Mood. Zweimal pro Woche ging ich in Maestro Fullers bescheidene Wohnung, wo er mir zwei Stunden lang Unterricht gab. Hinterher servierte uns Frau Fuller, eine freundliche alte Dame, k�stlichen Kaffee und selbst gebackenen Kuchen. Eines Tages wollte ich gerade gehen, als Herr Fuller mich sichtlich nerv�s bat, noch einen Moment zu bleiben. �Ich m�chte etwas mit dir besprechen�, erkl�rte er. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten kam er schlie�lich zur Sache. Stockend und nach Worten suchend, erz�hlte er mir, dass er kurz vor dem Krieg, um den Titel des �Kapellmeisters� zu erlangen, in die NSDAP eingetreten sei. Nach Kriegsausbruch war er dann zur Luftwaffe eingezogen worden, hatte den Rang eines Oberleutnants bekleidet und eine Konzertkapelle der Luftwaffe dirigiert. Er beteuerte, dass seine Pflichten als Parteimitglied und als Luftwaffenoffizier stets nur musikalischer Art und v�llig unpolitisch gewesen seien. Da die Alliierten ein umfangreiches Entnazifizierungsprogramm begonnen hatten, wollte er mich nun um einen gro�en Gefallen bitten. Ob ich wohl einen Brief unterzeichnen w�rde, in dem ich best�tigte, dass er ein alter Freund der Familie sei, der seinen Einfluss geltend gemacht habe, um mir, der ich unter den N�rnberger Rassengesetzen verfolgt worden war, zu helfen? Zuerst str�ubte ich mich. Aber als ich den niedergeschlagenen alten Herrn vor mir sah, der in der kurzen Zeit, die ich ihn kannte, wie ein Vater zu mir gewesen war, kam ich ins Nachdenken. Das Entnazifizierungsprogramm der Milit�rlegierung war bereits zu einem gro�en Witz verkommen, nachdem ehemals hochrangige Nazis mit einer blo�en R�ge freigesprochen worden waren. Und Herr Fuller, so redete
ich mir ein, war schlie�lich nur ein kleiner Fisch gewesen, kein Krimineller, der unmenschliche Verbrechen begangen hatte. Als ich mir dann noch ins Ged�chtnis rief, wie viel er bereits f�r mich getan hatte, w�hrend meine alliierten �Befreier� keinen Finger f�r mich r�hrten, willigte ich schlie�lich z�gernd ein, die Wahrheit ein bisschen abzu�ndern und den Brief zu unterschreiben. Obwohl ich ein wenig traurig einsehen musste, dass Herrn Fullers Gro�z�gigkeit mir gegen�ber nicht reiner Altruismus gewesen war, hatte ich dennoch das Gef�hl, dass er mich wirklich mochte, so wie ich ihn, und dass sein Interesse an meiner Person echt war. Auch f�r meine Mutter gab es Positives zu vermelden. Einige alte Freunde hatten ihr gesagt, dass Personen, die w�hrend der Nazizeit aus politischen Gr�nden entlassen worden waren, ihre Wiedereinstellung beantragen konnten. Wenige Tage nachdem sie ihren Antrag im Krankenhaus eingereicht hatte, erhielt sie Bescheid, dass sie ihren alten Arbeitsplatz wieder haben k�nne. Nach dreizehn Jahren kehrte sie also in ihre geliebte HNOAbteilung zur�ck und wurde dort mit offenen Armen begr��t.
Ausgeraubt
Eines Abends kam ich gerade von einem Auftritt zur�ck, als mir meine sonst so gelassene Mutter tr�nen�berstr�mt und schluchzend entgegengelaufen kam. Zun�chst verstand ich kein Wort, aber nachdem ich sie in den Arm genommen und sie sich ein wenig beruhigt hatte, wiederholte sie immer wieder: � Alles ist weg. � Langsam wurde mir klar, was sie meinte, n�mlich dass wir erneut alles verloren hatten, was wir besa�en. Kleidung, Schuhe, Laken, Decken und Essgeschirr, alles, was wir m�hsam zusammengetragen hatten, war verschwunden. Aber diesmal hatten wir nicht durch alliierte Bomben unser Hab und Gut verloren, sondern durch unsere eigenen Landsleute. Meine Mutter erz�hlte mir schluchzend, dass das Vorh�ngeschloss zu unserem Keller aufgebrochen und der Raum restlos ausger�umt worden war. Offensichtlich hatte sich jemand aus der Nachbarschaft den Umstand zu Nutze gemacht, dass wir tags�ber nicht zu Hause waren. Anders als vor zwei Jahren, als wir zumindest noch vier Koffer hatten retten k�nnen, besa�en wir nun tats�chlich nur noch das, was wir am Leibe trugen. Zum Gl�ck hatte ich immer noch meine Klarinette. Da wir annehmen mussten, dass die oder der T�ter es fr�her oder sp�ter erneut versuchen w�rde, beschlossen wir, uns nach einer neuen Unterkunft umzusehen. In dieser Situation wurde uns �berraschende Hilfe von Egon Giordano zuteil. Er erz�hlte uns n�mlich, dass die britische Milit�rregierung eine gro�e Wohnung in einer Villa in Blankenese f�r seine Familie requiriert hatte und dass sie daher ihre Kellerwohnung auf der
Diesterwegstra�e nicht mehr brauchten. Wenn wir wollten, k�nnten wir gerne dort einziehen. Dank des Diebstahls hatten wir beim Umzug nicht schwer zu tragen. Die neue Wohnung war ebenso karg wie unsere alte, aber wenigstens hatte sie eine abschlie�bare T�r und freundliche Nachbarn gleich nebenan, eine junge vierk�pfige Familie, die, wie die Giordanos sagten, hilfsbereit und absolut vertrauensw�rdig war.
Fred Gass
Als ich eines Morgens durch das Viertel schlenderte, um unsere neue Nachbarschaft zu erkunden, begegnete ich einem ungew�hnlich aussehenden, schlanken Burschen mit schmalem Schnurrbart und langem, glatt nach hinten gek�mmtem Haar, der mir irgendwie bekannt vorkam. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich in ihm einen Stammgast aus dem Caf� K�nig wieder, nur dass er damals eine deutsche Unteroffiziersuniform angehabt und einen Arm in einer schwarzen Schlinge getragen hatte. Jetzt war er makellos gekleidet: elegantes Glencheck-Sportjackett, braune Gabardinehose und schicke hellbraune Stra�enschuhe mit dicker wei�er Kreppsohle. �Lange nicht gesehen, Amigo�, begr��te er mich. �Du hast den Krieg also auch �berlebt.� Wir stellten uns vor und schwelgten in Erinnerungen an die gute alte Zeit. Dann erz�hlte Fred Gass mir, dass er damals Genesungsurlaub gehabt habe, nachdem ein Granatsplitter ihm den linken Mittelfinger abgerissen hatte. �Ich trage mein Souvenir immer bei mir�, sagte er und hielt die vierfingrige linke Hand hoch. Ich erfuhr, dass Fred mit seinen alten Pflegeeltern auf dem Morgensternsweg in einem Mietshaus wohnte, das den Krieg heil �berstanden hatte. Vor dem Krieg, so erz�hlte er, war er Page in Hamburgs renommiertem WaterlooKino gewesen, wo Filmpremieren mit gro�en Stars gefeiert wurden. Damals hatte er Gelegenheit gehabt, sich bei prominenten Hamburgern beliebt zu machen, indem er ihnen Eintrittskarten besorgte, wenn die Vorstellungen schon ausverkauft waren. Auf Grund dessen, so sagte er, habe er noch immer gute
Beziehungen, und wenn er etwas f�r mich tun k�nne, solle ich es ihn wissen lassen. �Ich k�nnte dir beispielsweise f�r wenig Geld einen neuen, hochwertigen Anzug besorgen�, schlug er mit einem absch�tzigen Blick auf meine sch�bige Kleidung vor. Angesichts des feinen Zwirns, den er trug, traute ich Fred durchaus zu, mir eine schicke Garderobe zu verschaffen, und verabredete mich f�r den n�chsten Tag mit ihm, um das Gesch�ft �ber die B�hne zu bringen. Der n�chste Tag kam und ging, ohne dass Fred �den Mann mit den Anz�gen� erreichen konnte. Am �bern�chsten Tag und an den Tagen darauf das gleiche Spiel. Schlie�lich musste ich mir eingestehen, dass Fred Gass zwar am�sant war, aber so zuverl�ssig wie das Aprilwetter. Doch trotz seiner offensichtlichen Schw�chen war er mir mittlerweile ans Herz gewachsen, und ich war gern mit ihm zusammen. Nachdem ich begriffen hatte, dass man sich einfach nicht auf Fred verlassen durfte, was immer er einem versprach, verstanden wir uns pr�chtig. Er war witzig, humorvoll, einfallsreich und �berhaupt ein echtes Original. Schon bald wurde mir klar, dass er sich gerne mit mir zusammen zeigte, weil er sozusagen mit mir im Rampenlicht stand, wenn ich mit meinem exotischen Aussehen Aufmerksamkeit erregte. So f�hrten wir eine gleichsam symbiotische Beziehung, von der beide Seiten profitierten. Fred hatte ein unglaubliches Geschick darin, sich an attraktive Frauen heranzumachen. Dabei ging er generalstabsm��ig vor. So stellte er sich beispielsweise an einem regnerischen Tag zur Feierabendzeit mit einem Schirm neben den Ausgang eines B�rogeb�udes und hielt Ausschau nach schirmlosen jungen Damen in Not. Sobald er ein geeignetes Opfer ersp�ht hatte, bot er der
Dame an, sie mit seinem Schirm zur n�chsten Stra�enbahnhaltestelle, oder wo immer sie hinmusste, zu begleiten. Die meisten jungen Frauen nahmen sein Angebot an, und wenn er sie erst mit seinem Charme bet�rt hatte, waren sie auch bereit, sich mit ihm zu verabreden. Wenn ich keine Auftritte hatte, ging ich gern mit Fred in die Faunbar und ins Haus Vaterland, zwei feine Nachtklubs, die den Krieg �berstanden hatten. Meistens setzten wir uns an einen Tisch nah am Orchester, wo wir gut sehen und gesehen werden konnten, worauf es uns schlie�lich ankam. Eingedenk der �u�erst bescheidenen Umst�nde, unter denen wir lebten - Fred in einer Arbeiterwohnung und ich in einem Keller, wo das Regenwasser durch die Decke kam -, am�sierte mich unser weltm�nnisches Image und die Aufmerksamkeit, die unser Erscheinen ausl�ste. Fred scheute keine Kosten und M�hen, um diesen Schein zu wahren. So hielt er beispielsweise eines Tages, als wir mit zwei tollen Frauen verabredet waren, ungef�hr drei Querstra�en vom Haus Vaterland entfernt einen todschicken Wagen mit einem distinguierten Herrn am Steuer an. Fred hielt drei Zigaretten, also einen Gegenwert von f�nfzehn Mark, hoch und fragte den Herrn, ob er wohl so nett w�re, uns bis zum Haus Vaterland mitzunehmen, da wir einen �wichtigen Termin� h�tten und sp�t dran seien. Der Fahrer nahm die Zigaretten und fuhr uns die wenigen Schritte bis zum Klub. Als wir aus dem Wagen stiegen, waren die auf uns wartenden Damen sichtlich beeindruckt, und obwohl wir den gr��ten Teil der Strecke mit der Stra�enbahn gekommen waren, erz�hlte Fred den M�dchen l�ssig, �ein guter Freund� h�tte uns hergebracht.
Auf Tournee - in Oldenburg
Als ich an einem bitterkalten Januartag wie �blich zum Unterricht in die Wohnung von Kapellmeister Fuller kam, er�ffnete der alte Herr mir, dass er mich gerade als dritten Saxofonisten in einer Band untergebracht habe, die noch am selben Abend mit dem Bus nach Oldenburg fahre. Wenn er mir gesagt h�tte, die Reise ginge nach Paris oder London, ich h�tte nicht begeisterter sein k�nnen. Das Einzige, was mir Sorgen bereitete, war, dass ich in einer Gruppe spielen sollte, die ich �berhaupt nicht kannte. Was, wenn ich nicht gut genug f�r sie war? Aber Fuller fegte meine Zweifel vom Tisch und versicherte mir, dass ich jetzt in jeder deutschen Band mithalten k�nne. Einige Stunden sp�ter, nach einem hastigen Abschied und vielen gut gemeinten Ermahnungen von meiner Mutter, sa� ich im Bus mit den Mitgliedern des HeinzHegener-Orchesters. W�hrend der Fahrt legte mir mein neuer Boss, ein blonder Mann um die drei�ig, den ich mir kaum als Musiker vorstellen konnte, den Vertrag f�r mein einmonatiges Engagement vor. Ich sollte zweimal 350 Mark bekommen, die erste Zahlung nach zwei Wochen Arbeit. 700 Mark! Das war mehr, als ich in drei Monaten als Schlosser verdient hatte. Als unser Bus im kanadisch besetzten Oldenburg eintraf, war es schon nach Mitternacht, und die schmalen gewundenen Gassen wirkten verlassen. Oldenburg, so wurde mir rasch klar, war nicht gerade eine Weltstadt. Wir Musiker wurden in verschiedenen kleinen Hotels und Gasth�fen untergebracht und sollten uns am n�chsten Morgen im kleinen Stadttheater zur Probe
treffen. Ich landete in einem winzigen Gasthof am Stadtrand. Es gab keine Zentralheizung, und mein Zimmer kam mir vor wie ein begehbarer K�hlschrank, denn selbst das Wasser im Waschkrug war gefroren. Mein einziger Schutz gegen die schneidende K�lte war ein riesiges Bauernbett mit dicker Daunendecke und ballonartigem Daunenkissen, so dass mir mollig warm wurde. Am n�chsten Morgen, nach einem �u�erst frugalen Fr�hst�ck bestehend aus trockenem Brot und einer Tasse Muckefuck, konnte ich meine Kollegen bei der Probe etwas genauer in Augenschein nehmen. Die meisten waren in den Vierzigern, einige wohl noch �lter. Au�er uns Musikern gab es die Entertainer - S�nger, T�nzer, einen Zauberer, einen Clown, Jongleure und Akrobaten , deren Nummern wir musikalisch begleiten sollten. Unsere Premiere war ein rauschender Erfolg. Das kleine Theater war bis auf den letzten Platz ausverkauft. Zwischen alten und jungen Oldenburgern dr�ngten sich auch einige Kanadier, darunter ein paar Schwarze, die ihre deutschen Freundinnen begleiteten. Nach jedem Auftritt gab es tosenden Applaus, und nach dem Finale nahm das ganze Ensemble die Ovationen des Publikums entgegen. Ausgestattet mit einem speziellen Ausweis, der es mir erlaubte, nach der Sperrstunde noch unterwegs zu sein, ging ich anschlie�end durch die eisigen, schwach erhellten Stra�en zu meinem Gasthof. Pl�tzlich h�rte ich eine Frau um Hilfe schreien. Als ich in die Richtung lief, aus der die Rufe kamen, sah ich einen gro�en kanadischen Soldaten, der eine junge Deutsche in einen Hauseingang gedr�ckt hatte und ihr den Mantel und Rock aufriss.
Mir fiel auf, dass sich trotz der Schreie der Frau nicht ein einziges Fenster �ffnete. Da ich nicht genau wusste, was ich machen sollte, tippte ich dem Soldaten auf die Schulter und sagte: �H�ren Sie auf, Mister! Lassen Sie die Frau los!� Der Mann wandte sich um, und sein alkoholger�tetes Gesicht und die blutunterlaufenen Augen verrieten mir, dass ich bei ihm auf taube Ohren stie�. �Fuck off!�, zischte er mich mit seinem �bel riechenden Atem an und griff nach seiner Pistole. �Fuck the hell off!� Da ich unbewaffnet war und auch keine M�glichkeit sah, Hilfe zu holen, ging ich weg, doch die verzweifelten Schreie der Frau hallten in mir noch lange nach. Noch viele Jahre sp�ter qu�lte mich die Frage, was ich damals vielleicht h�tte anders machen k�nnen. Leider war der anf�ngliche Erfolg unserer Show nur von kurzer Dauer. Von Abend zu Abend halbierte sich die Anzahl der Zuschauer, so dass wir schon am vierten Abend praktisch vor leerem Haus spielten. Aber anstatt die Vorstellung abzusagen, beschwor Bandleader Hegener uns, trotzdem aufzutreten. Dann teilte er uns mit, dass wir uns am n�chsten Tag mittags im Theater treffen w�rden, um zu entscheiden, wie es weitergehen sollte. Niedergeschlagen, hungrig, frierend und die F��e voller Frostbeulen, zog ich mich an diesem Abend in mein ungeheiztes Zimmer zur�ck. So hatte ich mir das Leben eines Musikers auf Tournee nun wirklich nicht vorgestellt. Als ich am n�chsten Tag ins Theater kam, spekulierten bereits alle wild �ber das Schicksal der Show, nur Hegener war nicht da. Schlie�lich ging ein Musiker in Hegeners Hotel, um ihn zu holen, und kam mit der ern�chternden Nachricht zur�ck, dass Hegener und seine
Frau heimlich die Stadt verlassen hatten. Zun�chst herrschte fassungsloses Schweigen, doch dann brach ein Sturm der Entr�stung los, und wir machten unserer Entt�uschung Luft, indem wir uns gegenseitig darin �berboten, uns auszumalen, wie man Bandleader Hegeners elende Existenz auf Erden beenden sollte. Wir waren uns alle darin einig, dass wir von dem Geld, das Hegener uns schuldete, wohl keinen Pfennig sehen w�rden. Schlie�lich l�ste sich die Truppe, die sich kaum kennen gelernt hatte, ohne gro�e Sentimentalit�t auf. Einige Musiker wollten versuchen, in Bremen Engagements zu finden, andere wollten noch eine Weile in Oldenburg bleiben, bevor sie das Handtuch warfen. Wegen meiner entsetzlich schmerzenden Frostbeulen an den F��en, die jeden Schritt zur Qual machten, beschloss ich, gleich am n�chsten Morgen den ersten Bus nach Hamburg zu nehmen. Als ich schlie�lich nach f�nft�giger statt einmonatiger Abwesenheit wieder in unserer Kellerwohnung ankam, mit schmerzenden F��en, hungrig, vor K�lte zitternd, todm�de und v�llig pleite, �berlie� ich mich nur allzu gern der liebevollen F�rsorge und Pflege meiner Mutter. Nach ein paar Tagen hatte sie mich aufgep�ppelt, und ich war wieder bereit, das Leben erneut in Angriff zu nehmen.
Es geht aufw�rts
Eines Tages kam ein Brief vom Wohnungsamt der britischen Milit�rregierung, bei dem ich als Opfer der N�rnberger Rassengesetze wiederholt eine Wohnung f�r meine Mutter und mich beantragt hatte. Der Brief setzte uns davon in Kenntnis, dass f�r uns am Hittfelder Stieg in Othmarschen, einem der besseren Stadtteile an der Elbe, zwei R�ume einer Wohnung requiriert worden seien und dass wir diesen Brief den Wohnungseigent�mern vorzulegen h�tten. Meine Mutter und ich begaben uns also mit unserem Berechtigungsschreiben zu der angegebenen Adresse, einem schmucklosen, dreist�ckigen Doppelhaus, dessen eine H�lfte von einer Bombe praktisch wegrasiert worden war, und wurden von unseren neuen Vermietern, Herrn und Frau Flemming, und von ihren beiden erwachsenen S�hnen begr��t, von denen der �lteste bis vor kurzem Leutnant in der deutschen Marine gewesen war. Sie schienen nicht gerade begeistert dar�ber, Untermieter aufnehmen zu m�ssen, bem�hten sich aber wenn auch erfolglos -, uns ihren Widerwillen nicht allzu deutlich sp�ren zu lassen. Ich wusste nicht, wieso ausgerechnet sie auf die Wohnungsliste der Milit�rverwaltung gekommen waren, denn nicht alle Deutschen waren verpflichtet, Wohnungslose aufzunehmen, aber es war mir auch egal. Sie hatten die Bombardierungen unbeschadet �berstanden und nicht ihr ganzes Hab und Gut verloren. Daher empfand ich kein Mitleid f�r sie, weil sie zwei Zimmerchen vermieten mussten. Die R�ume waren winzig klein und lagen auf zwei Etagen, aber sie waren oberirdisch, und es tropfte nicht von der
Decke. F�r meine Mutter und mich, die wir uns daran gew�hnt hatten, wie Maulw�rfe in �bel riechenden, feuchtkalten Kellern zu hausen, bedeuteten diese Zimmer die R�ckkehr in die Zivilisation. Schon allein die M�glichkeit, barfuss �ber einen sauberen Holzboden zu gehen statt �ber rauen, immer feuchten und immer kalten Estrich, erschien uns als himmlischer Luxus. Wie die meisten Vororte war Othmarschen von den alliierten Bomben weitestgehend verschont geblieben. Wir konnten also wieder Stra�en entlanggehen, deren B�rgersteige und H�user noch unversehrt waren, und mussten uns nicht mehr schmale Trampelpfade �ber Tr�mmerberge suchen. Au�erdem war ich froh, das Stigma loszuwerden, in einem rattenverseuchten Kellerloch unter den Ruinen eines zerbombten Hauses zu wohnen. Unser neues Zuhause lag nur wenige Haltestellen von Blankenese entfernt, was mir die willkommene Gelegenheit bot, endlich mal wieder die Giordanos zu besuchen, die in eine weitl�ufige Villa an der Elbchaussee gezogen waren. Sie waren alle wohlauf, und wie �blich war etwas los bei ihnen. Der Grund ihrer Aufregung war diesmal der frisch eingetroffene Familienzuwachs, ein kleines M�dchen. Ralph und Egon hatten fast nur Augen f�r die kleine Schwester, die sie unabl�ssig h�tschelten, w�hrend sie mir von ihren verschiedenen journalistischen Aktivit�ten berichteten. Mir fiel vor allem eine radikale Ver�nderung in Ralphs politischer Einstellung auf. W�hrend er noch wenige Monate zuvor von unseren britischen und amerikanischen Befreiern begeistert gewesen war, schimpfte er nun erbittert �ber die �Kapitalisten�, die, wie er beteuerte, die Massen ausbeuteten und mit den
Nazis gemeinsame Sache machten. �Warte nur, bis du in dein wunderbares Amerika kommst�, sagte er zu mir. �Dann wirst du schon sehen, was ich meine.� Ralph war Mitglied der KPD und Korrespondent des Parteiorgans Hamburger Volkszeitung geworden. Ich war sicher, dass hinter Ralphs drastischem Gesinnungswandel die Entt�uschung �ber die laxe Behandlung ehemaliger Nazis durch die Alliierten stand. Auch ich hatte damit gro�e Probleme, aber ich war einfach zu westlich orientiert, und mein Interesse am dialektischen Materialismus war zu vage, als dass ich das Kind mit dem Bade ausgesch�ttet und meinen amerikanischen Traum so einfach aufgegeben h�tte. Aber ich beschloss, dass unsere Freundschaft nicht unter den politischen Differenzen leiden sollte. Wir hatten zu viel zusammen durchgemacht, als dass uns die Frage Kapitalismus oder Kommunismus h�tte auseinander bringen k�nnen.
Alkazar
Eines Tages begegnete ich zuf�llig meinem alten Kollegen Addi Wulf, dem Tenorsaxofonisten, und er lud mich ein, doch mitzukommen und gemeinsam mit ihm einem Mann namens Rolf Wehlau vorzuspielen, der gerade eine vierundzwanzigk�pfige Tanzkapelle zusammenstellte. Addi wusste, dass Wehlau ausschlie�lich junge Leute suchte und dass die Truppe in nur einem Monat f�r ein Engagement im Alkazar vorspielen sollte. Das Alkazar war das gr��te Ballhaus der Stadt, und die Vorstellung, dort zu spielen, war so verf�hrerisch, dass ich mein Saxofon holte und zum Vorspielen mitkam, das in Wehlaus Junggesellenwohnung stattfand. Wehlau, ein schlaksiger Bursche Ende zwanzig mit modisch langem, braunem Haar und dem l�ngsten doppelreihigen Jackett, das ich seit ewigen Zeiten gesehen hatte, warf nur einen Blick auf mich und beschloss, dass er mich in seiner Band haben wollte. Es war offensichtlich, dass er mich mehr zu dekorativen Zwecken brauchte als wegen meiner musikalischen Qualit�ten, die er ja noch gar nicht kannte. Auch Addi wurde angeheuert. Der Haken bei der Sache war, dass unser Engagement davon abhing, ob die Band einen Monat sp�ter das Vorspielen im Alkazar bestehen w�rde. Um dieses Ziel zu erreichen, waren wir alle bereit, praktisch von morgens bis abends zu proben. Am Tag des Vorspielens waren wir alle vollz�hlig eine Stunde vorher da. Einen ganzen Monat lang hatten wir fast ununterbrochen geprobt, und wir waren sicher, dass es jenseits der Elbe keine hei�ere Tanzkapelle gab als uns. Deshalb waren wir schier �berrumpelt, als ein
kleiner, d�nner Mann mit einer Zigarre im Mund und einem weit nach hinten geschobenen Hut auf dem Kopf uns erkl�rte, er sei der Boss des Alkazar und wir sollten ihm jetzt Stars and Stripes Forever von John Philip Sousa vorspielen. �Ich wei�, dass ihr alle Noten lesen und die neusten Amischlager spielen k�nnt�, knurrte er. �Das interessiert mich einen Schei�dreck. Ich will wissen, wie gut ihr improvisieren k�nnt, und damit meine ich keine Jazzimprovisationen. Bei einem Varieteprogramm m�sst ihr n�mlich flexibel sein, um mit unerwarteten Problemen fertig zu werden. Es kann vorkommen, dass ein K�nstler nicht erscheint und ihr eine Ersatznummer begleiten m�sst, die ihr nicht kennt. Da sind dann Improvisationsk�nste gefragt.� Wir sahen uns verdattert an. Keiner von uns hatte die blasseste Ahnung, wer John Philip Sousa war, oder hatte je was von Stars and Stripes Forever geh�rt. Entnervt �ber so viel jugendliche Ignoranz, nahm der Boss des Alkazar seine Zigarre aus dem Mund und fing an, die ersten Takte eines Marsches zu pfeifen, der mir irgendwie bekannt vorkam. Langsam nahmen wir unsere Instrumente zur Hand und fielen vorsichtig mit ein zuerst leise, dann immer lauter. Als wir zum Schluss ein schmetterndes Finale hinlegten, das durch den ganzen Saal schallte, klatschte der Mann begeistert, und wir waren engagiert. �Ihr habt was drauf�, lobte er uns. �Ihr k�nnt improvisieren.� In der Tanzkapelle des Alkazar f�r sechshundertzehn Mark im Monat Saxofon zu spielen �berstieg meine k�hnsten Tr�ume. Ich wurde f�r etwas bezahlt - und noch dazu au�erordentlich gut -, das ich sogar gern umsonst gemacht h�tte.
Dank meiner exponierten Position als Saxofonspieler in einem der gr��ten Etablissements von Hamburg traf ich viele alte Bekannte aus der Kriegs- und Vorkriegszeit wieder, die zuf�llig im Publikum sa�en und mich wiedererkannten. Doch das Wiedersehen mit einem ganz bestimmten Menschen war besonders ergreifend und ist mir bis heute unvergesslich geblieben. Es war w�hrend einer Sonntagnachmittagvorstellung. Wir hatten Pause, und ich war auf dem Weg zur Bar, als eine seltsam vertraute Frauenstimme meinen Namen rief. Ich wandte mich um und sah eine gro�e sch�ne Rothaarige vor mir stehen, in der ich erst auf den zweiten Blick Gretchen wiedererkannte. Wir hatten uns fast drei Jahre nicht gesehen, und ihr Gesicht war in dieser Zeit noch sch�ner geworden, als ich es in Erinnerung hatte, aber ich entdeckte auch eine gewisse H�rte um Mund und Augen, die ich nie zuvor bei ihr wahrgenommen hatte. �Was machst du denn hier? �, fragte ich nicht gerade intelligent. �Ich bin mit meiner Mutter hier. Sie sitzt da dr�ben. Komm und sag ihr guten Tag.� Frau Jahn schien ehrlich erfreut, mich zu sehen. �Meine G�te, du bist ja richtig erwachsen geworden!�, rief sie, als sie mich sah. �Keine Spur mehr von dem jungen Burschen, den ich in Erinnerung hatte. � Ich h�tte gern mit Gretchen �ber so vieles gesprochen, aber in Frau Jahns Beisein f�hlte ich mich befangen. Gretchen schien es �hnlich zu ergehen. Offensichtlich sp�rte Frau Jahn unser Unbehagen, denn sie schlug vor, dass Gretchen und ich uns doch nach der Show noch ein wenig zusammensetzen und �ber die gute alte Zeit auf der St�ckenstrasse plaudern k�nnten; sie w�rde schon mal mit der Stra�enbahn nach Hause fahren.
Gretchen und ich waren sofort einverstanden. Nach der Vorstellung und einer hastigen Verabschiedung von Frau Jahn gingen wir zusammen an die Bar und erz�hlten uns, wie es uns seit unserer Trennung so ergangen war. Das Wiedersehen w�hlte all die alten, lange verdr�ngten Gef�hle in mir auf, die ich einst f�r das M�dchen empfunden hatte, das meine erste gro�e Liebe gewesen war. �Wei�t du was? Ich bin auch im Showgesch�ft�, �berraschte Gretchen mich. Dann erz�hlte sie mir, dass sie als Assistentin f�r einen Magier namens Bernd Carre arbeitete, der sie in einer Nummer zers�gte, um ihren vermeintlich halbierten Torso dann wieder zusammenzuf�gen. Ich fragte nicht nach, was f�r eine Art von Beziehung sie zu dem Magier hatte, aber es wurde deutlich, dass er mehr war als blo� ihr Chef. Ich musste daran denken, dass sie fr�her immer gesagt hatte, sie wolle bis zur Heirat Jungfrau bleiben, und schlie�lich konnte ich mich nicht l�nger zur�ckhalten. Ich fragte sie, ob sie ihrem Vorsatz von damals treu geblieben war. �Du willst wissen, ob ich noch Jungfrau bin? Nein, das bin ich nicht. Seit damals ist so vieles geschehen, wei�t du.� Diese Er�ffnung machte mich froh und traurig zugleich. Einerseits war ich erleichtert, weil ein gro�es Hindernis ausger�umt war. Andererseits war ich tief entt�uscht und gekr�nkt. Irgendwie hatte ich immer das Gef�hl gehabt, der Erste sein zu m�ssen, obwohl ich mir selbst eingestand, dass ich es absolut nicht verdient gehabt h�tte, wenn sie auf mich gewartet h�tte. Vermutlich las sie meine Gedanken, denn pl�tzlich sagte sie: �Ganz gleich, was geschehen ist oder noch geschehen wird, du wirst immer der erste Mann sein, den ich je geliebt habe.�
Als die Bar schloss, bot ich an, sie nach Hause zu begleiten. Sie wohnte ganz in der N�he, und als wir vor dem Mietshaus angelangt waren, in dem Gretchen ein kleines Zimmer im zweiten Stock bewohnte, lud sie mich noch ein, mit hinaufzukommen. Die ganze Nacht �ber versuchten wir beide, den alten Zauber wieder zum Leben zu erwecken, den wir empfunden hatten, als wir uns damals, knapp vierzehnj�hrig, zum ersten Mal k�ssten. Doch vergeblich. Irgendwie gelang es uns nicht, mehr f�reinander zu empfinden als reine Lust. Als wir uns schlie�lich ersch�pft in den Armen lagen und es f�r mich allm�hlich Zeit wurde zu gehen, gestanden wir uns wehm�tig ein, dass jener alte Zauber f�r immer verflogen war, weil unsere Unschuld ebenso wie unsere Jugend unwiederbringlich verloren war. Beim Abschied erz�hlte Gretchen mir, dass sie in K�rze mit ihrem Magier-Chef auf Tournee gehen w�rde und dass sie nicht wisse, wann sie wieder nach Hamburg k�me. Instinktiv wussten wir beide, dass wir uns nie wiedersehen w�rden und dass die gro�e Liebesgeschichte von Hans-J�rgen und Gretchen nun wirklich zu Ende war.
Smitty und Yankee-Werner
Eines Abends wurden meine Musikerkollegen und ich Zeugen eines seltsamen Schauspiels. Wir wollten gerade anfangen, als ein Kellner einen riesigen Schwarzen, der Louis Armstrong unheimlich �hnlich sah, zu einem reservierten Tisch unmittelbar vor uns geleitete. Der Schwarze trug eine Kakihose und eine Armeejacke, deren Taschen prall gef�llt waren. Nachdem er mir zugewunken und mich br�derlich angel�chelt hatte, griff er in eine der Taschen und holte ein so �ppig belegtes Brot hervor, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Ohne auf die begehrlichen Blicke zu achten, die auf ihm ruhten, schlug er seine gro�en schneewei�en Z�hne in die K�stlichkeit und verputzte sie binnen Sekunden. Anschlie�end zauberte er ein �hnlich volumin�ses belegtes Brot aus der anderen Tasche, das zum Leidwesen der hungrigen Deutschen um ihn herum das Schicksal des ersten teilte. Dann spuckten seine anscheinend unersch�pflichen Taschen eine halbe Stange Camel aus, der er eine Packung entnahm, um daraus wiederum eine Zigarette zu fischen, die er gen�sslich anz�ndete. Meine Kollegen hielten es nicht l�nger aus. �Wetten, dass er dir eine Packung schenkt, wenn du ihn fragst�, schlug einer vor. Der Gedanke war mir selbst schon gekommen, und so ging ich w�hrend der Pause zum Tisch des Fremden. �Ich bin Mickey�, stellte ich mich mit meinem Spitznamen vor. �Bist du ein amerikanischer GI?� �Nein�, erwiderte er. �Ich bin bei der Handelsmarine. Smitty ist mein Name. Wieso spielst du in einer Band
mit Krauts?� Ich erkl�rte ihm, dass ich eine deutsche Mutter h�tte und in Deutschland aufgewachsen sei. �Ich stamme aus Mobile, Alabama�, informierte er mich. �Bin auf der Appleton Victory direkt aus New York gekommen. Wir liegen noch ein paar Tage hier im Hafen.� Mit diesen Worten z�ndete er sich eine Zigarette an und fragte, ob ich rauche. Darauf hatte ich nur gewartet. �Klar�, sagte ich m�glichst l�ssig. Er reichte mir ein fast volles P�ckchen und sagte, ich k�nne es behalten. �Im Krieg war's bestimmt ganz sch�n hart hier�, mutma�te er. �Das ist es noch immer�, kl�rte ich ihn auf. �Vor allem kriegt man kaum was zu essen und so gut wie keine Zigaretten. Mit Zigaretten kann man sich alles kaufen, und ich meine wirklich alles�, betonte ich vielsagend. Smitty sah mich skeptisch an. Dann wiederholte er mit einem verschmitzten Zwinkern: �Alles?� Als ich das bejahte, reichte er mir noch eine Packung und bat mich um einen Gefallen: �Kennst du die gro�e Blonde aus dem Ballett?� �Ich kenne alle M�dchen im Ballett�, prahlte ich. �Sie hei�t Gerda.� Aber mir gefiel die Wendung nicht, die das Gespr�ch zu nehmen schien, deshalb fragte ich argw�hnisch: �Was soll ich denn machen?� �Frag sie mal, ob sie vielleicht zu uns an den Tisch kommt und sich mit mir fotografieren l�sst.� �Kein Problem�, versicherte ich ihm erleichtert und ein wenig besch�mt, weil ich voreilige Schl�sse gezogen hatte. Dann ging ich zu Gerda an die Bar. Smitty freute sich wie ein Kind, als Gerda nicht nur bereit war, sich mit ihm ablichten zu lassen, sondern das sogar Wange an Wange und beide Arme um ihn
geschlungen. In wenigen Minuten hatte die Fotografin des Alkazar die r�hrende Szene f�r die Nachwelt festgehalten - und bestimmt auch f�r Smittys neidische Kumpel daheim in Alabama. F�r unsere �M�he� bekamen Gerda und ich jeweils ein Erinnerungsfoto und eine Packung Camel, womit meine Ausbeute ungef�hr einer Wochengage entsprach. Bevor ich wieder an die Arbeit musste, dankte Smitty mir herzlich und lud mich ein, ihn am n�chsten Morgen an Bord seines Schiffes zu besuchen, wo er mich �versorgen� wollte. �Nimm die WSA-Barkasse und lass dich zur Appleton Victory bringen�, sagte er. �Und dann frag einfach nach Smitty. � Er erkl�rte, dass diese WSA-Barkasse ein kleines Motorboot sei, das US-Seeleute von ihren mitten auf der Elbe ankernden Schiffen kostenlos zum Hafen brachte und wieder zur�ck. Ich hatte zwar keine Ahnung, was er mit �versorgen� meinte, aber ich war fest entschlossen, sein Angebot anzunehmen. Ein amerikanisches Schiff zu betreten war f�r mich fast so gut, wie amerikanischen Boden zu betreten. Am n�chsten Morgen fragte ich mich im Hafen zu dem Kai in der N�he der Landungsbr�cken durch, wo ein gro�es Schild verk�ndete:
WAR SHIPPING ADMINISTRATION (WSA) LAUNCH ADMISSION RESTRICTED TO UNITED STATES MERCHANT MARINE PERSONNEL!
Mein Englisch reichte aus, um zu verstehen, dass deutsche Landratten nicht willkommen waren. Trotzdem beschloss ich, mein Gl�ck zu versuchen. Ungef�hr ein Dutzend M�nner wartete auf die Barkasse, �echte�
Amis, wie ich nach einem Blick auf ihre neu aussehende, amerikanische Kleidung bewundernd vermutete. Sie benahmen sich genau wie die Amis in den amerikanischen Filmen, die ich vor dem Krieg gesehen hatte. Einige rauchten, andere kauten Kaugummi, und manche taten beides gleichzeitig. Bis auf einen Mann, der einen Marinemantel und eine mit Goldlitzen besetzte Offiziersm�tze trug, waren alle auf verschiedenste Weise in Zivil gekleidet: Anz�ge mit breiten Schultern, weitkrempige H�te und bunte Krawatten, Freizeitkleidung und Kakihosen. Peinlich ber�hrt musterte ich meine plumpen �Sportschuhe� mit den selbst gemachten �Krepp�-Sohlen und die triste, sch�bige Hose, die ich anhatte. Die Hose war inzwischen so abgetragen, dass an den Knien schon meine Haut durchschimmerte.
Aber anscheinend schien niemand auf mich oder meine Kleidung zu achten, so dachte ich zumindest. Als ich mich n�mlich gerade ein wenig entspannte, kam ein schicker junger Mann mit einem, wie ich fand, typisch amerikanischen Gesicht auf mich zu. Er trug ein Kakihemd und eine -hose, wei�e Str�mpfe und ein Paar senkellose Sportschuhe. Sein blondes Haar war vorne vorsichtig in einen Pompadour gek�mmt und hinten, nach amerikanischer Mode, in einen �Entenschwanz�. Er sagte: �Hi� und bot mir eine Camel an. Dann fragte er, wo ich hinwolle. �Zur Appleton Victory�, antwortete ich in der Hoffnung, dass er zu einem anderen Schiff geh�rte. Zum Gl�ck ert�nte in diesem Augenblick das ohrenbet�ubende Tuten eines Nebelhorns, und ein Motorboot mit der amerikanischen Flagge am Heck n�herte sich der Anlegestelle. Ein junger Bursche sprang
mit einem dicken Tau in der Hand an Land und vert�ute das Schiff geschickt an einem st�hlernen Poller. So l�ssig, als h�tte ich mein ganzes Leben auf hoher See verbracht, folgte ich den M�nnern, die in die Barkasse sprangen. Das Boot legte wieder ab und steuerte in die Mitte der Elbe. Schon bald kam zu meinem Leidwesen der junge Mann mit dem typisch amerikanischen Gesicht wieder auf mich zu und bot mir noch eine Camel an. �Du bist kein Seemann, was?�, nahm er sein Verh�r wieder auf. �Stimmt�, gestand ich. �Ich besuche blo� einen Freund auf der Appleton Victory. � �Da will ich auch hin; ich habe auch Bekannte auf der Appleton Victory�, vertraute der junge Mann mir an. Wie sich herausstellte, hie� er ganz unamerikanisch Werner und wohnte mit seiner Mutter und einem j�ngeren Bruder auf St. Pauli. Sein Vater war Zahlmeister bei der United States Line, und er hatte ihn seit Kriegsbeginn nicht mehr gesehen. Werner stammte zwar geb�rtig aus Berlin, hatte aber vor dem Krieg mit seiner Familie zwei Jahre in Rutherford, New Jersey, und in New York gelebt. Au�erdem erz�hlte er mir, dass ihn seine Freunde wegen seines amerikanischen Stammbaums nur �Yankee-Werner� nannten. In den letzten Monaten hatte er viele amerikanische Schiffe besucht, und jeder Besuch hatte ihm etwas eingebracht. Da er so offen war, r�ckte auch ich mit der Wahrheit heraus. Werner riet mir, auf dem Schiff nichts von meiner liberianischen Herkunft zu erz�hlen, sondern stattdessen zu behaupten, mein Vater sei Amerikaner. Ich nahm Werners Rat an - was, wie ich damals nat�rlich nicht einmal ahnte, mein Leben auf ganz entscheidende Weise ver�ndern sollte. Werner wusste, dass die
Appleton Victory das erste Schiff war, an dem die Barkasse halten w�rde. �Da ist sie schon�, sagte er und zeigte auf einen schwarzen Frachter in der Ferne. Je n�her wir dem Schiff kamen, desto gr��er wurde es, bis es schlie�lich wie ein riesiger Felsen �ber unserer Nussschale aufragte. Ich sah, dass die gewaltige Schiffsschraube zum Teil aus dem Wasser ragte, was, wie Werner mir erkl�rte, darauf schlie�en lie�, dass das Schiff schon fast entladen war. Ich hatte mich schon gefragt, wie wir an Bord gelangen sollten, und als mir schlie�lich die be�ngstigende Wahrheit d�mmerte, verfluchte ich Smitty innerlich. Man musste n�mlich eine endlos lange Strickleiter mit Holzstreben hinaufklettern, die im Wind hin und her schwankte. Au�erdem schaukelte die Barkasse so heftig, dass es schwierig war, die Leiter �berhaupt zu fassen zu kriegen. Au�er Werner und mir wollten noch drei Seeleute auf die Appleton Victory. Werner, der meine Beklemmung bemerkte, versuchte, mich zu beruhigen: �Gut festhalten und nicht nach unten gucken�, riet er mir. Ich fasste mir ein Herz, sprang hoch, bekam die Leiter zu packen und kletterte und kletterte und kletterte, ohne nach oben oder unten zu sehen. Nach einer halben Ewigkeit kam ich schlie�lich oben an, schwang mich �ber die Reling und auf Deck. Werner und die drei anderen kamen kurz darauf nach. �Dann mach's mal gut und bis bald�, sagte Werner, bevor er durch eine T�r verschwand. �Was wollen Sie?�, fragte mich ein Mann in schmutziger Kakihose und mit einer ebensolchen M�tze mit Goldlitze. �Ich m�chte zu Smitty�, erwiderte ich. �Smitty!�, br�llte mein Gegen�ber. �Du hast Besuch!� Sekunden sp�ter tauchte Smitty in der T�r auf, durch die
Werner verschwunden war. Er war ganz in Wei� gekleidet und trug eine dreckige Sch�rze. �Da bist du ja�, begr��te Smitty mich mit einem breiten L�cheln und streckte mir seine gro�e Pranke entgegen. �Du kommst gerade rechtzeitig zum Essenfassen.� Dann ging er mit mir in die Komb�se. �Chief, das ist Mickey, ein Freund von mir�, sprach er einen h�nenhaften Schwarzen an, neben dem selbst der massige Smitty nur durchschnittlich gro� wirkte. Auch der H�ne war ganz in Wei� gekleidet, trug aber noch dazu eine hohe Kochm�tze. �Das ist der Chefkoch, mein Boss�, erkl�rte Smitty. �Hi, Mickey�, begr��te mich der verschwitzte H�ne und wischte sich Gesicht und H�nde mit einem Handtuch ab. �Wie w�r's, wenn du dem jungen hier 'ne ordentliche Portion zurechtmachst, chief? Der hat n�mlich schon seit Jahren nichts Anst�ndiges mehr im Bauch gehabt�, sagte Smitty. �Wird prompt erledigt�, antwortete der Koch. Smitty f�hrte mich in die Mannschaftsmesse, und Minuten sp�ter setzte er mir einen Teller vor, auf dem sich das Essen nur so t�rmte Kartoffelp�ree, ein Schweinekotelett, etliche Frikadellen, zwei Spiegeleier, Gem�se, und das Ganze schwamm in Bratenso�e. Als ich Smitty sagte, dass ich davon auch meiner Mutter etwas mitbringen m�sse, versicherte er, dass er mir ein �Fresspaket� f�r zu Hause mitgeben w�rde. Damit war die letzte Hemmschwelle beseitigt, und ich fing an zu futtern wie noch nie in meinem Leben. Die anderen Besatzungsmitglieder, die sich an meinen Tisch gesetzt hatten, staunten nicht schlecht, wie rasch ich mit Messer und Gabel die Berge von Essen auf meinem Teller abtrug. W�hrenddessen unterhielt Smitty sie mit der Geschichte meines Lebens ein �Bruder�, der die Bombenangriffe auf Hamburg
�berlebt hatte. Als der Teller leer war, kam Smitty mit einer Dessertsch�ssel, in der drei tennisballgro�e Eiscremekugeln fast in Erdbeerso�e ertranken. Dazu gab es ein gro�es St�ck Obsttorte und einige Scheiben Ananas. Zum Erstaunen meiner Zuschauer verputzte ich auch den Nachtisch bis auf den letzten Kr�mel. Anschlie�end half ich Smitty die Messe aufr�umen und ging dann mit ihm in seine Kaj�te, die er sich mit Slim teilte, einem gro�en, d�nnen Burschen mit Spitzbart. Jetzt war ich an der Reihe mit Fragen. Seit ich als Kind Onkel Toms H�tte gelesen hatte, wusste ich um die schlechte Behandlung der Schwarzen in Amerika. Als ich nun fragte, wie Schwarze in Amerika behandelt w�rden, antworteten beide wie aus einem Munde: �Beschissen!� Dann erkl�rten sie, dass die St�dte im Norden, beispielsweise New York, Chicago oder Detroit, �einigerma�en in Ordnung� seien, dass es aber im S�den, egal wo, immer noch �beschissen� sei. �Und wie kommt ihr mit den Wei�en hier auf dem Schiff klar?�, wollte ich wissen. �Gar nicht�, erwiderte Smitty. �Wir machen unsere Arbeit und k�mmern uns um uns, und die machen ihre Arbeit und k�mmern sich um sich. Anders ausgedr�ckt, wir haben nichts mit ihnen zu tun und die nichts mit uns.� Schlie�lich machten Smitty und ich uns bereit, an Land zu gehen. Ich hatte meinen freien Tag und wollte Smitty St. Pauli zeigen. Aber vorher machte Smitty mir noch ein gro�es Fresspaket f�r meine Mutter und mich zurecht. Au�erdem packte er eine T�te voller Kleidungsst�cke f�r mich: eine ganz neue Kakihose, wei�e Unterw�sche, einige Paar wei�e Socken, zwei knallbunte Krawatten - und eine Stange Chesterfield.
Ich wusste gar nicht, wie ich ihm danken sollte. Allein die Zigaretten waren auf dem Schwarzmarkt rund tausend Mark wert, mehr, als ich im Monat verdiente, und die Lebensmittel waren sowieso unbezahlbar. Als ich Smitty sagte, dass ich mich f�r seine Gro�z�gigkeit niemals w�rde erkenntlich zeigen k�nnen, sagte er blo�: �Vergiss es.� Das habe ich allerdings nie getan. Als wir an Deck eilten, um die letzte WSA-Barkasse f�r den Abend nicht zu verpassen, warteten dort bereits etliche Seeleute, einschlie�lich des Chefkochs, und mir fiel auf, dass sie in getrennten Gr�ppchen standen: Schwarze und Wei�e. Um kurz vor sieben h�rten wir das Nebelhorn tuten und sahen die Barkasse auf uns zukommen. Zu meinem Gl�ck war diesmal die Gangway heruntergelassen, so dass mir der Abstieg �ber die Strickleiter erspart blieb. Gerade als wir auf die Gangway traten, kam Werner mit zwei Wei�en auf Deck. Auch er war mit etlichen Paketen beladen, in denen sich vermutlich ebenfalls �Spenden� befanden. Als ich ihm erz�hlte, dass Smitty irgendwohin wollte, wo richtig was los w�re, ich mich aber auf St. Pauli nicht auskannte, riet er mir, mit ihm in die Harms Bar auf der Bernhard-Nocht-Stra�e zu gehen. �Da ist mehr los, als er verkraftet�, versprach Werner. Dann erkl�rte er, dass im Harms alle M�dchen Prostituierte seien, ganz gleich, wie sie auss�hen, und dass der Tarif derzeit bei einer Schachtel Zigaretten f�r einen �Quickie� l�ge und bei bis zu f�nf Schachteln f�r eine ganze Nacht. �Frag nach Hannelore�, f�gte er hinzu. �Sie k�mmert sich um alles. Und gib dich als amerikanischen Seemann aus. Wenn die merken, dass du Deutscher bist, sagen sie dir noch nicht mal die Uhrzeit.� Dann warnte er mich davor, in die Irish Bar gleich um die Ecke zu gehen. �Da h�ngen
nur wei�e Amerikaner rum�, erl�uterte er, �und es gibt blo� 'ne Schl�gerei.� Die Harms Bar lag nur ein kurzes St�ck zu Fu� von der Anlegestelle entfernt. Sobald wir eintraten, lie� ein Akkordeonspieler einen schwungvollen amerikanischen Schlager erklingen. Offensichtlich wollte er etwas Leben in die Bude bringen, denn au�er ein paar gelangweilten jungen Frauen an einem Tisch war der Raum fast leer. Ein Kellner f�hrte uns zu einem Tisch gleich neben den Damen, und einige von ihnen signalisierten deutlich ihre Bereitschaft, sich zu uns zu setzen. Smitty wollte gleich alle her�berbitten, aber ich sagte ihm, er solle noch ein bisschen warten. Manche von den Frauen schienen kaum �lter als achtzehn zu sein, und alle sahen sie f�r meine unerfahrenen Augen gar nicht aus wie Huren. Anscheinend gingen sie davon aus, dass wir kein Deutsch verstanden, denn sie unterhielten sich laut �ber die Dinge, die sie am meisten an uns faszinierten. Zuerst spekulierten sie dar�ber, wie viele P�ckchen Zigaretten wir wohl dabeihatten, dann �ber den Inhalt meiner Pakete und schlie�lich �ber unsere Penisgr��e. Eine der �lteren unter ihnen, die angeblich aus Erfahrung sprach, behauptete, alle Schwarzen w�ren wie Hengste gebaut. �Bei denen musst du f�r dein Geld viel mehr ran als bei den wei�en Amis�, erz�hlte sie ihren Kolleginnen, �aber daf�r behandeln sie dich auch viel besser.� Ohne mir anmerken zu lassen, dass ich Deutsch sprach, erkundigte ich mich auf Englisch beim Kellner nach Hannelore. �Die sitzt da vorne; die gro�e Rothaarige�, antwortete er und zeigte auf den Damentisch.
�Fragen Sie sie bitte, ob sie an unseren Tisch kommen m�chte?�, sagte ich und hielt ihm eine offene Packung Chesterfield hin, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Hannelore war um die drei�ig, hatte fabelhafte Beine, �ppige Br�ste und einen leichten Silberblick. Als ich ihr sagte, dass ein Bekannter namens Werner uns empfohlen hatte, nach ihr zu fragen, wurde sie gleich sehr freundlich und setzte sich zu uns. In gebrochenem Englisch erkl�rte sie, dass Yankee-Werner und sie gut befreundet seien. Wir sollten ihr nur sagen, was wir wollten, sie w�re uns gerne behilflich. Ohne gro�e Umschweife erkl�rte ich mit gespieltem amerikanischen Akzent: �Smitty und ich sind von der Appleton Victory. Er sucht eine nette, h�bsche Begleitung bis morgen fr�h um sechs. Dann muss er wieder auf sein Schiff. � �Und du?�, wollte Hannelore wissen. �Ich hab schon eine Freundin�, log ich, entschlossen, mich nicht ablenken zu lassen, weil ich es kaum erwarten konnte, meiner Mutter die kulinarischen Sch�tze von der Appleton Victory zu bringen. Als Hannelore sich erkundigte, was f�r einen Frauentyp Smitty denn bevorzugte, passte seine Beschreibung rote Haare, gro�, sch�ne Beine - so genau auf sie, dass Hannelore rasch kapierte. �Wie w�r's mit mir?�, fragte sie. Smitty war mehr als einverstanden. Allm�hlich f�llte sich die Bar mit weiteren Frauen und anderen schwarzen Amerikanern, darunter auch einige von der Appleton Victory. Ein paar von ihnen gesellten sich zu uns an den Tisch, wo Smitty ihnen mit einem stolzen Blick auf Hannelore an seiner Seite zu verstehen gab, wie gut er versorgt war.
Die Zeit verging wie im Fluge, bis jemand bemerkte, dass es schon nach Mitternacht war und mir einfiel, dass die letzte Bahn nach Othmarschen in weniger als einer halben Stunde fuhr. Also erinnerte ich Hannelore noch einmal daran, dass mein Kumpel am n�chsten Morgen um sechs Uhr die Barkasse zu seinem Schiff nehmen musste, und verabschiedete mich von Smitty. Dann nahm ich meine T�ten, die ich unter dem Stuhl verstaut hatte, w�nschte allen noch eine angenehme Nacht und machte mich auf den Heimweg. Am n�chsten Tag beschloss ich, noch einmal zur Appleton Victory zu fahren. Die mageren Jahre hatten mich gelehrt, keine Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen. Als ich gegen Mittag in meiner neuen Kakihose an der Anlegestelle erschien, wartete dort schon Werner, der mir, beeindruckt von meiner optischen Verwandlung, ein ungeheures Kompliment machte: �Du siehst aus wie ein Ami. Wenn ich dich nicht kennen w�rde, h�tte ich dich f�r echt gehalten.�
Ein deutscher Ami
In den folgenden Wochen durchlief ich eine erstaunliche Ver�nderung. Nachdem Werner mich davon �berzeugt hatte, dass auf amerikanischen Schiffen viel Geld - das hei�t Zigaretten - zu holen war und dass meine exotische Erscheinung mich f�r lukrative Gesch�fte - das hei�t Schwarzmarktgesch�fte - mit schwarzen Seeleuten geradezu pr�destinierte, setzte ich alles daran, so auszusehen, so zu klingen, so zu wirken und so zu denken wie ein Amerikaner. Bald hatte ich mir eine komplette Garderobe made in USA zusammengehamstert. Zus�tzlich verabschiedete ich mich von meiner langhaarigen Swingboy-Frisur, die ich mit gewaltigen Mengen Pomade liebevoll gepflegt hatte, und trug von nun an einen Haarschnitt, der an den Seiten und im Nacken k�rzer war. Unter Werners Anleitung gew�hnte ich mir an, wie ein Amerikaner zu essen, also ohne Messer und mit der Gabel in der rechten Hand. Au�erdem half Werner mir, meinen rasch wachsenden englischen Wortschatz zu amerikanisieren und typisch britische Ausdr�cke durch amerikanische zu ersetzen. �u�erst lehrreich waren auch amerikanische Filme, die h�ufig im Urania liefen, einem Kino in der Innenstadt, in das eigentlich nur alliierte Soldaten durften. Durch diese Filme lernte ich erstmals das klassische amerikanische Freizeitvergn�gen Baseball kennen und machte Bekanntschaft mit einem ziemlich rauen Sport, bei dem der Ball �berwiegend getragen und geworfen wurde, der aber aus unerkl�rlichen Gr�nden football hie�.
Um in �bung zu bleiben und damit unsere Tarnung nicht aufflog, unterhielten Werner und ich uns nur auf Englisch. F�r Amerikaner gehalten zu werden hatte n�mlich viele Vorteile. So konnte man beispielsweise kostenlos in den bequemen, weil relativ leeren, f�r die Alliierten reservierten Stadtbahnwagen fahren. Au�erdem wurden wir von Deutschen respektvoller behandelt. Da die deutsche Polizei f�r alliiertes Personal nicht zust�ndig war, schikanierten sie uns nie so wie ihre eigenen Landsleute. Unsere Verstellung hatte aber auch einen Nachteil. Wir konnten noch so hungrig sein, wir mussten darauf verzichten, unsere knurrenden M�gen an deutschen Gark�chen auf der Stra�e zu f�llen. Schlie�lich war bekannt, dass alliierte Soldaten sich jeden Tag die B�uche voll schlagen konnten, und kein Mensch h�tte uns geglaubt, dass wir Amerikaner waren, wenn man uns gesehen h�tte, wie wir eine Portion gekochten Kohl verschlangen. Ich erinnere mich noch gut, wie meine Ami-Nummer einmal geh�rig danebenging. Ich hatte im Haus Vaterland eine junge Dame kennen gelernt und begleitete sie nach Hause. Den ganzen Abend �ber hatte sie sich mit den paar Brocken Englisch, die sie seit Kriegsende aufgeschnappt hatte, abgem�ht, um sich mit mir zu unterhalten. Doch trotz der kleinen �Sprachbarriere� lie� sich alles gut an, und ich hatte Grund zu der Annahme, dass wir am Anfang einer sch�nen Beziehung standen. Als ich ihr sp�ter in der UBahn angeregt vom Leben in Amerika erz�hlte und sie fasziniert an meinen Lippen hing, ersp�hte ich pl�tzlich am anderen Ende des Wagens einen alten Bekannten von
fr�her, den ich schon seit ein paar Jahren nicht mehr gesehen hatte. Bevor ich reagieren und in einen anderen Wagen fl�chten konnte, kam er schon auf mich zu und rief so laut, dass alle es h�ren konnten: �Hans-J�rgen, bis du datt? Ik heff die bino nich wedder erkannt mit den Bort.� In einem vergeblichen Versuch, meine Ehre zu retten, sah ich meinen alten Bekannten befremdet an und sagte auf Englisch: �I don't know what you're talking about.� Mein Bekannter war verunsichert, musterte mich noch einmal genau, sch�ttelte dann den Kopf und wandte sich ab, eine Entschuldigung vor sich hin murmelnd. Ich h�tte ihm gerne erkl�rt, dass ich tats�chlich Hans-J�rgen aus Barmbek war, im Augenblick aber als Mickey aus Amerika auftrat. Aber ich war im eigenen Netz gefangen. Als wir aus der Bahn stiegen, funkelte mich meine Begleiterin aus eiskalten unvers�hnlichen Augen an. �Ich mag es nicht, wenn man mich anl�gt�, sagte sie, �und schon gar nicht bei der ersten Begegnung. Auf Wiedersehen, Hans-J�rgen oder Mickey oder wie immer du hei�t. � �Warte doch, ich kann dir das erkl�ren�, flehte ich. Aber sie wollte nichts mehr von mir wissen, und im Grunde konnte ich es ihr auch nicht ver�beln. Ohne mir noch Gelegenheit zu geben, ein Wort zu meiner Verteidigung zu sagen, drehte sie sich um und verschwand aus meinem Leben.
Auf Tournee mit den Drei Ah-Yue Hon Lous
W�hrend einer Pause im Alkazar fragte mich einer der Solok�nstler, ein junger, asiatisch aussehender Steppt�nzer namens Ah-Yue Hon Lou, ob er mich nach der Vorstellung mal sprechen k�nne, und wir vereinbarten, uns gleich nach der letzten Nummer an der Bar zu treffen. Als ich dort hin kam, sa� er bereits an der Theke. Er trug einen eleganten grauen Doppelreiher und rauchte mit einer langen silbernen Zigarettenspitze. Zum ersten Mal hatte ich Gelegenheit, ihn aus der N�he zu betrachten. Er war zartgliedrig und doch athletisch gebaut, hatte gro�e, mandelf�rmige Augen, hohe Wangenknochen und langes, schwarzes, welliges Haar Haare, f�r die ich als Kind wer wei� was gegeben h�tte. Nachdem er mir die Hand gereicht und gesagt hatte, seine Freunde w�rden ihn Yue nennen, gab er mir eine Zigarette aus einem teuer aussehenden silbernen Etui und z�ndete sie mit einem dazu passenden Feuerzeug an. �Ich habe ein Angebot f�r dich, das f�r uns beide sehr vorteilhaft sein k�nnte�, er�ffnete er das Gespr�ch. Trotz seiner auff�llig exotischen Erscheinung sprach er wie ein waschechter Hamburger. Ich fand das seltsam, doch dann fiel mir ein, dass auch ich nicht gerade wie jemand aussah, dessen Wiege an der Elbe gestanden hatte. Bevor er genauer auf den Zweck unseres Treffens einging, erz�hlte er mir, dass er verheiratet und vor f�nfundzwanzig Jahren in Hamburg zur Welt gekommen sei. Sein deutscher Gro�vater war Seemann gewesen und hatte irgendwann in Shanghai Freundschaft mit einem jungen Chinesen geschlossen, den er nach Deutschland einlud. Eines Tages stand der junge Mann dann
tats�chlich vor seiner T�r in Hamburg. Er lernte die Tochter des Seemanns kennen und heiratete sie. Diese Tochter wurde Yues Mutter. Sein Gro�vater und sein Vater starben, als er ein kleiner Junge war, doch seine Mutter, die es ihm auch erm�glichte, Stepptanz, Akrobatik und Schauspielerei zu lernen, lebte noch. Trotz seiner rassisch gemischten Herkunft war er als Freiwilliger von der deutschen Luftwaffe genommen worden und hatte im Krieg in einer Fallschirmj�gereinheit gedient. �Ich m�chte meine Tanznummer erweitern und mit zwei Partnern arbeiten�, fuhr Yue fort. �Ich hatte dabei an eine T�nzerin und an dich gedacht.� Als ich einwarf, dass ich keine Ahnung vom Stepptanz h�tte, erkl�rte er, dass ich auch gar nicht tanzen sollte. �F�r das Tanzen sind das M�dchen und ich zust�ndig�, erkl�rte er. �Du w�rdest uns nur auf dem Saxofon begleiten.� Er sagte, er habe schon einige M�dchen vortanzen lassen, und eine hielt er f�r vielversprechend. �Eine gute T�nzerin zu finden ist kein Problem�, versicherte er, �aber jemanden wie dich zu kriegen - einen, der wie ein Amerikaner aussieht und auch noch Saxofon spielen kann -, das ist in Deutschland nicht gerade einfach.� Yue wollte seine Gruppe - die Drei Ah-Yue Hon Lous als eine Art �musikalischen V�lkerbund im Kleinformat� ank�ndigen, ein Chinese, eine Deutsche und ein Amerikaner. Er sagte, ich sollte mir vorstellen, wie ich mitten auf der B�hne eine �fetzige Saxofonnummer� hinlegte, und zwar auf einem gro�en, trommelf�rmigen Reflektor stehend, der von innen beleuchtet w�re, w�hrend er und das M�dchen auf zwei kleineren Reflektoren rechts und links von mir steppten. Zur Kr�nung des Ganzen sollte als Hintergrund die
glitzernde Skyline von Manhattan bei Nacht zu sehen sein. Mir als eingefleischtem Amerika-Fan gefiel Yues Konzept nat�rlich, bis auf den geplanten chinesischen Namen der Gruppe, der meiner Meinung nach weder verst�ndlich noch ansprechend war. Die deutsche Nachkriegsjugend schw�rmte f�r Benny Goodman, Louis Armstrong und Harry James, nicht f�r Konfuzius und Mao Tse-tung. Aber als ich behutsam versuchte, Yue das klar zu machen, stie� ich auf hartn�ckigen Widerstand. Er meinte, mit einem schon bekannten Namen sei es leichter, Engagements zu bekommen. Meine letzten Bedenken wurden zerstreut, als Yue mir er�ffnete, dass er meine derzeitige Monatsgage beinahe verdoppeln w�rde und dass ich nicht wie bisher zwei Stunden pro Abend, sondern h�chstens f�nfzehn Minuten pro Auftritt arbeiten musste. Diesem Angebot, in einem Achtel der Arbeitszeit fast zweimal so viel zu verdienen, konnte mein frisch erwachter Gesch�ftssinn nicht widerstehen. Noch am selben Abend sagte ich zu. Nach Auslaufen meines Vertrages mit der Band am Ende des Monats w�rde ich einer von den Drei Ah-Yue Hon Lous werden. Die folgenden Wochen waren mit fieberhaften Aktivit�ten ausgef�llt, um unsere neue Show auf die Beine zu stellen. �ber eine Theateragentur war Yue ein Engagement in einem Variet� in Aussicht gestellt worden, das unterst�tzt vom British Army Welfare Service vor englischen Soldaten in Mittelund Westdeutschland auftreten sollte. Voraussetzung war jedoch, dass wir sp�testens eine Woche vor der geplanten Tournee vorspielen konnten. Yue intensivierte seine Suche nach einer geeigneten Tanzpartnerin und
entschied sich schlie�lich f�r eine seiner begabtesten Sch�lerinnen, eine Siebzehnj�hrige namens Ilse, ein klassischer M�dchen-vonnebenan-Typ. Ilse hatte noch nie professionell getanzt, und sie konnte ihren Eltern nur mit M�he die Erlaubnis abringen, mit uns auf Tournee zu gehen. Unter Yues unerm�dlichem Ansporn bereiteten wir drei stundenlang unsere Nummer vor; wir probierten Kost�me an, verfeinerten die Musik mit einem Arrangeur und dr�ngten immer wieder eine Firma f�r Theaterzubeh�r, unsere Requisiten rechtzeitig fertig zu stellen. Aber die Anstrengung lohnte sich. Am letztm�glichen Tag spielten die Drei Ah-Yue Hon Lous einer Kommission des British Army Welfare Service vor und wurden als Er�ffnungsnummer f�r die einmonatige Tournee engagiert. Erste Station war das malerische Bad Harzburg im Harz. Wir wurden von einem britischen Milit�rlastwagen vom Bahnhof abgeholt und zu einem kleinen Hotel gekarrt. Am n�chsten Morgen lernten wir w�hrend des typisch englischen Porridge-Fr�hst�cks und sp�ter bei den Proben ein paar unserer neuen Kollegen kennen, eine internationale Truppe gestandener K�nstler. Da war zum Beispiel eine zerbrechliche blonde Sch�nheit, angeblich eine polnische Adlige, die mit ihrer m�nnlich gekleideten Partnerin, die angeblich auch ihre Geliebte war, einen hei�en Apachentanz vollf�hrte. Da war Charlie Mascali, der Clown. Charlie, ein Berliner mit der sprichw�rtlichen Berliner Schnauze, war ein Zwerg mit dem Aussehen eines Filmstars. Seine Nummer bestand darin, dass er zehn St�hle �bereinander stapelte, hinaufkletterte, sich auf den obersten setzte und Zeitung las, w�hrend die turmhohe Konstruktion bedrohlich hin und her schwankte. Wenn das Ganze dann schlie�lich
nach hinten kippte, las Charlie scheinbar gedankenversunken seelenruhig weiter, um sich erst in allerletzter Sekunde durch eine �beraus weiche und elegante Rolle r�ckw�rts aus der Gefahr zu retten. Andere Mitglieder des Ensembles waren die Singenden Schwestern, zwei schwarzhaarige Sch�nheiten, die gar keine Schwestern waren, und Boris, ein attraktiver ungarischer Akkordeonvirtuose, der seinem Ruf als Romeo alle Ehre machte. R�ckblickend finde ich es erstaunlich, wie rasch ich, der gelernte Schlosser, mich an das ungezwungene Leben mit diesem bunten K�nstlerv�lkchen gew�hnte. Schon nach wenigen Wochen war mir, als h�tte ich nie ein anderes Leben gef�hrt.
Soir de Paris
Eine unvergessliche Zwischenstation auf unserer Tournee war Helmstedt, einer der Grenz�berg�nge zur Sowjetischen Besatzungszone. Dort waren Yue und ich in einem kleinen Gasthof untergebracht worden, w�hrend Ilse in einem anderen Gasthaus in der N�he wohnte. Als wir, todm�de von der stundenlangen Fahrt auf einem Laster, unser Zimmer betraten, h�rten wir Grammofonmusik und zwei Frauenstimmen aus dem Nebenzimmer, und unsere Lebensgeister erwachten schlagartig wieder. Wir stellten fest, dass die Zimmer eine Verbindungst�r hatten, vor der auf unserer Seite eine Kommode stand. Als �gute Nachbarn� stellten wir uns durch die verschlossene T�r hindurch vor, und zu unserem Vergn�gen entwickelte sich ein angeregtes Gespr�ch. Schlie�lich wurde die Kommode in beiderseitigem Einvernehmen beiseite geschoben und die T�r ge�ffnet. Eine angenehme �berraschung erwartete uns: zwei h�bsche junge Frauen, die offenbar ebenso wie wir nichts dagegen hatten, sich ein wenig zu am�sieren. Sie sagten, dass sie aus L�neburg k�men und auf dem Weg nach Magdeburg seien, um dort Verwandte zu besuchen. Als wir erz�hlten, dass wir in einem Variet� auftr�ten, und sie f�r den n�chsten Abend in unsere Show einluden, sagten sie spontan zu, obwohl sie urspr�nglich vorgehabt hatten, am n�chsten Morgen weiterzureisen. Besonders einpr�gsam f�r mich war der schwere Duft, der ihren ganzen Raum erf�llte und den ich bereits wahrgenommen hatte, als die T�r noch verschlossen gewesen war. Seine Quelle war anscheinend eine
metallblaue Flasche auf der Kommode mit der Aufschrift Soir de Paris. Damals wusste ich nicht, dass dieser Name und dieser Duft mich noch viele Jahre hindurch begleiten sollten. Es war schon sp�t, und die beiden Damen vertr�steten uns auf morgen. Yue und ich verabschiedeten uns also ergeben, gingen zur�ck in unser Zimmer und schoben die Kommode wieder an ihren Platz. Wir waren fest entschlossen, am n�chsten Tag nach der Probe da weiterzumachen, wo der Abend geendet hatte. Doch es kam alles ganz anders. Als wir gegen Mittag von der Probe zur�ckkamen, stand die Kommode nicht mehr vor der Verbindungst�r. Wir klopften bei unseren Nachbarinnen an, erhielten aber keine Antwort. Als wir schlie�lich in ihr Zimmer traten, stellten wir �berrascht fest, dass es v�llig leer war bis auf diesen verflixten, unverwechselbaren Soir de Paris-Duft. Die zweite �berraschung war, dass auch unser Zimmer praktisch ausger�umt war. Die beiden Diebinnen hatten uns freundlicherweise noch ein paar Sachen zum Anziehen dagelassen. Als wir nach unten hasteten und der Gastwirtin erz�hlten, was passiert war, sagte sie, dass die beiden Frauen sehr fr�h abgereist seien und jetzt schon l�ngst auf und davon in der Sowjetischen Zone sein m�ssten. Zum Gl�ck hatte ich mein Saxofon bei der Probe dabeigehabt, und wir hatten unsere Requisiten schon vorher am Theater abgegeben. W�ren uns die Sachen auch noch gestohlen worden, w�re das praktisch das Todesurteil f�r unsere Nummer gewesen. Nach etlichen hilflosen Wutausbr�chen mussten Yue und ich uns schlie�lich widerwillig eingestehen, dass wir weltgewandte K�nstler uns von zwei Landpomeranzen
hatten reinlegen lassen. Wir konnten uns nicht recht entscheiden, was schmerzlicher war, die blauen Flecken auf unserem Ego oder der Verlust unserer Sachen.
K�nstlerpause
Nach einem ungemein erfolgreichen Monat kehrten die Drei Ah-Yue Hon Lous wieder nach Hamburg zur�ck. Wir hatten vor, nach etwa einem Monat wieder auf Tournee zu gehen. Unsere Partnerin Ilse schl�pfte wieder in ihre urspr�ngliche Rolle als das nette M�dchen von nebenan. Yue, der unverbesserliche Unternehmer, machte da weiter, wo er als Schwarzh�ndler und treuer Ehemann aufgeh�rt hatte, und ich wandte mich wieder meinem neuen Hobby zu, n�mlich nach lukrativen Gesch�ften mit Amis Ausschau zu halten. Yankee-Werner teilte mir mit, dass ich gerade rechtzeitig zur�ckgekommen sei, um bei einem dicken Gesch�ft mitzumachen. Ein amerikanischer Seemann wollte zwanzig Stangen Zigaretten an Land schaffen genauer gesagt schmuggeln -, um damit eine nagelneue Leica-Kamera zu kaufen, die ihm ein Deutscher angeboten hatte. F�r uns, so erkl�rte Werner, sollten dabei weitere sechs Stangen herausspringen. Ohne zu z�gern, erkl�rte ich mich bereit mitzumachen. Obwohl das Schmuggeln von Zigaretten oder anderen Waren strafbar war, hatte ich keineswegs das Gef�hl, mich an einer unmoralischen oder unehrenhaften Transaktion zu beteiligen. Schlie�lich profitierten alle, wirklich alle, vom Schwarzmarkthandel. So konzentrierten wir unsere Energie also darauf, die Sache so geschickt und risikolos wie m�glich �ber die B�hne zu bringen. Werners Schmuggelplan sah eine kleine Bestechung vor, da er meinte, wir sollten nicht alles dem Zufall �berlassen, sondern selbst daf�r sorgen, dass wir keinen �rger bekamen, wenn wir mit unserer Schmuggelware an Land gingen. Also spazierten wir zu
dem britischen Posten auf den Landungsbr�cken und fingen eine freundliche Plauderei mit dem Diensthabenden Obergefreiten an. Der rothaarige Schotte, der uns treuherzig anvertraute, dass seine Freunde ihn Ginger nannten, erwies sich als echter Amerika-Fan, der alles Amerikanische liebte, vor allem aber amerikanische Zigaretten. Als wir ihm die rein hypothetische Frage stellten, wie man wohl am besten �ein paar Stangen mehr� an Land schaffen k�nnte, antwortete er, ebenfalls rein hypothetisch, dass die Chancen f�r eine solche Transaktion am n�chsten Tag w�hrend einer ganz bestimmten Zeitspanne optimal w�ren, da n�mlich er dann Dienst habe. Wir dankten ihm mit einer Packung Camel f�r diese wertvolle Information und versprachen, am n�chsten Tag wiederzukommen. Rund vierundzwanzig Stunden sp�ter stiegen Werner, ein schwarzer amerikanischer Seemann aus Brooklyn namens Jeff und ich von der Barkasse auf die Landungsbr�cke. Etliche Stangen Zigaretten beulten unsere Jacken aus, und uns schlug das Herz bis zum Hals. Zus�tzlich zu den Zigaretten, die er unter der Kleidung trug, hatte Jeff noch zwei prallgef�llte Taschen dabei. Ginger hatte tats�chlich Dienst, aber wir sahen noch einen zweiten britischen Posten, von dem er uns nichts erz�hlt hatte. Zuerst dachten wir, er h�tte uns reingelegt, doch w�hrend wir noch �berlegten, ob wir zur�ck auf die Barkasse springen sollten oder nicht, winkte Ginger uns in die winzige Wachstube. Dort beruhigte er uns l�chelnd, dass der andere Posten �ganz in Ordnung� sei und dass wir einfach durchgehen sollten. Erleichtert gab Werner ihm zwei Stangen Zigaretten, und wir marschierten fr�hlich von dannen. Das Schlimmste
hatten wir hinter uns -dachten wir zumindest. Wir waren etwa f�nf Minuten unter der Hochbahnbr�cke Richtung R�dingsmarkt gelaufen, als wir merkten, dass uns in einigem Abstand drei M�nner in dunklen M�nteln folgten. Pl�tzlich rief einer von ihnen: �Halt! Polizei! � Werner, der absichtlich ein St�ck hinter Jeff und mir hergegangen war, damit wir weniger auffielen, schrie: �Haut ab!� und fing an zu rennen. Als er merkte, dass die deutschen Zivilpolizisten dabei waren, ihn einzuholen, griff er unter seine Jacke und warf die sechs Stangen Zigaretten, die er bei sich trug, in unsere Richtung. Wie ge�bte Zirkusjongleure fingen Jeff und ich die Packungen im Laufen auf. Als ich noch einmal nach hinten blickte, sah ich, wie Werner von den Polizisten in die entgegengesetzte Richtung abgef�hrt wurde. Anscheinend lie�en unsere Verfolger Jeff und mich laufen, weil sie gegen�ber Staatsb�rgern der Besatzungsm�chte ohnehin keine Amtsgewalt hatten. Werner tat uns zwar Leid, aber wir konnten nichts f�r ihn tun. Nachdem wir mehrere Haken geschlagen hatten, um eventuelle Verfolger abzusch�tteln, gingen wir schlie�lich zur Adresse des Leica-Besitzers und wickelten das Gesch�ft zur Befriedigung aller Beteiligten ab. Jeff schoss allerdings den Vogel ab, denn er bekam eine Leica, die gut und gern vierhundert Dollar wert war, im Austausch f�r sechsundzwanzig Stangen Zigaretten, die er f�r f�nfundsiebzig Cent das St�ck auf seinem Schiff gekauft hatte. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass Jeff mit der Leica sicher wieder auf sein Schiff gelangt war, ging ich abends mit sechs leicht ramponierten Stangen Zigaretten nach Hause. Die drei Stangen, die meinen Anteil an der Transaktion ausmachten und die ich an einem einzigen
Nachmittag verdient hatte, waren umgerechnet dreitausend Mark wert, also beinahe das Dreifache einer ganzen Monatsgage bei den Drei Ah-Yue Hon Lous. Dennoch war ich alles andere als auf dem Weg zu schnellem Reichtum. Die Gelegenheit zu eintr�glichen Gesch�ften mit amerikanischen Zigaretten bot sich n�mlich nur selten, weil auch nur selten amerikanische Schiffe im Hamburger Hafen festmachten. Mein Leben war folglich ein st�ndiges Auf und Ab zwischen Kohldampf und Festessen und wieder Kohldampf. Trotzdem fand ich, dass die Nebeneinnahmen aus meinem etwas unkonventionellen Lebensstil meine Mutter und mich einigerma�en f�r die Not entsch�digten, die wir unmittelbar nach Kriegsende hatten durchstehen m�ssen. Am n�chsten Tag ging ich zu Werners Wohnung, um herauszufinden, was mit ihm passiert war. Ich rechnete eigentlich damit, dass er noch in irgendeiner Zelle schmachtete, doch stattdessen begr��te er mich mit einem breiten Grinsen und offensichtlich unbeschadet. Gen�sslich schilderte er mir, dass die frustrierten Polizisten ihn nach ein paar Stunden hatten freilassen m�ssen, weil ihr Vorgesetzter auf der Wache erkl�rte, dass sie ohne die Zigaretten als Beweis nichts gegen Werner in der Hand hatten. Sie konnten ihn nur eindringlich warnen, sich in Acht zu nehmen, beim n�chsten Mal k�me er nicht mehr so glimpflich davon. Als ich ihm erz�hlte, dass seine drei Stangen in Othmarschen auf ihn warteten, meinte Werner, er k�nne es sich leisten, mal eine Zeit lang k�rzer zu treten, und schlug vor, wir sollten so lange die Finger von amerikanischen Schiffen lassen, bis sich die Dinge wieder etwas beruhigt h�tten.
Donald Patton
Eines Abends gingen Werner und ich in die Irish Bar auf der Bernhard-Nocht-Stra�e, wo wir einen schwarzen GI an der Theke sitzen sahen. Da er und ich die einzigen Schwarzen im Lokal waren, begr��te ich ihn mit einem H�ndedruck und stellte mich vor. Anschlie�end machte ich ihn mit Werner bekannt. Der GI hie� Donald Patton, stammte aus Chicago und war auf dem R�ckweg zu seiner Einheit in Grafenw�hr in der N�he von N�rnberg. Donald war kr�ftig gebaut, aber klein, zirka ein Meter f�nfundsechzig, mit breiten Schultern und schmaler Taille. Er hatte eine mittelbraune Hautfarbe, tief liegende dunkle Augen, eine Adlernase und einen breiten Mund mit vollen Lippen. Offensichtlich versuchte er gerade, sich einen Schnurrbart wachsen zu lassen, wenn auch nur mit m��igem Erfolg. Es war sowohl Werners als auch mein sehnlichster Wunsch, Soldat in der US Army zu werden, und so be�ugten wir mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung Donalds olivenfarbene Uniform - das fesche K�ppi, das er schr�g bis zur rechten Augenbraue hinuntergezogen hatte, die gewienerten Stiefel, die gl�nzenden Messingabzeichen am Kragen und die Obergefreitenwinkel an den �rmeln der knappen Eisenhower-Jacke. Wir h�tten alles daf�r gegeben, mit ihm tauschen zu k�nnen. Nat�rlich hatten wir nicht die blasseste Ahnung, was es bedeutete, amerikanischer Soldat zu sein. Unserer idealisierten Vorstellung nach bedeutete es vor allem, eine schicke Uniform zu tragen, jede Menge gutes Essen und Zigaretten zu bekommen, sich vor attraktiven Frauen nicht retten zu k�nnen und einen Jeep zu fahren,
statt zu Fu� gehen zu m�ssen. Und au�erdem war es gleichbedeutend damit, deutschen Polizisten nach Lust und Laune sagen zu k�nnen, sie sollten einem den amerikanischen Buckel runterrutschen - die wohl gr��te Freude �berhaupt. Als Donald die unvermeidliche Frage stellte, was ich als Schwarzer - denn in Hamburg zu suchen h�tte, spulte ich wie immer die geraffte Version meiner Lebensgeschichte ab, mit der �blichen Abweichung von der Wahrheit, dass mein Vater Amerikaner und nicht Liberianer sei. Diese kleine Notl�ge war absolut erforderlich, so hatte ich inzwischen festgestellt, denn sie machte den Unterschied zwischen herzlicher Anerkennung als Bruder und kalter Ablehnung als unerw�nschter Fremder aus. Die meisten schwarzen Amerikaner, die ich nach dem Krieg kennen gelernt hatte, hielten n�mlich Afrikaner und Afrika im Allgemeinen f�r r�ckst�ndig, und jede Erinnerung an ihre eigene Sklavenvergangenheit empfanden sie als unangenehm. Ich wollte mir auf keinen Fall von vornherein s�mtliche Chancen auf einen f�r beide Seiten profitablen internationalen Handel verscherzen, indem ich versuchte, diesen schwarzen Bruder aus Chicago mit meiner k�niglichen afrikanischen Abstammung zu beeindrucken. Donald schien meine Geschichte zu gefallen, vor allem der wahre Teil ��ber meine Familie in Barrington, Illinois�. �Mensch, das liegt ja nur vierzig oder f�nfzig Meilen nordwestlich von Chicago�, sagte er. Mir war das zwar neu, aber ich best�tigte es, als h�tte ich es schon immer gewusst. Donald erz�hlte, er habe noch drei Tage Urlaub, die er ganz gern in Hamburg verbringen w�rde, aber leider w�rden ihm langsam die
Zigaretten ausgehen, um eine �richtige Sause� zu finanzieren. �Wie viele Zigaretten hast du denn noch?�, fragte ich. Als Donald uns anvertraute, er habe noch zwei Stangen in seinem Seesack, versicherten Werner und ich ihm, dass er mit diesen zwei Stangen und mit uns als echten Kennern der Szene sogar f�r uns drei eine �richtige Sause� finanzieren k�nne. Wir zogen also mit Donald durch s�mtliche Nachtklubs. Im britisch besetzten Hamburg war eine amerikanische Uniform eine echte Rarit�t, und schon bald stand unser gemischtrassiges Trio �berall im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Wenn ich irgendwelche Bekannten traf, stellte ich sie Donald vor, der sich zu meiner gro�en Freude als mein Vetter aus Chicago ausgab. Das war mehr, als ich mir h�tte ertr�umen k�nnen. Offenbar war Donald genauso froh dar�ber, einen Vetter in Deutschland zu haben, wie ich �ber einen Vetter in den Staaten war. Als Donald schlie�lich zur�ck zu seiner Einheit in Grafenw�hr musste, nachdem wir ihm zu einem romantischen Abenteuer verholfen hatten, fragte er Werner und mich, ob wir nicht Lust h�tten mitzukommen. Auf unseren Einwand, dass wir wohl kaum ohne Fahrkarten und Papiere mit ihm im Zug fahren k�nnten, erwiderte er blo�: �Lasst das mal meine Sorge sein�, und ehe wir noch recht wussten, wie uns geschah, sa�en wir auch schon in einem f�r alliierte Truppenangeh�rige reservierten Zugwaggon und fuhren in Richtung N�rnberg. Verst�ndlicherweise wurde uns ganz sch�n mulmig, als ein Lieutenant der US Army kam und unsere Papiere sehen wollte. Nachdem Donald dem Lieutenant eine herzzerrei�ende Geschichte
aufgetischt hatte, wie sein armer Vetter und sein amerikanischer Freund w�hrend des Krieges in Deutschland h�ngen geblieben seien, war dieser sichtlich bewegt und hie� uns in dem sp�rlich besetzten Waggon willkommen. Seiner Aufforderung, es uns so bequem wie m�glich zu machen, leisteten wir gern Folge. Die Zeit verging wie im Fluge, und unversehens waren wir schon im N�rnberger Hauptbahnhof, wo es von schwarzen und wei�en GIs, darunter eine beunruhigende Zahl von Milit�rpolizisten, nur so wimmelte. Vor dem Bahnhof stellte Donald sich an den Stra�enrand und streckte Daumen und Arm raus. Auf meine Frage, was er denn da mache, erwiderte er: �Ich will einen Wagen anhalten, der uns mitnimmt.� Bevor er mir n�her erkl�ren konnte, dass es sich dabei um die altbew�hrte amerikanische Sitte des Trampens - genannt hitchhikinghandelte, hielt auch schon ein offener Jeep an. �Zur�ck zur Einheit?�, fragte der Fahrer, ein wei�er Captain. �Ja, Sir�, erwiderte Donald. �Rein mit euch!� Der Captain rief: �Gut festhalten� und trat das Gaspedal voll durch, woraufhin der Jeep losschoss wie eine Rakete. Bald darauf hatten wir N�rnberg hinter uns gelassen und jagten mit Schwindel erregendem Tempo �ber eine kopfsteingepflasterte Landstra�e. Zwanzig Minuten sp�ter gelangten wir an das Haupttor des Armeest�tzpunkts in Grafenw�hr, wo ein wei� behelmter Milit�rpolizist vor dem Captain salutierte und uns dann einfach durchwinkte. Nach kurzer Fahrt vorbei an Reihen von Holzbaracken setzte der Captain uns an einem Geb�ude ab, das aussah wie ein Schuppen. Ein Schild an der T�r verk�ndete auf Englisch, dass wir vor der �Schreibstube, Kompanie A� standen. Donald ging kurz hinein, um sich bei dem Dienst habenden Sergeant
vom Urlaub zur�ckzumelden, und nahm uns dann mit zu seiner Baracke, damit wir uns sein Zuhause anschauen und seine Kameraden kennen lernen konnten. Die Baracke war leer, bis auf einen Pfc., einen Obergefreiten, der Donald sagte, die M�nner seien noch beim retreat, dem, wie Donald uns erkl�rte, allabendlichen feierlichen Einholen der US-Flagge, die jeden Morgen beim so genannten reveille wieder gehisst wurde. Auf das, was dann geschah, waren weder Werner noch ich vorbereitet. Mit einem Mal wimmelte es in der Baracke von GIs, doch statt der schmucken Milit�rjacken und K�ppis, die uns an den amerikanischen Soldaten so faszinierten, trugen diese hier gr�ne Drillichanz�ge und alberne runde M�tzen. Au�erdem waren sie in Schwei� gebadet und von oben bis unten �l- und schmutzverschmiert. Ganz offensichtlich hatten sie schwer geschuftet, und ihre Arbeit konnte nicht sonderlich glamour�s gewesen sein. Von Donald erfuhren wir, dass die M�nner wie er der Fernmeldetruppe angeh�rten und Gr�ben ausgehoben hatten, um Kabel zu verlegen. Als wir uns in der primitiven Baracke umschauten und die verdreckten Soldaten betrachteten, wurde uns klar, dass weitaus mehr dazugeh�rte, ein GI zu sein, als wir es uns vorgestellt hatten, und dass der Dienst in der amerikanischen Armee - unser Wunschtraum - alles andere als ein Zuckerschlecken war. Obwohl schon allein diese Erkenntnis f�r mich eine Art Kulturschock war, sollte es noch schlimmer kommen. Mir fiel n�mlich auf, dass alle Soldaten in Donalds Einheit Schwarze waren und - was noch beunruhigender war - dass die meisten Offiziere, die wir gesehen hatten,
Wei�e waren. Donald hatte nie erw�hnt, dass die Einheiten der US-Armee nach Rassen getrennt waren. Mir war gar nicht klar gewesen, dass diese unsinnige gesellschaftliche Ordnung auch in der Armee herrschte einer Armee, die soeben erst mit dem erkl�rten Ziel weltweiter Demokratie einen f�rchterlichen Krieg ausgefochten hatte. Ich brauchte eine Weile, um diese Begegnung mit dem amerikanischen Dilemma psychisch zu verdauen Amerikas Unf�higkeit oder seine mangelnde Bereitschaft, dem eigenen Glaubensbekenntnis, das �Freiheit und Gerechtigkeit f�r alle� verspricht, gerecht zu werden. Nat�rlich wusste ich schon l�nger, dass die Wei�en in den USA, vor allem in den S�dstaaten, dieses Glaubensbekenntnis mitunter grob missachteten und gegen ihre schwarzen Landsleute unvorstellbare Grausamkeiten begangen hatten, aber ich hatte keine Ahnung gehabt, dass Rassendiskriminierung bei der amerikanischen Regierung nicht nur auf Nachsicht stie�, sondern von ihr sogar offen praktiziert wurde. Widerwillig musste ich mir eingestehen, dass mein Idealbild von einem Amerika, das zur Befreiung der Unterdr�ckten siegreich in den Kampf gezogen war, einen ernsten, wenn nicht gar vernichtenden Schlag erhalten hatte. Dennoch, mit meinen zwanzig Jahren war ich nicht gewillt, mich durch weltanschauliche Differenzen in meiner Entschlossenheit beirren zu lassen, so gut wie m�glich zu �berleben. Obwohl schwarze GIs eindeutig schlechter behandelt wurden als ihre wei�en Kameraden, erging es ihnen doch un�bersehbar besser als den besiegten Deutschen. Da es mir im kriegszerst�rten Deutschland etliche Vorteile eingebracht hatte, wie ein
schwarzer Amerikaner auszusehen, beschloss ich, alles zu tun, um diese �hnlichkeit sprachlich und verhaltensm��ig weiter zu kultivieren. Und die M�glichkeit, schwarze GIs hier in ihrem eigenen Umfeld zu beobachten, erschien mir als gl�ckliche F�gung. Nachdem Donald daf�r gesorgt hatte, dass wir etwas zu essen bekamen und uns zwei Pritschen im Obergeschoss einer leeren Baracke zugewiesen wurden, nahmen er und ein paar seiner Kameraden Werner und mich mit nach Grafenw�hr, einer typisch bayrischen Kleinstadt, deren Hauptattraktion damals ein gro�es Kettenkarussell war. W�hrend manche schwarze GIs in Gr�ppchen herumstanden und zuschauten, lie�en sich andere Arm in Arm mit ihren fr�hlich kreischenden Fr�uleins durch die Luft schleudern. Einige dieser gemischtrassigen Paare schoben stolz Kinderwagen mit kraushaarigen �braunen Babys� vor sich her, was mich an meine eigene Kindheit erinnerte. Als ich Donald fragte, warum denn nirgends wei�e GIs zu sehen seien, sagte er, die w�rden sich in einem anderen Teil der Stadt aufhalten und dass sich beide Lager um des lieben Friedens willen m�glichst aus dem Weg gingen. Donald hatte uns versprochen, sich f�r die am�santen Stunden zu revanchieren, die wir ihm in Hamburg verschafft hatten, und er hielt Wort. Hier, in seinem eigenen Revier, steuerte er mit uns umgehend auf eine kleine Gruppe junger Frauen zu. �Sucht euch eine aus, aber die Rothaarige geh�rt mir. � Die Frauen schienen ganz aus dem H�uschen, Donalds �Vetter aus den USA� und dessen Freund kennen zu lernen. Alle sprachen flie�end Englisch mit einem charmanten bayrischen Akzent.
Werner und ich brauchten nicht lange, um uns zu entscheiden, und als es dunkel wurde, hatten wir uns bereits p�rchenweise getrennt und gingen mit unserem jeweiligen Fr�ulein nach Hause. Unterwegs durch die engen, fast menschenleeren Stra�en der kleinen Stadt bombardierte Waltraut mich mit Fragen �ber das Leben in den Vereinigten Staaten. Ich hatte mir inzwischen einige Kenntnisse angeeignet, und f�r jemanden, der noch nie einen Fu� in die USA gesetzt hatte, schlug ich mich ganz tapfer. Im Gegenzug beschrieb Waltraut mir ihr Leben in Grafenw�hr. Ich erfuhr, dass sie �noch nicht ganz drei�ig� war, als Kassiererin in einem Laden im amerikanischen Truppenst�tzpunkt arbeitete, dass ihr Vater im Krieg in Polen gefallen war und ihre Mutter in N�rnberg lebte. Zum Gl�ck hatte Donald ihr erz�hlt, dass ich als Zivilist f�r die alliierte Milit�rregierung in Hamburg arbeitete, denn mir wurde rasch klar, dass sie sich mit dem Leben in der US-Armee besser auskannte als ich. Seit ihr letzter Freund, so vertraute sie mir an, ein schwarzer GI, einige Monate zuvor in die Staaten zur�ckgekehrt war, hatte sie keine richtige Beziehung mehr gehabt. Waltraut erl�uterte, dass sich die jungen Frauen von Grafenw�hr grob in zwei Kategorien einteilen lie�en diejenigen, die mit wei�en GIs ausgingen, und diejenigen, die mit �farbigen� GIs ausgingen. Wenn sich herumsprach, dass eine Deutsche mit schwarzen Soldaten ausgegangen war, wurde sie von wei�en Soldaten und deren Freundinnen ge�chtet. Nur eine verschwindend geringe Zahl von jungen Frauen in der Stadt lie�e sich auf deutsche M�nner ein, sagte Waltraut, weil die meisten von ihnen gerade erst aus der Kriegsgefangenschaft zur�ckgekommen und nun
arbeitslos seien. Waltraut gestand mir, dass sie damals, als die amerikanischen Truppen in die Stadt einr�ckten, zun�chst Angst vor Schwarzen gehabt habe, vor allem vor den �ganz dunklen�, weil sie nie zuvor welche gesehen habe. Doch dann hatte sie, ebenso wie viele andere Frauen in Grafenw�hr, bald gemerkt, dass ihre Angst unbegr�ndet war und dass schwarze GIs sogar sehr viel aufmerksamere und r�cksichtsvollere Liebhaber waren als ihre wei�en Kameraden. Schwarze Soldaten, so Waltraut, stahlen notfalls sogar Vorr�te im St�tzpunkt, um ihre deutschen Freundinnen und deren Familien mit Lebensmitteln und Zigaretten zu versorgen. �Vielleicht�, so mutma�te Waltraut, �sind sie ja deshalb so nett zu uns, weil sie in ihrer Heimat nicht oft Gelegenheit haben, mit wei�en Frauen auszugehen.� Endlich blieb Waltraut vor einem typisch bayrischen, einst�ckigen Fachwerkhaus stehen und schloss die T�r auf, die direkt in einen kleinen Raum f�hrte. Das sp�rlich m�blierte Zimmer wurde fast ganz von einem Himmelbett mit dicken Federkissen ausgef�llt. Sie schloss die L�den an den beiden Fenstern, die auf die Stra�e gingen, schaltete das Licht an und sagte, ich solle mich wie zu Hause f�hlen, w�hrend sie sich im Bad frisch mache. Ich nutzte die Zeit, um mich etwas umzusehen. �ber dem Bett hingen ein geschnitztes Kruzifix und ein gerahmtes Foto von ihr und einem gut aussehenden schwarzen Sergeant. �Das ist Jeff, mein fr�herer Freund�, sagte Waltraut, die, ohne dass ich es gemerkt hatte, wieder ins Zimmer gekommen war. �Wie w�r's mit einem Schnaps?�, fragte sie und hielt eine Flasche hoch, die eine harmlos aussehende, wasser�hnliche Fl�ssigkeit enthielt, doch ich lehnte
h�flich ab. Ich war froh, dass ich hatte Vorsicht walten lassen, denn als Waltraut das Licht ausmachte und mich im Bett die warmen, weichen Daunen umh�llten, w�re ich am liebsten auf der Stelle eingeschlafen. Schlie�lich war es ein langer, ereignisreicher Tag gewesen. Aber Waltraut hatte andere Pl�ne ... Es war bereits helllichter Tag, als ich zu der Baracke zur�ckkehrte, wo Werner sich gerade die Z�hne putzte. Wir waren noch dabei, uns unsere jeweiligen n�chtlichen Abenteuer zu erz�hlen, als zwei M�nner in die Baracke kamen, ein wei�er Captain und ein schwarzer Sergeant, der ein Klemmbrett in der Hand hatte. Die beiden f�hrten offenbar eine Inspektion durch. �Wer sind Sie, und was haben Sie hier zu suchen?�, wollte der Captain wissen. Ich erkl�rte, dass mein �Vetter�, der Obergefreite Donald Patton, von einem Sergeant die Erlaubnis erhalten habe, meinen Freund und mich in der Baracke �bernachten zu lassen, woraufhin der Offizier w�tend auf dem Absatz kehrtmachte und wortlos aus der Baracke st�rmte, gefolgt von dem Sergeant. Nichts Gutes ahnend, erledigte ich rasch meine Morgentoilette, wobei ich die �berf�llige Dusche dadurch ersetzte, dass ich mir gro�z�gig Old Spice, ein Abschiedsgeschenk von Waltraut, ins Gesicht klatschte. Auch Werner hielt den �berst�rzten Abgang des Captain f�r ein schlechtes Omen. Und tats�chlich, kurz darauf kam Donald zu uns. Er trug einen wenig schmeichelhaften Drillichanzug und wirkte ungewohnt sorgenvoll. �Tut mir Leid�, sagte er halb bedr�ckt, halb verlegen, �aber ihr m�sst den St�tzpunkt sofort verlassen. Der Kompaniechef hat einen Mordsaufstand veranstaltet; er will nicht, dass sich hier Unbefugte aufhalten.�
�Und was sollen wir jetzt machen?�, fragte ich. �Wie sollen wir nach N�rnberg kommen?� �In ein paar Minuten f�hrt ein Offizier zum N�rnberger Hauptbahnhof�, erkl�rte Donald. �Er ist bereit, euch mitzunehmen, aber ihr m�sst euch beeilen. � Werner und ich schnappten rasch unsere Taschen, verabschiedeten uns von Donald, liefen nach drau�en und sprangen auf den wartenden Waffentransporter, dessen Fahrer, ein schwarzer Oberleutnant, schon ungeduldig auf die Uhr sah. Er war der erste schwarze US-Offizier, den ich zu Gesicht bekam, und als ich sah, wie der wei�e Wachposten am Tor strammstand und dem schwarzen Offizier salutierte, erf�llte mich ein ganz ungewohnter Stolz. Sobald wir den St�tzpunkt verlassen hatten, trat der Lieutenant so kr�ftig aufs Gas, als wollte er den Geschwindigkeitsrekord des Captain vom Vortag brechen. Die B�ume am Stra�enrand flogen f�rmlich an uns vorbei, und ich war sicher, dass wir �ber kurz oder lang frontal in einen der entgegenkommenden Wagen krachen w�rden. Ein Blick in Werners aschfahles Gesicht �berzeugte mich, dass auch er Blut und Wasser schwitzte. Zum Gl�ck konnten wir unserer Angst nicht nachgeben und den Lieutenant anflehen, langsamer zu fahren, weil der Motorenl�rm und der heulende Fahrtwind jede Kommunikation unm�glich machte. So kamen wir schlie�lich mit zitternden Knien, aber unbeschadeter Ehre in N�rnberg an. �Tut mir Leid, aber ich war etwas in Eile�, entschuldigte sich der Lieutenant, als er vor dem Hauptbahnhof hielt. Die j�he Vertreibung aus dem Armeest�tzpunkt versetzte der Unbefangenheit, mit der wir uns als Amerikaner ausgaben, einen argen D�mpfer. Da wir zudem nicht mehr von Donalds Begleitung profitieren
konnten, waren wir gezwungen, uns mit den einfachen deutschen Zugwaggons zu begn�gen und auf die luxuri�sen Annehmlichkeiten der f�r die Alliierten reservierten Waggons zu verzichten. Nach einer langen, ereignislosen Zugreise, auf der Werner und ich vor allem unseren dringend ben�tigten Schlaf nachholten, trafen wir wieder in Hamburg ein.
Werner geht nach Amerika
Im Fr�hjahr 1947, kurz nach unserem N�rnberger Abenteuer, �berraschte mich Werner mit einer umwerfenden Neuigkeit. Nachdem er sich jahrelang vergeblich bei der US-Regierung um R�ckf�hrung in die Vereinigten Staaten bem�ht hatte, war sein Antrag endlich von Washington bewilligt worden. �Die Deutschen werden sich nicht l�nger mit AmiWerner herumschlagen m�ssen�, sagte er grinsend, w�hrend er mir das Schreiben des US-Au�enministeriums zeigte, in dem stand, dass die von ihm eingereichten Dokumente seinen Anspruch auf die amerikanische Staatsb�rgerschaft eindeutig bewiesen und dass die Kosten f�r seine Reise von Bremerhaven nach New York von der US-Regierung getragen w�rden. Falls die erforderlichen Vorkehrungen reibungslos vonstatten gingen, so hie� es in dem Brief, k�nne er sich bereits innerhalb der n�chsten drei Monate auf den Weg in die Staaten machen. In K�rze w�rde er vom amerikanischen Generalkonsulat in Hamburg verst�ndigt, wann er seinen amerikanischen Pass abholen k�nne. Die f�r Werner gute Nachricht l�ste in mir eine Flut von gemischten Gef�hlen aus. Ich freute mich zwar f�r ihn, dass er so kurz vor der Erf�llung seines - nein, unseres - Traumes stand, aber mir graute auch vor dem Abschied von ihm, schlie�lich waren wir inzwischen fast unzertrennlich geworden. Obwohl wir uns gerade mal anderthalb Jahre kannten, hatte ich das Gef�hl, wir w�ren schon seit ewigen Zeiten befreundet. Ich hatte mir immer ausgemalt, dass wir uns eines Tages irgendwie gemeinsam auf die Reise in die Vereinigten Staaten
machen w�rden. Mittlerweile spielte ich die Rolle des in Deutschland h�ngen gebliebenen Schwarzamerikaners so lange und mit so viel �berzeugung, dass ich fast schon selbst glaubte, einen Anspruch auf Repatriierung in die Staaten zu haben. Werners Nachricht holte mich auf den Boden der Tatsachen zur�ck, denn mir wurde wieder bewusst, dass ich nur Kom�die spielte, dass ich nicht blo� anderen, sondern auch mir selbst etwas vormachte und dass ich meinem Ziel, in die Vereinigten Staaten zu gelangen, keinen Deut n�her gekommen war als an dem Tag, an dem ich Werner kennen gelernt und er mir den Floh ins Ohr gesetzt hatte, mein Gl�ck in Amerika zu suchen. Meine Frustration angesichts der entmutigenden Tatsache, dass der Traum von einem Leben in Amerika wohl nur ein Traum bleiben w�rde, war so gro�, dass ich sie kaum verhehlen konnte. Mir wurde klar, dass f�r Werner die Maskerade, die unser gesamtes Nachkriegsleben gepr�gt hatte, nun zu Ende war. Mit einem amerikanischen Pass in der Tasche musste er sich nicht mehr als Amerikaner ausgeben, er war Amerikaner. Er konnte jetzt in jeden Klub oder in jedes Kino der Alliierten gehen, er konnte jeden Zug der Alliierten besteigen, ohne st�ndig nach amerikanischer oder britischer Milit�rpolizei Ausschau zu halten. Als waschechter Ami konnte er von nun an nach echter Yankee-Manier seine F��e auf jeden Sitz vor ihm legen, ohne sich bei irgendwem entschuldigen zu m�ssen. Zum Gl�ck kam ich kurz darauf auf andere Gedanken, als Yue mir Bescheid gab, dass wir eine zweimonatige Tournee f�r den British Army Welfare Service durch Mitteldeutschland machen w�rden. Somit blieb es mir erspart, mich lang und breit von Werner zu verabschieden, und ich musste ihm nicht weiter
vormachen, dass ich mich vorbehaltlos f�r ihn freute. Als ich nach Hamburg zur�ckkehrte, war Werner schon fort, und in seinem ersten Brief an mich schrieb er, dass er wohlbehalten in New York angekommen sei und dass die Stadt seine k�hnsten Erwartungen �bertr�fe. Werners Abreise in die USA r�ttelte mich zumindest wach, wenn sie sonst schon nichts Positives bewirkte. Ich begriff mit einem Mal, dass ich, wenn ich je aus Deutschland rauswollte, endlich mit meinen Tr�umereien und albernen Spielchen aufh�ren und handeln musste. Da ich nicht wie Werner einen legitimen Anspruch auf die amerikanische Staatsb�rgerschaft hatte, beschloss ich, die Tr�mpfe auszuspielen, die das Schicksal mir in die Hand gegeben hatte. Auf keinen Fall wollte ich mich damit abfinden, den Rest meines Lebens in der Sackgasse Deutschland zu verbringen. Seit dem Ende des Krieges hatte ich versucht, Verbindung mit meinem Vater in Liberia aufzunehmen. Da es damals noch keinen regelm��igen Postverkehr zwischen Deutschland und Liberia gab, hatte ich meine Briefe - die ich in Ermangelung einer genauen Anschrift an �Mr. Al-Haj Massaquoi, Monrovia, Liberia, Westafrika� adressierte - befreundeten britischen Soldaten mitgegeben, damit sie sie in Gro�britannien f�r mich aufgaben. In den Briefen schrieb ich meinem Vater, dass meine Mutter und ich den Krieg �berlebt hatten, dass ich als Musiker arbeitete, dass aber die Lebensbedingungen nach wie vor �u�erst schwierig seien und wir Deutschland verlassen wollten. Als ich nach �ber einem halben Jahr noch immer keine Antwort erhalten hatte, gab ich die Hoffnung auf, je wieder etwas von meinem Vater zu h�ren.
Nachdem sich mein Traum von einer Zukunft in Amerika mit Werners Abreise vorerst in Luft aufgel�st hatte, beschloss ich, doch noch einen weiteren Versuch zu unternehmen, meinen Vater brieflich zu erreichen. Mit Hilfe meiner Freunde Ralph und Egon Giordano, die sich als aufstrebende Jungjournalisten allm�hlich einen Namen machten und mir ihre klapprige Schreibmaschine liehen, verfasste ich etwa ein Dutzend Briefe an meinen Vater. Doch diesmal bat ich das Internationale Rote Kreuz, die UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) und einige Konsulate in Hamburg, darunter auch das der Vereinigten Staaten, meine Briefe weiterzuleiten. Ich schrieb auch an meine Cousine Martha, die Tochter meiner Tante Clara in Barrington, Illinois, und an meine Cousine Ilse, die Tochter von Onkel Paul in Chicago. Beiden erz�hlte ich von den schweren Zeiten, die meine Mutter und ich durchmachten, und bat sie um Hilfe, da wir gerne nach Amerika auswandern w�rden. Es �berraschte mich nicht, dass ich nichts von meinem Vater h�rte, doch einige Wochen sp�ter bekam ich sowohl von Martha als auch von Ilse Post. Martha schrieb, dass sie und ihre Mutter gleich nach Erhalt meines Briefes zu einem Rechtsanwalt gegangen seien, um sich nach einer M�glichkeit f�r uns zu erkundigen, in die Staaten zu kommen. Leider bestand nach Aussage des Anwalts das gr��te Hindernis f�r unsere Einwanderung darin, dass es offiziell noch keinen Friedensvertrag mit Deutschland gab, so dass sich Deutschland und die Alliierten theoretisch noch immer im Kriegszustand befanden. Das wiederum bedeutete, dass die USA kein Einwanderungskontingent f�r Deutsche hatten, ohne das, so der Anwalt, Deutsche
nicht in die Staaten einwandern konnten. Doch Martha schloss ihren Brief mit den optimistischen Worten, dass ihre Mutter alles in ihrer Macht Stehende tun werde, damit wir kommen k�nnten, und unseretwegen bereits einen Termin bei ihrem Kongressabgeordneten vereinbart h�tte.
Ilses Brief las sich ganz anders. Im Gegensatz zu dem Plauderton, den sie in ihren fr�heren Briefen an mich angeschlagen hatte, schrieb sie lediglich einige h�fliche Floskeln und dass sie sich freue, wieder mal von mir zu h�ren. Unter ihren Brief hatte Onkel Paul ein paar Zeilen geschrieben, in denen er mir dringend davon abriet, nach Chicago zu kommen. Als Begr�ndung f�hrte er an, dass er mir eine Entt�uschung ersparen wolle, da ich wohl, wie die meisten Deutschen, die falsche Vorstellung hege, Amerika sei das Land, wo Milch und Honig fl�ssen. In Wahrheit aber m�ssten die Amerikaner schwer schuften, und au�erdem herrsche noch immer Mangel an vielen Dingen, wie beispielsweise an bestimmten Lebensmitteln. Deshalb t�ten wir besser daran, da zu bleiben, wo wir seien, und durchzuhalten, bis wieder bessere Zeiten k�men. Als meine Mutter die Zeilen ihres Bruders las, den sie stets �ber alles geliebt hatte, war sie ungeheuer w�tend und entt�uscht. Noch w�tender wurde sie allerdings, als sie einen Brief von ihrer Schwester Clara erhielt, aus dem der eigentliche Grund hervorging, warum Onkel Paul nicht wollte, dass wir nach Chicago kamen. �Er bef�rchtet, seine Schwester und ihr schwarzer Sohn k�nnten f�r ihn in seinem ausschlie�lich wei�en Bekanntenkreis peinlich werden�, schrieb Tante Clara und f�hrte aus, dass Paul nach dem Tod seiner ersten,
deutschen Frau, der Mutter seiner Kinder, eine Frau aus den S�dstaaten geheiratet habe und sich offenbar von ihrem Rassismus beeinflussen lie�. Mehr musste meine Mutter nicht lesen. �Paul�, so sagte sie au�er sich vor Wut, �hat wohl vergessen, dass er vor f�nfundzwanzig Jahren ein ausgehungerter, bettelarmer Einwanderer aus Deutschland war, der es nie in die Vereinigten Staaten geschafft h�tte, wenn unsere Schwester Martha und unser Bruder Hermann ihm nicht geholfen h�tten. Und jetzt besitzt er die Unverfrorenheit, auf andere Leute herabzublicken, nur weil sie eine andere Hautfarbe haben. Aber er muss sich unseretwegen nie wieder sch�men. Von heute an habe ich keinen Bruder namens Paul mehr. F�r mich ist er gestorben!�
Auf nach Afrika
Ich hatte nicht mehr daran geglaubt, je wieder etwas von meinem Vater zu h�ren, als eines Tages ein dicker Luftpostbrief eintraf. Er unterschied sich von den meisten Briefen, die meine Mutter und ich bekamen, durch sein gro�es Format und die leuchtenden Farben seiner exotischen Briefmarken, auf denen jeweils die Worte �Republic of Liberia� prangten. Ich wurde von widerspr�chlichen Emotionen �bermannt, als ich mich anschickte, den Brief zu �ffnen, seit fast zwanzig Jahren die erste greifbare Verbindung zu dem Mann, den ich auf Wunsch meiner Mutter Vater nannte, obwohl er schon damals, als er uns verlie�, f�r mich eigentlich ein Fremder gewesen war. In all den Jahren, die er inzwischen fort war, hatte ich ihn nicht gerade ins Herz geschlossen. Wenn ich �berhaupt etwas f�r ihn empfand, dann k�hle Neugier. Wer war dieser Al-Haj Massaquoi, der Mann, von dem ich mein Leben lang so viel geh�rt hatte und dem ich, wie meine Mutter behauptete, auf vielerlei Weise �hnlich war? Warum hatte er uns in Deutschland zur�ckgelassen, ohne uns zu helfen, als wir dringend Hilfe brauchten? Der mit Schreibmaschine auf Englisch geschriebene Brief begann schlicht und ergreifend mit �Lieber HansJ�rgen�. Nachdem er mir f�r meinen Brief vom 8. Januar 1948 gedankt hatte, erkl�rte mein Vater, wie erleichtert er sei, dass meine Mutter und ich den Krieg �berstanden h�tten, da er schon seit geraumer Zeit bef�rchtet habe, wir w�ren beide ums Leben gekommen. Gleich nach Erhalt meines Briefes, so schrieb er, habe er f�r mich einen liberianischen Pass beantragt, damit ich
nach Liberia kommen k�nne. Um die Sache zu beschleunigen, bat er mich, ihm so bald wie m�glich einige Passfotos von mir zu schicken. Er schlug vor, dass erst ich nach Liberia kommen solle und dass er, falls es mir dort gefiele, meine Mutter nachholen w�rde. Dann kam die schlechte Nachricht, die wir schon lange erwartet und bef�rchtet hatten. �Leider muss ich Dir mitteilen, dass Dein Gro�vater Momolu 1938 gestorben ist.� Ich musste daran denken, wie mein Gro�vater mir, als ich noch ein ganz kleiner Junge war, versprochen hatte, dass er mir eines Tages in Liberia die Krone zeigen w�rde, die er als K�nig der Vai getragen hatte. Die Erkenntnis, dass er f�r immer fort war, erf�llte mich mit Trauer. Dann las ich weiter. �Auf Grund der herrschenden politischen Verh�ltnisse in unserem Land�, schrieb mein Vater, �waren mir von 1930 bis 1943 die H�nde gebunden. Doch nun, unter Pr�sident William V. S. Tubman, der mir wohlgesinnt ist, sieht alles etwas freundlicher aus.� Mein Vater beteuerte, dass er kein reicher Mann sei, aber ein gutes Auskommen habe und einen Import-ExportHandel mit D�nemark betreibe, au�erdem eine Dampfschiffagentur und etliche Transportunternehmen mit einigen Diesellastern und -bussen und einem gro�en Schiff mit Dieselmotor, das Passagiere entlang der K�ste bef�rdere. Er hoffe, so f�gte er hinzu, dass ich mich mit Dieselmotoren auskenne, �da die Leute hier nur sehr wenig davon verstehen�. Zu meiner Arbeit als Musiker meinte er: �Versuch um Himmels willen nicht, hier als Musiker Dein Geld zu verdienen, das w�re reine Zeitverschwendung. Aber Du kannst ja zum Zeitvertreib weiter Musik machen.� Er und Tante Fatima, so gestand er mir, w�rden nicht mehr miteinander sprechen, seit sie
nach ihrem Studium aus den USA zur�ckgekehrt sei. �Auf einmal hatte sie die fixe Idee, Dein Gro�vater h�tte Millionen hinterlassen, die ihr zust�nden. Aber anstatt vern�nftig mit mir dar�ber zu reden, hat sie mich zusammen mit meinem niedertr�chtigen Bruder Nat verklagt. Noch heute geben sie die paar Dollar, die sie haben, f�r Anw�lte aus, ohne dass es ihnen was einbringt. Vielleicht spricht sie ja mit Dir dar�ber, wenn Du herkommst.� Dann berichtete mein Vater, dass er sich mit seinem d�nischen Freund und Gesch�ftspartner Harold Nissen, der als Generalkonsul f�r Liberia in Kopenhagen fungiere, in Verbindung gesetzt habe. Nissen werde sich in K�rze bei mir melden, um meine Reise nach Liberia auf dem d�nischen Frachter Bornholm zu arrangieren. Ohne meinen gro�en Traum vom Leben in den USA aufzugeben, stellte ich mich rasch auf die neue Situation ein und entschied mich vorl�ufig f�r Afrika. Bei meiner Mutter stie� der Plan meines Vaters, mich nach Liberia kommen zu lassen, auf uneingeschr�nkte Zustimmung. Da sie es f�r zwingend notwendig hielt, dass ich Deutschland verlie�, um das Beste aus meinem Leben zu machen, hatte sie mich stets ermuntert, meinen Traum von einer Zukunft im Ausland weiterzuverfolgen, auch wenn wir dadurch eine Weile getrennt sein w�rden. Einige Wochen nachdem ich von meinem Vater geh�rt hatte, erhielt ich einen Brief vom amerikanischen Generalkonsulat in Hamburg, das mich davon in Kenntnis setzte, dass es die liberianischen Konsulatsinteressen vertrat. Des Weiteren teilte man mir mit, dass ein auf meinen Namen ausgestellter liberianischer Pass eingetroffen sei, den ich pers�nlich abholen m�sse. Ich musste daran denken, dass auch
Werner seinen Pass �ber das amerikanische Generalkonsulat erhalten hatte. Doch trotz der Parallele gab es einen entscheidenden Unterschied. Werners hei� begehrter US-Pass er�ffnete ihm eine F�lle von Privilegien, w�hrend mein liberianischer Pass in Deutschland so viel galt wie die Mitgliedskarte eines Gesangvereins. Da ich jedoch in meinem jungen Leben schon gelernt hatte, dass man in der Not nicht w�hlerisch sein darf, beschloss ich rasch, das Ganze von der positiven Seite zu sehen. Zumindest w�rde der liberianische Pass mich in der Frage meiner Nationalit�t endg�ltig aus dem Schattendasein befreien, das ich schon so lange f�hrte. Doch vor allen Dingen erm�glichte er mir, Deutschland jederzeit legal zu verlassen, ein Privileg, das deutschen B�rgern in der ersten Zeit nach dem Krieg unter der alliierten Besatzung verwehrt wurde. Als N�chstes erhielt ich, wie von meinem Vater angek�ndigt, einen Brief von Generalkonsul Nissen, der mich dar�ber informierte, dass alle notwendigen Vorbereitungen f�r meine Reise nach Liberia getroffen seien. Ich solle beim n�chsten Zwischenstopp der Bornholm in Hamburg die Einzelheiten meiner Reise mit Kapit�n Hartmann besprechen. Kapit�n Hartmann, ein st�mmiger Mann mit sp�rlicher werdendem, grauem Haar und rotem Gesicht, erkl�rte mir, dass ich in zwei Monaten mit dem Zug nach Alborg, in D�nemark, fahren solle, von wo aus die Bornholm mich nach Liberia bringen werde. Jetzt, da es bis zu meiner Abreise nicht mehr lange dauern w�rde, befielen mich pl�tzlich Zweifel, ob ich Deutschland wirklich so bald verlassen wollte, doch ich versicherte dem Kapit�n, dass ich p�nktlich in Alborg sein w�rde.
Dann erz�hlte mir der Kapit�n, dass er seit vielen Jahren mit meinem Vater gesch�ftlich zu tun habe. �Ihr Vater ist gut betucht�, sagte er, und wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, nahm er einen Umschlag aus einer Schreibtischschublade und reichte ihn mir. �Das soll ich Ihnen von Ihrem Vater geben, damit Sie �ber die Runden kommen, bis Sie in Monrovia sind, und falls Sie sich f�r die Reise noch das eine oder andere kaufen m�ssen.� Sobald ich die Bornholm verlassen hatte, riss ich den Umschlag auf. Es waren f�nfhundert Dollar in frischen Zehn-Dollar-Scheinen - ein wahres Verm�gen, gemessen an den damaligen Schwarzmarktkursen. Zun�chst war ich ger�hrt �ber die Gro�z�gigkeit meines Vaters, doch dann fiel mir ein, dass es das erste Geld war, das er in fast zwanzig Jahren f�r mich ausgegeben hatte. Und dann war es so weit: Es ging auf nach Afrika. Um meiner Mutter einen langen schmerzlichen Abschied zu ersparen, hielten wir beide es f�r besser, dass ich ihr in unserer Wohnung auf Wiedersehen sagte und dass Fred Gass mich zum Bahnhof bringen w�rde. Pl�tzlich erschien mir der Gedanke, meine Mutter ganz allein zur�ckzulassen, unertr�glich, doch sie versicherte mir, dass sie allein klarkommen werde und dass meine Reise f�r uns beide am Ende von Vorteil w�re. Der Zug nach Alborg stand bereits am Bahnsteig. Ich stieg ein, verstaute mein Gep�ck im Abteil und ging dann wieder auf den Bahnsteig, um mich von Fred zu verabschieden. Minuten sp�ter winkte ich ihm vom abfahrenden Zug aus zu und fragte mich dabei, ob ich ihn wohl je wiedersehen w�rde.
Dakar
Das, was ich zur�ckgelassen hatte, und das, was mich erwartete, nahm meine Gedanken so sehr in Anspruch, dass ich von Alborg, einer gro�en Hafenstadt und einer der �ltesten St�dte in D�nemark, kaum etwas mitbekam, w�hrend mich das Taxi das kurze St�ck vom Bahnhof zum Kai brachte, wo die Bornholm lag. An Bord des Frachters wurde ich vom Chefsteward begr��t. Er wies einen etwa f�nfzehnj�hrigen Jungen an, mich zuerst zu meiner Kabine und anschlie�end zum Privatsalon des Kapit�ns zu bringen, wo, so erkl�rte er, s�mtliche Mahlzeiten serviert w�rden, da das Schiff keinen Speiseraum f�r Passagiere habe. Als ich zum ersten Abendessen in diesen Salon kam, stellte Kapit�n Hartmann mich einem bebrillten jungen D�nen namens Aage Kelstedt vor, der, wie er sagte, ein Freund und Gast des Eigners der Bornholm und au�er mir der einzige andere Passagier sei. Aage und ich waren uns auf Anhieb sympathisch. Aage erz�hlte mir, dass er gerade sein erstes Studiensemester abgeschlossen habe, dass auch er noch nie in Afrika gewesen sei und sich auf die Erfahrung freue. Bis zu unserer Ankunft in Dakar, wo die Bornholm wegen einiger Reparaturen ins Trockendock musste, verlief unsere Reise angenehm und ereignislos. Tags�ber streiften Aage und ich durch das Schiff, plauderten mit den Crewmitgliedern, lasen oder l�mmelten uns in Liegest�hlen auf Deck, und nachts schliefen wir in unseren winzigen Kabinen. Die einzige Unterbrechung des monotonen Tagesablaufs waren die gemeinsamen Mahlzeiten mit dem Kapit�n. Der
Kabinensteward hatte uns verraten, dass Kapit�n Hartmann gro�en Wert auf P�nktlichkeit legte. Um den alten Knaben bei Laune zu halten, achteten wir stets darauf, dass wir mindestens zehn Minuten vor ihm auf den uns zugewiesenen Pl�tzen am Tisch sa�en. Der Kapit�n erwies sich als ein humorloser, m�rrischer Mann, dem es gar nicht zu behagen schien, dass er seine Privatsph�re f�r zwei junge M�nner einschr�nken musste, die ihn nicht im Geringsten interessierten. Folglich gestaltete sich die Unterhaltung bei Tisch �u�erst schleppend und drehte sich in erster Linie um die zunehmend dr�ckende Hitze. Als der Kapit�n bemerkte, dass ich in Schwei� gebadet war, gab er mir den Rat: �Sie sollten sich daran gew�hnen, denn da, wo Sie hinfahren, ist es noch hei�er. � Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass Kapit�n Hartmann mich nicht sonderlich mochte, was allerdings auf Gegenseitigkeit beruhte. Nach etlichen Tagen auf See kam zum ersten Mal Land in Sicht: die Kanarischen Inseln. Als die Bornholm schlie�lich im Hafen von Dakar anlegte, bekam ich meinen ersten, lang ersehnten Eindruck von Afrika. Vom Deck der Bornholm aus sah ich auf einem neben uns liegenden Frachter, der gerade entladen wurde, eine schier endlose Prozession von spindeld�rren Gestalten, die gro�e S�cke mit einer grauen, pulverartigen Substanz, offenbar Zement, auf dem Kopf balancierten und zu Lastwagen trugen. Trotz der flirrenden Hitze sangen die Arbeiter laut und bewegten sich im Rhythmus ihres Gesangs, w�hrend sie mit den F��en Wolken von lungenver�tzendem Zementstaub aufwirbelten. Von Zeit zu Zeit spritzte ein kakibekleideter Aufseher die grauen Gestalten mit einem Wasserschlauch ab und verwandelte sie augenblicklich
in gl�nzende, ebenholzfarbene junge M�nner, von denen einige noch kaum das Teenageralter erreicht hatten. Ich war entsetzt, dass halbe Kinder, die eigentlich spielen oder zur Schule gehen sollten, unter so unmenschlichen Bedingungen und sehr wahrscheinlich f�r einen Hungerlohn arbeiten mussten. �Na, wie gef�llt Ihnen Afrika bisher?�, unterbrach Kapit�n Hartmann meine Gedanken. Als ich ihm sagte, wie sehr mich der Anblick, der sich uns darbot, betroffen machte, ermahnte er mich, mit meinem Urteil nicht zu voreilig zu sein. �Ihr Vater hat eine ganze Armee von solchen Arbeitern, von denen manche nicht �lter als die da sind. Wie Sie bald sehen werden, ist er dadurch ein sehr reicher Mann geworden.� Am Nachmittag fragten drei junge d�nische Schiffsoffiziere, mit denen ich mich angefreundet hatte, ob ich Lust h�tte, mit ihnen an Land zu gehen. Ich konnte es kaum erwarten, �Mutter Afrika� endlich zu betreten, und willigte begeistert ein. 1948 war Dakar eine pulsierende, kosmopolitische Stadt, in der noch immer die Symbole der langj�hrigen franz�sischen Kolonialmacht un�bersehbar waren. An jedem Regierungsgeb�ude der senegalesischen Hauptstadt flatterte die franz�sische Trikolore, und schwarze Soldaten und wei�e franz�sische Offiziere sowie Trupps der franz�sischen Fremdenlegion waren ein allt�glicher Anblick. Auf den M�rkten wimmelte es von gestikulierenden Menschen in wehenden Gew�ndern, und die Kamele, die ich hin und wieder zu Gesicht bekam, erinnerten mich an Szenen aus Tausendundeiner Nacht. Neben den vielen exotischen Dingen, die sich meinem Auge darboten und mich in der Gewissheit best�rkten, dass ich es endlich geschafft hatte, aus Deutschland rauszukommen, l�ste vor allem
der schwere Duft der tropischen Vegetation in mir das Gef�hl aus, dass ich sehr weit von zu Hause weg war. Als wir uns einem Obststand n�herten und mein Blick auf sch�ne, prallfrische Bananen fiel, lief mir das Wasser im Munde zusammen. Ich hatte seit mindestens acht Jahren keine Banane mehr gesehen, geschweige denn gegessen, und fragte den Verk�ufer, was er f�r ein halbes Dutzend Bananen haben wollte. Er teilte mir den Preis mit den Fingern mit, und ich wollte ihm gerade das Geld geben, als ein anderer Obsth�ndler mich beiseite zog und gestikulierte, dass er mir die gleiche Anzahl Bananen f�r die H�lfte des Preises geben w�rde. Meine d�nischen Begleiter rieten mir zu dem besseren Angebot, doch bevor ich das Gesch�ft abschlie�en konnte, brach der erste H�ndler einen derart lauten Krawall vom Zaun, dass wir im Nu von einer gro�en Menschenmenge umringt waren. Pl�tzlich tauchte ein schwarzer Polizist auf, und nachdem er sich die Beschwerde des H�ndlers angeh�rt hatte, machte er uns durch einen unmissverst�ndlichen Wink mit seinem Holzkn�ppel deutlich, dass wir ihn zur Wache begleiten sollten. Mit dem lamentierenden H�ndler im Schlepptau bahnten wir uns einen Weg durch das Gedr�nge von Menschen, die uns mit feindseligen Blicken be�ugten. Da der H�ndler seinem �rger auf Franz�sisch Luft machte, hatte ich keine Ahnung, wor�ber er sich eigentlich beschwerte. Auf der Wache wurden wir in einen gro�en Raum mit mehreren Schreibtischen getrieben, an denen afrikanische Polizisten sa�en. Den Schreibtischen gegen�ber befand sich eine Reihe winziger vergitterter Arrestzellen, die zum Teil belegt waren. Schlie�lich wurden wir dem Revierleiter vorgef�hrt, einem Franzosen in Kakiuniform, der den H�ndler
aufforderte, seine Beschwerde vorzubringen. Minutenlang zeterte der H�ndler auf Franz�sisch, wobei er immer wieder auf meine Begleiter und mich zeigte. Als der Beamte ihm schlie�lich mit einem Wink Einhalt gebot, nahm ich an, dass er sich jetzt unsere Seite anh�ren w�rde, aber weit gefehlt. Ich hatte kaum einen Satz gesprochen, als der Franzose mir r�de ins Wort fiel. �Ferme ta gueule�, rief er, was selbst ich unschwer als �Halt die Klappe� entziffern konnte. Daraufhin befahl uns der Beamte in flie�endem Englisch, das er mit einem starken Akzent � la Charles Boyer sprach, unser s�mtliches Geld vor ihm auf den Tisch zu legen. Der Beamte z�hlte die Geldscheine, gab dem H�ndler den Betrag, den er f�r die Bananen verlangt hatte, und steckte den L�wenanteil in seine Schreibtischschublade. Dann zeigte er auf die T�r und rief: �Allez!�, �Raus!�, was wir uns nicht zweimal sagen lie�en. Die Schiffsoffiziere und ich kochten vor Wut, doch hielten wir es f�r kl�ger, unseren Zorn zu z�geln, bis wir ein gutes St�ck von der Polizeiwache entfernt waren. Ganz offensichtlich waren wir die Opfer einer lukrativen Allianz zwischen H�ndler und Polizei geworden. Als die Offiziere mich am Abend darauf erneut fragten, ob ich mit in die Stadt kommen wolle, war ich bereit, Dakar noch eine zweite Chance zu geben. Dakar bei Nacht kam mir noch exotischer und geheimnisvoller vor als bei Tag. Bis auf vereinzelte verstohlene Gestalten und den einen oder anderen Obdachlosen, der zusammengekauert an einer Hauswand auf dem B�rgersteig schlief, waren die sp�rlich beleuchteten Stra�en wie ausgestorben. Mit etwas Gl�ck konnten wir ein Taxi ergattern, und nachdem wir den Fahrer auf D�nisch, Deutsch und Englisch gefragt hatten, ob er uns irgendwo hinbringen
konnte, wo etwas los war, leuchteten seine Augen pl�tzlich auf. �Oui, messieurs�, sagte er, leckte sich die Lippen und k�sste sich auf die zusammengelegten Fingerspitzen. �Beaucoup beautiful la femme. � Dann kutschierte er uns ziemlich lange durch die Stadt sicherlich die �Touristenroute� -, bevor er vor einem Nachtklub namens Le Moulin Rouge hielt. Es war un�bersehbar, dass das Etablissement mit seinem ber�hmten Pariser Namensvetter bis auf den �blen Ruf nur wenig gemeinsam hatte. Es war schummrig beleuchtet, und in zahllosen Nischen ergingen sich wei�e M�nner und afrikanische Frauen in allen m�glichen pr�koitalen Aktivit�ten. Die ganze Atmosph�re war ausgesprochen schmierig. Dagegen waren die Bars von St. Pauli regelrecht harmlos. Als unsere �Kellnerin�, eine h�bsche junge Euroafrikanerin, uns in perfektem Englisch wissen lie�, dass sie oder irgendeine ihrer Kolleginnen uns in jeder Hinsicht zur Verf�gung st�nden, lehnten wir h�flich, aber energisch ab und bestellten stattdessen eine gro�e Flasche Sekt, die wir uns bei den verf�hrerischen franz�sischen Chansons, die der afrikanische Pianist sang, gen�sslich zu Gem�te f�hrten. Es war sp�t, besser gesagt fr�h, als wir uns schlie�lich von dem bacchantischen Ambiente des Moulin Rouge losrei�en konnten. Da keiner von uns es gewohnt war, Sekt zu trinken, waren wir alle ganz sch�n beschwipst und stiegen laut singend aus unserem Taxi an der Bornholm aus. Als wir die Gangway hochwankten, ermahnte uns einer der Offiziere, ruhig zu sein, damit Captain Bligh nicht aufwachte und uns an den Mast nageln lie�. Um ausschlafen zu k�nnen und nicht am n�chsten Morgen mit dem alten Brummb�r fr�hst�cken zu m�ssen, kritzelte ich auf ein St�ck Pappe �Bitte nicht
st�ren� und h�ngte das Schild drau�en an meine T�r, bevor ich in einen koma�hnlichen Schlaf fiel. Als ich erwachte und durch das Bullauge blickte, war es strahlend heller Tag. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es fast Zeit zum Mittagessen war. Offenbar hatte der Kabinensteward meine Bitte erh�rt und mich schlafen lassen. Noch immer leicht verkatert, begl�ckw�nschte ich mich ob meines Geistesblitzes, der mir einige Stunden kostbaren Schlafes eingebracht hatte. Als ich die Kabine verlie�, um zum Mittagessen mit dem Kapit�n zu gehen, sah ich, dass mein Pappschild verschwunden war. Aage sa� bereits am Tisch des Kapit�ns, als ich eintraf. �Der Alte hat heute Morgen einen Koller gekriegt, als du nicht gekommen bist�, teilte er mir mit. �Er hat dein Bitte-nichtst�ren-Schild als Beleidigung aufgefasst.� Es stimmte zwar, dass ich auch deshalb auf das Fr�hst�ck verzichtet hatte, weil Hartmann so ein unangenehmer Geselle war, aber ich h�tte nie geglaubt, dass er mein Wegbleiben pers�nlich nehmen w�rde. Ich beschloss, mich zu entschuldigen und den alten Knaben wieder zu bes�nftigen. Doch dazu hatte ich keine Gelegenheit. �Der Kapit�n kommt nicht�, unterrichtete uns sein Steward. �Sie k�nnen mit dem Essen anfangen.� Die Gereiztheit des Kapit�ns erschien mir f�r einen Mann seines Alters und seiner Stellung ziemlich kindisch, aber ich beschloss, mich dadurch nicht beirren zu lassen. Als er auch nicht zum Abendessen und am n�chsten Morgen nicht zum Fr�hst�ck erschien, schwante mir, dass er mich damit bestrafen wollte, f�r den Rest meines Aufenthaltes an Bord auf das zweifelhafte Vergn�gen seiner Gesellschaft verzichten zu m�ssen. Das war mir nur recht. Ich konnte den alten
Kauz ohnehin nicht ausstehen, und je weniger ich von ihm sah, desto besser. An einem gl�hend hei�en Vormittag glitt die reparierte Bornholm aus dem Hafen von Dakar und nahm Kurs auf den offenen Atlantik. Nach einigen Tagen kam die afrikanische K�ste wieder in Sicht, und kurz darauf sahen wir Monrovia in der westafrikanischen Sonne vor uns liegen. Der Deckoffizier sagte mir, dass die Bornholm ein paar Meilen vor der K�ste vor Anker gehen m�sse, da der Hafen von Monrovia noch im Bau sei, mein Vater w�rde aber mit einem Ruderboot zu uns an Bord kommen. �Da kommt er ja schon�, rief er und zeigte auf einen winzigen Punkt in der Ferne. Als das Boot n�her kam, erkannte ich acht Ruderer, die auf die Rufe ihres Steuermanns mit rhythmischen Ges�ngen antworteten. Die zerfetzte, schmutzige Kleidung, die ihre muskul�sen K�rper nur notd�rftig umh�llte, stand in krassem Gegensatz zu dem makellosen wei�en Anzug des schwarzen Mannes, der direkt vor dem Steuermann sa�. Mein Vater ging die extra f�r ihn heruntergelassene Gangway hoch und wurde von Kapit�n Hartmann wie ein Staatsgast an Bord begr��t, w�hrend die Besatzung auf Deck mit unverhohlener Neugier zusah. Das Einzige, was noch fehlte, dachte ich, waren Salutsch�sse. Ich registrierte, dass mein Vater etwas kleiner war als ich, aber seine aufrechte, soldatische Haltung und sein autorit�res Auftreten sch�chterten mich vom ersten Augenblick an ein. Unz�hlige Male hatte ich mir ausgemalt, wie unser Wiedersehen verlaufen w�rde. Ich w�rde ihn einfach umarmen und ihm sagen, wie gl�cklich ich sei, ihn zu sehen. Doch als ich ihm dann gegen�ber stand und in die Augen blickte, die mich nach fast zwei Jahrzehnten unverbindlich ansahen, kam er mir
wie ein wildfremder Mensch vor, und ich erstarrte zur Salzs�ule. �Sch�n, dass du wohlbehalten angekommen bist�, sagte er und reichte mir f�rmlich die Hand. Nach einer peinlichen Pause, in der ich vergeblich nach den richtigen Worten suchte, brachte ich blo� ein verlegenes �Guten Tag, Sir� heraus. Irgendwie konnte ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass wir beide �ber unsere erste Begegnung entt�uscht waren. W�hrend ich mich von meinen d�nischen Freunden verabschiedete, gingen mein Vater und Kapit�n Hartmann in den Salon des Kapit�ns, um �ber Gesch�ftliches zu reden. Der Kapit�n, so wusste ich inzwischen, wollte f�r die Bornholm mehr als zwanzig Deckarbeiter von meinem Vater anheuern. Als mein Vater wiederkam, bemerkte ich einen ver�rgerten Ausdruck in seinem Gesicht. Und als ich in seiner Hand das Pappschild sah, das ich an die Kabinent�r geh�ngt hatte, konnte ich mir den Grund f�r seine Verstimmung denken. �Was hast du angestellt?�, stellte mein Vater mich gereizt zur Rede. �Der Kapit�n sagt, dass du ihm gegen�ber sehr unh�flich gewesen bist und dass ich mich bei dir auf einiges gefasst machen muss.� Das war es also. In seiner kindischen Rachsucht hatte Kapit�n Hartmann mich bei meinem Vater angeschw�rzt und dadurch unsere an sich schon schwierige Wiedervereinigung noch schwieriger gemacht. Als ich zu einer Erkl�rung ansetzte, fiel mein Vater mir ins Wort und sagte unheilvoll: �Wir reden sp�ter dar�ber.�
Familientreffen in Monrovia
W�hrend uns das Ruderboot zum Ufer brachte, schien der �rger meines Vaters verflogen zu sein. Mit sichtlichem Stolz zeigte er auf verschiedene schimmernd wei�e Regierungsgeb�ude in der Ferne auf den H�geln von Monrovia. Am Ufer erwartete uns ein junger, barf��iger Mann in Kakishorts und -hemd, den mein Vater mir als seinen �Hausboy� Jason vorstellte. �Das ist mein Sohn, Mr. Hans�, sagte mein Vater zu ihm. �Freut mich sehr, Sie kennen zu lernen, Miista Haans�, sagte Jason mit einem respektvollen Kopfnicken, nahm meinen Koffer und ging voraus. Auf der Stra�e wimmelte es nur so von Menschen. Einige trugen afrikanische, andere westliche Kleidung. Die meisten H�user waren richtige Bruchbuden mit Mauern aus Schlackesteinen und D�chern aus rostigem Wellblech. Was mir an den Menschen auffiel, war ihre ungew�hnliche Fr�hlichkeit, ihr Lachen und ihr unbefangener Umgang miteinander. �berall auf der Stra�e hockten Frauen in bunten Kleidern und boten alle erdenklichen Waren an, von handgewebten Stoffen bis hin zu frisch gebackenem Brot. Sie unterhielten sich so laut in ihrer Muttersprache, dass ich zuerst meinte, sie w�rden sich streiten, doch es war die normale Unterhaltungsform, wie ich sp�ter feststellte. Manche Frauen, eng in farbenfrohe lapas gewickelt, schlenderten gem�chlich dahin und balancierten alle m�glichen Gegenst�nde auf dem Kopf - Kisten, Eimer und N�hmaschinen -, w�hrend sie angeregt miteinander plauderten. Andere trugen schlafende Babys auf dem R�cken.
�Da w�ren wir�, sagte mein Vater und deutete auf ein gro�es, recht schlichtes, zweist�ckiges verputztes Haus am Stra�enrand. �Im Erdgeschoss sind mein B�ro und die Garage, oben sind die Wohnr�ume.� Dann wies er Jason an, mir mein Zimmer zu zeigen und mir anschlie�end ein Bad einzulassen. �Wenn du dich gebadet und ein wenig ausgeruht hast, k�nnen wir etwas essen�, schlug mein Vater vor. �Sag Jason Bescheid, wenn du fertig bist. Ich bin in meinem B�ro.� Mein Zimmer war gro� und angenehm hell. In der Mitte stand ein gro�es Bett mit einem Moskitonetz. Ein gro�er Ventilator an der Decke hielt die Luft in Bewegung, konnte aber wenig gegen die dr�ckende Hitze ausrichten. �Ihr Bad ist fertig, Miista Haans�, verk�ndete Jason. �Danke, Jason. Wie lange arbeiten Sie schon f�r meinen Vater? � �Vier Jahre, Sah�, erwiderte Jason. Schon bald stellte ich fest, dass die Bezeichnung �Hausboy� nicht ann�hernd die vielf�ltigen Aufgaben beschrieb, die Jason ungemein selbstbewusst und t�chtig erf�llte. Er war obendrein der Chauffeur meines Vaters, sein Automechaniker, sein Butler, sein Sekret�r, machte f�r ihn die W�sche, suchte verlorene oder verlegte Gegenst�nde und behielt f�r ihn wichtige Fakten und Termine im Kopf. Nach einem erquickenden lauwarmen Bad zog ich die frischen Sachen an, die Jason f�r mich rausgelegt hatte, und ging in das gro�e Wohnzimmer, wo ein langer Tisch f�r zwei Personen gedeckt war. Jason hatte ein gro�es, mit einem Tuch bedecktes Tablett vor mich hingestellt, auf dem sich einige k�stlich aussehende Gerichte befanden, unter anderem H�hnchen in Bratenso�e, Kohlgem�se, Paradiesfeigen und regelrechte Berge von Reis. Sekunden sp�ter erlebten
meine Geschmacksnerven ihren ersten Kulturschock. Ich hatte das Fr�hst�ck auf der Bornholm ausfallen lassen und demzufolge einen B�renhunger. Freudig nahm ich einen gro�en Bissen von dem H�hnchen, und mit einem Mal schienen sich mein Mund und Rachen in ein flammendes Inferno zu verwandeln. �Anscheinend bist du keine scharfen Gew�rze gewohnt�, sagte mein Vater lachend, als ich wieder atmen konnte und die Fassung wiedergewonnen hatte. �Ich habe ganz vergessen, dass mein Sohn ja Europ�er und nicht Afrikaner ist. Aber keine Sorge. Ich lasse gleich ein neues H�hnchen f�r dich zubereiten, diesmal ohne Pfeffer.� Dann wies er Jason an, der K�chin Maima auszurichten, sie solle rasch eine neue Portion f�r mich zubereiten. W�hrend ich auf mein Essen wartete und mein Vater sich von einem zweiten Tablett, das Jason gebracht hatte, bediente, nutzte ich die Gunst der Stunde und brachte meine kleine Reiberei mit dem Kapit�n der Bornholm zur Sprache. Nachdem ich meinem Vater meine Version der Geschichte erz�hlt und ihm versichert hatte, dass es nicht meine Absicht gewesen sei, den Kapit�n zu br�skieren, sagte er, ich solle die Angelegenheit vergessen, er werde das auch tun. W�hrend ich mir schlie�lich mein mild zubereitetes H�hnchen schmecken lie�, kam ein junger, schlanker Mann mit scharf geschnittenem, dunklem Gesicht und schlaksigem Gang herein. �Wie geht es dir, Bruder Lahai?�, begr��te er meinen Vater mit einer anderen Version von dessen Vornamen, �und wie geht es meinem kleinen Neffen? �, sagte er an mich gerichtet mit einem breiten Grinsen und f�gte scherzhaft hinzu: �Meine G�te, du bist aber gro� geworden! � Pl�tzlich d�mmerte mir, dass der junge Mann Fritz sein musste,
der j�ngere Bruder meines Vaters und, obwohl sechs Monate j�nger als ich, mein Onkel, den ich, seit wir beide damals in Hamburg in der Johnsallee noch ganz klein gewesen waren, nicht mehr gesehen hatte. Fritz hie� mich in Monrovia willkommen und sagte, seine Schwestern Fasia und Fatima und sein Bruder Arthur k�nnten es kaum erwarten, mich zu sehen. �Ich komme morgen wieder, wenn du dich etwas ausgeruht hast, und bringe dich zu ihnen, und anschlie�end zeige ich dir die Stadt�, versprach Fritz. Sobald Fritz gegangen war, erz�hlte mein Vater mir N�heres von dem Familienzwist mit einigen seiner Geschwister, vor allem mit Fatima und seinem Bruder Nat. Obwohl er und Fatima kein Wort mehr miteinander sprachen und sich seit geraumer Zeit auch nicht mehr gegenseitig besuchten, hatte er, wie er mir versicherte, nichts dagegen, wenn ich sie sah. �Du kannst dich hier treffen, mit wem du willst�, sagte er, mit einer Ausnahme. Es gibt da einen jungen Burschen namens Morris, etwa sechs Jahre �lter als du. Er erz�hlt �berall rum, er w�re mein Sohn. Aber er l�gt. Er ist ein Nichtsnutz. Wahrscheinlich wird er auch zu dir Kontakt aufnehmen und -behaupten, dass du sein Bruder bist. Ich m�chte nicht, dass du dich mit diesem Halunken abgibst. Solltest du je mit ihm gemeinsame Sache machen, will ich nichts mehr mit dir zu tun haben.� Wohl gerade wegen dieser harten Worte machte die seltsame Forderung meines Vaters mich neugierig. �Was ist denn dieser Morris f�r einer?�, hakte ich nach. Obwohl ihm das Thema offensichtlich unangenehm war, erz�hlte mir mein Vater dennoch eine Geschichte, die in meinen Augen ein ganz eigenes Licht auf Morris warf. �Eines muss man Morris lassen. Er hat mehr Mumm als Verstand.� Zwei Jahre zuvor, so berichtete mein Vater,
hatte Morris als Baggerfahrer beim Bau des Hafens von Monrovia gearbeitet. Als die eingeborenen Arbeiter wegen der niedrigen L�hne und m�rderischen Arbeitsbedingungen in den Streik traten, erkl�rte sich Pr�sident Tubman bereit, um sein Lieblingsprojekt, den Hafenbau, nicht zu gef�hrden, mit einem Vertreter der Streikenden zu verhandeln. Keiner der Arbeiter, bis auf Morris, hatte den Mut dazu, sich zum Sprecher ernennen zu lassen. �Und dieser Wicht�, so mein Vater, �schaffte es tats�chlich, den Pr�sidenten zum Einlenken zu bewegen. Doch statt sich weiter um die Belange seiner Kollegen zu k�mmern, machte Morris sich einen faulen Lenz, bis er schlie�lich als Unterh�ndler abgesetzt wurde und noch dazu seinen Job verlor. Soviel ich wei, ߫ schloss mein Vater, �ist er seitdem arbeitslos.� Mir war klar, dass mein Vater mich mit dieser Geschichte gegen Morris einnehmen wollte, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Ich war beeindruckt von Morris' Mut, mit sechsundzwanzig Jahren dem m�chtigsten Mann des Landes die Stirn zu bieten. Am folgenden Morgen holte mich Fritz wie versprochen ab, und wir gingen zu Tante Fatima und Tante Fasia, die noch immer bei Ma Rachel, Momolus Witwe und Matriarchin der Massaquoi-Sippe, wohnten. Tante Fatima war inzwischen Professorin f�r verschiedene Wissenschaften am College of Liberia in Monrovia geworden. Sie hatte sich kaum ver�ndert, seit ich sie zuletzt vor Ausbruch des Krieges in Deutschland gesehen hatte. Auch Ma Rachel sah noch genauso aus wie fr�her, nur dass sie einige Pfunde zugelegt hatte und erheblich grauer geworden war. Zum Begr��ungskomitee geh�rte auch Arthur, mein Onkel und Spielkamerad aus Kindertagen in der
Johnsallee. Ihn h�tte ich nicht wiedererkannt, denn er war nicht nur erwachsen geworden, sondern noch dazu immens in die Breite gegangen. Eine weitere �berraschung war meine j�ngste Tante Fasia. Aus dem kleinen Wurm in Windeln, den ich noch in Erinnerung hatte, war eine attraktive junge Dame von zwanzig Jahren geworden. Au�erdem anwesend war Onkel Abraham, inzwischen ein hohes Tier im Landwirtschaftsministerium, der ebenfalls einige Jahre in Hamburg verbracht hatte, doch bereits nach Liberia zur�ckgekehrt war, bevor er in meinen Erinnerungen eine Rolle spielen konnte. Nach einer �berschw�nglichen Begr��ung verk�ndete Tante Fatima, sie habe eine �berraschung f�r mich. Als sie mit einem kleinen, schlanken Mann an der Hand zur�ckkam, dachte ich einen Moment lang, eine Sinnest�uschung zu erleben, denn ich blickte in das verj�ngte Gesicht meines Vaters. �Das ist Morris�, sagte Tante Fatima, �Morris, das ist dein Bruder Hans. � Als wir uns die Hand gaben, nahm ich Morris genauer in Augenschein. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass dieser Bursche, der genau wie mein Vater ging und sprach und ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war, sein Sohn und mein Halbbruder war. Und obwohl mein Vater versucht hatte, ihn schlecht zu machen, mochte ich ihn auf der Stelle. Morris war, wie er mir erz�hlte, in einer H�tte am Rande von Monrovia zur Welt gekommen. Seine Mutter, die aus dem Volk der Kru stammte und weder schreiben noch lesen konnte, starb, als er noch ein kleiner junge war. Vor ihrem Tod hatte sie ihm erz�hlt, sein Vater sei ein reicher VaiMann namens Al-Haj Massaquoi, der in einem gro�en Haus auf der Water Street lebte.
Als jugendlicher ging Morris zu Al-Haj Massaquoi und stellte sich als sein Sohn vor. �Der alte Herr wollte nichts von mir wissen�, erinnerte sich Morris, �und sagte, ich solle verschwinden.� Doch Morris ging einmal w�chentlich bei ihm vorbei und w�nschte ihm einen guten Tag. Seine Hartn�ckigkeit zahlte sich aus. Irgendwann fing unser Vater an, ihn kleinere Besorgungen machen zu lassen, und endlich nannte er ihn auch �mein Sohn�. Als ich Morris fragte, warum die Beziehung dann wieder zerbrochen sei, murmelte er irgendwas von �Frauengeschichten�. Ich hakte nach, und schlie�lich erz�hlte er mir, dass unser Vater ihn mit einer delikaten Mission betraut habe, bei der es darum ging, eine junge KruFrau, der er �den Hof machen� wollte, aus ihrem Dorf abzuholen. Um die junge Dame zu beeindrucken, lieh unser Vater Morris seinen brandneuen Wagen. Morris beteuerte, er sei besten Willens gewesen, den Auftrag auszuf�hren, aber als er das h�bsche KruM�dchen sah, beschloss er, sie f�r sich selbst zu gewinnen. Und da er flie�end Kru sprach, war ihm auch recht schnell Erfolg beschieden. Eine Woche sp�ter fand mein Vater seinen Wagen, ohne Morris oder die KruDame, verdreckt und mit fast leerem Tank vor seinem Haus. Von Stund an lie� er alle wissen, dass �dieser verdammte Kru-Gauner�, der sich Morris Massaquoi nannte, nicht sein Sohn sei. �Das war vor ungef�hr vier Jahren, und seitdem habe ich nichts mehr mit ihm zu tun�, schloss Morris mit einem schelmischen Grinsen, das keinerlei Reue erkennen lie�. �Der alte Herr hat dir doch bestimmt gesagt, dass du dich von diesem >verdammten Gauner Morris fern halten sollst<.� Mein Bruder ahmte den britischen Akzent meines Vaters nach.
�Kannst du ihm das verdenken?�, erwiderte ich. �Das war ziemlich unversch�mt von dir.� Morris pflichtete mir bei, aber noch immer ohne eine Spur von schlechtem Gewissen. �Ich habe mir gedacht, eine Woche Spa� mit seinem Wagen und seinem M�dchen w�re kein zu hoher Preis f�r all die Jahre, in denen er meine Mutter und mich vernachl�ssigt hat.� Ich dachte an die harten Zeiten, die meine Mutter und ich durchgemacht hatten, und kam zu dem Schluss, dass Morris Recht hatte. Bevor wir wieder auseinander gingen, beschlossen wir heimlich in Kontakt zu bleiben. Ich hatte zwar ein schlechtes Gewissen, meinen Vater zu hintergehen, aber es war mir andererseits auch unvorstellbar, meinen neu gewonnenen Bruder wieder aus meinem Leben treten zu lassen.
Beim Pr�sidenten
Eines Tages teilte mein Vater mir mit, dass sein Freund Pr�sident William V. S. Tubman uns f�r Sonntag in seine Residenz eingeladen habe, um mich kennen zu lernen. Zun�chst freute ich mich �ber diese hohe Ehre, doch je n�her der gro�e Tag r�ckte, desto nerv�ser wurde ich. �Was soll ich denn sagen, wenn ich dem Pr�sidenten vorgestellt werde�, fragte ich meinen Vater. �Ich bin doch noch nie im Leben einem Pr�sidenten begegnet.� �Keine Sorge�, beruhigte er mich. �Der Pr�sident bei�t nicht. Aber merk dir, sprich nur, wenn du angesprochen wirst, und sag immer >Ja, Sir< und >Nein, Sir< statt blo� >Ja< oder >Nein<. Ansonsten sei einfach du selbst.� Also begab ich mich am Sonntag in Begleitung meines Vaters, die Haare frisch geschnitten und ganz in tropisches Wei� gekleidet, zur Residenz im Zentrum von Monrovia. Um Punkt vier teilte mein Vater einem Wachmann in Uniform mit, dass der Pr�sident uns erwarte. Wenige Minuten sp�ter wurden wir von Colonel Alexander Brewer, dem Adjutanten des Pr�sidenten, begr��t und durch lange Korridore auf eine gro�e Veranda im ersten Stock gef�hrt, wo der Pr�sident sich angeregt mit zwei wei�en Gentlemen unterhielt. Als der Pr�sident meinen Vater sah, erhob er sich und begr��te ihn. �Sch�n, Sie zu sehen, Mass�, sagte der Pr�sident, wandte sich dann mir zu, reichte mir die Hand und musterte mich mit gro�en hervortretenden Augen, die, so schien mir, tief in mein Innerstes blicken konnten. �Sie m�ssen der junge Mann sein, von dem ich schon so viel geh�rt habe�,
sagte er zu mir. �Ich muss sagen, Mass, Sie haben Ihre Zeit in Deutschland nicht vertan�, witzelte er und zwinkerte meinem Vater verschmitzt zu. �Ganz Ihrer Meinung, Mr. President�, erwiderte mein Vater mit sichtbarem v�terlichen Stolz. Nachdem er uns den beiden anderen G�sten vorgestellt hatte, einem Captain der US-Marine und einem jungen, smarten amerikanischen Gesch�ftsmann namens Stettinius, bat der Pr�sident uns, Platz zu nehmen. Er z�ndete sich eine dicke Havanna an und setzte das Gespr�ch fort, bei dem es �berwiegend um Themen ging, von denen ich nichts verstand. Als ein Butler mir eine Zigarre und ein Glas Bourbon anbot, lehnte ich dankend ab. So distinguiert und mond�n ich mich auch geben wollte, mein Instinkt sagte mir, dass ich, da ich bis dahin weder Whiskey noch Zigarren anger�hrt hatte, nicht ausgerechnet hier damit anfangen sollte. Mich wurmte allerdings, wie sachkundig dieser Stettinius, der kaum �lter als ich sein konnte, �ber so gewichtige Themen wie die Finanzierung des Millionen Dollar teuren Hafenbauprojektes in Monrovia durch die USA, den Goldpreis und die Absichten der Sowjetunion nach Kriegsende parlieren konnte, w�hrend ich mir �ber solche Dinge noch nie Gedanken gemacht hatte. Au�erdem fiel mir auf, dass der junge Gesch�ftsmann obendrein ein sicherer Whiskeytrinker und Zigarrenraucher war. Pl�tzlich kam ich mir so fehl am Platze vor wie ein Maulesel unter Vollblutpferden. Je l�nger ich meine gesellschaftliche Unbeholfenheit mit Stettinius' gewandtem Auftreten verglich, desto schmerzhafter wurde mir bewusst, was f�r eine kl�gliche Ausbildung ich genossen hatte, und ich fasste in diesem Moment den
Entschluss, das Vers�umte nachzuholen, koste es, was es wolle. Als ich mich gerade damit abgefunden hatte, den Rest des Nachmittags in peinlichem Schweigen als unbeteiligter Zuschauer zu verbringen, kam mir Pr�sident Tubman zur Hilfe. �Jetzt wollen wir doch mal h�ren, was der junge Massaquoi, der soeben aus Deutschland gekommen ist, wo er den Krieg miterlebt hat, Interessantes zu erz�hlen hat�, brach er das Eis. �Soviel ich wei�, haben Sie in Hamburg gewohnt. Wie haben Sie denn blo� die Luftangriffe �berlebt?� Mit einem Mal bekam ich Gelegenheit, �ber ein Thema zu sprechen, von dem ich mehr verstand als die anderen zusammen, und ich war gewillt, das Beste daraus zu machen. Schon bald hingen der Pr�sident und seine G�ste an meinen Lippen, als ich von meinen Erlebnissen w�hrend der Bombardierungen durch die Briten und Amerikaner erz�hlte. Hin und wieder unterbrachen sie mich mit Fragen nach bestimmten Einzelheiten, das Thema schien sie offenkundig wirklich zu interessieren. Als sich unser Besuch dem Ende zuneigte, dankte der Pr�sident meinem Vater daf�r, dass er mich mitgebracht hatte. �Mass, Sie m�ssen mir versprechen, dass Sie mich bald wieder mit Ihrem Sohn besuchen kommen, damit er uns noch mehr von seinen Erlebnissen w�hrend des Krieges berichten kann.� Auf der Fahrt nach Hause begl�ckw�nschte mein Vater mich zu meinem Auftreten in Gegenwart eines Staatsoberhauptes und sagte, dass er stolz auf mich sei. Als ich ihm dann gestand, wie sehr der junge Stettinius mich mit seiner Bildung und den guten Umgangsformen eingesch�chtert habe, versprach er, mir dabei zu helfen, meine Ausbildungsdefizite auszugleichen und mich auf ein College zu schicken, vielleicht sogar in den USA.
Seine Worte waren Musik in meinen Ohren, und ich nahm mir vor, alles zu tun, um mir seine Unterst�tzung und sein Vertrauen auch in Zukunft zu verdienen. Kurz darauf hatte mein Vater wieder etwas f�r mich geplant. �Es wird Zeit, dass du unser Volk kennen lernst�, tat er eines Tages kund. �N�chsten Sonntag nehme ich dich mit nach Vai Town.� Vai Town, so erkl�rte er, war die Siedlung mit strohgedeckten Lehmh�tten, an der wir �fters vorbeigefahren waren. Sie lag malerisch am Strand des Atlantiks, etwa zehn Minuten mit dem Auto von Monrovia entfernt. Vai Country, so sagte er, war das Stammesgebiet der Vai, deren K�nig mein Gro�vater einst gewesen war; es umfasste Teile von Liberia und der britischen Kolonie Sierra Leone. Vai Town war dagegen blo� eine kleine Ansiedlung der Vai, ihre Heimat au�erhalb der Heimat. Offen gesagt, war ich nicht sonderlich begeistert von der Vorstellung, �unser Volk� kennen zu lernen, wenn mein Vater mit �unser Volk� Menschen meinte, die in Lehmh�tten wohnten statt in H�usern mit sanit�ren Anlagen. Ich hatte noch immer lebhaft in Erinnerung, wie entsetzt ich als kleiner Junge gewesen war, als ich bei einem Besuch in Hagenbecks Tierpark von den dort ausgestellten eingeborenen Afrikanern be�ugt worden war wie ein lange verschollener Verwandter. Meine europ�ische Erziehung, die �berwiegend im rassistischen Nazideutschland stattgefunden hatte, war nicht gerade dazu angetan gewesen, meine Achtung vor �primitiven Eingeborenen� zu erh�hen. Als mein Vater und ich nach Vai Town kamen, wurden wir von ohrenbet�ubenden Trommeln und Hunderten von M�nnern und Frauen in farbenpr�chtigen Gew�ndern und von lachenden dickb�uchigen Kindern
mit riesigen Augen und kahl geschorenen K�pfen begr��t. Offenbar waren sie von unserer Ankunft in Kenntnis gesetzt worden. Langsam bahnten wir uns einen Weg durch die Menschen, die die H�nde nach uns ausstreckten, um uns zu begr��en oder einfach nur anzufassen. Obwohl mein Vater das offensichtliche Objekt ihrer Verehrung war, stellte ich fest, dass sich ihre Neugier ausschlie�lich auf mich richtete. Vor allem die jungen Vai-Damen bedachten mich mit sch�chtern koketten Blicken. In der Mitte der Siedlung begr��te uns der Dorfvorstand, ein uralt aussehender, grauhaariger Mann in einem makellosen wei�en Gewand und mit einer goldbestickten schwarzen Kappe. Er lud uns in eine gro�e, strohgedeckte Versammlungshalle ein und bedeutete uns, auf zwei mit Schnitzereien reich verzierten Holzschemeln neben ihm und vor den im Halbkreis sitzenden Stammes�ltesten Platz zu nehmen. Nach einer ausgedehnten Begr��ungsrede in Vai, in der der Dorfvorstand, wie ich sp�ter erfuhr, meinem Gro�vater und meinem Vater seine Reverenz erwies und mich �zu Hause� willkommen hie�, antwortete mein Vater kurz, ebenfalls in Vai. Anschlie�end servierte man uns Palmwein, ein milchiges alkoholisches Getr�nk, und gro�e St�cke Maisbrot, woraufhin eine schier endlose Prozession von Frauen und M�nnern an uns vorbeidefilierte, die uns die Hand sch�ttelten und ein langes, gl�ckliches Leben w�nschten. Als der Letzte uns die Hand gesch�ttelt hatte, war es fast dunkel, und der Dorfvorstand und mehrere �lteste begleiteten uns zum Wagen. Dann fuhren wir wieder ab, und der Klang der Trommeln folgte uns noch, als Vai Town l�ngst au�er Sicht war. Ich hatte zwar nichts von dem verstanden,
was gesagt worden war, doch die Aufrichtigkeit in den Worten der Leute war deutlich zu sp�ren gewesen. W�hrend ich den Trommeln lauschte und daran zur�ckdachte, mit wie viel Liebe und Verehrung die bescheidenen Menschen von Vai Town - unser Volk uns �bersch�ttet hatten, empfand ich pl�tzlich Dankbarkeit und tiefen Stolz auf mein Vai-Erbe. Obwohl mein Vater h�ufig seine Verachtung f�r �amerikanische Neger� �u�erte, die seiner Ansicht nach nichts anderes waren als ehemalige Sklaven mit einer unausl�schlichen Sklavenmentalit�t, nahm er die Einladung zu einer Gesellschaft im Hause eines hohen Beamten der US-Botschaft an, in der fast ausschlie�lich schwarze Amerikaner besch�ftigt waren. Gleich als wir eintrafen, wurde mir klar, dass mir meine Erfahrungen mit amerikanischen Seeleuten und GIs in diesem Milieu nicht das Geringste n�tzen, sondern mir eher zum Nachteil gereichen w�rden. Die schwarzen Botschaftsmitarbeiter, denen ich vorgestellt wurde, waren himmelweit entfernt von den ungezwungenen, Slang sprechenden, l�ssig gekleideten Burschen, mit denen ich im Hamburger Hafenviertel herumgehangen hatte und denen ich unbedingt nacheifern wollte. Die Leute von der Botschaft waren ausnahmslos kultiviert, wortgewandt, akkurat gekleidet, hatten studiert und - aus mir bis dato unerfindlichen Gr�nden - eine hellbraune Haut. Mir war klar, dass ich mich rasch an die neue Situation anpassen musste, um in diesem eleganten Milieu keinen Narren aus mir zu machen. Ich erinnerte mich an das, was ich w�hrend meines Besuches bei Pr�sident Tubman gelernt hatte, und beschloss, mich als guter Zuh�rer zu
zeigen und nur den Mund aufzumachen, wenn ich wirklich etwas zu sagen hatte. Die amerikanischen Schwarzen, die ich bis dahin kennen gelernt hatte, waren ausnahmslos m�nnlichen Geschlechts gewesen, und so entdeckte ich zu meiner Freude eine f�r mich v�llig neue Spezies: schwarze amerikanische Frauen. Einige von ihnen waren Botschaftsangestellte, und einige waren Ehefrauen von Botschaftsangestellten. Wie ihre m�nnlichen Pendants waren sie gebildet, kultiviert, wie aus dem Ei gepellt und obendrein eine Augenweide. Und so eroberte ich, mit ein wenig Aufmunterung seitens meines Vaters, das Tanzparkett, wo ich, zu den Kl�ngen eines Pianos und zum Vergn�gen meiner attraktiven Tanzpartnerinnen, einige der ausgefallensten Schritte wiederbelebte, die ich w�hrend des Krieges in der Tanzschule Lucas in Barmbek gelernt hatte. Schlie�lich gesellte ich mich zu einigen G�sten, die sich um den Pianisten versammelt hatten und ein paar der beliebtesten amerikanischen Hits der damaligen Zeit sangen. Der Pianist, ein Blinder, wie ich �berrascht feststellte, war ein sehr bekannter liberianischer Musiklehrer, Professor Hayes. W�hrend ich begeistert mitsang, tippte mein Vater mir auf die Schulter und sagte, er m�sse wegen einer dringenden Sache kurz weg, aber ich solle mich ruhig weiter am�sieren. Als er eine Viertelstunde sp�ter wiederkam, begriff ich, worum es bei der �dringenden Sache� ging. Er hatte n�mlich meinen Saxofonkasten geholt. �Zeig ihnen, was du kannst�, sagte mein Vater und reichte mir das Instrument. �Professor Hayes hat ganz sicher nichts dagegen.�
Ich hatte einige Gl�ser Wein getrunken und f�hlte mich leicht beschwipst und von aller Sch�chternheit befreit. Also lie� ich mich nicht lange bitten, und kurz darauf verschmolzen der Klang meines Altsaxofons und Professor Hayes' Pia no zu Till the End of Time. Die anf�ngliche Verbl�ffung im Gesicht des blinden Musikers wich einem strahlenden L�cheln, das mir sagte, dass meine Mitwirkung auf uneingeschr�nkte Zustimmung stie�. W�hrend die G�ste noch applaudierten und eine Zugabe verlangten, stand Professor Hayes auf und umarmte mich st�rmisch. Nat�rlich sonnte ich mich in meiner neu gewonnenen Popularit�t, aber eine noch gr��ere Freude war es, mit einem so wunderbaren Musiker zusammenzuspielen, wie Professor Hayes es war. Als der Abend schlie�lich zu Ende ging, musste ich ihm versprechen, ihn bald zu besuchen und nat�rlich mein Saxofon mitzubringen. Meine Tage in der neuen Umgebung fingen meist um acht Uhr morgens an, wenn mein Vater und ich im gro�en Wohnzimmer gemeinsam ein leichtes Fr�hst�ck einnahmen. Frisch geduscht und noch in Bademantel und Pantoffeln schritt mein Vater dann auf und ab und sprach �ber Gott und die Welt, w�hrend er zwischendurch an seinem Tee nippte und an seiner unvermeidlichen Zigarette zog. Gern erz�hlte er von fr�her und unterhielt mich h�ufig mit Anekdoten aus seiner Studienzeit in England und Irland. Und bei dieser Gelegenheit zeigte er mir jedes Mal einen alten, vergilbten Zeitungsausschnitt mit einem Foto, auf dem er, �Prinz� Al-Haj, neben dem Prince of Wales und zuk�nftigen K�nig Edward bei einem Diner im Buckingham Palace zu sehen war. Mit gro�em Vergn�gen erz�hlte er mir auch,
dass er irgendwann zu Beginn der zwanziger Jahre das erste Automobil - einen Mercedes-Benz - nach Liberia gebracht habe, lange bevor es �berhaupt die ersten befestigten Stra�en gab. W�hrend unserer t�glichen Gespr�che, die eher Vortr�gen glichen, lernte ich die Intelligenz und das weit gef�cherte Wissen meines Vaters sch�tzen. Au�erdem entdeckte ich so manche liebenswerte Seite an ihm, die mir bis dahin entgangen war. Andererseits fielen mir auch seine Schw�chen immer mehr auf. Was seine religi�se �berzeugung betraf, so schien er sich einfach nicht festlegen zu wollen, ob er nun Christ, Moslem oder sonst was war. Stets hatte er ein Zitat aus der Bibel oder, falls es ihm besser passte, aus dem Koran bei der Hand. In drei Punkten war er jedoch konsequent: in seiner Verachtung f�r �amerikanische Neger�, in seiner Abneigung gegen eine politische Laufbahn (zweifellos weil sie seinem Vater, einem langj�hrigen Mitglied der liberianischen Regierung, zum Verh�ngnis geworden war) und in seiner Verehrung f�r Pr�sident Tubman, den er bei jeder Gelegenheit zitierte. Ein Grund, warum der Pr�sident bei meinem Vater so hoch im Kurs stand, war die Tatsache, dass die Massaquois unter der vorangegangenen Regierung von Pr�sident Edwin Barclay regelrecht ins Abseits gedr�ngt worden waren und Nat Massaquoi sogar wegen des angeblichen Versuchs, die Regierung zu st�rzen, ins Gef�ngnis geworfen worden war. Als Tubman 1944 an die Regierung kam, wendete sich das Blatt. Er gab Barclays Politik der Neutralit�t gegen�ber Nazideutschland auf, verwies die deutschen Diplomaten und alle in Liberia ans�ssigen Deutschen des Landes und betraute meinen Vater damit, die betr�chtlichen
Besitzt�mer, die die Deutschen zur�cklassen mussten, f�r die Regierung zu verkaufen. Von dem Erl�s durfte er zehn Prozent in die eigene Tasche stecken, was es ihm erm�glichte, die Schulden, die mein Gro�vater hatte aufnehmen m�ssen, zu tilgen. �Sehr bald�, so versprach mein Vater, �zeige ich dir, was eines Tages dir geh�ren wird.� Obwohl mein Vater offensichtlich wohlhabend war und sich ein sch�nes Leben h�tte machen k�nnen, war er ein regelrechtes Arbeitstier und von Punkt neun Uhr morgens bis in den sp�ten Abend hinein t�tig. Das einzige Hobby, das er sich g�nnte, waren seine allw�chentlichen Besuche im vornehmen Saturday Afternoon Club am Meer, wo sich Pr�sident Tubman mit seinem ausschlie�lich m�nnlichen engen Freundeskreis traf und es sich mit Hilfe von erlesenem Cognac, Whiskey und teuren Zigarren gut gehen lie�.
Anpassung
Immer wieder �u�erte mein Vater die Hoffnung, dass er, jetzt da ich in Monrovia sei, vielleicht eines Tages die Dinge gem�chlicher angehen und sich zur Abwechslung sogar mal einen Urlaub g�nnen k�nne. Er sagte, dass er vorhabe, seiner betagten Mutter in Lagos, Nigeria, die er seit vielen Jahren nicht gesehen habe, einen l�ngst �berf�lligen Besuch abzustatten. Meine Gro�mutter war, nachdem sie sich lange vor meiner Geburt von Momolu hatte scheiden lassen, in die britische Kolonie gezogen und hatte dort geheiratet. �Ich habe deiner Gro�mutter versprochen, dass ich dich auch zu ihr schicken werde. Sobald du dich ein wenig eingelebt hast, kannst du die Reise machen. Sie freut sich schon auf dich.� Das h�rte sich ja alles interessant und aufregend an, aber nutzte mir in meiner gegenw�rtigen Situation nicht. Jeden Morgen graute mir vor dem Moment, wenn mein Vater nach unserem gemeinsamen Plausch beim Fr�hst�ck in sein B�ro ging und ich mich selbst besch�ftigen musste, um nicht vor Langeweile verr�ckt zu werden. Weil mir nichts Besseres einfiel, unternahm ich meist einen ausgedehnten Bummel durch das lebendige Hafenviertel. Hin und wieder traf ich mich auch mit Fritz und seinen Freunden, allesamt S�hne und T�chter aus der amerikoliberianischen F�hrungsschicht von Monrovia. Auch wenn sie mich mit ihrem st�ndigen Gerede �ber gesellschaftliche Ereignisse in Monrovia zu Tode langweilten, beneidete ich sie trotzdem um ihr sorgenfreies Leben, denn durch sie wurde mir klar, wie sehr ich durch den nackten �berlebenskampf um meine eigene Jugend betrogen worden war. Neidisch machte
mich auch, dass ihre beruflichen Laufbahnen - und h�ufig sogar ihre zuk�nftigen Ehen - von ihren Familien sorgsam geplant wurden, w�hrend meine Zukunft nach wie vor in den Sternen stand. Schon l�ngst hatte ich eingesehen, dass ich ohne eine h�here Ausbildung im statusbewussten Liberia nicht die geringste Chance hatte, aber wenn ich das Thema bei meinem Vater anschnitt, reagierte er ausweichend und ermahnte mich zur Geduld. Damit ich endlich Ruhe gab, empfahl er mir eines Tages, Fahrstunden zu nehmen, da, wie er meinte, ein Auto im liberianischen Gesch�ftsleben unabdingbar sei. Also stellte er einen seiner �lteren Angestellten dazu ab, mir Unterricht zu geben. Ich hatte noch lebhaft in Erinnerung, wie ich das erste und letzte Mal hinter dem Steuer eines Wagens gesessen hatte; ich war f�nfzehn oder sechzehn gewesen und hatte als Lehrling in meiner Firma einen Laster mit Karacho gegen einen Anh�nger gefahren. Doch trotz dieser wenig verhei�ungsvollen ersten Erfahrung fuhr ich schon bald durch Monrovia, als h�tte ich mein Lebtag nichts anderes getan. Um den F�hrerschein zu bekommen, musste ich nur auf die Polizeiwache gehen und einem bestimmten h�heren Beamten sagen, dass ich der Sohn von Al-Haj Massaquoi sei, woraufhin dieser mir, ohne dass ich je eine Pr�fung abgelegt hatte, prompt einen F�hrerschein ausstellte. Mit diesem Dokument in der Tasche �bernahm ich von nun an viele Fahrten f�r meinen Vater, um Fahrpraxis zu bekommen und etwas zu tun zu haben. Au�erdem verbrachte ich viel Zeit damit, eine Schreibmaschine zu maltr�tieren, einerseits um schneller schreiben zu lernen und mich auf den sp�teren Einstieg in die Gesch�fte meines Vaters vorzubereiten,
andererseits um meine Mutter, Freunde und Bekannte in Hamburg �ber mich auf dem Laufenden zu halten. Da die Post zwischen Monrovia und Hamburg eine Ewigkeit unterwegs war, dauerte es fast einen Monat, bis ich zum ersten Mal einen Brief von meiner Mutter bekam. Sie schrieb, dass kurz nach meiner Abreise aus Hamburg die Deutsche Reichsmark durch eine neue W�hrung, genannt Deutsche Mark, ersetzt worden sei. Alle Deutschen h�tten pro Person vierzig DM �Kopfgeld� erhalten. �ber Nacht, so schilderte sie, seien die bis dahin leeren Gesch�fte nun pl�tzlich mit allen m�glichen Waren gef�llt, die sie seit Ausbruch des Krieges nicht mehr gesehen h�tte. Ihr Brief endete recht optimistisch. Sie hoffte, dass Deutschland wohl endlich das Schlimmste hinter sich habe und dass es mir in Liberia so gut gefiele, dass sie bald nachkommen k�nne. Ab und zu besuchte ich Professor Hayes, und wir verbrachten wunderbare Nachmittage mit Klavier- und Saxofonduetten. Trotz des krassen Vorurteils, das mein Vater gegen �amerikanische Neger� hegte, war ich zudem regelm��ig Gast in der US-Botschaft in Mamba Point. Ich hatte meinen lang gehegten Traum von einem Leben in den Vereinigten Staaten noch immer nicht aufgegeben, und durch meine Bekanntschaften in der Botschaft lernte ich viel �ber das Land, das hoffentlich irgendwann einmal meine zweite Heimat werden w�rde. Als ich mich einmal bei meinem Vater dar�ber beklagte, dass ich mich zu Tode langweilte, und ihn bat, mir eine sinnvolle Aufgabe zu geben, fuhr er aus der Haut. �Wir sind hier in Afrika, nicht in Europa�, hielt er mir vor. �Die Leute hier lassen sich Zeit. Du bist kaum hier und willst schon �ber Nacht reich werden. So l�uft das hier nicht.� Meiner Erinnerung nach hatte ich nie gesagt,
dass ich �ber Nacht reich werden wollte, aber ich lie� seine Standpauke widerspruchslos �ber mich ergehen. Meine Beschwerde war jedoch nicht umsonst gewesen. Einige Tage sp�ter er�ffnete mein Vater mir, dass er eine Aufgabe f�r mich habe, und nahm mich mit zu einem Lagerhaus, das nach meinem Eindruck voll gestopft war mit Ger�mpel. In einer Ecke standen etwa ein Dutzend gro�e Waagen, wie man sie zum Abwiegen von S�cken benutzte. Eine dicke Staubschicht bedeckte sie, was darauf schlie�en lie�, dass sie lange nicht mehr benutzt worden waren. �Das hier war mal ein deutsches Lagerhaus�, erkl�rte mein Vater, �und diese Waagen da sind von deutschen Gesch�ftsleuten w�hrend des Krieges zur�ckgelassen worden. Sie sehen aus, als w�ren sie in einem ziemlich schlechten Zustand, und ich wei� nicht, ob man sie wieder in Schuss bringen kann, aber wenn du meinst, dass du das hinkriegst, geh�rt der Job dir.� Nachdem ich mir ein paar von den Waagen genauer angesehen hatte, sagte ich ihm, dass ich hoffte, sie wieder funktionst�chtig machen zu k�nnen. In gutem Zustand, so erkl�rte mein Vater, w�rde jede dieser Waagen etwa f�nfzig Dollar einbringen. �Ich mache dir einen Vorschlag�, sagte er. �Ich heuere zwei Arbeiter an, die dir helfen sollen. Sobald die Waagen repariert sind, verkaufe ich sie, und wir machen fifty-fifty.� Rasch rechnete ich aus, dass ich damit dreihundert Dollar verdienen w�rde, und willigte auf der Stelle ein. Einige Tage sp�ter suchte ich mir fr�hmorgens einige Werkzeuge in der Garage meines Vaters zusammen und ging mit meinen beiden frisch angeheuerten Mitarbeitern an die Arbeit. Seit Wochen hatte ich mich nicht mehr so gut gef�hlt. Endlich war ich wieder zu etwas n�tze, und ich machte mich mit gro�em Elan ans Werk. Die
Waagen, so hatte ich mir �berlegt, mussten mit Stahlb�rsten gr�ndlich gereinigt und dann in ihre Einzelteile zerlegt werden; anschlie�end w�rden wir jedes Teil mit Feile und Schmirgelpapier von Rost befreien und dann die Waagen wieder zusammenbauen. Meine beiden Helfer, barfuss und etwa in meinem Alter, erz�hlten mir in dem f�r die liberianische Unterschicht typischen gebrochenen Englisch, dass sie zum BassaStamm geh�rten. Zwar hatten sie beide keinen blassen Schimmer, was getan werden musste, doch dank ihrer raschen Auffassungsgabe und der Bereitwilligkeit, mit der sie bei der Sache waren, machten sie ihr mangelndes mechanisches Wissen mehr als wett. Jeden Mittag, wie ich es noch aus meiner Lehrzeit als Bauschlosser kannte, lie� ich meine Mitarbeiter eine Stunde Pause machen, w�hrend ich zu meinem Vater zum Essen ging. Nach etwa einer Woche fragte mein Vater, wie die Arbeit voranginge. �Komm doch mit und sieh es dir an�, lud ich ihn ein, stolz, ihm bereits einige Fortschritte pr�sentieren zu k�nnen. Als wir ins Lagerhaus kamen, sa�en meine Helfer auf Kisten und a�en ihr karges Mittagessen, das aus rohen Maniokwurzeln bestand. �Was ist denn hier los? Los, zur�ck an die Arbeit! �, herrschte mein Vater die M�nner an. Ohne die geringste Spur von Missfallen gehorchten sie auf der Stelle. Als ich meinem Vater erkl�rte, dass ich ihnen die Pause erlaubt h�tte, ging er mit mir nach drau�en und hielt mir einen langen Vortrag �ber die Arbeitsgepflogenheiten in Afrika. �Die Leute hier kennen keine Mittagspause�, sagte er allen Ernstes. �Du bringst sie mit deinen abwegigen Ideen nur ganz durcheinander. Ich zahle ihnen gutes Geld, damit sie arbeiten - nicht, damit sie Pause machen.�
Als ich, um mir ein Bild machen zu k�nnen, was mein Vater unter �gutem Geld� verstand, meine Helfer sp�ter fragte, was sie denn verdienten, erfuhr ich, dass ihr Tageslohn f�nfundzwanzig Cent betrug, eine Summe, f�r die man damals gerade mal eine Packung Zigaretten kaufen konnte. Bis zum Milit�rputsch von Sergeant Samuel K. Doe gegen die herrschende liberianische Klasse im Jahre 1980 sollte es noch �ber drei Jahrzehnte dauern, aber wenn ich an jene Episode denke, kam er eigentlich nicht �berraschend. Nach drei Wochen hatten wir unseren Einsatz beendet, und mein Vater war sichtlich beeindruckt, als ich ihm die gl�nzenden, frisch gestrichenen Waagen zeigte, die aussahen wie neu. Nachdem er ihre Exaktheit mit genormten Gewichten gepr�ft hatte, lobte er mich �berschw�nglich und sagte, er habe bereits jede Menge Interessenten f�r die Waagen und k�nne mich bald auszahlen. Einige Tage sp�ter �berreichte er mir drei�ig Zehn-Dollar-Scheine, mein erstes selbst verdientes Geld seit meiner Abreise aus Deutschland.
Eine regelm��ige Besch�ftigung hatte ich jedoch immer noch nicht, und so fragte ich Morris, meinen Bruder, mit dem ich mich immer noch heimlich traf, ob er mir helfen k�nne, einen Job zu finden. Morris, der sich nach Aussage meines Vaters mehr recht als schlecht durchs Leben schlug und gerade auch auf Jobsuche war, sagte: �Ich habe geh�rt, die Liberian Mining Company, eine Tochter von Republic Steel, sucht Leute f�r ihr neues Werk in Brewerville. Wenn du Interesse hast, gehen wir morgen zu deren B�ro in Monrovia und bewerben uns.� Und ob ich Interesse hatte! Ich sagte zu, und wir verabredeten uns f�r den n�chsten Tag.
Brewerville
Kaum war mein Vater am n�chsten Morgen in sein B�ro gegangen, da traf ich mich auch schon wie vereinbart mit Morris vor dem Personalb�ro der Liberian Mining Company. Wenige Minuten sp�ter f�llten wir bereits Formulare aus. Nachdem ich meinen Fragebogen abgegeben hatte, rief mich ein wei�er Mann mit holl�ndischem Akzent in sein B�ro. Er studierte meinen Fragebogen mit Interesse und meinte dann, dass er mir auf Grund meiner in Deutschland abgeschlossenen Lehre eine gute Schlosserstelle f�r f�nfundzwanzig Dollar am Tag anbieten k�nne. Mir war, als h�tte ich das gro�e Los gezogen. Mit diesem Lohn konnte ich meinen Lebensunterhalt selbst bestreiten und sogar noch meiner Mutter Geld schicken. �Wir sind noch dabei, unsere Maschinenwerkstatt aufzubauen�, erkl�rte der Mann, �daher wird von Ihnen erwartet, dass Sie f�r die �bergangszeit in anderen Bereichen aushelfen.� Darin sah ich kein Problem, und nachdem wir uns auf den kommenden Montag als Arbeitsbeginn geeinigt hatten, wollte ich schon das B�ro verlassen, als er mir meinen Fragebogen zur�ckgab und bemerkte, dass ich vergessen h�tte, meine Nationalit�t einzutragen. �Ich bin Liberianer�, sagte ich, w�hrend ich das Vers�umte nachholte. Als h�tte ich mich ihm als Au�erirdischer zu erkennen gegeben, wand sich der Holl�nder pl�tzlich vor Verlegenheit. �Tut mir Leid, aber da war ich wohl etwas vorschnell. Ich dachte, Sie w�ren amerikanischer Staatsb�rger. Wir haben ein Abkommen mit der liberianischen Regierung, das uns den H�chstlohn f�r
liberianische B�rger vorschreibt. Der Tarif f�r gelernte liberianische Arbeitskr�fte liegt bei drei Dollar pro Tag. In Ihrem Fall, mit Ihrer Ausbildung in Deutschland, kann ich eine Ausnahme machen und Ihnen f�nf Dollar pro Tag anbieten.� Ich war wie vor den Kopf gesto�en. Am liebsten h�tte ich ihm gesagt, er k�nne mir mit seinem Job gestohlen bleiben, doch da ich keine andere Wahl hatte, willigte ich ein. Als ich wieder bei Morris war, erz�hlte er mir fr�hlich, er h�tte f�r drei Dollar pro Tag einen Job als Automechaniker ergattert, eine Arbeit, die er w�hrend des Krieges bei den GIs gelernt hatte. Als er h�rte, was mir passiert war, meinte er, ich h�tte eine falsche Nationalit�t angeben sollen. Wenn ausl�ndische Firmen h�here L�hne zahlen d�rften, sagte er, w�rde kein Liberianer mehr f�r die Sklavenl�hne arbeiten, die von den Kautschukplantagen und der liberianischen Regierung gezahlt wurden. Als ich meinem Vater von der Stelle in Brewerville erz�hlte und gestand, wer mit mir dort arbeiten w�rde, ging er an die Decke. Er fluchte und tobte �ber meinen �Verrat�. �Kapit�n Hartmann von der Bornholm hat mich gewarnt, dass ich mich bei dir auf einiges gefasst machen m�sste�, lamentierte er. �Jetzt wei� ich, was er damit gemeint hat. Ich habe dich in mein Haus geholt und f�ttere dich durch, als h�tte ich eine Lebensmittelfabrik, und du machst gemeinsame Sache mit meinen Feinden. Das ist also der Dank.� Mir war gar nicht klar gewesen, dass ich nach den drei Monaten im Hause meines Vaters, der fast mein ganzes Leben lang keinen roten Heller f�r mich ausgegeben hatte, so tief in seiner Schuld stehen sollte. �Tut mir Leid, dass ich so eine Belastung f�r dich war und so viel
gegessen habe. Ich habe nicht die Absicht, dich zu verraten�, entgegnete ich in bem�ht vers�hnlichem Ton. �Ich m�chte einfach nur einen Job, damit ich dich nicht jedes Mal um Geld bitten muss, wenn ich eine Tube Zahnpasta kaufen oder ins Kino gehen will, und au�erdem reicht es mir, den ganzen Tag nur herumzusitzen und D�umchen zu drehen. � Ich h�tte genauso gut mit der Wand sprechen k�nnen, mein Vater h�rte mir gar nicht zu und warf mir nur immer wieder vor, ihn verraten zu haben. Da Morris und ich kein Auto hatten, nahmen wir dankend das Angebot von Charles Hanson, einem Bekannten aus der amerikanischen Botschaft, an, uns nach Brewerville zu bringen. An dem Morgen, als Charles und Morris mich abholen kamen, wollte ich meinem Vater auf Wiedersehen sagen, doch er war nirgends zu finden. Also hinterlie� ich ihm eine kurze Notiz und schrieb, es tue mir ehrlich leid, dass mein neuer Job f�r ihn so ein �rgernis sei, aber ich k�nne nicht einfach meine Selbst�ndigkeit aufgeben, nur weil ich zu ihm nach Afrika gekommen sei. Zum Schluss schrieb ich noch vers�hnlich: �Ich werde unsere Fr�hst�cksgespr�che vermissen. Pass auf Dich auf. In Liebe, Dein Sohn Hans.�
Als Charles vom Hause meines Vaters losfuhr, war mir, als w�re ich aus dem Gef�ngnis entlassen worden. Mit einem Mal erkannte ich, was ich die ganze Zeit vermisst hatte, n�mlich meine Freiheit; mein Vater hatte mich wie sein Eigentum behandelt. Ich nahm mir fest vor, mich nie wieder in eine solche Situation zu bringen. In Brewerville angekommen, wurde uns im B�ro der Liberian Mining Company unser Quartier zugeteilt, und es
hie�, dass wir am n�chsten Tag anfangen sollten. Unsere Unterkunft bestand aus einem Zimmer in einer Holzbaracke und verf�gte als einzige Annehmlichkeit �ber zwei einfache Holzbetten, zwei Metallspinde und ein Waschbecken mit flie�endem Wasser, das wir, so hatte man uns gewarnt, nicht trinken sollten. Wir waren viel zu m�de, um uns dar�ber gro�artig Gedanken zu machen; und schliefen trotz der Hitze und den Moskitoschw�rmen, die st�ndig um uns herumschwirrten, auf der Stelle ein. Am n�chsten Morgen betraute unser Vorarbeiter mich mit Schwei�arbeiten und schickte Morris in die Autowerkstatt. Zun�chst war ich ein wenig nerv�s, da ich seit �ber drei Jahren nicht mehr geschwei�t hatte. Doch nach einigen wackeligen Versuchen wurde meine Hand ruhig, und mir gelangen ganz ansehnliche Schwei�n�hte. Scheinbar im Nu war der erste Arbeitstag zu Ende, und Morris und ich trafen uns in unserer armseligen, ungem�tlichen Baracke wieder. Bevor mich unsere sch�bige Umgebung deprimieren konnte, schlug Morris vor, der einzigen Kneipe in Brewerville einen Besuch abzustatten. Er musste mich nicht lange �berreden. Die Kneipe war total �berf�llt - �berwiegend mit Arbeitern der Liberian Mining Company und Frauen aus dem Ort, die, wie ich vermutete, demselben Gewerbe nachgingen wie die K�niginnen der Nacht im Hamburger Hafenviertel. Einige Paare tanzten zu dem Country-Schlager Be Honest With Me Girl, der aus einem Lautsprecher pl�rrte. Da ich nun wei� Gott kein Fan dieser Art Musik war und auch nichts f�r den anwesenden Frauentyp �brig hatte, lehnte ich h�flich ab, als eine der jungen Frauen mich zum Tanzen aufforderte. �Mein kleiner Bruder ist blo� sch�chtern�, erkl�rte
Morris, der mein Unbehagen ganz und gar nicht teilte und mein mangelndes Interesse v�llig falsch deutete. Um seinem �kleinen Bruder� zu zeigen, wo es langging, nahm er die Hand der Frau, die ich ausgeschlagen hatte, und war gleich darauf auf der Tanzfl�che. Dort stellte er dann unter Beweis, dass man sich auch mit zwei linken F��en t�nzerisch am�sieren kann, w�hrend ich im Abseits stand und mich an einer Dose Bier festhielt. In der n�chsten Woche wurden wir Stammg�ste in der Kneipe, unser einziges Vergn�gen nach der Arbeit. Eines Abends wurde mir nach der Arbeit seltsam schwindelig. Ich dachte, es k�me vom langen Schwei�en in der Hitze oder dass ich vielleicht giftige Schwei�gase eingeatmet hatte. Doch als ich am n�chsten Morgen mit Sch�ttelfrost erwachte, wusste ich, dass ich ernstlich krank war. Ich rief Morris, und er f�hlte mir die Stirn und nahm meinen Puls. �Du hast Malaria, Br�derchen�, verk�ndete er mit der Autorit�t eines erfahrenen Arztes, �ich muss dich schleunigst hier wegbringen.� Mit diesen Worten war er auch schon zur T�r hinaus. Als er wieder zur�ckkam, hatte er organisiert, dass uns ein Firmenlastwagen eine Stunde sp�ter nach Monrovia mitnahm. Morris packte mich warm in ein paar Decken ein, und ich schlief fast die ganze Fahrt durch und wurde erst wieder richtig wach, als der Lastwagen vor dem Haus meines Vaters anhielt. Morris ging ins B�ro und kam mit meinem Vater und Jason zur�ck. Ich fragte mich kurz, wie mein Vater darauf reagieren w�rde, dass ich nun erneut auf seine Gastfreundschaft angewiesen war, aber es ging mir viel zu schlecht, um mir gro� den Kopf dar�ber zu zerbrechen. Ich wollte nur in Frieden gelassen werden und schlafen. Morris und Jason hoben
mich aus dem Wagen, trugen mich ins Haus, zogen mir meinen Pyjama an und packten mich ins Bett. Das N�chste, woran ich mich erinnere, ist, dass Dr. Titus, der Hausarzt meines Vaters, neben mir sa�, Puls und Fieber ma�, mir in Augen, Ohren und den Rachen blickte und mir den Bauch abtastete. �Du hast schwere Malaria, mein Sohn�, best�tigte Dr. Titus Morris' Diagnose. �Aber keine Sorge. Bald bist du wieder auf den Beinen.� Kaum war der Arzt fort, da lie� mein Vater auch schon eine wahre Tirade von Vorw�rfen vom Stapel, angefangen mit Kapit�n Hartmanns Prophezeiung, dass er sich bei mir auf einiges gefasst machen m�sse, bis hin zu meinem Verrat, weil ich mich mit seinem Erzfeind Morris zusammengetan hatte. �Ist dir eigentlich klar, dass du, wenn ich wollte, nie wieder auch nur einen Brief von deiner Mutter in die Finger bekommen w�rdest?�, knurrte er. Es war die grausamste Drohung, die ihm f�r mich einfiel. Aber gl�cklicherweise war mein Verstand wie bet�ubt, und die Stimme meines Vaters wurde immer leiser, als ich in einen k�stlichen, tiefen Schlaf des Vergessens sank. Wegen meines geschw�chten Zustandes musste Jason neben seinem ansonsten schon vollen Pflichtplan auch noch Pflegedienste leisten. Offensichtlich besa� er die Gabe, an mehreren Orten zugleich zu sein, denn jedes Mal, wenn ich aus einem unruhigen Schlaf in Schwei� gebadet erwachte - ob nun nachts oder tags�ber -, sa� er an meinem Bett. Dann tupfte er mir die Stirn mit einem in Eiswasser getr�nkten Handtuch oder f�tterte mich mit Suppe, gab mir zu trinken und verabreichte mir die verordnete bittere Medizin. Nach und nach legte sich das Fieber, und ich sank immer seltener in einen ohnmachts�hnlichen Zustand. Ich war zwar noch zu
schwach, um aufzustehen - bis auf die wenigen Schritte zum Bad -, doch ich hatte das kritische Stadium meiner Krankheit eindeutig �berwunden.
Flucht
Eines Nachts h�rte ich, wie mein Vater von einem seiner gelegentlichen Abende in der Stadt nach Hause kam. Er war in Begleitung einer Frau, die, so schloss ich, keine der eingeborenen Vai-Frauen war, mit denen er sich normalerweise traf. Das erkannte ich daran, dass er sich, als die beiden nach oben ins Wohnzimmer gingen, untypisch charmant anh�rte. Zuerst war es mir peinlich, meinen Vater zu belauschen, und ich bem�hte mich, nicht hinzuh�ren. Da er sich jedoch nicht die geringste M�he gab, leise zu sprechen, konnte ich gar nicht anders, als ihre Unterhaltung mitzubekommen. Als mein Vater schlie�lich auf seinen �niedertr�chtigen Sohn� zu sprechen kam, der ihm seit seiner Ankunft in Liberia �nichts als �rger machte�, spitzte ich die Ohren. Dann begann er eine Schimpfkanonade, die kein gutes Haar an mir lie�. �Zu allem �berfluss�, so schloss er schlie�lich, �hat er auch noch die Stirn zur�ckzukommen - mit Malaria - und meine Gro�z�gigkeit auszunutzen, weil er Nahrung, ein Dach �ber dem Kopf und �rztliche Versorgung braucht. � Mein erster Impuls war, ins Wohnzimmer zu st�rmen und meinem Vater zu sagen, er k�nne unbesorgt sein, ich w�rde ihm nicht l�nger zur Last fallen und am n�chsten Morgen f�r immer sein Haus verlassen. Doch obwohl ich vor Wut und Ohnmacht zitterte, entschied ich mich f�r eine andere Strategie. Nach etwa einer Stunde hatten die beiden ihr �Rendezvous� �ber die B�hne gebracht, und mein Vater fuhr die Frau nach Hause. Sobald ich seinen Wagen losfahren h�rte, zog ich mich hastig an, warf meine Siebensachen in meinen Koffer und eilte nach unten zu
Jason, der v�llig perplex war, aber sich nicht traute, Fragen zu stellen. Ich sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen, und dankte ihm f�r seine Hilfe. Mein Plan war, zu Tante Fatima zu gehen, die nicht weit entfernt wohnte, und sie zu bitten, mich vor�bergehend bei sich aufzunehmen. Um meinem Vater, falls er schnell zur�ckkam, nicht �ber den Weg zu laufen, benutzte ich nicht die Stra�e, sondern stieg den steilen, vom Regen aufgeweichten Hang hinter dem Haus hoch. Mir zitterten die Knie, mein Herz pochte wie wild, und der Schwei� str�mte mir aus allen Poren. Ich war einer Ohnmacht nahe, doch die Angst, mein Vater k�nne mich einholen und mich zwingen, wieder zu ihm zu kommen, trieb mich weiter. Ich wusste, dass ich in meinem geschw�chten Zustand keine Chance gegen ihn gehabt h�tte. Nach dem, wie es mir vorkam, l�ngsten Fu�marsch meines Lebens, obwohl es bis zum Haus meiner Tante eigentlich blo� ein Katzensprung war, erreichte ich schlie�lich mein Ziel. Trotz der sp�ten Stunde war sie noch auf. Ich wollte ihr erkl�ren, was passiert war, bekam aber keinen zusammenh�ngenden Satz �ber die Lippen. Doch beim Anblick meiner schwei�nassen Kleidung, meiner fiebrigen Erscheinung und meines Koffers konnte Tante Fatima sich den Grund meines Auftauchens wohl zusammenreimen und schickte mich gleich ins Bett. Als ich am n�chsten Tag erwachte, war es schon kurz nach Mittag. Mir ging es so gut wie seit Wochen nicht mehr. In Erinnerung an die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden f�hlte ich mich physisch und psychisch wie neugeboren, als h�tte ich eine frische Energiequelle angezapft.
Einige Tage sp�ter, meine Genesung machte gewaltige Fortschritte, berief Tante Fatima bei sich zu Hause einen Familienrat ein, um zu entscheiden, wie es weitergehen sollte. Onkel Nat, der den Rechtsstreit gegen meinen Vater angezettelt hatte, war extra aus Bundeway angereist, wo er auf der Firestone-Plantage das Amt des Bezirksrichters innehatte. Ebenfalls anwesend waren Onkel Abraham und mein Bruder Morris. Alle konnten verstehen, dass ich meinen Vater verlassen hatte, und gestanden mir jetzt, dass sie sich schon gewundert h�tten, wie ich es �berhaupt so lange bei ihm hatte aushalten k�nnen. Dann schlug Tante Fatima vor, ich solle meinem Vater in einem Brief meine Beweggr�nde erkl�ren. Froh �ber die M�glichkeit, mir endlich alles von der Seele schreiben zu k�nnen, schilderte ich in dem Brief, mit welchen Hoffnungen und Tr�umen ich nach Liberia gekommen sei und wie sehr mich die Erkenntnis entt�uscht habe, dass er nicht der wunderbare Vater sei, den meine Mutter all die Jahre in meiner Erinnerung lebendig gehalten habe. �Wenn Du gewollt hast, dass ich zu einem Dir bedingungslos gehorsamen Sohn heranwachse�, schrieb ich am Schluss, �h�ttest Du mich von klein an erziehen m�ssen. Jetzt ist es daf�r zweiundzwanzig Jahre zu sp�t. � Ich hatte mit Tante Fatima vereinbart, dass ich nur einige Tage bei ihr bleiben w�rde, und bat Morris, mir bei der Suche nach einer anderen Bleibe behilflich zu sein. �Du kannst bei mir wohnen�, sagte er. �Ich wohne zwar nicht gerade in einem Palast, aber daf�r kannst du so lange bleiben, wie du willst, und niemand wird dich st�ren.� Das klang nicht schlecht, und ich nahm Morris' Angebot dankend an. Ich hatte keine Ahnung, was mich
erwartete. Morris' beil�ufige Bemerkung, er wohne nicht gerade in einem Palast, war wohl die gr��te Untertreibung, die ich je geh�rt hatte. Er wohnte in einer Siedlung aus Lehmh�usern mit Wellblechd�chern nicht weit von der K�ste entfernt, wo er eine Einraumh�tte sein Eigen nannte. Die einzige Lichtquelle war ein Fenster mit Holzl�den, die sich nur mit Hilfe eines Holzstocks offen halten lie�en. Es gab keinerlei Wasser, geschweige denn eine Toilette. Leicht am�siert stellte ich fest, dass an Lesestoff kein Mangel herrschte, da die aus Bambusmatten bestehenden Innenw�nde mit mehreren Schichten Zeitungen tapeziert waren, die, wie sich bei genauerem Hinsehen erwies, allerdings schon einige Jahre alt waren. Die Einrichtung des Raumes bestand aus einer Matratze, auf der ein Laken und eine Armeedecke lagen, und einer ramponierten Kerosinlampe, die auf dem Zementboden stand. Als ich mich erkundigte, was das f�r dunkle kleine K�gelchen auf dem Bettlaken, der Armeedecke und dem Fu�boden seien, erwiderte Morris lakonisch: �Rattenschei�e.� �Soll das hei�en, es macht dir nichts aus, mit Ratten unter einem Dach zu leben?�, fragte ich. �Eigentlich nicht�, antwortete er. �Wenn ich sie in Ruhe lasse, lassen sie mich in Ruhe. �
Verglichen mit dieser H�tte waren sogar die Keller, in denen meine Mutter und ich im ausgebombten Hamburg Zuflucht gefunden hatten, die reinsten Pal�ste gewesen. Ich hatte M�he, mir meine Best�rzung �ber die heruntergekommenen Bedingungen, unter denen mein Bruder lebte, nicht anmerken zu lassen, und mich schauderte bei dem Gedanken, dass dieses Loch mein Zuhause werden sollte. �Ich wei�, die Bude m�sste mal
auf Vordermann gebracht werden�, r�umte Morris ein, �aber ich bin sowieso nur selten hier. Eigentlich nur ab und zu zum Schlafen.� Er erkl�rte, dass er die H�tte von seiner Tante, der Schwester seiner verstorbenen Mutter, geerbt habe, die vor ein paar Jahren gestorben sei. Nachts sei es hier so sicher wie in Abrahams Scho�. Zur Untermauerung seiner Worte deutete er auf die T�r, die sich von innen mit einem Holzriegel versperren lie�, aber offenbar kein Schloss hatte. �Ich schlie�e nie ab�, sagte er, �und bislang hat auch noch nie jemand versucht, hier einzubrechen. Es ist wie mit den Ratten. Hier kennt jeder jeden, und wir respektieren uns gegenseitig. � Morris' liberale Philosophie der friedlichen Koexistenz �berzeugte mich nicht sonderlich, zumindest nicht, was die Ratten betraf. Nachdem ich mich mit den Annehmlichkeiten der H�tte vertraut gemacht hatte - zum Beispiel dem Au�enklo und der Handwasserpumpe -, versicherte Morris mir noch einmal, ich k�nne, so lange ich wolle, bei ihm wohnen. �Du kannst auch Besuch mitbringen�, f�gte er mit einem schiefen Grinsen hinzu. Obwohl ich mir wahrlich nicht vorstellen konnte, jemanden mit in dieses Loch zu bringen, dankte ich Morris f�r seine Hilfsbereitschaft. Meine erste Nacht in meiner neuen Bleibe war ein Abenteuer, das ich mein Lebtag nicht vergessen werde. Da Morris mir gesagt hatte, dass er woanders schlafen werde, war ich absichtlich sp�t nach Hause gekommen, um meine Nacht so kurz wie m�glich zu gestalten. Sobald ich unter die nicht gerade wei�en Laken geschl�pft war und die Kerosinlampe ausgeblasen hatte, brach in den Hohlr�umen der W�nde die H�lle los. Ich hatte das Gef�hl, als w�rden Hunderte von quiekenden
Ratten unentwegt im ganzen Raum umher- und �ber mich hinweghuschen. Da bei dem L�rm an Schlafen nicht zu denken war, z�ndete ich die Lampe wieder an, um zu �berlegen, was zu tun sei. Als h�tte ich ein Zauberwort gesprochen, h�rte das Spektakel auf. Das Einzige, was noch an die Nager erinnerte, war eine Wolke dunkler K�gelchen, die von der Bambusdecke rieselten. Der Rest der Nacht verlief ereignislos, nachdem ich mich entschlossen hatte, die Lampe brennen zu lassen. Da mir keine andere Wahl blieb, verbrachte ich so manche Nacht in Gesellschaft meiner Rattenfreunde und schaffte es schlie�lich, sie v�llig zu ignorieren, indem ich mir Morris' Philosophie zu Eigen machte: �Wenn ich sie in Ruhe lasse, lassen sie mich in Ruhe.�
Onkel Nat
Gl�cklicherweise war ich nicht lange auf Morris' Gastfreundschaft angewiesen. Gerade als ich anfing, mich an die Ratten zu gew�hnen, tauchte Onkel Nat bei Tante Fatima auf und lud Morris und mich zu sich nach Hause in Bundeway auf die Firestone-Kautschukplantage ein. Nat versprach, seine Beziehungen zu den Liberian International Airways, einer amerikanischen Fluggesellschaft mit einer kleinen DC3-Flotte in Robertsfield unweit der Plantage, zu nutzen, um uns einen Job zu besorgen. Anders als bei meinem auf Formalit�t bestehenden Vater machte das Leben bei Onkel Nat ausgesprochen Spa�. Sobald Morris und ich in Nats ger�umigen Bungalow auf der mit Parakautschukb�umen �bers�ten Plantage eingezogen waren, behandelte er uns eher wie ein �lterer Bruder als ein Onkel. Da seine Frau mit ihrer gemeinsamen kleinen Tochter in Monrovia war, wo sie auf die Geburt ihres zweiten Kindes wartete, verlustierte sich Nat w�hrend seines Strohwitwerdaseins mit einer jungen Dame aus einem Dorf in der N�he. Seitenspr�nge, so hatte ich l�ngst mitbekommen, waren bei liberianischen M�nnern gang und g�be, und mir stand es wahrlich nicht zu, den moralischen Zeigefinger zu heben. Im Gegenteil, als Nat Morris und mir sagte, er habe nichts dagegen, wenn auch wir uns weiblicher Gesellschaft erfreuen wollten, lie�en wir uns das nicht zweimal sagen, sondern suchten uns zwei h�bsche junge Frauen, die daf�r sorgten, dass das Leben auf der Plantage nicht langweilig wurde.
Trotz seines jovialen Auftretens hatte Onkel Nat eine andere Seite, mit der nicht zu spa�en war. Ich machte unerwartet Bekanntschaft damit, als wir eines Morgens fr�hlich plaudernd beim Fr�hst�ck sa�en. Pl�tzlich wurde unser Gespr�ch von lautem Geschrei unterbrochen. Als wir aus dem Fenster blickten, sah ich, wie drau�en vor dem kleinen Gef�ngnis ein gro�er uniformierter Polizist �ber einen zusammengesunkenen, offensichtlich angeketteten Mann gebeugt stand und gnadenlos mit einem langen Holzstock auf ihn einschlug. Onkel Nat fr�hst�ckte unger�hrt weiter, w�hrend sowohl die Schl�ge als auch die Schreie immer heftiger wurden. Als ich fragte, ob er diesem brutalen Schauspiel nicht ein Ende setzen wolle, erwiderte Onkel Nat, dass er dies keinesfalls tun werde und dass der Gefangene, dem er die Pr�gelstrafe verh�ngt hatte, eigentlich noch mehr Schl�ge verdient h�tte. �Einige von den Einheimischen�, erkl�rte Onkel Nat sp�ter, nachdem er merkte, dass mich das Geschehen sichtlich ersch�ttert hatte, �haben nur vor brutaler Gewalt Achtung, weil sie so erzogen worden sind. Es w�re absolute Zeitvergeudung, vern�nftig mit ihnen zu reden und ihnen zu sagen, dass sie das nicht wieder tun d�rfen.� Eines Morgens schlug Onkel Nat uns vor, ihn zum Gericht zu begleiten, um uns eine Verhandlung anzusehen, bei der er den Vorsitz f�hrte. �Denk aber bitte immer daran, dass wir hier in Liberia und nicht in Deutschland sind�, ermahnte er mich. �Bei uns gelten andere Ma�st�be.� Ich hatte bereits in Erfahrung gebracht, dass mein Onkel, als h�chster Vertreter der liberianischen Regierung auf der Firestone-Plantage, bei Tausenden von Arbeitern als die oberste Autorit�t galt
und dass nicht nur Schwarze ihm mit gro�em Respekt begegneten. Auch wei�e Angestellte von Firestone, einem amerikanischen Unternehmen, brachten dem kleinen, rundlichen Mann Hochachtung entgegen und nannten ihn den �deutschen Richter�, weil er gerne durchblicken lie�, dass er einen Gro�teil seines Jurastudiums im Deutschland vor der Naziherrschaft absolviert hatte. Im Gegensatz zu seinen Vorg�ngern, die wei�e Rechtsbrecher mit Samthandschuhen angefasst hatten, hatte sich Nat den Ruf eines harten, unvoreingenommenen Richters erworben, indem er als erster Richter auch wei�e Unruhestifter ins Gef�ngnis werfen lie�. In den meisten dieser F�lle ging es um eklatante Misshandlungen von afrikanischen Arbeitern. Vor den jeweiligen Verhandlungen war Nat einige Tage nicht zu erreichen, angeblich weil er �auf seiner Farm auf dem Lande� war, um so zu verhindern, dass Firestone seine angeklagten Mitarbeiter gleich wieder gegen Kaution auf freien Fu� bekam. Der kleine Gerichtssaal neben dem Gef�ngnis der Plantage war voll besetzt mit Dorfbewohnern in ihrer traditionellen Kleidung, als Onkel Nat, gefolgt von Morris und mir, eintrat. Ein Polizist, der als Gerichtsdiener fungierte, forderte die Menge auf, sich zu erheben und Ruhe zu bewahren, w�hrend Onkel Nat auf seiner erh�hten Richterbank Platz nahm und Morris und ich uns auf zwei extra f�r uns reservierte St�hle in der ersten Reihe setzten. In den folgenden drei Stunden trug eine lange Prozession von Kl�gern ihr jeweiliges Anliegen vor. In jedem Fall, ob es nun um den Diebstahl einer Ziege oder um Ehebruch ging, h�rte Onkel Nat sich beide Seiten aufmerksam an, stellte ein paar Fragen
- h�ufig im Dialekt der Landbev�lkerung, den er perfekt beherrschte - und f�llte dann nach kurzem Nachdenken sein Urteil, das meist eher gesundem Menschenverstand Rechnung trug denn dem Gesetzbuch. In der Mehrzahl der F�lle war das Urteil ein Kompromiss, der beide Parteien zufrieden stellen sollte. Eine Klage wegen Ehebruchs wurde abgewiesen, und dem geh�rnten Ehemann wurden die geforderten zwanzig Dollar Entsch�digung verwehrt, da er laut Zeugen seine Frau zu der Aff�re mit dem Beklagten, einem Vorarbeiter auf der Plantage, selbst angestiftet hatte, um den Schadensersatz zu erhalten. �Das ist jetzt das zweite Mal, dass Sie diesen Trick versuchen�, verwarnte Onkel Nat den Kl�ger. �Beim n�chsten Mal werfe ich Sie wegen Zuh�lterei ins Gef�ngnis.� Wegen der notorisch niedrigen L�hne auf der Plantage fielen die Geldstrafen, die Onkel Nat verh�ngte, selten h�her als drei Dollar aus. In einigen F�llen wurden die Beklagten angewiesen, ihre Strafe in H�hnern oder Ziegen zu zahlen, oder sie wurden dazu verurteilt, dem Kl�ger beim Bau einer neuen H�tte zu helfen. Jetzt war mir klar, was Onkel Nat gemeint hatte, als er sagte: �Bei uns gelten andere Ma�st�be.�
Robertsfield
Am Tag nach unserer Bekanntschaft mit der Rechtsprechung auf dem Lande nahm Nat Morris und mich mit nach Robertsfield zu einem Vorstellungsgespr�ch mit Mat Adams, dem Gesch�ftsf�hrer der Liberian International Airways. Von Anfang an war mir klar, dass Adams, ein st�mmiger Yankee aus New York, weniger an der Mitarbeit von Morris und mir interessiert war als vielmehr daran, sich gute Kontakte zu einem sehr einflussreichen Liberianer zu sichern, indem er ihm einen Gefallen tat. Bevor Morris und ich dazu kamen, unsere jeweiligen Qualifikationen als Bauschlosser und Automechaniker zu erl�utern, sagte Adams schon, wir k�nnten am n�chsten Morgen f�r zehn Dollar am Tag anfangen, und dankte Onkel Nat daf�r, dass er ihm hatte zu Diensten sein d�rfen. Das Leben in Robertsfield war, wie sich bald herausstellte, sehr viel mehr nach unserem Geschmack als unser k�mmerliches Dasein in dem moskitoverseuchten Dschungel von Brewerville. Robertsfield, so erfuhr ich bald mit gro�er Genugtuung, war w�hrend des Krieges ein St�tzpunkt f�r US-Bomber gewesen, die von dort aus zu Angriffen auf Rommels Panzereinheiten in Nordafrika starteten. Robertsfield war zwar wei� Gott kein Zentrum des internationalen Luftverkehrs, verf�gte aber �ber einige Annehmlichkeiten, die in Brewerville gefehlt hatten, so zum Beispiel �ber ein kleines Restaurant und ein Postamt. Morris und ich wurden der Reparaturwerkstatt des Flughafens zugeteilt, die von Mike Omsted geleitet wurde, einem in Kalifornien geborenen Schweden in den
Vierzigern. Er war irgendwann von Gott wei� woher auf dem St�tzpunkt aufgetaucht und von Mat Adams eingestellt worden. Mike, ein schlaksiger, gro� gewachsener Mann mit langen Koteletten und einem pockennarbigen Adlergesicht, war daf�r zust�ndig, dass die kleine Fahrzeugflotte aus Pick-ups, Jeeps und Limousinen immer einsatzbereit war. Was Autos anging, galt er als Genie, denn er konnte jedem f�r tot erkl�rten Schrottauto neues Leben einhauchen. Da neue Ersatzteile h�ufig nicht zu bekommen waren, schlachtete Mike die zahllosen Fahrzeuge aus, die die US-Armee nach dem Krieg zur�ckgelassen hatte und die am Rande der Start- und Landebahn verrosteten. Doch oftmals musste auch Mike passen, wenn er trotz intensiver Suche ein bestimmtes Teil einfach nicht auftreiben konnte. Dann war ich gefragt. Mike machte mir eine grobe Skizze von dem Teil, das er brauchte, und dank eines gewissen Geschicks als Schlosser konnte ich ihm oft das Gew�nschte bald vorlegen. Auch Morris hatte keine M�he, Mike zufrieden zu stellen, weil er wirklich etwas von Motoren verstand. F�r Morris und mich war es eine gro�e Befriedigung, Mike und vor allem unserem Boss Mat Adams beweisen zu k�nnen, dass unsere Einstellung nicht nur ein guter politischer Schachzug gewesen war, sondern sich auch f�r das Unternehmen auszahlte. Unser Leben auf dem Flughafen gestaltete sich ganz nach unseren Vorstellungen. Am Wochenende lie�en wir uns meistens von irgendjemandem mit dem Wagen nach Monrovia mitnehmen, um uns ins Vergn�gen zu st�rzen, was sich dank unseres neuen Status als gut verdienende Junggesellen immer besser gestaltete. Doch als wir gerade meinten, dass einfach alles nach Wunsch lief,
wurden wir j�h daran erinnert, wie gef�hrlich das Leben ist. Morris versuchte eines Tages, wie schon unz�hlige Male zuvor, einen widerspenstigen Automotor zum Anspringen zu bewegen, indem er einen Becher Benzin direkt in den Vergaser sch�ttete. Als der Motor nach kurzem Start wieder ausging, bat Morris mich um Hilfe. Ich sollte ebenfalls mit einem Becher Benzin parat stehen, damit er nachgie�en konnte, wenn der Motor wieder auszugehen drohte. Doch als der Motor z�ndete, schoss eine riesige Stichflamme aus dem Vergaser, die sofort auf Morris' Becher mit Benzin �bersprang. Reflexartig warf Morris den brennenden Becher in die Luft, und zwar in meine Richtung, so dass der Benzinbecher in meiner Hand ebenfalls Feuer fing. Im Nu brannten unsere H�nde lichterloh. Instinktiv sch�ttelten wir die Arme, um die Flammen zu l�schen, aber das machte alles nur noch schlimmer, denn die Flammen wurden durch die Bewegung zus�tzlich mit Sauerstoff versorgt. Nachdem die Flammen das Benzin auf unseren H�nden verbrannt hatten, erloschen sie sofort, doch damit fing unser Martyrium erst an. Nach anf�nglicher Taubheit begann die Haut pl�tzlich m�rderisch zu brennen. Wie ich es fertig brachte, w�hrend der zwanzigmin�tigen Fahrt zum Firestone-Krankenhaus nicht das Bewusstsein zu verlieren, wird mir immer ein R�tsel bleiben. Im Krankenhaus angekommen, wurden wir schnellstens in die Notaufnahme gebracht, wo man uns eine Spritze gegen die Schmerzen gab. W�hrend eine liberianische Krankenschwester uns schlie�lich die H�nde verband, sagte ein junger wei�er amerikanischer Arzt, wir h�tten gro�es Gl�ck gehabt und nur Verbrennungen zweiten Grades erlitten. In zwei Wochen, so prophezeite er, m�ssten unsere Wunden
geheilt sein, falls sich keine Entz�ndung bildete. Anschlie�end wurden wir auf die �berf�llte �Station f�r Eingeborene� gebracht, wo ich nicht wusste, was schlimmer war, das laute Schwatzen der Patienten oder der Geruch nach Essen und Desinfektionsmittel. Nun hatten Morris und ich Gelegenheit, �ber unsere Situation nachzudenken. Eben noch hatten wir uns wie im siebten Himmel gef�hlt, und jetzt lagen wir hier im Krankenhaus, voll gepumpt mit Morphium und die Arme bis zu den Ellbogen bandagiert. Wenige Tage nachdem wir, wieder genesen, unsere Arbeit in Robertsfield erneut aufgenommen hatten, teilte Morris mir mit, dass er seinen Job k�ndigen werde. Im Krankenhaus, so sagte er, habe er sich entschieden, sich an Pr�sident Tubman pers�nlich zu wenden und ihn um einen Posten in der Verwaltung zu bitten. �Komm doch mit�, sagte er, �der alte Knabe hilft uns bestimmt. Die Drecksarbeit hier hab ich satt.� Ich hatte mich inzwischen so an die Gegenwart meines Bruders gew�hnt, dass ich versuchte, ihn zum Bleiben zu bewegen. Auf keinen Fall wollte ich meinen Job aufgeben, bevor ich einen anderen sicher hatte. Aber alle meine Versuche, Morris zu �berreden, waren umsonst.
Vers�hnung und ein t�dlicher Unfall
Mein Vater hatte nicht auf meinen langen Brief reagiert, und so nahm ich an, dass unser Zerw�rfnis von seiner Seite aus endg�ltig war. Nachdem ich mir selbst bewiesen hatte, dass ich auch ohne ihn in Liberia zurechtkam, hatte ich keine Angst mehr vor seinem Zorn. Er tat mir eher leid, weil er in dem geistigen Gef�ngnis, das er sich selbst errichtet hatte, ein so einsames Leben f�hrte, praktisch ohne Freunde und Familie. Vielleicht, so �berlegte ich, sollte ja ich ihm die Hand zur Vers�hnung reichen. Als ich mit Morris dar�ber sprach, stimmte er mir zu, und wir beschlossen, ihn am bevorstehenden Silvesterabend zu besuchen. Als wir bei ihm zu Hause eintrafen, lie� Jason uns hinein. �Ihr Vater ist allein. Gehen Sie ruhig zu ihm hoch�, sagte er. Erst da wurde mir bewusst, dass ich seit dem schicksalhaften Abend vor sieben Monaten, als ich �berst�rzt davongelaufen war, das Haus meines Vaters nicht mehr betreten hatte. �Wen haben wir denn da?�, sagte mein Vater mit einem leisen Lachen. �Meine beiden missratenen S�hne.� Ich merkte ihm an, dass er froh war, uns zu sehen, obwohl er es nicht �ber sich brachte, das auch zu sagen. In meiner Hand hielt ich gleichsam als Olivenzweig der Vers�hnung eine Flasche Whiskey, die wir mit unserem schwer verdienten Geld gekauft hatten. Ich reichte sie ihm und sagte, dass wir zuf�llig in der N�he gewesen seien und ihm bei der Gelegenheit ein frohes neues Jahr w�nschen wollten. �Mal sehen, was ihr beiden Burschen mir da f�r einen billigen Fusel mitgebracht habt�, witzelte er in dem durchschaubaren Versuch, seine Gef�hle zu kaschieren,
und nach einer kurzen Unterhaltung, in der unsere Probleme miteinander mit keinem Wort angesprochen wurden, verabschiedeten wir uns. Bevor wir endg�ltig gingen, nahm mein Vater zwei Hundert-Dollar-Scheine aus seiner Brieftasche und reichte sie uns. �Frohes neues Jahr, meine S�hne. Trinkt einen auf mich. �brigens, habe ich euch eigentlich schon mal gesagt, dass ihr mich an Pat und Patachon erinnert?� Morris und ich fassten die Jovialit�t unseres Vaters als ein Zeichen daf�r auf, dass er mit fortschreitendem Alter milder wurde und dass ja vielleicht doch noch Hoffnung bestand, unsere Differenzen irgendwann zu bereinigen. Wir hatten jedoch keine Gelegenheit mehr, das zu erleben. Zwei Monate nach unserem Besuch bei meinem Vater wurde ich mitten in der Nacht in meinem Quartier in Robertsfield von einem Klopfen an der T�r geweckt. Es war Mike Omsted. Er sagte, der Flughafen sei per Funk davon verst�ndigt worden, dass mein Vater auf einer Fahrt �ber Land einen schweren Autounfall gehabt habe; er sei in die kleine Krankenstation in Ganta gebracht worden, die dringend Sauerstoff angefordert habe. �Los, zieh dich an�, schrie Mike. �Ich hab schon zwei Sauerstoffflaschen auf den Pickup geladen.� Kurz darauf rasten wir schweigend durch die Nacht. Wir wechselten uns am Steuer ab und jagten �ber unbefestigte Stra�en, durch kleine D�rfer und �ber wackelige Br�cken. Er darf nicht sterben, war das Einzige, was ich denken konnte. Im Morgengrauen erreichten wir Ganta, ein kleines Dorf, das �berwiegend aus strohgedeckten Lehmh�usern bestand. Irgendwer zeigte uns den Weg zur Krankenstation, wo mein Vater in einem der R�ume auf einem gro�en Bett lag. Hals und Brust waren mit blutdurchtr�nkten Verb�nden bedeckt.
Als wir eintraten, �ffnete er die Augen, und als er mich sah, schien er mich zu erkennen. Er bewegte die Lippen, aber es kam kein Laut aus seinem Mund. Ich konnte nur seine Hand nehmen und sie halten. Ich war verbl�fft, mit welcher Kraft er mir die Hand dr�ckte. Es schien, als h�tte er Angst, mich loszulassen. Wie ich erfuhr, hatte mein Vater schwere Brustverletzungen und einen Luftr�hrenabriss erlitten. Seine einzige Chance war eine Operation in Monrovia, doch wegen der �u�erst schlechten Stra�enverh�ltnisse hatte man beschlossen, ihm die lange Fahrt in die Hauptstadt nicht zuzumuten, da man bef�rchtete, er werde sie nicht �berleben. Ungl�cklicherweise war auch noch das kleine Flugzeug der Krankenstation, das h�ufig Leute von und nach Monrovia transportierte, in Reparatur. Die einzige M�glichkeit war eine Notoperation in der Krankenstation, um meinen Vater zu stabilisieren, und ihn dann nach Monrovia zu bringen, wenn sich sein Zustand etwas gebessert hatte. Offensichtlich war mein Vater mit einem Lieferwagen voller S�cke mit Reis unterwegs gewesen. Als er einen entgegenkommenden Lkw passiert hatte, der, wie auf den Stra�en �blich, eine lange Wolke aus rotem Staub hinter sich herzog, sah mein Vater anscheinend nicht, dass ein zweiter entgegenkommender Laster auf seine Spur gewechselt hatte, um den ersten zu �berholen. Es kam zum Frontalzusammensto�. Mein Vater wurde schwer verletzt, und sein Lieferwagen hatte Totalschaden. Der Fahrer des anderen Lasters hatte dagegen kaum eine Schramme davongetragen. Da wir nichts weiter tun konnten, fuhren Mike und ich zur�ck nach Robertsfield.
Nach zehn Tagen nerv�sen Wartens erhielten Morris und ich aus Ganta die Nachricht, die wir insgeheim bef�rchtet hatten: Unser Vater war gestorben. Jetzt blieb uns nichts anderes mehr zu tun, als den Leichnam nach Monrovia zu bringen. Sosehr ich auch versuchte, mich damit zu tr�sten, dass mein Vater ja so gut wie nie f�r mich da gewesen war, vor allem in den Jahren, als ich ihn am meisten gebraucht h�tte, war ich unendlich traurig und hatte das Gef�hl, einen unersetzlichen Verlust erlitten zu haben. Er war zwar nicht der Vater gewesen, nach dem ich mich in meiner Kindheit und Jugend gesehnt hatte, aber er war nun mal der einzige Vater, den ich gehabt hatte. Nach der Beerdigung erfuhren Morris und ich, dass unser lieber Onkel Nat, w�hrend er nach au�en den trauernden Bruder spielte, hinter unserem R�cken nicht unt�tig gewesen war und sich zum Nachlassverwalter meines Vaters hatte ernennen lassen. Da Morris und ich uns mit unserem Onkel immer gut verstanden hatten, beanstandeten wir sein eigenm�chtiges Verhalten zun�chst nicht, obwohl wir es f�r �u�erst unangemessen hielten, zumal wir beide vollj�hrig waren und keinen Vormund brauchten. Doch schon bald hatten wir das Gef�hl, dass Nat uns um unser rechtm��iges Erbe betr�gen wollte. Also stellte ich Nat zur Rede und verlangte, �ber jede Transaktion hinsichtlich des Besitzes meines Vaters auf dem Laufenden gehalten zu werden. Nat versprach es zwar, wich uns aber immer wieder aus, bis er uns schlie�lich er�ffnete, er habe zu seiner Best�rzung feststellen m�ssen, dass unser Vater keineswegs der Million�r gewesen sei, f�r den ihn alle gehalten h�tten, sondern in Wirklichkeit ein armer Schlucker. Unter diesen
Umst�nden sei es wohl das Beste, den Mund zu halten, damit diese �Peinlichkeit� nicht bekannt w�rde. Morris und ich glaubten ihm kein Wort, sondern waren �berzeugt, dass er die B�cher frisiert und sich das Verm�gen meines Vaters in die eigene Tasche gesteckt hatte. Uns war klar, dass wir es mit einem schlauen und politisch m�chtigen Gegner zu tun hatten, aber wir hatten schlie�lich nichts zu verlieren. Und so setzten wir einen kurzen Brief an Pr�sident Tubman auf, in dem wir unsere missliche Lage schilderten und ihn im Namen unseres verstorbenen Vaters, seines Freundes, baten, sich f�r uns einzusetzen. Binnen einer Woche antwortete Pr�sident Tubman und arrangierte ein Gespr�ch mit uns und Nat. Unserem Onkel war sichtlich unwohl zu Mute, als der Pr�sident uns in seinem B�ro bat, Platz zu nehmen. Nachdem er seine obligatorische torpedogro�e Havanna angez�ndet hatte, forderte er mich auf, mein Anliegen vorzutragen. Mit bebender Stimme dankte ich ihm, dass er uns in dieser �u�erst pers�nlichen Angelegenheit empfangen hatte, und schilderte dann, dass Morris und ich das Vertrauen in unseren Onkel als Nachlassverwalter unseres Vaters verloren h�tten. Daraufhin erkl�rte der Pr�sident, dass er rechtlich keine Befugnis h�tte, in der Sache zu vermitteln, und dass er dies lediglich als Privatmann und Freund der Familie Massaquoi tue. �Aber�, f�gte er an Nat gewandt hinzu, �ich appelliere an Sie, dass Sie die Angelegenheit fair abwickeln, besonders mit R�cksicht auf diesen jungen Mann, der noch nicht lange in unserem Land ist und v�llig von seinem Vater abh�ngig war.� Nat wand sich verlegen, w�hrend der Pr�sident sprach, doch er fing sich rasch wieder. �Bevor Sie zu viel
Mitleid f�r diesen jungen Mann empfinden, Mr. President�, erwiderte er, �m�chte ich Ihnen etwas zeigen, das Ihnen deutlich machen wird, was f�r ein Mensch mein Neffe in Wirklichkeit ist.� Mit der triumphierenden Miene eines Staatsanwalts, der eine noch rauchende Tatwaffe vor Gericht pr�sentiert, holte Nat einen Brief aus der Tasche und reichte ihn dem Pr�sidenten. �Bitte lesen Sie diesen ausgesprochen beleidigenden und respektlosen Brief, Mr. President, den mein Neffe an meinen Bruder kurz vor dessen Tod geschrieben hat. � Es war der Brief, den ich meinem Vater geschrieben hatte, unmittelbar nachdem ich sein Haus f�r immer verlassen hatte. Der Pr�sident nahm den Brief und las ihn, was mir besonders peinlich war, laut vor. Als er fertig war, meinte er zu Nat: �Ich finde diesen Brief weder beleidigend noch respektlos, doch selbst wenn er es w�re, es �ndert nichts an der Tatsache, dass es Ihre Pflicht ist, daf�r zu sorgen, dass der junge Mann erh�lt, was ihm zusteht. Er wurde von seinem Vater hergeholt, und er darf hier bei uns nicht sich selbst �berlassen bleiben. Ich bin sicher, dass Sie eine L�sung finden werden. Was Morris betrifft, da bin ich ganz unbesorgt. Er wird auch so zurechtkommen, ob nun mit oder ohne Geld aus dem Verm�gen seines Vaters.� �Ich werde mich um alles k�mmern, Mr. President.� Mehr brachte Nat nicht heraus, bevor der Pr�sident uns entlie�. Auf der Stra�e sagte Nat mit einem Ausdruck unverhohlenen Hasses zu uns: �Das werdet ihr beide mir b��en. Glaubt ja nicht, ihr k�nnt mich einfach so ungestraft blamieren und vor den Pr�sidenten zerren. Eins verspreche ich euch: Genauso wie ich warten musste, dass euer Vater stirbt, um an den Besitz meines Vaters zu kommen, werdet ihr warten m�ssen, bis ich
sterbe, bevor ihr irgendwas aus dem Besitz eures Vaters in die Finger bekommt.� Merkw�rdigerweise ber�hrte mich das nicht. Mit meinen dreiundzwanzig Jahren konnte ich mir nicht ann�hernd vorstellen, was es bedeutete, reich zu sein. Morris dagegen war au�er sich vor Zorn, und er w�re fast handgreiflich geworden, wenn ich ihn nicht zur�ckgehalten und daran erinnert h�tte, dass wir wegen Angriffs auf einen Richter vor dem Regierungssitz sicherlich im Kittchen landen und damit jeden Anspruch auf das Erbe unseres Vaters verlieren w�rden.
Lagos
Mehrere Wochen nach der denkw�rdigen Audienz beim Pr�sidenten erhielt ich ein kurzes Schreiben mit dem Briefkopf der Regierung. Der Pr�sident, so wurde mir mitgeteilt, w�nsche mich in einer dringenden pers�nlichen Angelegenheit so bald wie m�glich zu sprechen. Da ich Staatsoberh�upter nicht gerne warten lasse, war ich schon eine Stunde sp�ter in seinem Amtssitz. Ohne auf unsere letzte Begegnung einzugehen, kam der Pr�sident gleich zur Sache. �Ich habe einen Brief von Ihrer Gro�mutter, Mrs. Mary Sonii in Lagos, Nigeria, erhalten. Sie hat von Ihrer Ankunft in Liberia und vom Tod Ihres Vaters erfahren und bittet mich, Ihnen behilflich zu sein, dass Sie sie besuchen k�nnen. � Er erkl�rte, dass meine Gro�mutter ihn gebeten habe, mir das n�tige Geld f�r die Seereise von Monrovia nach Lagos vorzustrecken; sie werde mir den Betrag dann mitgeben, wenn ich von Monrovia zur�ckkehrte. Mit diesen Worten zog er ein B�ndel Zwanzig-DollarScheine aus einem Umschlag und reichte es mir. �Das m�sste gen�gen�, sagte er. �Bitte gr��en Sie Mrs. Sonii ganz herzlich von mir.� Nachdem ich dem Pr�sidenten f�r seine Hilfe gedankt und er mir eine angenehme Reise gew�nscht hatte, reichten wir uns die Hand, und ich ging. In der Annahme, dass ich wohl l�ngere Zeit nicht in Liberia sein w�rde, kehrte ich nach Robertsfield zur�ck und k�ndigte. Nachdem ich mich von meinen Kollegen verabschiedet hatte, fuhr ich wieder nach Monrovia. Morris hatte unsere Gro�mutter schon mehrmals besucht, und als ich ihm von meiner Reise
nach Lagos erz�hlte, freute er sich sehr f�r mich. Doch was meine Schiffsreise betraf, so sagte er, habe er eine bessere Idee. Statt ein teures Ticket zu kaufen, wolle er die Leute, die auf dem Schiff arbeiteten, bitten, mich f�r ein paar Dollar in den Mannschaftsquartieren unterzubringen, wodurch ich eine Menge Geld sparen k�nne. Zuerst war ich dagegen, weil mir sein Plan nicht ganz seri�s erschien. Doch als Morris mir versicherte, dass das in Afrika jeder so machen w�rde, der die M�glichkeit dazu habe, gab ich schlie�lich nach. Am Tag meiner Abreise begleitete Morris mich zum gerade fertig gestellten Hafen in Monrovia, wo der britische Frachter lag, der mich nach Lagos bringen w�rde. Nachdem er kurz in Kru mit dem Chef der deckboys verhandelt hatte, erkl�rte Morris, die Sache sei erledigt; ich w�rde eine eigene Kaj�te bekommen und mit der Mannschaft zusammen essen. Kurz darauf war ich unterwegs in ein neues Land und zu neuen Abenteuern. Der britische Pott, auf dem ich die n�chsten drei Tage verbringen sollte, war dreckig und in einem miserablen Zustand. Die Koje in meiner Kaj�te war schmutzig und voller Ungeziefer, und �berall herrschte ein widerw�rtiger Gestank. Ich bedauerte schon, wegen ein paar Dollar auf Morris geh�rt zu haben. Doch mein Bedauern verwandelte sich in Wut gepaart mit Ekel, als ich zum Essen ging und mir eine schmutzig aussehende Sch�ssel Reis mit einer stinkenden, unidentifizierbaren Bratenso�e vorgesetzt wurde. Ich lehnte h�flich ab. Am n�chsten Morgen wurde der gleiche abscheuliche �Fra߫ zum Fr�hst�ck gereicht. Diesmal jedoch �berwand ich aus Hunger meinen Widerwillen und brachte ein paar Bissen runter.
Am Nachmittag erreichten wir den Hafen Takoradi an der Goldk�ste, dem heutigen Ghana, wo ich an Land ging und eine kurze, nicht sonderlich interessante Besichtigungstour machte. Am Tag darauf legten wir in Lagos an, der Hauptstadt der gr��ten und am dichtesten bev�lkerten britischen Kolonie in Afrika. Ich war froh, vom Schiff zu kommen, und schwor mir, f�r meine R�ckreise bessere Vorkehrungen zu treffen. Nach einer kurzen, halsbrecherischen und durch den Linksverkehr f�r mich besonders aufregenden Taxifahrt stieg ich vor dem Haus meiner Gro�mutter aus dem Wagen. Ich betrat den Hof des einst�ckigen Reihenhauses, wo mich eine schlanke alte Dame mit einem h�bschen sanftbraunen Gesicht und einem Kopf voller kurzer wei�er Locken begr��te. Als sie mich umarmte, brach sie in Tr�nen aus und sagte immer wieder mit deutlichem britischem Akzent: �Mein Sohn, mein Sohn, mein armer, armer Sohn.� Sie schien damit sowohl meinen verstorbenen Vater als auch mich zu meinen. Sobald sie die Fassung wiedergewonnen hatte, stellte sie mich einem freundlich aussehenden �lteren Gentleman mit fein geschnittenen Gesichtsz�gen vor, der mir auf Anhieb sympathisch war. �Das ist Pa Sonii, dein Stiefgro�vater�, sagte sie. Wir sch�ttelten uns die H�nde, und er hie� mich willkommen. Erst jetzt bemerkte ich, dass meine Gro�mutter offenbar halbseitig gel�hmt war. Der linke Arm hing schlaff herab, und sie zog das linke Bein nach, w�hrend sie mit gro�er M�he auf einen Stock gest�tzt ging. �Ja, ich bin ein altes Wrack�, sagte sie, als sie bemerkte, dass ich sie unwillk�rlich anstarrte. �Seit meinem Schlaganfall vor etwa einem Jahr bin ich zu nichts mehr zu gebrauchen.� Nachdem ich lange gebadet und mir frische Sachen
angezogen hatte, erg�tzte ich mich den ganzen Nachmittag lang an allen m�glichen afrikanischen K�stlichkeiten, begr��te eine nicht enden wollende Schlange von Freunden und Nachbarn meiner Gro�mutter, die von meiner Ankunft geh�rt hatten, und beantwortete Fragen nach meinem Leben in Deutschland, �dem missratenen Morris� und dem Unfall meines Vaters. Wie nicht anders zu erwarten, kam die Rede darauf, dass Nat die Kontrolle �ber den Nachlass meines Vaters an sich gerissen hatte. ��berlass das ruhig mir�, sagte meine Gro�mutter. �Damit kommt Nat nicht durch. Daf�r werde ich schon sorgen. � Ich sollte bald herausfinden, was sie damit meinte. Einige Tage sp�ter kreuzte eine seltsame Gruppe von etwa einem Dutzend M�nnern in wei�en und bunten Gew�ndern auf. Meine Gro�mutter bat sie in ihr ger�umiges Wohnzimmer. �Du wirst bestimmt lachen, wenn du h�rst, was ich dir jetzt sage�, fl�sterte meine Gro�mutter mir zu, nachdem sie mich gebeten hatte, mich zu den M�nnern zu setzen, �aber diese M�nner haben die Macht zu verhindern, dass dein Onkel das Geld deines Vaters stiehlt. Du musst es nicht glauben, bleib einfach hier sitzen und sieh zu.� Trotz meiner Skepsis tat ich aus Respekt vor meiner Gro�mutter, was sie mich gehei�en hatte. In der n�chsten Stunde wurde ich Zeuge eines bizarren Rituals. Die M�nner stimmten einen Gesang an und reichten verschiedene kleine Gegenst�nde herum, die aussahen wie gew�hnliche Steine, Perlen und St�ckchen und von denen mir nicht klar war, was sie mit dem Geld meines Vaters zu tun haben sollten. Als die Zeremonie beendet war, gingen die M�nner nacheinander an mir vorbei, ber�hrten mich und steckten dann das dash, das
Trinkgeld meiner Gro�mutter, ein, bevor sie wieder verschwanden. Als Pa Sonii am Abend nach Hause kam, begr��te er mich mit einem breiten Grinsen. �Wie hat dir der Hokuspokus heute Morgen gefallen?�, wollte er wissen. �Ich fand's interessant�, erwiderte ich diplomatisch, um die Gef�hle meiner Gro�mutter nicht zu verletzen. �Deine Gro�mutter glaubt fest an diesen Unfug�, fuhr er fort, obwohl sie direkt neben ihm stand. �Ihre Ausbildung in England war die reinste Verschwendung. Sie ist abergl�ubischer als eine Buschfrau.� �Mach dich nur lustig, Sonii�, entgegnete meine Gro�mutter unbeirrt. �Ich wei�, was ich wei�.� Nachdem Pa Sonii ein Bad genommen und sich ein bequemes afrikanisches Gewand angezogen hatte, gesellte er sich zu uns zum Abendessen. �Manchmal frage ich mich, was schlimmer ist, der Kolonialismus oder der Aberglaube�, griff er sein offensichtliches Lieblingsthema wieder auf. Dann erz�hlte er, dass die Stadtverwaltung einige Jahre zuvor auf der Stra�e vor seinem Haus elektrische Stra�enlaternen aufgestellt hatte, die aber von �abergl�ubischen Buschleuten� aus Furcht, die Geister k�nnten Ansto� daran nehmen, dass die Nacht zum Tage gemacht werde, immer wieder mit Steinen und St�cken zertr�mmert wurden, bis die Stadt sie nicht mehr reparieren lie�, so dass die Stra�e seitdem wieder unbeleuchtet blieb. Dann zog er sich in seinen Lieblingssessel zur�ck und machte es sich gem�tlich, um wie jeden Tag seinen West African Pilot zu lesen, eine radikal antikolonialistische Zeitung, die von seinem Helden Azikiwe, in ganz Nigeria als Zik bekannt, herausgegeben wurde. �Zik geh�rt dem Ibo-Stamm an und ist der einzige Nigerianer, den die Briten f�rchten�,
erkl�rte Pa Sonii. � Seine k�mpferischen Leitartikel gegen die Kolonialmacht haben ihn so popul�r gemacht, dass die Briten es nicht wagen, sich mit ihm anzulegen, aus Furcht, einen Aufstand auszul�sen. Wenn Zik geschickt agiert, k�nnte er der erste Pr�sident eines unabh�ngigen Nigeria werden.� Leider sollte Pa Sonii nicht mehr erleben, dass seine Prophezeiung wahr wurde, und auch nicht, dass ich nur vierzehn Jahre sp�ter als Journalist der Zeitschrift EBONY ein Interview mit Pr�sident Nnamdi Azikiwe auf dessen Jacht in der Lagune von Lagos f�hrte. W�hrend der vielen Gespr�che mit meiner Gro�mutter vertraute sie mir an, dass mein Gro�vater Momolu die gro�e Liebe ihres Lebens gewesen sei, dass sie es aber, weil er so ein Frauenheld war, irgendwann nicht mehr mit ihm ausgehalten habe. Jahre nach ihrer Trennung von Momolu, als mein Vater auf dem College war, lernte sie in Monrovia Pa Sonii kennen, dem gerade eine Stelle als Vorarbeiter in Lagos angeboten worden war. Als er um ihre Hand anhielt, habe sie sofort Ja gesagt und ihre Entscheidung nie bereut. �Pa Sonii ist ein guter Mann�, sagte sie, �aber Momolu war ein K�nig.� Wenn ich nicht gerade den Erinnerungen meiner Gro�mutter lauschte, schlenderte ich durch die Stra�en von Lagos und bestaunte fasziniert den pulsierenden Rhythmus einer gro�en afrikanischen Hafenstadt. Im Gegensatz zu Monrovia, einer Stadt, die in den sp�ten vierziger Jahren erst noch aus ihrem hundertj�hrigen Schlaf geweckt werden musste, erstickte Lagos schon fast im Verkehr und Menschengedr�nge. Die Stra�en waren von Unternehmen in allen Gr��enordnungen ges�umt, vom einfachen Erdnussstand bis hin zum Gro�kaufhaus. Auf meinen Spazierg�ngen kam ich �ber
die beliebte �Marina� von Lagos, eine herrliche, von Palmen ges�umte Hauptverkehrsstra�e entlang der Lagune, nach der die Stadt benannt ist, und auch �ber den belebten Tinubu Square, das Zentrum des gesch�ftlichen Lebens der Stadt. Beim allgegenw�rtigen Anblick von Afrikanern, die in niederen - h�ufig servilen - Positionen und stets unter der Aufsicht von Wei�en arbeiteten, war ich froh, dass ich ein freier Liberianer und kein britischer Untertan war, denn inzwischen war es f�r mich unm�glich geworden, die geringste Anma�ung rassischer �berlegenheit zu dulden. Bis auf meine unerfreuliche Bekanntschaft mit den franz�sischen Kolonialbeh�rden in Dakar hatte ich aber noch keine pers�nlichen Erfahrungen mit dem Kolonialismus gemacht. Doch schon bald sollte ich dessen britische Spielart hautnah erleben. Es geschah, als ich ein paar Briefmarken kaufen wollte. Zu meinem �rger musste ich feststellen, dass vor der Post im Stadtzentrum von Lagos eine lange Schlange von Kunden wartete, allesamt Afrikaner. Schutzlos der erbarmungslosen Mittagssonne ausgeliefert, erstreckte sich die Warteschlange �ber einen halben Stra�enblock bis zu einem kleinen Schalter, hinter dem ein afrikanischer Postbeamter sa�. Ich stellte mich also hinten an und wartete mehr oder weniger geduldig, dass ich an die Reihe kam. Nicht so ein wei�er Brite, der in der Uniform der Kolonialisten - Kakishorts, Kniestr�mpfe und Tropenhelm - schnurstracks bis zum Schalter vormarschierte und bedient werden wollte. Ich h�rte ein paar halblaut gemurmelte Proteste aus der Warteschlange, aber niemand stellte den Mann zur Rede. Auftritt Hans-J�rgen Massaquoi: �Was zum Teufel bilden Sie sich eigentlich ein? Stellen Sie sich gef�lligst hinten an und warten Sie, bis Sie dran sind!�
Pl�tzlich wurden auch die anderen Wartenden unruhig, und ein paar Stimmen forderten den Briten auf, sich hinten anzustellen. Als h�tte ihn jemand k�rperlich angegriffen, fuhr der Wei�e herum, um zu sehen, wer da die Dreistigkeit hatte, sein vermeintlich gottgegebenes Vorrecht in Frage zu stellen. Offensichtlich kam er zu dem Schluss, dass er es bei mir mit einem Geisteskranken zu tun hatte, den man besser nicht reizte, denn kaum hatte er mich ersp�ht, wandte er sich ab und marschierte unter dem Gejohle der Menge von dannen. Als ich Pa Sonii und meiner Gro�mutter abends von diesem kleinen Zwischenfall vor der Post berichtete, redete Pa Sonii mir lange und ernst ins Gewissen. �Du kannst von Gl�ck sagen, dass der Wei�e nicht zur�ckgekommen ist. Er h�tte dich unter dem Vorwand der Anstiftung zum Aufruhr verhaften und ins Gef�ngnis stecken lassen k�nnen�, sagte er. �Wir sind hier nicht in Liberia, wo schwarze Menschen das Sagen haben. Wir sind hier in einer britischen, sprich wei�en Kolonie, wo die Wei�en ziemlich nerv�s sind, weil sie sp�ren, dass ihre Zeit zu Ende geht. Im Augenblick haben sie bei jedem noch so kleinen Zwischenfall Angst, er k�nnte der Funke sein, der das Pulverfass hochgehen l��t. Sie w�rden alles - wirklich alles - tun, um ihre Herrschaft hier so lange wie m�glich aufrechtzuerhalten. Wenn du also das n�chste Mal siehst, wie ein Brite irgendwas macht, was dir nicht gef�llt, dann halte den Mund. Tu es wenigstens f�r deine Gro�mutter und mich.� Pa Soniis gut gemeinter Rat beschleunigte meinen Entschluss, Nigeria so schnell wie m�glich wieder zu verlassen. Ich war n�mlich nicht gewillt, l�nger als unbedingt n�tig in einem rassistischen Staat zu leben.
Die zw�lf Jahre unter Naziherrschaft reichten mir vollauf. Meine Entscheidung, nach Monrovia zur�ckzukehren, war f�r meine Gro�mutter eine gro�e Entt�uschung. Insgeheim hatte sie gehofft, mir w�rde Lagos so gut gefallen, dass ich bei ihr bleiben wollte. Pa Sonii hatte mir sogar schon bei seiner Firma, der Elder Empster Line, eine Stelle als Bauschlosser verschafft, bei �ausgezeichneter Bezahlung�, wenn auch nat�rlich zum Tarif f�r Nichtwei�e. Ich dankte ihm, lehnte aber h�flich ab. Obwohl mir meine Gro�mutter Leid tat, die gehofft hatte, ich w�rde ihr den verlorenen Sohn ersetzen, wollte ich meinen Traum von einem Leben in Amerika unter keinen Umst�nden aufgeben. Und so kam der Tag, an dem ich meiner Gro�mutter und Pa Sonii Lebewohl sagte. Ich hatte sie beide lieb gewonnen, und der Abschied von ihnen fiel mir schwer. Als ich meine weinende Gro�mutter ein letztes Mal umarmte, fl�sterte sie: �Ich werde dich sehr vermissen, mein Sohn.�
R�ckkehr nach Monrovia
Diesmal hatte ich vorgesorgt: Um eine angenehmere Reise als auf der Hinfahrt zu haben, hatte ich eine Kabine auf einem amerikanischen Frachter gebucht, der in Monrovia Zwischenstation machte, bevor er den Atlantik in Richtung New Orleans �berquerte. Nachdem ich mein Gep�ck in meiner Kabine verstaut hatte, die eine Koje mit einladenden schneewei�en Laken hatte, ging ich an Deck, um einen letzten Blick auf Lagos zu werfen, wo ich fast f�nf Monate verbracht hatte. Wie �blich waren die Stewards auf dem Schiff bis auf den Chefsteward Schwarze. Da der Platz f�r Passagiere, wie auf den meisten Frachtern, begrenzt war, waren au�er mir nur noch zwei weitere Reisende an Bord, die ich beim Abendessen in dem kleinen Speiseraum f�r Passagiere kennen lernte: ein nigerianischer Student namens Felix Osi, der Sohn eines Yoruba-H�uptlings, der in den S�den der USA wollte, um dort an einem College f�r Schwarze zu studieren, und Virginia Langston, eine sympathisch aussehende Blondine in den Drei�igern mit starkem S�dstaatenakzent. Sie war auf der R�ckreise in ihre Heimatstadt Mobile, Alabama, nachdem sie zwei Jahre als Methodistenmissionarin in Nigeria gearbeitet hatte. Als wir gerade mit dem Essen anfangen wollten, sagte der rothaarige, beleibte Chefsteward zu Virginia, dass der Kapit�n angeordnet habe, sie solle ihre Mahlzeiten in der Offiziersmesse einnehmen. Sichtlich ver�rgert, ging die Missionarin mit dem Chefsteward hinaus. Da wir wussten, dass der Heimathafen des Schiffes die S�dstaatenstadt New Orleans war, wo die Rassen-
trennung herrschte, waren wir �berzeugt, dass der Kapit�n mit seiner Sondereinladung an die Missionarin einer wei�en S�dstaatlerin die Tortur ersparen wollte, mit zwei Schwarzen speisen zu m�ssen. W�hrend wir uns noch �ber die uns zuteil gewordene Beleidigung unterhielten, die f�r uns umso schlimmer war, als wir uns in afrikanischen Gew�ssern befanden, kam Virginia zu unserer �berraschung zur�ck. Ohne dass wir sie um eine Erkl�rung baten, erz�hlte sie uns mit einem breiten L�cheln, dass sie nun doch mit uns zusammen essen werde. Als sie in der Offiziersmesse neben dem Kapit�n Platz genommen hatte, hatte sich der dort servierende schwarze Steward offensichtlich geweigert, sie zu bedienen, und zwar mit der Begr�ndung, es versto�e gegen gewerkschaftliche Vereinbarungen, wenn er Passagiere bedienen m�sse. Das hatte der Kapit�n in seinem Eifer, die Rassentrennung durchzusetzen, �bersehen.
W�hrend der n�chsten drei Tage l�mmelten wir faul an Deck, lasen, lie�en uns kalte Getr�nke bringen und plauderten �ber Gott und die Welt, w�hrend die wei�e Schiffscrew hart arbeitete, um das Schiff in Schuss zu halten. Wie Indianer, die eine Wagenburg umzingeln, schlichen sie um uns herum und durchbohrten uns mit feindlichen Blicken, sagten aber, wohl auf Anordnung des Kapit�ns, kein einziges Wort. Offensichtlich gefiel es ihnen nicht, dass sich zwei schwarze M�nner in Gesellschaft einer wei�en Frau an Bord einen faulen Lenz machten, w�hrend sie schuften mussten. Da sie lediglich mit Arbeiten wie Schrubben und Anstreichen besch�ftigt waren, konnte ich nicht verstehen, warum Felix den Seem�nnern stundenlang mit unvermindertem
Interesse zusah. Als ich ihn schlie�lich fragte, meinte er, dass es nicht die Arbeit selbst sei, die ihn fasziniere, sondern die Tatsache, dass sie von Wei�en erledigt werde. In seinen ganzen zweiundzwanzig Lebensjahren hatte er noch nie gesehen, dass Wei�e niedrige T�tigkeiten verrichteten. �In Nigeria�, erkl�rte er, �f�hren Wei�e entweder die Aufsicht, oder sie arbeiten im B�ro. Schmutzige oder niedrige Arbeiten werden ausschlie�lich von Afrikanern erledigt.� �In den Vereinigten Staaten ist das anders�, versicherte Virginia ihm. �Dort erledigen wei�e M�nner und wei�e Frauen alle m�glichen schmutzigen, niedrigen Arbeiten. Seltsamerweise auch in England�, f�gte sie hinzu. �Nur wenn Engl�nder in die Kolonien kommen, sind sie sich f�r niedrige Arbeiten zu fein.� Als das Schiff in Monrovia anlegte, verabschiedete ich mich von Felix und Virginia. Wie sehr beneidete ich sie darum, dass sie bald im Land meiner Tr�ume sein w�rden! Aber vielleicht, so sagte ich zu ihnen, w�rden wir uns ja eines Tages in den Staaten wiedersehen.
In den Tagen nach meiner R�ckkehr verst�rkte ich meine Bem�hungen wieder, Liberia zu verlassen und in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Ich sah einfach keinen Sinn mehr darin, noch l�nger in Afrika zu bleiben. Deshalb schrieb ich auch erneut an meine Tante Clara in Barrington, Illinois, und erkl�rte ihr, dass es mich mehr denn je in die USA z�ge und dass sie doch bitte die Papiere vervollst�ndigen m�ge, die f�r meinen Antrag auf ein US-Visum erforderlich seien. In ihrem Antwortbrief versicherte sie mir, dass sie bereits alle Hebel in Bewegung gesetzt habe, mir aber zurzeit nur ein befristetes Studentenvisum besorgen k�nne.
Um das Studentenvisum zu erhalten, hatte Tante Clara mich, wie sie schrieb, an der Aeronautical University of Chicago eingeschrieben, womit ich hoffentlich einverstanden sei. Ich schrieb ihr zur�ck, dass ich mit allem einverstanden w�re, wenn es mich nur in die Vereinigten Staaten br�chte.
Polizeiinspektor Morris
Als ich Morris das n�chste Mal sah, erwartete mich eine echte �berraschung. Er trug eine frisch gest�rkte Kakiuniform mit den Dienstabzeichen eines liberianischen Polizeibeamten. Ich wollte wissen, wieso er denn diese Uniform trug, und er erkl�rte, dass Pr�sident Tubman seinen Antrag bewilligt und ihn als Inspektor der liberianischen Polizei eingestellt h�tte. �Eine respektlose Bemerkung von dir, Br�derchen�, witzelte Morris, �und du siehst dir das Kittchen von innen an.� Dann wurde er ernst und erkl�rte, dass seine neue Aufgabe darin bestand, mit einem Pick-up auf den Landstra�en Patrouille zu fahren und zu �berpr�fen, ob Lkws mit ihrer Ladung nicht das H�chstgewicht �berschritten, damit Liberias Stra�en und Br�cken nicht �berlastet wurden und vorzeitig Schaden nahmen. �Wenn du Lust hast�, f�gte er hinzu, �kannst du ja morgen mal mitkommen. Ich fahre in aller Herrgottsfr�he los.� Ich nahm Morris' Angebot an und wurde sein inoffizieller stetiger Begleiter. Er fuhr Hunderte von Kilometern �ber staubige Pisten und hielt Ausschau nach �berladenen Lkws. Wenn er einen verd�chtigen Lastwagen - h�ufig hatten sie Reis geladen - ersp�ht hatte, wies er den Fahrer an, bis zur n�chsten Wiegestation hinter ihm herzufahren. Dort setzte er dann die entsprechende Geldstrafe fest und forderte den Fahrer auf, die zu viel geladenen S�cke Reis zu entladen. Normalerweise waren die Besitzer der Reislaster libanesische oder syrische Gesch�ftsleute aus Monrovia,
die stets behaupteten, dass die Waagen der Regierung ungenau seien. Wenn sie damit bei Morris keinen Erfolg hatten, versuchten sie, das �kleine Missverst�ndnis� mit einem netten S�mmchen auszur�umen. Morris wusste um Pr�sident Tubmans nachsichtige Politik, wenn es um Schmiergelder ging. Die Beamten durften durchaus hier und da mal etwas in die eigene Tasche stecken, solange sie nicht gleich mit vollen H�nden ins Staatss�ckel griffen. Deshalb behielt Morris einen kleinen Prozentsatz der einkassierten Geldstrafe f�r sich, aber er hatte den ehernen Grundsatz, niemals Bestechungsgelder anzunehmen. Damit, so versicherte er mir, bewege er sich durchaus im Rahmen von Pr�sident Tubmans �gem��igter Korruptionspolitik�. Eines Abends hielten wir in einem Dorf an. Wir hatten uns den ganzen Tag lang am Steuer abgewechselt, und ich war ziemlich m�de, aber bis zur n�chsten Regierungsunterkunft waren es noch �ber zwei Stunden Fahrt. Morris konnte sehr lange ohne Essen oder Schlaf auskommen, indem er auf einer Kolanuss kaute. Ich konnte das nicht. Als wir in dem Dorf hielten, wurde unser Pick-up sofort von einem Schwarm nackter Kinder umringt, die mit ausgestreckten H�nden bettelten. Nachdem wir all unser Kleingeld losgeworden waren, fragte Morris die Kinder in ihrer Sprache nach dem H�uptling. Sie zeigten auf eine Gruppe von M�nnern, die um ein Feuer sa�en und offensichtlich zu Abend a�en. Ein St�ckchen von ihnen entfernt sa� eine Gruppe von Frauen, die ebenfalls gerade beim Abendessen waren. Der H�uptling war unverkennbar. Er war ein alter Mann und thronte auf einem kunstvoll geschnitzten Schemel, w�hrend alle anderen einfach auf der Erde sa�en. Nachdem Morris sich als Polizeibeamten und
mich als seinen Bruder vorgestellt hatte, erkl�rte er dem H�uptling, dass wir gern etwas zu essen und einen Platz zum Schlafen h�tten. Ohne zu z�gern, lud der H�uptling uns ein, seine G�ste zu sein, und forderte uns auf, uns nach Herzenslust zu bedienen. In der Mitte des Kreises standen zwei gro�e Sch�sseln, in der einen war Reis, in der anderen Fleisch mit So�e. Morris gab mir zu verstehen, ich solle mich nicht zieren. Also folgte ich seinem Beispiel und nahm mit den Fingern ein wenig Reis, formte daraus ein B�llchen und tunkte es - mitsamt Fingern - in die Sch�ssel mit dem Fleisch und der So�e. Es duftete und schmeckte k�stlich, und schon bald kaute ich gen�sslich. Doch dann sah ich auf einmal, wie einer der M�nner sich mit der flachen Hand den Schwei� von der Stirn wischte und dann mit derselben Hand in die Sch�ssel griff. Pl�tzlich blieb mir das Essen im Halse stecken. Morris zischte mir zu: �Du kannst die Leute hier nicht beleidigen, indem du ihr Essen wieder hochw�rgst. � �Ich k�nnte schon�, zischte ich zur�ck, doch dann kaute und schluckte ich wacker weiter, bis auch der letzte Bissen in den Magen gewandert war. Nur f�r den Fall, dass irgendwer meinen Kampf mit dem Essen bemerkt hatte, erkl�rte Morris, ich w�re gerade erst aus einem �fernen Land der Wei�en� gekommen und h�tte mich noch nicht richtig an das k�stliche afrikanische Essen gew�hnt. Sp�ter f�hrte uns ein kleiner Junge zu einer H�tte, die der H�uptling uns f�r die Nacht �berlie�. Wir traten ein, und mir fiel auf, dass der Lehmboden und die W�nde penibel sauber waren. Dann sah ich die abgeh�uteten K�rper einiger kleiner Tiere mit langen Schw�nzen von den Dachsparren baumeln und fragte, was das f�r Tiere
seien. �Affen, Sah�, antwortete der Junge. �Affen schmecken gut.� Wieder sch�ttelte ich mich innerlich vor Ekel. �Wer in aller Welt isst denn Affen? � �Du zum Beispiel�, antwortete Morris mit unverhohlener Schadenfreude. �Was glaubst du denn, was du heute Abend gegessen hast? Hat doch ganz gut geschmeckt, oder?� Widerwillig musste ich ihm Recht geben. �Dein Vater hatte mich gewarnt, dass du nichts taugst�, konterte ich im Scherz. �Jetzt wei� ich, wie er darauf kommt.� Danach schlugen wir unsere Feldbetten auf und legten uns schlafen. Als ich das n�chste Mal nach Monrovia kam, erwartete mich eine freudige �berraschung. Mein guter Freund, Konsul Hanson von der amerikanischen Botschaft, teilte mir mit, dass er die Genehmigung erhalten habe, mir ein auf ein Jahr befristetes Studentenvisum f�r die Vereinigten Staaten auszustellen.
Als ich Tante Clara schrieb, dass mein Studentenvisum endlich eingetroffen sei, schickte sie mir umgehend ein Flugticket f�r 600 US-Dollar. Sie schrieb, ich sollte doch so schnell wie m�glich alle notwendigen Reisevorkehrungen treffen und sie anrufen, sobald ich in New York angekommen sei. Ich musste mich nicht lange bitten lassen, fragte mich allerdings, wieso sie mir ein Flugticket geschickt hatte, wo doch Schiffspassagen wesentlich preiswerter waren. Ich kam zu dem Schluss, dass sie vermutlich gut betucht war. Schlie�lich hatte sie mich auch an einer Universit�t angemeldet, obwohl sie wusste, dass ich kein Geld hatte und auch keine Arbeitserlaubnis bekommen w�rde. Doch was f�r Gr�nde sie auch haben mochte, mir diese k�nigliche Behandlung zuteil werden zu lassen, mir konnte es nur recht sein.
Ein Traum wird wahr
Und so kam es, dass ich endlich, am 23. Mai 1950, mit dem obligatorischen ramponierten Koffer, in dem sich mein bester (und einziger) Anzug sowie ein halbes Dutzend Hemden und Krawatten befanden, und mit rund hundert Dollar in der Tasche auf dem Flughafen von Robertsfield darauf wartete, eine Pan-AmericanMaschine nach New York zu besteigen. Der einzige Wermutstropfen in meiner Freude dar�ber, mein Ziel endlich erreicht zu haben, war der Gedanke, Morris zur�ckzulassen. W�hrend meiner zwei Jahre in Liberia waren wir beinahe unzertrennlich geworden. Obwohl wir in zwei verschiedenen Kulturen und auf zwei verschiedenen Kontinenten aufgewachsen waren und erst als Erwachsene von der Existenz des jeweils anderen erfahren hatten, war unser Verh�ltnis enger als bei den meisten Br�dern, die gemeinsam in einer Familie gro� werden. Eifrig darauf bedacht, nicht sentimental zu werden, unterhielten wir uns �ber dieses und jenes, w�hrend wir in der kleinen Wartehalle sa�en und ich auf den Aufruf wartete, zu meinem allerersten Flug an Bord zu gehen. �Pass gut auf dich auf, kleiner Bruder�, ermahnte Morris mich, wie immer die zehn Zentimeter Gr��enunterschied ignorierend, die uns trennten und eigentlich ihn zum kleinen Bruder machten. �Und schreib mir, wie du zurechtkommst.� Dann versprach er, mich in den Staaten zu besuchen, sobald er wieder bei Kasse sei. Eingedenk der chronischen Geldknappheit meines Bruders verabschiedete ich mich traurig von ihm, denn mir war klar, dass ich ihn wahrscheinlich sehr lange nicht
wiedersehen w�rde. Sobald die Maschine vom Boden abhob, war ich so gefesselt von dem neuen Flugerlebnis, dass meine traurige, nachdenkliche Stimmung rasch aufgeregter Vorfreude Platz machte. Nach einem kurzen Stopp in Lissabon setzten wir unseren Flug in die Vereinigten Staaten fort. Je n�her wir unserem Ziel kamen, desto ungeduldiger wurde ich, und desto mehr fragte ich mich, ob das idealistische Bild, das ich mir all die Jahre von den USA gemacht hatte, wohl der Wirklichkeit standhalten w�rde. Zwar hatten Werners Briefe mir das Leben in New York in rosigen Farben geschildert, doch einige meiner schwarzen amerikanischen Freunde in Liberia hatten mich darauf hingewiesen, dass das Verh�ltnis zwischen Schwarzen und Wei�en alles andere als perfekt sei, und mich gewarnt, dass ich mich vielleicht niemals an diese Seite des American way of life gew�hnen w�rde.
Meine skeptischen Gedanken wurden zumindest vorl�ufig zerstreut, als die Maschine - am fr�hen Morgen und mit einer Stunde Versp�tung - zum Landeanflug auf den Flughafen La Guardia ansetzte und unter uns ein gigantisches Lichtermeer in Sicht kam. Ich hatte Werner geschrieben, wann ich ankommen w�rde, und fragte mich, ob er meinen Brief rechtzeitig erhalten hatte, um mich vom Flughafen abzuholen. Die Antwort lie� nicht lange auf sich warten. Kaum hatte ich das Ende der Gangway erreicht, da fragte mich ein uniformierter Angestellter der Fluglinie, ob mein Name Hans Massaquoi sei. Als ich bejahte, sagte er: �Gott sei Dank! Ein gewisser Werner belagert uns seit Stunden, um herauszufinden, ob Sie vielleicht schon gelandet sind.� Nachdem ich die Zoll- und Einreiseformalit�ten hinter
mir hatte, konnten Werner und ich uns endlich umarmen und genau in Augenschein nehmen, nachdem wir uns fast drei Jahre nicht gesehen hatten. Werner sah richtig gut aus. Anders als in Hamburg, wo er eine Vorliebe f�r stahlblaue Nadelstreifenanz�ge und handbemalte Krawatten mit badenden Sch�nheiten gehabt hatte, trug er nun einen dezent eleganten Zweireiher mit farblich passender Krawatte. Ich war geb�hrend beeindruckt, als wir nach kurzer Fahrt in einem der ber�hmt-ber�chtigten New Yorker KamikazeTaxis am Riverside Drive 210 ankamen, wo uns ein livrierter Portier wie F�rsten begr��te. Ich fragte mich, wie Werner sich mit seinem mageren Gehalt eines B�roangestellten einen derart luxuri�sen Lebensstil leisten konnte, bis uns der Aufzug in den zehnten Stock gebracht hatte und ich sah, wie klein seine peinlich saubere Wohnung war. Sie war sogar winzig, aber daf�r bot sie einen grandiosen Blick auf den Hudson River und den endlosen Verkehrsstrom auf dem Riverside Drive. �Eine kleine Wohnung in einer tollen Gegend ist mir lieber als eine gro�e Wohnung in einer Slumgegend. Kosten tun sie n�mlich dasselbe�, erkl�rte Werner, und ich fand das durchaus einleuchtend. In den folgenden Tagen zeigte Werner mir stolz sein New York - Broadway, Central Park, Empire State Building, Rockefeller Center, Freiheitsstatue, Greenwich Village, Germantown, Chinatown, Bowery und Grand Central Station. W�hrend wir durch die Stra�enschluchten von Manhattan und �ber den lebenspr�henden Times Square schlenderten, f�hlte ich mich gleich zu Hause. Mir war, als h�tte ich ein D�j�vu-Erlebnis, als w�re ich schon einmal dort gewesen. Alles kam mir derart vertraut vor, wahrscheinlich wegen der unz�hligen Hollywoodfilme, die ich gesehen hatte,
dass mein lang ersehnter erster Besuch in New York mich weder entt�uschte noch �berraschte noch �berm��ig beeindruckte. New York war einfach genau so, wie ich es erwartet hatte. Bevor ich von New York aus weiterreiste, musste ich Werner versprechen, dass ich zur�ckkommen w�rde, falls es in Illinois nicht so lief, wie ich es mir erhoffte. Als mein Bus in Chicago ankam, wurde ich dort von Tante Clara, meiner Cousine Martha und ihrem Mann Rudolph in Empfang genommen. Ich erkannte sie sofort von den Fotos, die sie mir geschickt hatten, als ich noch in Deutschland lebte. Tanta Clara, obgleich drei Jahre j�nger als meine Mutter, sah mindestens zehn Jahre �lter aus als sie und hatte nicht die geringste �hnlichkeit mit ihr. Martha, eine stattliche Br�nette mit h�bschem Puppengesicht, und ihr Mann, ein gro�er, professoral aussehender Mann mit Hornbrille, gaben ein auffallendes Paar ab. Ohne sich durch die neugierigen Blicke der schwarzen und wei�en Umstehenden beirren zu lassen, umarmten sie mich und schienen sich wirklich zu freuen, dass ich endlich da war. Schlie�lich begleiteten Rudolph und Martha, die in Chicago lebten, uns noch nach Barrington, wo Clara mit ihrem j�ngsten Sohn Willie wohnte. W�hrend der einst�ndigen Zugfahrt sa� ich neben Rudolph. Als ich erz�hlte, wie sehr ich mich auf Barrington freute, erwiderte er mit einem Seitenblick auf seine Schwiegermutter: �Du hast mein tiefstes Mitgef�hl.� Die Bemerkung riss mich zur�ck in die reale Welt. War es m�glich, dass ich mit meinem Optimismus etwas voreilig war? �Was meinst du damit?�, fragte ich. �Das wirst du bald selbst herausfinden.�
Er hatte Recht. Als wir nach unserer Ankunft in Barrington ein kurzes St�ck zu Fu� an den Eisenbahngleisen und mehreren gepflegten Wohnh�usern entlanggegangen waren, kamen wir zu einem Grundst�ck, das auf den ersten Blick unbebaut zu sein schien, bis ich bei genauerem Hinsehen so etwas wie eine niedrige lauben�hnliche H�tte aus Holz und Teerpappe entdeckte. �Da w�ren wir�, fl�sterte Rudolph. �Das ist dein neues Zuhause. Willkommen in Barrington.� Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Sprachlos folgte ich meiner Tante in das Haus, dessen Inneres sich als nicht beeindruckender als sein �u�eres entpuppte. Pl�tzlich tat mir meine Tante genauso leid wie ich mir selbst. Wie, so fragte ich mich, wollte meine Tante, die ganz offensichtlich von der Hand in den Mund lebte, mich durchs Studium bringen? Wieso hatte sie mir keinen reinen Wein eingeschenkt und mir gesagt, unter welchen Bedingungen sie lebte? Und woher waren die sechshundert Dollar, mit denen sie mein Flugticket bezahlt hatte? Ohne zu ahnen, was mir durch den Kopf ging, verk�ndete Tante Clara, ich solle mich wie zu Hause f�hlen. �Du kannst Hermanns Zimmer nehmen�, sagte sie, also das ihres �ltesten Sohnes, der geheiratet hatte und wie seine Schwester nach Chicago gezogen war. Am Abend, nachdem Martha und Rudolph sich verabschiedet hatten, traf mein Vetter Willie ein. Im Gegensatz zu seiner Mutter und Schwester begr��te er mich mit unverhohlenem Widerwillen, was, wie ich sp�ter erfuhr, nichts mit Rassismus, sondern ausschlie�lich mit Geld zu tun hatte. Willie, ein blonder, gro�er, st�mmiger Mann, der als Baumchirurg arbeitete, machte
keinen Hehl daraus, dass er mich als st�rende Belastung f�r den ohnehin schon �berbeanspruchten Etat seiner Mutter betrachtete. Ich konnte es ihm nicht ver�beln, obwohl ich f�r das Problem, das ich offenbar darstellte, wei� Gott nicht verantwortlich zu machen war. H�tte meine Tante auch nur ansatzweise angedeutet, wie ihre finanzielle Situation war, dass die sechshundert Dollar f�r mein Ticket von Onkel Hermann, dem �ltesten Bruder meiner Mutter, gekommen waren und dass sie sich als Putzfrau bei den Wohlhabenden von Barrington verdingte, ich h�tte ihre unrealistische Gro�z�gigkeit nie in Anspruch genommen. Wie ich bald feststellen sollte, war Tante Clara stets der festen �berzeugung, und zwar entgegen aller Vernunft, dass sich irgendwie schon alles zum Guten wenden w�rde, obwohl ihr Leben sie eigentlich eines Besseren h�tte belehren m�ssen. Auf Grund dieser Naivit�t hatte sie mich am College eingeschrieben, ohne sich Gedanken dar�ber zu machen, woher das Geld f�r die Studiengeb�hren kommen sollte. Mit der gleichen Naivit�t hatte sie mich ermuntert, ein Studentenvisum zu beantragen, obwohl man ihr gesagt hatte, dass ausl�ndische Studenten nicht arbeiten durften. �Dar�ber machen wir uns Gedanken, wenn du erst mal hier bist�, hatte sie mir unbek�mmert geschrieben, obwohl die amerikanische Einwanderungsbeh�rde ihr erkl�rt hatte, dass es unm�glich war, meinen Studentenstatus in einen Einwandererstatus zu �ndern, wenn ich in den Vereinigten Staaten war. Als dann nichts so lief, wie sie es sich vorgestellt hatte, suchte sie nach einem S�ndenbock, der in diesem Fall leider ich war. Nachdem ich die wachsende Feindseligkeit von ihr und ihrem Sohn zwei Wochen lang hilflos ertragen hatte,
w�hrend ich versuchte, mich an mein neues Leben in einer kleinen H�tte am Rande eines reichen, ausschlie�lich wei�en Vororts zu gew�hnen, blickte ich sehns�chtig zur�ck auf die sorglose Zeit in Liberia, die ich zuletzt mit meinem Bruder Morris dort verlebt hatte. Doch w�hrend ich noch dar�ber nachgr�belte, wie ich aus meinem neuen Schlamassel rausk�me, besuchten uns Tante Hedwig und ihr Mann Gust Galske. Die beiden waren mit dem Auto, einem Model A Ford, den ihnen Onkel Hermann geschenkt hatte, als er das Fahren aufgegeben hatte, von ihrer kleinen Farm im nahe gelegenen Bartlett hergekommen, um mich zu sehen. Zwischen Tante Hedwig, einer �lteren Ausgabe meiner Mutter, und mir war es Liebe auf den ersten Blick. Auch Onkel Gust schloss ich auf der Stelle ins Herz. Er war ein rotgesichtiger Riese in Overall mit einem grauen Wuschelkopf und dr�hnender Stimme, mit der er zum st�ndigen Verdruss seiner Frau unabl�ssig fluchte und nach jedem seiner zotigen Witze ansteckend lachte. W�hrend Gust Tante Clara mit seinen Scherzen unterhielt, nahm Tante Hedwig mich beiseite und erkl�rte, dass sie und Onkel Gust sich schon vor meiner Ankunft in den USA dar�ber im Klaren gewesen seien, dass ich hier eine untragbare Situation antreffen w�rde und dass sie etwas dagegen tun wollten. �Onkel Gust und ich m�chten, dass du f�r eine Weile mit zu uns auf die Farm kommst�, sagte sie. �Wir haben jede Menge Platz und ausreichend zu essen. Du musst nicht, aber wenn du willst, kannst du Gust auf der Farm helfen. Dann k�nnen wir uns in Ruhe �berlegen, wie wir weiter vorgehen wollen.� Ich w�re ihr am liebsten um den Hals gefallen. �Aber wie soll ich das Tante Clara beibringen?�, fragte ich.
�Schlie�lich habe ich es ihr zu verdanken, dass ich hier in den Staaten bin.� ��berlass das ruhig mir�, sagte Tante Hedwig. �Ich werde ihr einfach sagen, dass ich auch deine Tante bin und dass ich das Recht habe, dich eine Zeit lang bei mir zu haben. Wie ich meine Schwester kenne, ist sie inzwischen wahrscheinlich froh, dich loszuwerden.� Tante Hedwig hatte Recht. Tante Clara war nicht im Geringsten gekr�nkt, als ihre Schwester ihr mitteilte, dass sie mich mit auf die Farm nehmen wolle, und half mir sogar beim Packen. Auf der Farm, wo ich Tante Hedwig beim F�ttern der H�hner und Onkel Gust bei seinen K�hen und Maultieren half, verga� ich die schwierige Zeit in Barrington bald. Ich f�hlte mich an meine Kindheitserlebnisse in Salza bei Tante Grete und Onkel Karl erinnert. Tante Hedwig erwies sich als der herzensgute Mensch, als der sie mir bei unserer ersten Begegnung erschienen war, und Onkel Gust ebenso. Ich verstand mich auch gut mit meinem Vetter Johnny, einem ruhigen Mann, der im Krieg bei der Marine gewesen war und immer unrasiert aussah, und mit seiner gut aussehenden, dunkelhaarigen Frau Shirley, die beide ebenfalls auf der Farm lebten. An einem Wochenende besuchte uns Onkel Hermann, der �lteste Bruder meiner Mutter, von dessen Gro�z�gigkeit gegen�ber seinen Geschwistern ich schon viel geh�rt hatte. Er war ein untersetzter Mann mit Hosentr�gern, grauen B�rstenhaaren und einer ziemlichen Taille. Als ich versprach, ihm das Geld f�r mein Flugticket so bald wie m�glich zur�ckzuzahlen, erwiderte er, ich solle mir blo� keine Kopfschmerzen machen. �Zahl es mir einfach, wenn du das Geld hast�,
sagte er auf Englisch mit starkem deutschem Akzent. �Ich wei�, dass ich dir vertrauen kann, weil du Berthas Sohn bist.� Ich fand es r�hrend, dass er, obwohl er seine Schwester seit �ber drei�ig Jahren nicht mehr gesehen hatte, noch immer davon �berzeugt war, dass sie mir ihre Ehrlichkeit vererbt hatte. Obgleich das unbeschwerte Leben auf der Farm eine therapeutische Wirkung auf mich hatte, konnte ich nicht vergessen, dass ich in vier Monaten mein Studium an der Aeronautical University of Chicago aufnehmen musste, um meinen Studentenstatus nicht zu verlieren. Wenn ich bis dahin irgendeinen Job fand, obwohl ich eigentlich nicht arbeiten durfte, w�rde ich genug Geld verdienen k�nnen, um zumindest einen Teil meiner Studiengeb�hren zu bezahlen. Als ich Johnny fragte, ob er mir vielleicht einen Job in der Elgin Watch Company in der nahe gelegenen Stadt Elgin, wo er angestellt war, besorgen k�nne, erwiderte er, dass seine Firma zwar zur Zeit keine Leute einstelle, aber dass er mit mir zu Woodruff and Edwards fahren w�rde, einer Gie�erei, in der er mal gearbeitet habe und die, wie er wusste, Dreher suchte. Am n�chsten Morgen fuhren Johnny und ich in seinem gl�nzenden, fast neuen Hudson zu der Gie�erei am Ortsrand von Elgin. Der Personalchef lie� sich seine �berraschung fast gar nicht anmerken, als Johnny mich als seinen Vetter vorstellte. Nach einem zehnmin�tigen Gespr�ch, in dem ich Gelegenheit hatte, den Personalchef davon zu �berzeugen, dass es f�r mich kein Problem darstellte, eine Drehbank zu bedienen, zeigte er mir die Maschinenwerkstatt, wo in etlichen Reihen mittelgro�e Drehb�nke vor sich hin summten. Mir fiel auf, dass alle Dreher
Wei�e waren und die wenigen Schwarzen Handkarren zogen und Gabelstapler bedienten. �Sie k�nnen n�chsten Montag anfangen�, sagte der Personalchef zu mir und sch�ttelte mir die Hand. Als ich mich am Montag in aller Herrgottsfr�he zur Arbeit meldete, stellte der Personalchef mich meinem neuen Vorarbeiter vor, der mir erl�uterte, was ich zu tun hatte. Die Arbeit war recht simpel; ich musste aus Rohrst�cken Muffen in einer bestimmten Gr��e drehen. Ich hatte zwar seit meiner Arbeit in der Lindner AG in Nazideutschland nicht mehr an einer Drehbank gestanden, doch schon nach wenigen Minuten lief alles wie am Schn�rchen. Meine Mutter hatte Recht: �Gelernt ist gelernt.� Bevor ich mich so richtig dar�ber freuen konnte, wie gut mir die Arbeit von der Hand ging, hatte der Vorarbeiter mir eine unangenehme Mitteilung zu machen. �Ich sch�me mich wirklich, Ihnen das sagen zu m�ssen�, setzte er an, �aber die meisten Dreher haben die Arbeit niedergelegt, weil Sie eingestellt wurden. Wir hatten noch nie einen farbigen Dreher hier.� Erst da fiel mir auf, dass die Werkstatt bis auf wenige Dreher leer war. �Sie sollten sich nicht dar�ber aufregen�, fuhr der Vorarbeiter fort. �Anscheinend machen Sie Ihre Sache sehr gut. Also arbeiten Sie einfach weiter, als w�re nichts passiert. Die Gesch�ftsleitung will sich jedenfalls nicht unter Druck setzen lassen und hat daher den betreffenden Drehern mitgeteilt, dass sie sich einen anderen Job suchen k�nnen, wenn sie die Arbeit nach der Mittagspause nicht wieder aufnehmen. � Nicht zum ersten Mal seit der Zerschlagung der Naziherrschaft begegnete ich Rassismus, doch diesmal war es Rassis-
mus im amerikanischen Stil und noch dazu im angeblich rassisch liberalen Norden der USA. Als ich in der Mittagspause niedergeschlagen neben meiner Drehbank sa� und lustlos an einem Sandwich von Tante Hedwig kaute, kamen einige Arbeiter und Arbeiterinnen auf einen Plausch zu mir. Sie wollten mich wissen lassen, dass sie die Aktion ihrer Kollegen ganz und gar nicht guthie�en und dass ich durchhalten sollte, weil n�mlich nicht alle Mitarbeiter der Firma intolerant w�ren. Das gab mir wieder etwas Auftrieb, doch noch ermutigender war f�r mich, dass sich die Werkstatt ganz allm�hlich wieder f�llte und alle Arbeiter an ihre Maschinen zur�ckkehrten. Die entschlossene Haltung der Gesch�ftsleitung und der gesunde Menschenverstand hatten sich durchgesetzt. Binnen weniger Tage schien der Vorfall vergessen. Zumindest wagte niemand mehr, mein Recht, in der Werkstatt zu arbeiten, offen in Frage zu stellen. Ehe ich mich's versah, war es Herbst, und mein erstes Semester an der Aeronautical University in Chicago begann. Das Studium, an dessen Ende die Pr�fung zum Flugzeugmechaniker abgelegt werden sollte, war in zwei Bereiche untergliedert, einen theoretischen im Hauptgeb�ude der Uni und einen praktischen in einem Hangar des Chicagoer Midway Airport, dem damals gr��ten der Welt. Da ich meinen Job in der Gie�erei nicht k�ndigen wollte, lie� ich mich f�r die zweite Schicht einteilen. Ich musste somit morgens in aller Fr�he aufstehen, mit dem Zug von Bartlett zur Chicagoer Union Station fahren, in einen Bus umsteigen, der mich zur Uni brachte, wo ich bis 13.00 Uhr Seminare hatte, mit dem Bus wieder zur Union Station
fahren und den n�chsten Zug nach Elgin nehmen; dann arbeitete ich von 14.00 bis 22.00 Uhr, fuhr mit dem Zug nach Bartlett und ging etwa eine Meile zu Fu� zur Farm. Und so ging es Tag f�r Tag. Schon bald merkte ich, dass ich diese Belastung auf Dauer nicht w�rde durchhalten k�nnen. Allerdings hatte ich keine Ahnung, wie ich dem Teufelskreis entkommen konnte: Ohne Job konnte ich die Studiengeb�hren nicht zahlen und w�rde exmatrikuliert werden. Und ohne Studenten-Status w�rde man mich abschieben. Da gab mir eines Tages Tante Hedwig einen an mich adressierten, offiziell aussehenden Brief. Nach den �blichen H�flichkeitsfloskeln wurde ich in dem Schreiben aufgefordert, zur Musterung im Wehrersatzamt in der Chicagoer Innenstadt anzutreten. Erst jetzt fiel mir wieder ein, dass ich, als ich mein US-Visum in Monrovia erhalten hatte, eine Erkl�rung unterschreiben musste, mit der ich mich verpflichtete, mich gleich nach meiner Ankunft in den Staaten bei der Wehrersatzbeh�rde zu melden, was ich auch getan hatte. Damals hie� es, die Meldung bei der Wehrersatzbeh�rde sei �lediglich eine Formalit�t�, da ich als ausl�ndischer Student nicht zum Milit�rdienst eingezogen werden k�nne. Somit f�hrte ich den Brief auf einen b�rokratischen Fehler zur�ck, der sicher bald aufgekl�rt werden w�rde. Doch statt gleich wieder nach Hause geschickt zu werden, wurde ich gemustert, f�r kerngesund befunden und mit der Anweisung entlassen, am 19. Februar 1951, der Koreakrieg war schon seit einigen Monaten im Gange, meinen Milit�rdienst anzutreten. Durch einen b�rokratischen Fehler - ich war weder amerikanischer Staatsb�rger, noch hatte ich meinen st�ndigen Wohnsitz in den Vereinigten Staaten �
ging f�r mich schlie�lich mein ehemaliger Wunsch in Erf�llung, amerikanischer GI zu werden. Ich h�tte mich zwar ohne weiteres aus der Aff�re ziehen k�nnen, indem ich mich auf meinen Studentenstatus berief, doch ich beschloss, mich auf das Spiel einzulassen, weil es mir zu dem Zeitpunkt immer noch besser erschien, mir in Korea die Kugeln um die Ohren fliegen zu lassen, als in meinem allt�glichen Dauerstress an Ersch�pfung zu Grunde zu gehen. Au�erdem dachte ich, dass es mir, wenn ich sp�ter die amerikanische Staatsb�rgerschaft beantragte, sicherlich zugute k�me, in der US Army gedient zu haben. Und so fuhr ich nur knapp neun Monate nach meiner Ankunft in New York als frisch eingezogener Rekrut der US Army mit dem Zug von Chicago Richtung S�den nach Camp (heute Fort) Breckenridge, Kentucky. In den folgenden vierzehn Wochen Grundausbildung wurden mir auch die letzten noch verbliebenen Illusionen �ber das Leben als amerikanischer Soldat ausgetrieben. Es hatte wahrlich nichts Erhebendes, zu rennen, bis einem die Zunge aus dem Hals hing, zu marschieren, bis einem die Hosen die Haut an Hintern und Oberschenkeln abgescheuert hatten, in einem Sch�tzenloch zu kauern, �ber das monstr�se Panzer hinwegrollten, und auf dem Bauch durch den Schlamm zu kriechen, w�hrend Maschinengewehrkugeln �ber einen hinwegpfiffen. Eines Tages kamen die Bem�hungen, aus mir einen Soldaten zu machen, vor�bergehend zum Stillstand, als mein Vorgesetzter mich in die Schreibstube zitierte und mir sagte, ich solle mich unverz�glich im B�ro des Kommandeurs der Milit�rpolizei melden. Obwohl ich mir keiner Schuld bewusst war, war ich trotzdem
beunruhigt, erst recht, als im Vorzimmer des Kommandeurs zwei Beamte in Zivil auf mich warteten.
Sie waren von der Einwanderungsbeh�rde und wollten mich �berpr�fen, da ich als Ausl�nder meine gesetzlich vorgeschriebene j�hrliche Meldepflicht vers�umt hatte. Sie sagten, dass mein f�r ein Jahr geltendes Studentenvisum abgelaufen und die Beh�rde davon ausgegangen sei, dass ich untergetaucht w�re. Schlie�lich habe man von meinen Verwandten erfahren, dass ich der Armee beigetreten sei. Dann r�gten sie mich f�r meine �Nachl�ssigkeit� und sagten, ich m�sse damit rechnen, abgeschoben zu werden. Da platzte mir der Kragen, und ich sagte, sie sollten mich ruhig abschieben, da ich von der Armee ohnehin die Nase voll h�tte. Als ich dann noch klarstellte, dass ich nicht freiwillig zur Armee gegangen, sondern eingezogen worden sei, entschuldigten die beiden sich und wurden freundlicher. Ich solle mir von meinem Kommandeur schriftlich best�tigen lassen, dass ich sein guter Soldat und ein n�tzliches Mitglied seiner Einheit sei, und dieses Schreiben dann der Einwanderungsbeh�rde vorlegen; dann w�rde man vorl�ufig von einer Abschiebung absehen, zumindest solange ich in der Armee sei. Was die Beziehungen zwischen Wei�en und Schwarzen w�hrend der Grundausbildung betraf, so gab es keinerlei Probleme. Wir schwarzen Rekruten verstanden uns mit unseren wei�en Kameraden ausgesprochen gut, und es entstanden viele gemischtrassige Freundschaften. Doch eines Tages wurde eine meiner felsenfesten �berzeugungen, was die Vereinigten Staaten betraf, zutiefst ersch�ttert. Ich schob Wachdienst mit einem wei�en Kameraden, der pl�tzlich anfing, sich dar�ber zu
beklagen, dass die Juden in unserer Kompanie - etwa eine Hand voll - f�r die christlichen und auch f�r die j�dischen Feiertage frei bekamen, die nichtj�dischen Soldaten aber nur f�r christliche Feiertage. �Ich hab die Nase voll von diesen verdammten Juden�, lamentierte er. �Ich w�nschte, wir w�rden mit ihnen das Gleiche machen, was Hitler in Deutschland gemacht hat, dann w�ren wir sie endlich ein f�r alle Mal los.� Ich traute meinen Ohren nicht. Da hatte ich immer angenommen - naiverweise, wie ich r�ckblickend sagen muss -, Amerikas Motive f�r den Kampf gegen Hitler w�ren unter anderem die gewesen, Diktatur und Rassismus zu besiegen, die Demokratie wiederherzustellen und die Juden zu befreien. Nun h�rte ich aus dem Munde eines Amerikaners die gleiche Sprache von Hass und Intoleranz, die mir aus Nazideutschland nur zu bekannt war und die darauf schlie�en lie�, dass der Antisemitismus auch in den USA fr�hliche Urst�nd feierte. Als ich meinem Kameraden klar zu machen versuchte, dass es doch wohl haneb�chen w�re, den Tod von Millionen von Menschen herbeizuw�nschen, nur weil er ihnen die paar zus�tzlichen freien Tage missg�nnte, erwiderte er, ich sei naiv. �Du kennst die Juden eben nicht so wie ich�, beharrte er, �sonst w�sstest du, dass sie dich bestehlen, sobald du ihnen den R�cken zudrehst. Ich wei�, wovon ich rede; mein Vater und ich, wir haben n�mlich f�r Juden gearbeitet, und wir haben bei Juden zur Miete gewohnt.� Als ich entgegnete, dass ich mir sein intolerantes Gequatsche nicht l�nger anh�ren w�rde, erwiderte er seelenruhig: �Schon gut. Irgendwann wirst du
feststellen, dass ich Recht habe.� Gegen Ende der Grundausbildung erhielt meine Skepsis gegen�ber dem �American way� neue Nahrung. Als wir Rekruten stehenden Einheiten zugeteilt wurden, stellte sich heraus, dass alle wei�en Soldaten routinem��ig ins friedliche Europa geschickt wurden, ihre schwarzen Kameraden aber nach Korea in den Krieg, mit der nicht geringen Aussicht, in einem Leichensack zur�ckzukommen. Als einige von uns Schwarzen sich bei unserem wei�en Kompaniechef nach dem Grund dieser �u�erst seltsamen Handhabung erkundigten, erwiderte er, das habe absolut nichts mit Rassendiskriminierung zu tun, sondern w�rde �in Washington� von Leuten entschieden, die gar nicht w�ssten, ob die Soldaten, deren Akten sie bearbeiteten, schwarz oder wei� seien. Von wegen! Da ich als Ausl�nder nat�rlich keinerlei Neigung versp�rte, f�r die USA mein Blut zu vergie�en, solange ich nicht wenigstens eine Zeit lang in dem Land gelebt und einige der Vorteile der US-Staatsb�rgerschaft genossen hatte, suchte ich dringend nach einem Weg, meinen Aufenthalt in den Staaten zu verl�ngern. Wie ich erfuhr, boten sich zwei M�glichkeiten - die Offiziersanw�rterschule und eine Fallschirmspringerausbildung an der Fort Benning Infantry School. Ohne Staatsb�rgerschaft allerdings konnte ich mich nicht f�r die Offiziersanw�rterschule bewerben, und so entschied ich mich f�r die einzige andere Alternative und meldete mich freiwillig zur Fallschirmausbildung. Lange konnte ich damit aber nicht Zeit schinden, da die Ausbildung lediglich drei Wochen dauerte, und was mich danach f�r Aufgaben erwarteten, wusste ich nicht. Einer meiner Kameraden aus der Grundausbildung, ein gro�er Schwarzer namens Bill Toler, wollte auch auf keinen
Fall in den Koreakrieg und meldete sich ebenfalls freiwillig zu den Fallschirmj�gern. Wir beide hatten keine Ahnung, worauf wir uns da einlie�en. Als wir mit den anderen Rekruten nach unserer Ankunft in Fort Benning zum ersten Mal Aufstellung nahmen, baute sich ein muskelbepackter Fallschirmausbilder in einem engen, schneewei�en T-Shirt, gest�rkter Drillichhose und mit blank gewienerten Springerstiefeln dicht vor uns auf und br�llte: �Alle von euch, die sich Gott wei� was unter der Nase wachsen lassen, haben genau zehn Minuten, um es loszuwerden.� Er blickte auf seine Uhr und sagte, es sei 8.20 Uhr und wir h�tten bis genau 8.30 Uhr Zeit, glatt rasiert wieder in Reih und Glied zu stehen, sonst k�nnten wir uns auf was gefasst machen. Wie eine durchgehende Herde B�ffel sausten wir Schnurrbarttr�ger - also alle schwarzen Soldaten oder praktisch der halbe Zug - in den Waschraum, wo wir unsere Rasiermesser schnappten und uns von unserer Bartzierde trennten, die wir doch mit Stolz getragen hatten. Bill und ich schafften es so eben, rechtzeitig wieder unseren Platz in der Formation einzunehmen. Diejenigen, die nicht so schnell waren, mussten f�r jede Minute Versp�tung zehn Liegest�tze machen. Als Bill und ich nach unserem ersten Ausbildungstag, an dem wir �berwiegend bis zur v�lligen Ersch�pfung gelaufen waren, Zeit hatten, uns im Spiegel zu betrachten, waren wir entsetzt. Die Gesichter, die uns da anblickten, sahen fremd und langweilig aus und erinnerten in nichts mehr an die l�ssigen Machos, deren Anblick uns so vertraut gewesen war. Au�erdem kl�rte Bill mich auf, dass es f�r einen Schwarzen eine waschechte Katastrophe sei, seinen Schnurrbart zu ver-
lieren, da schwarze Frauen auf b�rtige M�nner st�nden. �Einen Mann ohne Schnurrbart zu k�ssen�, fuhr er fort, �ist f�r schwarze Frauen so, als w�rden sie ein Ei ohne Salz essen.� Das leuchtete mir sofort ein, und sobald ich durfte, lie� ich mir wieder einen Schnurrbart wachsen den ich bis heute trage. Da er den zunehmenden Druck der Fallschirmj�gerausbildung nicht l�nger ertragen konnte, erz�hlte mir Bill einige Tage sp�ter, dass er aufh�ren wolle. Seine Entscheidung tat mir Leid, da ich gehofft hatte, wir w�rden bis zum Schluss gemeinsam durchhalten, aber ich konnte ihn nicht umstimmen. Trotzdem zahlte es sich f�r ihn aus, dass er sich zur Fallschirmausbildung gemeldet hatte, denn er wurde einer anderen Einheit zugewiesen und - ausgerechnet - nach Deutschland versetzt. W�hrend der drei h�llischen Wochen unter Georgias gnadenloser Julisonne, mit der Aussicht, am Ende aus einem Flugzeug springen zu m�ssen, trug auch ich mich zwischendurch mit dem Gedanken, die Ausbildung hinzuschmei�en. Doch schlie�lich blieb ich doch bei der Stange, weil ich nicht f�r einen Dr�ckeberger gehalten werden wollte. Erbarmungslos wurden wir Auszubildenden an den Rand der k�rperlichen und geistigen Ersch�pfung getrieben. Ich absolvierte unz�hlige Strafliegest�tze, lernte die klassische Fallschirmspringerlandung, meisterte Simulationsspr�nge sowohl von zehn wie auch von siebzig Meter hohen T�rmen und bestand schlie�lich auch die Feuerprobe: f�nf Pr�fungsspr�nge aus einer Air Force C-46. Obwohl wir es Hunderte von Malen auf dem Boden ge�bt hatten, war es etwas v�llig anderes, als nach Erreichen der Absprungh�he der Befehl ert�nte:
�Aufstehen! Einhaken! Ausr�stung checken!� und dann der Erste von uns den Befehl zum Sprung erhielt. Als ich mich schlie�lich das erste Mal aus der g�hnenden �ffnung ins Leere warf, war mein Adrenalinspiegel so hoch - man k�nnte auch sagen, ich hatte so gro�e Angst -, dass ich mit keinem Gedanken mehr daran dachte, zuerst, wie man es uns beigebracht hatte, �eintausend, zweitausend, dreitausend� zu z�hlen, bevor ich den Fallschirm �ffnete. Umgehend wurde mir bewusst, dass es f�r mich auf der Welt wohl keinen sch�neren Anblick gab als einen sich �ffnenden Fallschirmbaldachin �ber mir. Danach war alles ganz einfach. Der Fallschirm lie� mich ziemlich sacht gen Erde schweben, und nachdem ich behutsam an B�umen und anderen Hindernissen vorbeigesteuert war, gelang mir eine perfekte Landung. Es dauerte nicht lange, und das Fallschirmspringen machte uns keine Angst mehr, weil wir darauf konditioniert wurden, mehr Angst davor zu haben, dass man uns Angst unterstellen k�nnte. Als wir nach Abschluss unserer Ausbildung in Reih und Glied Aufstellung nahmen, in Ausgehuniform und mit auf Hochglanz gewienerten Springerstiefeln, w�hrend ein Offizier uns die Spange mit den silbernen �Fl�geln� an die stolzgeschwellte Brust steckte, war meine Brust - da bin ich sicher - am meisten geschwellt. Nach der Ausbildung wurde ich zusammen mit sechs anderen frisch gebackenen Fallschirmj�gern nach Fort Bragg, North Carolina, zur 82. Luftlandedivision geschickt, die sich im Zweiten Weltkrieg hervorgetan hatte. Unsere neue Einheit, das 80. Luftlande-Fliegerabwehr-Bataillon, bestand ausschlie�lich aus Schwarzen. Ein merkw�rdiges Ph�nomen in unserem Bataillon war, dass nicht so sehr der milit�rische Rang daf�r
ausschlaggebend war, welche Position ein Soldat innerhalb der Hackordnung einnahm und wie sehr er von seinen Kameraden respektiert wurde, sondern wie viele Fallschirmabspr�nge er schon zu verbuchen hatte. Gemessen daran galten wir blutigen Anf�nger bei den alten Hasen nur als �F�nf-Sprung-Charlies�. Demzufolge waren wir stets leichte Beute f�r jeden Kameradenschinder, der sich und andere mit seiner B�sartigkeit beeindrucken wollte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Kelch auch an mir nicht l�nger vor�bergehen w�rde. Eines Tages war es so weit. Ein Veteran mit einer eindrucksvollen Zahl von Spr�ngen auf seinem Konto sah, dass ich ein gerahmtes Foto von meiner Mutter auf dem Regal �ber meinem Bett stehen hatte, und br�llte so laut, dass alle es h�ren konnten: �Was macht denn der Nigger mit dem Foto von einer Wei�en?� �Die Frau ist meine Mutter�, kl�rte ich ihn mit einem drohenden Unterton in der Stimme auf. Bei dem Wort �Mutter� trat in der Baracke absolute Stille ein. �Und wieso hast du als Nigger 'ne wei�e Mama?�, fragte der Soldat nach. Inzwischen h�tte man eine Stecknadel fallen h�ren k�nnen. Alle waren gespannt, wie ich auf die Provokation reagieren w�rde. Ich wusste, dass ich als Feigling abgestempelt w�rde, wenn ich nicht sofort handgreiflich wurde, daher beschloss ich, meinem Widersacher eine Lektion zu erteilen, die er nicht so schnell wieder vergessen w�rde. Mit dem Selbstbewusstsein eines Mannes, der wei�, dass er k�rperlich in Topform ist, st�rzte ich mich auf den h�hnisch grinsenden Soldaten und attackierte ihn mit harten
Schl�gen gegen den Kopf. Offensichtlich war er v�llig �berrumpelt, denn er ging sofort in die Knie und fiel dann zu Boden. Ich beugte mich �ber ihn und sah an seinem fassungslosen Blick, dass ich zumindest vorl�ufig seinen Kampfgeist gebrochen hatte. �Beruhige dich, Bruder! Ich hab das nicht so gemeint�, nuschelte er vers�hnlich. �Kein Grund, dich so aufzuregen.� Meine harte Reaktion hatte die beabsichtigte Wirkung. Es sprach sich schnell herum, dass mit dem �Nigger aus Deutschland� nicht gut Kirschen essen war. Der Dienst in einer rein schwarzen Einheit war f�r mich eine ebenso lehrreiche Erfahrung wie das Leben in der Armee selbst. Bald stellte ich fest, dass die Maxime von Smitty, dem Seemann von der Appleton Victory, nicht nur auf unser rein schwarzes Bataillon zutraf, sondern auch auf die gesamte 82. Luftlandedivision. �Wir k�mmern uns um uns, und die k�mmern sich um sich�, hatte Smitty das Verh�ltnis zwischen Wei�en und Schwarzen an Bord seines Schiffes auf den Punkt gebracht. Das Gleiche galt auch, wie ich feststellen konnte, f�r das Leben in Fort Bragg. Zwischen Morgen- und Abendappell gingen wir unseren Aufgaben nach und bekamen unsere wei�en Kameraden, die in anderen Teilen des weitl�ufigen St�tzpunkts praktisch die gleichen Aufgaben verrichteten, kaum zu Gesicht. Bis auf unseren wei�en Bataillonskommandeur und eine Hand voll wei�er Offiziere hatten wir keinerlei Kontakt zu Wei�en. Die von Pr�sident Harry S. Truman erlassene Verordnung, die Rassentrennung in den Streitkr�ften aufzuheben, war im verschlafenen s�dstaatlichen Fort Bragg offenbar noch nicht angekommen. Die Rassentrennung wurde sogar noch strenger eingehalten, wenn wir Soldaten nach dem Dienst den
St�tzpunkt verlie�en. Sobald wir im nahe gelegenen Fayetteville, North Carolina, ankamen, h�ufig mit demselben Bus, steuerten die wei�en Soldaten die n�chsten Spelunken an der Hauptstra�e an, wo sie bereits von wei�en Frauen erwartet wurden. Wir schwarzen Soldaten marschierten den weiten Weg bis an den Stadtrand, wo die Stra�en nicht mehr gepflastert waren und wo wir in einigen bauf�lligen Scheunen, die in Nachtklubs umfunktioniert worden waren, bereits von schwarzen Frauen erwartet wurden. Falls wir au�erhalb des St�tzpunkts mit dem Gesetz in Konflikt gerieten, so hatten uns unsere Offiziere gewarnt, w�ren wir v�llig uns selbst �berlassen. Sie k�nnten nichts f�r uns tun. Da ich der Gestapo entkommen war, hatte ich nicht vor, irgendein Risiko einzugehen und mich von einem reaktion�ren Sheriff einbuchten zu lassen. Ich hatte schon zu viele Geschichten geh�rt, wie an schwarzen Soldaten �ein Exempel statuiert� worden war: Sie waren misshandelt worden oder einfach vom Erdboden verschwunden. Die meisten meiner schwarzen Kameraden, vor allem die, die aus dem S�den stammten, wo die Rassentrennung nach wie vor an der Tagesordnung war, sahen in der Rassendiskriminierung, der wir ausgesetzt waren, nichts Besonderes. F�r mich dagegen war es einfach in h�chstem Ma�e absurd, dass eine Nation, die sich ihrer demokratischen Traditionen r�hmte und den Rassismus der Nazis verurteilte, Soldaten diskriminierte, die in derselben Armee dienten wie ihre wei�en Kameraden und von denen erwartet wurde, dass sie denselben Feind bek�mpften. Eines Tages h�ndigte mir der Postbedienstete in der Schreibstube ein Telegramm aus, das mich ohne Frage
zum gl�cklichsten Menschen unter den etwa zwanzigtausend Soldaten der 82. Luftlandedivision machte. Es war von meiner Mutter, und sie teilte mir mit, dass ihr Ozeandampfer, die United States of America, sicher im New Yorker Hafen angelegt habe und sie auf dem Weg zur Farm ihrer Schwester Hedwig sei. Der Augenblick, den ich seit meiner Abreise aus Hamburg vier Jahre zuvor herbeigesehnt hatte - und von dem ich insgeheim bef�rchtet hatte, dass er nie kommen w�rde -, war endlich da. Ich w�rde meine Mutter wiedersehen, und auch wenn wir nicht gleich in unmittelbarer N�he zueinander w�rden leben k�nnen, so trennte uns nicht l�nger ein Ozean. Ich erhielt einen kurzen Sonderurlaub und stieg an einem sch�nen Sommernachmittag in Bartlett aus dem Zug und legte, meinen schweren Armeesack �ber der Schulter, das letzte St�ck zur Farm im Laufschritt zur�ck. Meine Mutter kam mir auf derselben Stra�e entgegengelaufen. Irgendwo auf halber Strecke fielen wir uns in die ausgebreiteten Arme. Wir hatten uns vier Jahre nicht mehr gesehen, vier Jahre, die uns wie vier Ewigkeiten erschienen waren. Kurz nach meiner R�ckkehr zum St�tzpunkt h�rte ich aus einer Baracke, an der ich gerade vorbeiging, vertraute musikalische Kl�nge. Ich erkundigte mich und erfuhr, dass die Soldaten in der Baracke der Division Artillery (Divarty) Band angeh�rten, dem schwarzen Gegenst�ck zu der ausschlie�lich wei�en 82nd Airborne Division Band. Die Musiker mussten mich nicht lange �berzeugen, dass es erheblich angenehmer war, auf Paraden Saxofon zu blasen, als riesige Krater f�r Flakgesch�tze zu graben, und sie ermutigten mich, um Versetzung in die Band zu bitten. Nachdem ich er-
folgreich vorgespielt hatte, wurde mein Antrag zwei Wochen sp�ter bewilligt, und ich zog zu den Mitgliedern der Divarty Band. Meine neuen Pflichten waren sehr viel erfreulicher als die Drecksarbeit, die ich zuvor gemacht hatte. In der Hauptsache musste ich daf�r Sorge tragen, dass meine Stiefel und mein Saxofon immer auf Hochglanz poliert waren, mit der Band proben, auf Paraden mitmarschieren, klassische Konzerte spielen, an feierlichen Empfangskomitees am Flughafen teilnehmen, wenn wichtige Pers�nlichkeiten aus Washington eintrafen, und hin und wieder mit dem Fallschirm einen �bungssprung absolvieren. Einige meiner neuen Kollegen waren phantastische Jazzmusiker, die in ber�hmten Bands unter Count Basie, Louis Armstrong und Duke Ellington gespielt hatten. In ihrer Freizeit traten sie gegen gutes Geld mit Combos in Nachtklubs au�erhalb des St�tzpunkts auf. Angesichts ihres unglaublichen Talents musste ich mir eingestehen, dass ich niemals so gut werden w�rde, und verabschiedete mich wohl oder �bel von dem Gedanken, sp�ter als Zivilist meinen Lebensunterhalt als Musiker zu verdienen. Und so war ich's zufrieden, mithalten zu k�nnen, wenn wir M�rsche spielten wie John Philip Sousas Stars and Stripes Forever, mit dem damals meine Profikarriere begonnen hatte. Kurz darauf erhielten wir Befehl, unsere Sachen zusammenzupacken und in andere Baracken in der N�he des Hauptst�tzpunkts zu ziehen. Die Aufhebung der Rassenschranken hatte endlich die US-Streitkr�fte erreicht und damit auch die Gleichberechtigung zwischen der schwarzen Divarty Band und der wei�en 82nd Airborne Division Band. Trotz der Vorbehalte
einiger meiner Kameraden, von denen viele nie zuvor Kontakt zu Wei�en gehabt hatten, verlief die rassische Eingliederung glatt und problemlos, und nach mehreren gemeinsamen Proben gab unsere Band nicht nur ein harmonisches Bild ab, sondern klang auch besser und voller als jede der beiden Bands vorher. Das Einzige, was meinem relativ gl�cklichen Dasein in der Bleuen Band ein Ende h�tte bereiten k�nnen, w�re der Befehl zum Kriegseinsatz in Korea gewesen. Doch der Befehl kam nicht. Nachdem ich meine zwei Jahre Milit�rdienst abgeleistet hatte, wurde ich ehrenhaft entlassen und kehrte nach Chicago in mein ziviles Leben zur�ck. In den Jahren darauf wurde meine Begeisterung f�r die Vereinigten Staaten oftmals ernstlich auf die Probe gestellt, und viele Male fragte ich mich, ob mein lang gehegter Traum, es in der Neuen Welt zu etwas zu bringen, nicht doch blo� ein Luftschloss war und meine Entscheidung, nach Amerika zu gehen, ein riesiger Fehler. In einem Land, das unz�hlige Saxofongr��en vom Kaliber eines Ben Webster, Chick Webb, Ornette Coleman, Dexter Gordon, Coleman Hawkins, Charlie Parker und Johnny Hodges hervorgebracht hat, wartete man nicht unbedingt auf einen jungen Mann aus Deutschland, dessen musikalische Referenzen sich darin ersch�pften, dass er Saxofon bei den Drei Ah-Yue Hon Lous gespielt hatte. Sosehr ich es hasste, den Blaumann wieder anzuziehen, ich war froh, dass es genug Jobs gab, um mich �ber Wasser zu halten, und so arbeitete ich unter anderem als Lieferwagenfahrer f�r ein Spirituosengesch�ft und - was f�r ein Abstieg - als Schlossergehilfe in verschiedenen Fabriken.
Doch nach etlichen entbehrungsreichen Lehrjahren - dazu z�hlte beispielsweise auch ein f�nfj�hriges, von �Onkel Sam� finanziertes Zeitungswissenschaftsstudium - sah ich ganz allm�hlich das Licht am Ende des langen, langen Tunnels. Als ich als Reporter f�r die Zeitschrift EBONY nach Libertyville, Illinois, fuhr, um im Hause des damaligen UN-Botschafters Adlai Stevenson mein erstes wichtiges Interview mit Sekou Toure, dem Staatspr�sidenten des gerade unabh�ngig gewordenen Guinea, zu f�hren, und diese beiden bedeutenden M�nner zu einem angeregten Gespr�ch mit mir - dem �rassisch minderwertigen� schwarzen jungen aus Nazideutschland - Platz nahmen, da wurde mir pl�tzlich bewusst, dass ich mich wahrhaftig durchgesetzt und es zu etwas gebracht hatte. Nach Amerika zu gehen war also doch keine so schlechte Idee.
Wieder in Deutschland
Es war das Jahr 1966. Achtzehn Jahre waren vergangen, seit ich das kriegszerst�rte Deutschland verlassen hatte, um zun�chst in Afrika, dann in den Vereinigten Staaten mein Gl�ck zu suchen. Wir flogen in zehntausend Metern H�he irgendwo zwischen Chicago und Frankfurt am Main mit einer Lufthansa Boeing 707 in Richtung Deutschland. �Geht es Ihnen nicht gut? � Die besorgte Stimme der Stewardess riss mich aus meinem Schlummer; ich hatte davon getr�umt, wie ich vor �ber zwei Jahrzehnten fast von einem deutschen Mob gelyncht worden w�re, weil man mich irrt�mlich f�r einen abgeschossenen US-Piloten gehalten hatte. �Doch, doch, danke�, versicherte ich der jungen Frau, w�hrend ich mir die Schwei�perlen vom Gesicht wischte. �M�chten Sie ein Kissen?�, fragte die Stewardess weiter auf Englisch. �Ja, bitte, wenn's Ihnen nichts ausmacht�, antwortete ich in meinem unverf�lschten Deutsch und bemerkte am�siert ihren verbl�fften Gesichtsausdruck. Bei Afroamerikanern, so hatte ich l�ngst festgestellt, rechnete man nicht damit, dass sie akzentfrei Deutsch sprachen. Ich lehnte mich behaglich zur�ck und betrachtete die goldger�nderten Wolken der Morgend�mmerung unter uns, w�hrend ich meine geistige Reise in die Vergangenheit fortsetzte. Nach einer Weile riss mich eine weibliche Stimme erneut aus meinen Tr�umen. �Wir landen in K�rze in Frankfurt am Main. Bitte schnallen Sie sich an!� In wenigen Minuten w�rde ich wieder in Deutschland sein, dem Land, in dem ich geboren war und das ich ohne jedes Bedauern
verlassen hatte. Noch immer gellten mir die sp�ttischen Rufe der Kinder in den Ohren, wenn sie mir �Neger, Neger, Schornsteinfeger! � nachriefen. Die fast zwei Jahrzehnte, die ich fern meiner Heimat verbracht hatte, waren sowohl f�r mich pers�nlich als auch f�r den Rest der Welt �u�erst ereignisreich gewesen. Nachdem ich �ber mehrere Jahre hinweg Lehrgeld gezahlt und mich �hochgek�mpft� hatte, war ich inzwischen fest in der so genannten Mittelschicht etabliert; ich war mit einer beruflich erfolgreichen Afroamerikanerin verheiratet und stolzer Vater von zwei Jungen im Alter von zehn und sechs, die ich �ber alles liebte; ich hatte nicht nur einen Abschluss in Zeitungswissenschaft von der University of Illinois in der Tasche und eine gut bezahlte Stelle als Chefredakteur von EBONY (Auflage zwei Millionen), sondern auch ein Haus in einer von Chicagos �besseren� Wohngegenden, f�r das ich einen Kredit aufgenommen hatte, der jedweden Gedanken, mich fr�h pensionieren zu lassen, zunichte machte. Kurzum, ich hatte meinen amerikanischen Traum verwirklicht. Die Welt war in der Zwischenzeit auch nicht gerade stehen geblieben. Die Berliner Mauer war die Trennlinie zwischen den �Guten� der freien Welt und den �B�sen� der Sowjetunion geworden. Ob nun b�se oder nicht, die Sowjets hatten es 1957 geschafft, eine achtzig Kilogramm schwere Metallkugel namens Sputnik in den Weltraum zu schie�en, und damit das so genannte Raumfahrtzeitalter eingeleitet. Pr�sident Lyndon B. Johnson und ein Hund namens Hirn waren nach der Ermordung von John F. Kennedy ins Wei�e Haus eingezogen, der Koreakrieg war vor�ber, und ein noch gr��eres Fiasko, der Vietnamkrieg, nahm seinen Lauf. W�hrend in den Vereinigten Staaten eine andere Art von
Krieg, der Kampf um Rassengleichheit, tobte, rang der afrikanische Kontinent darum, die Ketten des Kolonialismus und der Apartheid abzusch�tteln. Mit einem dumpfen Quietschen setzten die R�der der Boeing 707 auf der Landebahn auf. Der lang ersehnte Augenblick war da: Ich war wieder in meiner Heimat. Ich wollte f�r EBONY dem neuen Deutschland in seinem Umgang mit anderen Rassen kritisch auf den Zahn f�hlen. W�hrend all der Jahre im �Exil� hatte ich mich oft gefragt, ob die Deutschen seit der Nazizeit ihre Einstellung in diesem Punkt ver�ndert hatten und ob Farbige, entgegen meiner pers�nlichen Erfahrung, inzwischen fair behandelt wurden. Was w�rde ich feststellen? Fragen �ber Fragen gingen mir durch den Kopf. Wie war die Haltung der Deutschen gegen�ber Schwarzen jetzt, da sie wieder die Herren im eigenen Lande waren? Wurden sie gepeinigt von Schuldgef�hlen wegen der Ermordung von sechs Millionen Juden und anderer rassischer und ethnischer Minderheiten, oder hatte ihr neu geschaffener materieller Wohlstand und ihr Ansehen in der westlichen Welt sie abstumpfen und die alte rassische Arroganz wieder aufleben lassen? Ich hatte genau drei Wochen Zeit, um diese Fragen zu beantworten. Der erste Eindruck, den ich in dem modernen Frankfurter Flughafen gewann, war erstaunlich. Auf dem Weg durch die Menschenmenge tauchte ich in ein Meer von Farben und eine babylonische Sprachenvielfalt ein. Menschen aus aller Herren L�nder bev�lkerten das Flughafengeb�ude. Ich sah die typische kosmopolitische Vielfalt, wie man sie an jedem internationalen Flughafen der Welt findet. Doch f�r den Reisenden, der sich nur an das triste, hoffnungslose Deutschland von vor achtzehn Jahren
erinnerte, ein Deutschland, das weder Flugh�fen noch Flugzeuge oder Flugpassagiere hatte, war es ein v�llig unerwarteter und ungemein erfrischender Anblick. Ich hatte noch immer deutlich das Bild des ausgebrannten Hamburg in Erinnerung, und ich war absolut nicht auf das gefasst, was mich nun erwartete. Das Hamburg, das ich verlassen hatte, war ein gewaltiger Tr�mmerhaufen und eine Ruinenstadt gewesen, in der sich durch Hunger und einen verlorenen Krieg demoralisierte Menschen mit Hilfe des Schwarzmarkts m�hsam �ber Wasser hielten. H�tten die Briten die weit reichenden Folgen ihrer Luftangriffe vorausgesehen, sie h�tten sich f�r ihr Werk keinen passenderen Codenamen als �Gomorrha� einfallen lassen k�nnen. Ich hatte das Ausma� der Zerst�rung mit eigenen Augen gesehen, und es war mir unvorstellbar, dass Hamburg jemals wieder aufgebaut werden k�nnte. Ich hatte mit einem notd�rftig wiederhergestellten Gomorrha gerechnet, doch stattdessen fand ich eine atemberaubend sch�ne Metropole vor, mit hellen, neonbeleuchteten Boulevards, �ber die sich Sto�stange an Sto�stange endlose Reihen gl�nzender Autos schoben. Die Stra�en waren von Gesch�ften ges�umt, die in ihren Schaufenstern hochwertige Waren anboten, und es wimmelte nur so von gut gekleideten Menschen, die sich in einem regelrechten Kaufrausch zu befinden schienen. Auf dem schicken Jungfernstieg, Hamburgs Antwort auf die New Yorker Fifth Avenue, standen die Leute vor einem Kino Schlange, an dessen Fassade in gro�en Lettern Was gibt's Neues, Pussy? prangte, ein weiterer Beweis f�r den allgegenw�rtigen Einfluss der USA. Ich konnte daraus nur den Schluss ziehen, dass Deutschlands viel gepriesenes �Wirtschaftswunder�, das Amerika mit
seinem Dollarzauber in Gang gesetzt und deutscher Flei� in Gang gehalten hatte, nicht �bertrieben war. Aber es gab auch ganz andere Bilder, die sich mir darboten. Als ich mein fr�heres Viertel im Norden der Stadt besuchte, stand ich fassungslos vor einem brachliegenden Grundst�ck, auf dem das Haus meiner Kindheit gestanden hatte, bevor es in jener denkw�rdigen Sommernacht dreiundzwanzig Jahre zuvor bei einem Luftangriff dem Erdboden gleichgemacht worden war. Offenbar war das Wirtschaftswunder noch nicht ganz bis hierher vorgedrungen. Ich blieb noch einige Zeit an der Stelle stehen, wo der Luftschutzbunker einst stand, in dem ich den verheerenden Angriff �berlebt hatte, der mein Viertel in ein Inferno verwandelte. Ich musste an die verkohlten Leichen der Ungl�cklichen denken, die es nicht mehr rechtzeitig in den Bunker geschafft hatten. Jetzt war dort ein nagelneues Wohngebiet entstanden mit Rasenfl�chen, auf denen Kinder die gleichen Spiele spielten wie ich als kleiner Junge. Ich sah ihnen zu und w�nschte mir fast, dass wenigstens eines von ihnen mir �Neger, Neger, Schornsteinfeger� zurufen w�rde - nur um der alten Zeiten willen. Doch entweder hatten die deutschen Kinder sich ver�ndert, oder ich z�hlte nicht mehr. Wie aus einem Jahrhundertschlaf erwacht, ging ich durch die seltsam fremd anmutenden Stra�en, wo ich einst praktisch jede Laterne, jeden Baum und jedes Gesicht gekannt hatte, ohne irgendjemanden zu erkennen und ohne erkannt zu werden. F�r mich, der in Barmbek so etwas wie eine Ber�hmtheit gewesen war und den jeder, wenn nicht mit Namen, so doch als den �Negerjungen� gekannt hatte, war es ein ungewohntes Gef�hl.
Und erst da traf mich mit voller Wucht die Erkenntnis, dass man nie wieder nach Hause zur�ckkehren kann. Auf meiner Reise in die Vergangenheit besuchte ich den Friedhof Ohlsdorf, um der rund 41 000 Hamburger zu gedenken, die w�hrend der Bombenangriffe im Juli 1943 nicht so viel Gl�ck gehabt hatten wie ich und in dem Feuersturm, der mich verschont hatte, ihr Leben lassen mussten. Sprachlos stand ich vor den schier endlosen rechteckigen Massengr�bern, die nur mit dem Namen des jeweiligen Stadtteils markiert waren, in dem die sterblichen �berreste der Opfer - h�ufig bis zur Unkenntlichkeit verbrannt � gefunden worden waren. Als ich tief ersch�ttert die friedlichen, wundersch�n gestalteten Wege entlangschritt, fragte ich mich, wieso ausgerechnet mir das entsetzliche Schicksal der hier Begrabenen erspart geblieben war. Bei meiner Suche nach in Hamburg lebenden Schwarzen lernte ich auch einen der damals in Deutschland prominentesten Afroamerikaner kennen. Owen Williams, ein begnadeter Basss�nger mit einem Repertoire von Klassik bis Pop, hatte 1955 seine kalifornische Heimatstadt Sacramento verlassen, um ber�hmt zu werden. Er sollte nicht entt�uscht werden, denn er wurde durch Auftritte mit dem Norddeutschen-Rundfunk-Orchester unter Franz Ton zum Star. Williams, mit dem ich mich anfreundete, war es gelungen, ein fester Bestandteil Hamburgs und seiner Kultur zu werden. Er f�hrte ein beneidenswertes Leben mit seiner deutschen Frau und ihrer beider Tochter in einem Haus in Blankenese. Der vielleicht am meisten vernachl�ssigte Aspekt der Beziehungen zwischen Schwarz und Wei�, der mir bei meinem Besuch in Deutschland auffiel, war die inzwischen betr�chtlich gewachsene Zahl an so
genannten �braunen Babys�, die meist aus unehelichen Verbindungen zwischen schwarzen GIs und deutschen Frauen hervorgegangen waren. Da die US-Truppen fest im Land stationiert waren, hielt die Faszination, die schwarze GIs aus�bten, unvermindert an, was f�r einen stetigen Nachwuchs an schwarzen Kindern sorgte. Westdeutsche Beh�rden beteuerten zwar, dass die Rasse eines Menschen nirgendwo aktenkundig erfasst werde und dass alle in Deutschland Geborenen vor dem Gesetz gleich seien, aber die amerikanischen Beh�rden stellten sich auf den Standpunkt, dass sie f�r die unehelichen Kinder von Angeh�rigen der US-Besatzungstruppen nicht zust�ndig seien, da die Kinder deutsche und nicht amerikanische Staatsb�rger seien. Um mehr �ber diese schwarzen Deutschen zu erfahren, besuchte ich Al Hooseman in seiner Wohnung in M�nchen, den Mann, der sich, wie mir gesagt wurde, besser mit dem Thema auskannte als sonst jemand. Der ehemalige Schwergewichtsboxer aus Waterloo in Iowa war Gr�nder und Pr�sident einer Hilfsorganisation f�r schwarze und elternlose Kinder. Urspr�nglich war er 1950 nach Deutschland gekommen, weil er sich ein Comeback als Boxer erhoffte, doch als man ihm anbot, in dem deutschen Film Schwarzer Engel die Rolle eines GI und Vaters eines �braunen Babys� zu spielen, ging ihm das Schicksal dieser Kinder so nahe, dass er seine Boxhandschuhe an den Nagel h�ngte, um sich von da an f�r �braune Babys� zu engagieren. Hin und wieder arbeitete er noch f�r Film und Theater, und im Laufe der Zeit verliebte er sich in Deutschland und seine Menschen, so dass er beschloss zu bleiben. Als ich Hooseman aufsuchte, geh�rte er l�ngst zur M�nchner Stadtprominenz. �Kommen Sie rein�, sagte eine
dr�hnende Stimme. Ich stand einem b�rtigen, braunen Riesen in den Vierzigern gegen�ber. �Aber sehen Sie sich nicht allzu genau um�, bat er, als er mich in seine voll gestopfte Junggesellenwohnung f�hrte, deren W�nde mit einer Fotodokumentation seines Erwachsenenlebens f�rmlich tapeziert waren. Es waren Fotos von seinen Boxk�mpfen, Schnappsch�sse, auf denen er mit verschiedenen schwarzen Kindern abgebildet war, und Bilder, die ihn mit einer eindrucksvollen Riege ber�hmter Leute zeigten, von Eleanor Roosevelt bis hin zu Martin Luther King. Nachdem er mir zun�chst von seinen Sternstunden im Ring erz�hlt hatte, kam Hooseman auf seine soziale Arbeit zu sprechen. �Das gr��te Problem�, so erkl�rte er, �besteht darin, dass die M�tter oder Gro�eltern oder Pflegeeltern dieser Kinder einer einkommensschwachen Schicht angeh�ren und die Kinder nicht die gleichen Chancen haben wie andere, die das Gl�ck haben, in wohlhabenderen Verh�ltnissen aufzuwachsen und in den Genuss einer h�heren Schulbildung zu kommen. Deutschland ist ein Land, in dem Kunst, Musik und Literatur einen hohen Stellenwert einnehmen. Jedes Kind, das nicht schon im Elternhaus damit in Ber�hrung kommt, hat von vornherein schlechtere Karten. Das wenige Geld, das die Vorm�nder dieser Kinder als Unterst�tzung erhalten, reicht vorne und hinten nicht aus, um bessere M�glichkeiten f�r sie zu schaffen oder eventuell vorhandene Talente zu f�rdern. Aber es geht nicht um Rassenzugeh�rigkeit, da in Deutschland alle Kinder, die in armen Verh�ltnissen und unehelich zur Welt kommen, mit den gleichen Schwierigkeiten konfrontiert werden. Im Allgemeinen
werden die Kinder als Individuen akzeptiert. Ich w�rde ohne Z�gern sagen, dass schwarze Kinder aus einem vergleichbaren Milieu in den Vereinigten Staaten nicht ann�hernd die gesellschaftliche Akzeptanz genie�en wie die Kinder hier. Sollte es irgendwann eine Wirtschaftskrise in Deutschland geben, w�rden schwarze Deutsche nicht zwangsl�ufig als Erste ihren Arbeitsplatz verlieren. Was mich angeht, ich verdiene nicht viel Geld und bekomme immer seltener Filmrollen angeboten, aber trotzdem f�hle ich mich hier wohl. Irgendwie komme ich mit dem schulterklopfenden >HI Baby<-Getue zu Hause immer schlechter zurecht als mit einem festen, altmodischen, deutschen H�ndedruck.� Auf meiner Reise durch die gr��ten St�dte Westdeutschlands wurde mir eine unbestreitbare Tatsache klar: Das ehemalige Dritte Reich, einst Bastion teutonischen Chauvinismus und Kultst�tte einer wahnhaften Rassenreinheit, war keine �wei�e� Nation mehr. Auf allen Stra�en der Bundesrepublik begegnete man Menschen dunkler Hautfarbe - Amerikaner, Afrikaner, Westinder und schwarze Kinder von GIs -, also ein krasser Gegensatz zu der am Ende des Zweiten Weltkrieges herrschenden Situation, als allein schon der Anblick eines schwarzen Menschen ein au�ergew�hnliches Ereignis darstellte. Die neue Generation von Deutschen, so fiel mir auf, hatte sich offenbar voll und ganz dem American way of life verschrieben. Vor allem junge Leute schienen eine Vorliebe f�r Kleidung im amerikanischen Stil, wie beispielsweise Jeans, f�r amerikanische T�nze und Musik, vor allem Soul und Jazz, zu haben. In den Schaufenstern der Schallplattengesch�fte in der ganzen Bundesrepublik prangten die Konterfeis von schwarzen Jazz- und Pop-
Musikern, die in Westdeutschland fast alle genauso bekannt und ber�hmt waren wie in den USA. �Klasse, wie die auf den Sound abfahren. Man k�nnte meinen, man w�re in Harlem�, sagte ein schwarzer Soldat in Zivil zu mir, als wir durch die T�r einer �berf�llten M�nchner Diskothek sp�hten. Eine Weile sah ich zu, wie diese jungen Leute hingerissen und begeistert zu einem St�ck von Count Basie tanzten. Ich musste wieder an die steifen, im Stechschritt marschierenden Braunhemden meiner Kindheit denken und an die h�hnischen Bemerkungen, die ich wegen meiner braunen Haut erdulden musste, und pl�tzlich erf�llte mich angesichts dieser neuen Generation von Deutschen wieder Hoffnung f�r das Land, in dem ich geboren wurde.
Nachgedanken
Seit ich die voranstehenden Beobachtungen im Jahre 1966 machte, haben sich die Zeiten leider wieder ver�ndert. Der alarmierende Anstieg neonazistischer Aktivit�ten in Deutschland hat meinen damaligen Optimismus zunichte gemacht. Nat�rlich w�re es �bertrieben, von einem R�ckfall in den Rassismus der Hitlerzeit zu sprechen, doch die traurige Tatsache bleibt, dass der Nazismus in Deutschland noch lange nicht der Vergangenheit angeh�rt, wie ich bei meinen ersten Besuchen gehofft hatte. Eine Begegnung mit zirka hundert in Deutschland geborenen jungen Schwarzen aus einem breiten Spektrum sozialer Schichten und mit entsprechend unterschiedlichem Ausbildungsniveau hat mich noch k�rzlich davon �berzeugt, dass viel zu tun bleibt sowohl auf Seiten der Regierung als auch im Privatbereich -, bis Deutsche afrikanischer Abstammung und andere rassische Minderheiten absolut gleichberechtigt in die deutsche Gesellschaft integriert sind. Unabl�ssige Wachsamkeit und gemeinsame Anstrengungen aller Deutschen sind vonn�ten, damit sich der Schrecken des Holocaust nicht wiederholt. Ich hoffe, dass meine Geschichte die Lehre vermittelt, die ich selbst aus der kurzen, aber bedeutsamen historischen Phase gezogen habe, zu deren unmittelbaren Zeugen mich das Schicksal ausersehen hat: Wenn das entsetzliche Geschehen in Deutschland m�glich war dem Land Goethes und Schillers und solcher Musikgenies wie Beethoven, Bach und Brahms -, dann ist es �berall m�glich. Rassismus, so meine Erfahrung,
ist wie ein schlummerndes Virus in einem ansonsten anst�ndigen Menschen, das durch politische Agitation und Demagogie virulent wird. Die Deutschen haben auf diese Krankheit kein Monopol. F�r eine Neuauflage des Terrorismus und der brutalen Pogrome im Namen rassischer, religi�ser oder ethnischer S�uberung oder im Namen des Herrschaftsanspruchs eines Volkes sorgten die Afrikaner in S�dafrika, die Protestanten und Katholiken in Nordirland, die Tutsi in Ruanda und die Serben im Kosovo, um nur einige Beispiele zu nennen. Der Massenmord an unschuldigen Menschen ist die schreckliche Weiterf�hrung milderer Formen von Intoleranz. H�ufig bedarf es f�r die erfolgreiche Verbreitung des Rassismus nur der stillschweigenden Duldung durch die Bev�lkerung. Im Falle von Nazideutschland verschlossen zun�chst die Deutschen und dann die gesamte Welt Augen und Ohren vor den ungeheuerlichen Menschenrechtsverletzungen, bis es zu sp�t war. Dieses traurige Kapitel deutscher Geschichte zeigt, dass man sich Intoleranz und Rassismus nicht fr�h genug widersetzen kann, ganz gleich, wann, wo und in welcher Form sie ihr h�ssliches Gesicht zeigen. Die hohe Ansteckungsgefahr des Rassismus macht es f�r alle Menschen - in Europa, Afrika, Asien oder sonst wo auf der Welt - zur Pflicht, sich gegen jede noch so kleinen rassistischen Gedanken oder Taten aufzulehnen. Geschieht dies nicht, ist die zwangsl�ufige Folge eine haltlose Ausbreitung des Virus und �ber kurz oder lang ein weiterer Holocaust. Der n�chste Holocaust k�nnte Hitlers Leichenberge noch in den Schatten stellen, da der technologische Fortschritt auf dem Gebiet der Massenvernichtung selbst die Gaskammern bereits �berfl�ssig gemacht hat.
Diejenigen unter uns, die miterlebt haben, in was f�r einem menschenverachtenden Sumpf ein Land unter der Diktatur einer Hand voll demagogischer Barbaren versinken kann, sind es ihren Mitmenschen schuldig, jenes unselige Gespenst im �ffentlichen Denken lebendig zu halten.
Was ist aus ihnen geworden?
Ich werde h�ufig von Menschen gefragt, die meine Lebensgeschichte kennen, was aus der bunt gemischten Gruppe von Verwandten, Freunden und Kameraden in Deutschland, Liberia und den Vereinigten Staaten geworden ist, die irgendwann einmal eine gr��ere oder kleinere Rolle in meinem Leben gespielt haben. Auf Grund der gewaltigen Zerst�rungen in Deutschland und auf Grund der schweren Verluste bei der deutschen Armee im Zweiten Weltkrieg werde ich nie erfahren, welches Schicksal viele von ihnen ereilt hat. Etliche Menschen habe ich allein durch die Distanz sowohl in zeitlicher als auch in r�umlicher Hinsicht aus den Augen verloren. Zu einigen Verwandten und Freunden konnte ich jedoch eine enge Verbindung aufrechterhalten oder nach vielen Jahren wieder herstellen. Die Schwestern meiner Mutter, Clara und Hedwig, und ihr �ltester Bruder Hermann, die mir geholfen haben, in den USA Fu� zu fassen, nachdem ich 1950 aus Liberia kam, sind gestorben. Bis auf Onkel Hermann, der bis zu seinem Tod Junggeselle blieb, haben sie mir zahllose Cousins und Cousinen zweiten und dritten Grades hinterlassen. W�hrend meiner h�ufigen Besuche in Deutschland f�r EBONY habe ich auch meine verwitwete Tante Grete aus Salza, die inzwischen mit ihrer Enkelin Karla, Karlas Mann und deren zwei halbw�chsigen T�chtern in Ostdeutschland lebte, besucht. Sie starb im stattlichen Alter von fast neunzig Jahren. Ihre Tochter, meine Cousine Trudchen, die f�r mich wie eine Schwester war, wenn ich als Kind die
Sommerferien im Harz verbrachte, starb bereits als junge Frau, lange vor ihrer Mutter. Mitte der sechziger Jahre erhielt ich zu meiner riesigen �berraschung vom B�ro des US-Verteidigungsministers Robert McNamara eine Einladung ins Chicagoer Sheraton Hotel zu einem Empfang, der f�r den stellvertretenden Verteidigungsminister von Liberia, den Ehrenwerten Morris W. Massaquoi, und mehrere liberianische Gener�le in seinem Gefolge gegeben wurde. Nach etlichen Sicherheitskontrollen durch USMilit�r durfte ich schlie�lich in die VIP-Suite meines Bruders, wo mich eine weitere �berraschung erwartete. Statt des drahtigen Mannes, den ich in Liberia zur�ckgelassen hatte, stand mir ein recht wohlbeleibter, adrett gekleideter Gentleman gegen�ber, f�r den der Luxus um ihn herum ganz selbstverst�ndlich zu sein schien. Keiner von uns beiden konnte den Quantensprung begreifen, der uns aus tiefer Armut und einer rattenverseuchten H�tte in das bequeme, geachtete Leben gebracht hatte, das wir inzwischen f�hrten. Nach dem Tod von Pr�sident Tubman im Jahre 1971 reiste ich nach Monrovia, um f�r EBONY �ber die Beisetzung zu berichten. Ich flog in der Regierungsmaschine mit, die eine Delegation von US-Politikern an Bord hatte, die Pr�sident Nixon auf dem Staatsbegr�bnis vertreten sollten. Bei unserer Ankunft am Flughafen Robertsfield traf ich Morris wieder. Wie Morris war auch Monrovia zu Wohlstand gelangt. Die einst verschlafene Stadt aus meiner Erinnerung war erwacht und hatte sich in eine lebendige Stadt mit Hochh�usern und Verkehrsstaus verwandelt. W�hrend wir dem aufgebahrten Leichnam von Pr�sident Tubman unsere Reverenz erwiesen, mussten Morris und
ich daran denken, wie der Pr�sident uns sein Ohr geliehen hatte, nachdem wir von Onkel Nat betrogen worden waren. Morris erz�hlte, dass Tante Fatima nun seit dem Tod von Onkel Nat im Jahre 1962 um das Verm�gen unseres Vaters k�mpfte. Ich war froh, dass ich mich schon lange innerlich von dem Erbe verabschiedet hatte. Morris besuchte mich gelegentlich in den USA, bis er 1985 mit achtundsechzig einer Krankheit erlag. Sein gr��ter Wunsch, das Erbe unseres Vaters zur�ckzugewinnen, blieb unerf�llt. Bei meinem Besuch in Monrovia stattete ich auch Tante Fatima, inzwischen Dekanin der University of Liberia und eine der angesehensten Professorinnen des Landes, einen kurzen Besuch ab. Sie erz�hlte mir stolz, dass ihre Tochter in Deutschland studiere. Von Onkel Fritz und Tante Fasia h�rte ich erst wieder 1991. Nach dem Milit�rputsch von Sergeant Doe waren sie mit ihren Familien nach Knoxville in Tennessee ausgewandert, wo Fritz sich eine Existenz als K�nstler und als Kunsth�ndler f�r afrikanische Kunst aufbauen konnte. Ihre Mutter, Ma Rachel, und ihr Bruder Arthur starben 1986 beziehungsweise 1984. W�hrend meiner gesamten Odyssee durch drei Kontinente blieb ich stets mit meinem alten Freund �Yankee-Werner� in Verbindung. Seit meiner Ankunft in den USA im Mai 1950 bis heute haben wir unsere Freundschaft durch Telefonate, Urlaubskarten und gelegentliche Besuche am Leben erhalten. Werner, Vater einer erwachsenen Tochter, arbeitete jahrelang f�r eine gr��ere Fluggesellschaft und genie�t heute zusammen mit seiner zweiten Frau den Ruhestand im sonnigen Kalifornien.
Der prominenteste �berlebende meiner Jugendfreunde ist Ralph Giordano, der mit mir das Schicksal als NichtArier teilte. Nach �berwindung seines �politischen Irrtums� als Mitglied der KPD, Mitte der f�nfziger Jahre, hatte er sich erst als weit gereister Fernsehdokumentarist, dann als Publizist und Schriftsteller einen Namen gemacht. Seinem 1982 erschienenen nationalen und internationalen Bestseller, dem autobiografischen Hamburger Familien- und Verfolgten Roman Die Bertinis, in dem auch ein dunkelh�utiger �Mickey Massakon� verewigt wird, folgten zahlreiche andere B�cher mit Giordanos Lebensthemen Nationalsozialismus, Stalinismus und Kampf f�r die Menschenrechte, gleich, wo auch immer sie verletzt werden. Unsere erste Wiederbegegnung nach mehr als zwanzig Jahren war warm und herzlich, gerade, als h�tten wir uns gestern voneinander verabschiedet. In den seither vergangenen mehr als drei Jahrzehnten hat sich die alte Beziehung in langen Gespr�chen und gro�er �bereinstimmung immer mehr vertieft, mit bleibendem Staunen beiderseits �ber das Wunder, die gemeinsame Gef�hrdung in der Jugendzeit �berlebt zu haben. Ralphs Eltern leben nicht mehr, auch nicht sein Bruder Egon und seine Schwester Gabriela, die erst nach dem Krieg zur Welt kam. Sein j�ngerer Bruder Rocco lebt noch immer in Hamburg. Erika, meine Spielkameradin aus Kindertagen, setzte sich 1992 wieder mit mir in Verbindung, nachdem sie einen Artikel �ber mich in der Hamburger Presse gelesen hatte. Sie, die Tochter des verstorbenen Hamburger Senators Walter Schmedemann, ist inzwischen Gro�mutter und lebt in einem behaglichen Haus in Hamburg-Fuhlsb�ttel, wenn sie nicht gerade mit
ihrem Mann Harald Stobbe durch die Weltgeschichte reist. Hin und wieder besucht sie mich in den USA. Einer meiner alten Freunde, um den ich mehrere Jahre trauerte, nachdem mir jemand erz�hlt hatte, er h�tte einen t�dlichen Verkehrsunfall erlitten, tauchte quicklebendig wieder auf. Bei einer Stippvisite in Hamburg, als ich Ende der sechziger Jahre f�r EBONY in Deutschland war, stie� ich im Telefonbuch zuf�llig auf den Namen Fred Gass. Obwohl ich ja dachte, dass mein fr�herer Freund, mit dem ich im Haus Vaterland und anderen Hamburger Nachtklubs Stammgast war, nicht mehr unter den Lebenden weilte, w�hlte ich aus Neugier die Nummer und bekam eine Frau an den Apparat, die sich mir als Frau Gisela Gass vorstellte, Gattin des Postbediensteten Fred Gass. Keine Stunde sp�ter schloss ich meinen alten Freund in die Arme, der nicht nur von den Toten auferstanden war, sondern sich auch von einem schmalen Handtuch in einen rundlichen Gro�vatertyp verwandelt hatte. Heute besuche ich Fred und Gisela jedes Mal, wenn mich wieder die Sehnsucht, neblige Hamburger Luft zu schnuppern, packt. Nicht unerw�hnt bleiben darf nat�rlich Ah-Yue Hon Lou, mit dem ich damals unter dem Namen die Drei Ah-Yue Hon Lous aufgetreten bin. Nach der Aufl�sung unserer Gruppe versuchte Yue zun�chst als Steppt�nzer eine Solokarriere, kam dann aber zum Film. Nach dem Tod seiner Frau heiratete er erneut und ist inzwischen Vater von zwei erwachsenen S�hnen und einer Tochter. Mit seiner Frau Gisele lebt er in Blankenese, wo ich ihn jedes Mal besuche, wenn ich in der Gegend bin. Auch mein fr�herer Freund und Klassenkamerad Karl Morell weilt noch unter den Lebenden. Zu meiner
gro�en �berraschung st�berte ich ihn in dem Viertel auf, wo wir beide aufgewachsen sind und wo er als Rentner allein in einer Wohnung lebt. Er erz�hlte mir, dass er damals lange in sowjetischer Kriegsgefangenschaft gewesen sei und sich sp�ter von seiner Familie entfremdet habe. Der letzte von meinen alten Freunden, die meines Wissens noch am Leben sind, ist Hans Vollmer, dessen Traum von einer Boxerkarriere ein abruptes Ende fand, als er zu Beginn des Krieges eingezogen und an die Front geschickt wurde. Ich wusste, dass er den Krieg �berstanden hatte. Ja, wir hatten uns sogar einmal wiedergesehen, kurz bevor ich nach Afrika ging. Ein zweites Mal traf ich ihn w�hrend einer meiner h�ufigen Besuche in Deutschland. Ein gemeinsamer Bekannter hatte mir den Tipp gegeben, dass Hans einen W�rstchenstand vor einem S-Bahnhof betrieb. Ich nahm an, dass er sich wie ich �ber unser Wiedersehen freuen w�rde, aber ich musste zu meiner Entt�uschung erleben, dass er nicht die geringste Emotion zeigte, als ich bei ihm am Stand auftauchte. Die einzige Nettigkeit war, dass er mir �auf Kosten des Hauses� ein W�rstchen spendierte. Nachdem ich in peinlichem Schweigen mein W�rstchen verspeist hatte, w�nschte ich ihm alles Gute und ging meiner Wege. Zu den vielen von meinen fr�heren Verwandten, Freunden und Bekannten, die nicht mehr am Leben sind, z�hlen mein damaliger Klassenkamerad Fiffi Peters, der Kellner im Ratsweinkeller, der, wie ich erst k�rzlich erfahren habe, im Krieg gefallen ist, sowie mein fr�herer Lehrer Henry Herbst. Besonders ersch�ttert war ich, als ich vom Tod meiner ersten gro�en Liebe, Gretchen Jahn, erfuhr. Nachdem ich 1976 in der beliebten Hamburger Fernsehsendung Die Schaubude als Gast aufgetreten
war, wurde ich mit Telefonanrufen von Leuten bombardiert, die mich wiedererkannt hatten. Eine Anruferin stellte sich als Gretchens Cousine vor, und sie erz�hlte mir, dass Gretchen, ihre Mutter und ihr Bruder eigentlich vorgehabt h�tten, zusammen in die USA auszuwandern, dass Gretchen aber in Deutschland hatte bleiben m�ssen, weil sie an Tuberkulose erkrankt war und darum kein Visum erhalten hatte. Auf sich allein gestellt, hatte sie sich als Bardame in einem Hamburger Nachtklub durchgeschlagen und war einige Jahre nach unserer letzten Begegnung verarmt und vereinsamt in St. Pauli gestorben. Von Wriede, dem Schulleiter der K�thnerkampschule, und von Lehrer Dutke, die mir das Leben so schwer gemacht hatten, habe ich nie wieder geh�rt. Auf Grund ihres Alters d�rften sie inzwischen wohl nicht mehr leben. Es ist ein wunderbarer Trost f�r mich, dass meine Mutter, die mir 1952 in die USA gefolgt war, noch eine gl�ckliche Ehe erleben durfte, bevor sie 1986 im Alter von dreiundachtzig Jahren starb. Bei Mileta Nikodijevic, einem hart arbeitenden Serben, der von den Alliierten aus einem deutschen Kriegsgefangenenlager befreit worden war und dann in die USA auswanderte, fand sie die Liebe und Partnerschaft, die sie wirklich verdient hatte. Die beiden lebten zufrieden in ihrem idyllischen, gastfreundlichen (und, wie meine Mutter nicht m�de wurde zu betonen, �abbezahlten�) Haus in einem Vorort von Chicago. Mit diesem Haus, das einen kleinen Gem�segarten hatte, erf�llte sich f�r meine Mutter ein Traum, den wir beide schon in Deutschland gehegt hatten, als er f�r uns absolut unerreichbar war. Ihr gemeinsames Gl�ck w�hrte bis zum Vorabend ihres 25. Hochzeitstages, als Mileta an einem Herzinfarkt starb.
F�r alles, was sie f�r mich getan hat, h�tte ich mich nicht besser revanchieren k�nnen als dadurch, dass ich �etwas aus mir gemacht habe� und ihr zwei Enkel, Steve Gordon und Hans-J�rgen, schenkte, die ebenfalls etwas aus sich gemacht haben. Nachdem Steve sein Medizinstudium in Harvard abgeschlossen und Hans an der University of Michigan Law School sein Jurastudium begonnen hatte, machte meiner Mutter nichts mehr Spa�, als von �meinem Enkel, dem Arzt, und meinem anderen Enkel, dem zuk�nftigen Anwalt� zu prahlen. Wie sie immer zu sagen pflegte: �Ende gut, alles gut. �
Dank
Ein Buch �in die Welt zu entlassen� hat �hnlichkeit damit, ein Kind aufzuziehen. Es braucht die Gemeinschaft treuer Verwandter, Freunde und Fachleute. �Neger, Neger, Schornsteinfeger!� bildet da keine Ausnahme. Ohne die Hilfe einer kleinen, aber h�chst engagierten Gruppe von Helfern w�re das Buch noch immer nichts weiter als eine vage Idee, die ich insgeheim mit mir herumtr�ge. Einen gro�en Teil meines Dankes schulde ich meiner Frau und Lebensgef�hrtin Katharine, die mir half, die Idee in ein Buch zu verwandeln. W�hrend der verschiedenen Entstehungsphasen des Manuskripts musste sie die Launen eines �Genies bei der Arbeit� verkraften und sich gleichzeitig als inspirierende Muse, Beraterin, Gourmetk�chin, Chauffeuse, Sekret�rin und so weiter und so fort bew�hren. Immer wieder eilte sie im wahrsten Sinne des Wortes zu meiner Rettung herbei, um den Kampf mit meinem PC aufzunehmen und dieses enervierend widerspenstige Ger�t ihrem Willen zu unterwerfen, wenn es mal wieder streikte oder mir auf sonstige Art die Zusammenarbeit verweigerte. Ein �hnliches Lob geht an meine beiden S�hne, Dr. Dr. Steve G. Massaquoi, Professor am Massachusetts Institute of Technology, und Hans J. Massaquoi jr., Anwalt bei der Kanzlei Lewis and Munday in Detroit. Obwohl sie beruflich �u�erst eingespannt sind, steckten sie viel Zeit und Engagement in mein Projekt. Sie standen mir nicht nur als kritische Leser meines Manuskripts zur Seite, sondern auch (im Falle von Hans) als kostenlose (so hoffe ich zumindest) Rechtsberater bei
den Vertragsverhandlungen mit Verlagen und Agenten sowie bei Copyright-Fragen.
Ebenso zur Dankbarkeit verpflichtet bin ich dem Bruder und der Schwester meiner Frau, Numa Rousseve in White Plains, im Staate New York, und Elaine Thompson in San Jose, Kalifornien, sowie meinem Freund Ed Morris, Professor of Television am Columbia College in Chicago. Alle drei nahmen sie die M�he auf sich, das Manuskript zu lesen und zu redigieren. Ich verdanke ihnen so manchen konstruktiven Kommentar. Wenn auch leider zu sp�t, so m�chte ich doch meinem verstorbenen Freund Alex Haley meine tiefe Dankbarkeit aussprechen. Nur wenige Monate vor seinem allzu fr�hen Tod am 10. Februar 1992 schickte er mir das noch unvollst�ndige Manuskript dieses Buches zur�ck. Er hatte sich freundlicherweise bereit erkl�rt, es kritisch zu lesen, und mir viele unsch�tzbar hilfreiche Anregungen gegeben. Ich k�nnte diese Danksagung nicht schreiben, ohne meinen lebenslangen Freund, den renommierten und erfolgreichen Autor Ralph Giordano aus K�ln, zu erw�hnen, der sozusagen den Stein erst richtig ins Rollen brachte. Nachdem er mich jahrelang immer wieder dazu ermutigt hatte, meine Memoiren zu schreiben, rief er mich eines Tages an und teilte mir mit, er habe einige Termine mit wichtigen deutschen Verlegern, und wenn ich ihm eiligst mein Manuskript schicken w�rde, k�nne er daf�r sorgen, dass es in die richtigen H�nde gelange. Kurz nachdem ich Ralph mein Manuskript zugesandt hatte, zeigte auch schon ein Verlag Interesse, und �Neger, Neger, Schornsteinfeger!� bekam gr�nes Licht. Ich m�chte an dieser Stelle auch Professor Raymond J.
Smyke aus Morges am Genfer See danken, der an einer Biografie meines Gro�vaters, Momolu Massaquoi (1870 bis 1938), arbeitet und mich mit einigen interessanten Informationen zu dessen Leben versorgte. Meiner Agentin Sarah Lazin von Sarah Lazin Books in New York kommt das gro�e Verdienst zu, mich in die r�tselhafte und verwirrende Welt der Buchbranche eingef�hrt und mir dabei klar gemacht zu haben, dass das eigentliche Schreiben noch der leichteste Teil des Buchgesch�fts ist. Sarah, die in Deutschland von Joachim Jessen von der Thomas Schl�ck GmbH, Hamburg, unterst�tzt wurde, hat meine Interessen sowohl in Europa als auch in den USA vertreten. Der reibungslose Ablauf bei der Erstellung der deutschen Ausgabe meines Buches ist zu einem Gro�teil den Mitarbeitern des Scherz Verlages zu verdanken, dem Verleger Peter Lohmann, der daran glaubte, dass mein Buch ein Erfolg werden k�nnte, der Lektorin Christine Dorn, die beim Redigieren des Manuskripts mit gro�em Scharfblick und Sensibilit�t vorging, und der Leiterin der Presseabteilung, Friederike K�chlin, der die Aufgabe zufiel, meinem Buch die notwendige Publicity zu verschaffen. Zudem schulde ich den beiden �bersetzern, Ulrike Wasel und Klaus Timmermann aus D�sseldorf, gro�en Dank. Obwohl es der deutschen Sprache leider nur allzu oft an Entsprechungen zu idiomatischen Wendungen des Amerikanischen mangelt, gelang es ihnen in erstaunlichem Ma�e, nicht nur den Inhalt, sondern auch den urspr�nglichen Klang und Stil meines Textes zu bewahren. Zum guten Schluss m�chte ich hier meine beiden treuen Gef�hrten erw�hnen, (Don) Quixote und Sancho (Pansa), unsere beiden Welsh Terrier. W�hrend
der vielen allein durchwachten N�chte, die jeder kennt, der sich auf das Abenteuer einl�sst, ein Buch zu schreiben, leisteten mir die beiden still und geduldig Gesellschaft.
Hans J. Massaquoi New Orleans, Louisiana, 1999
Nachwort eines Lebensfreundes
��ber einem Schneegebiss, rollenden Augen und tief dunklem Kraushaar war ein Kn�ppel drohend gegen ihn erhoben, zu einem Schlag, den Roman mit vorgehaltenem Schild erwartete, der aber nicht kam ... ehe sie in der Orgie todernsten und lachfeindlichen Dreinschlagens losprusteten und blitzschnell voneinander ablie�en, ohne sich ber�hrt zu haben.�
So, wie es da in meiner 1982 erschienenen autobiografischen Hamburger Familien- und VerfolgtenSaga Die Bertinis nachzulesen steht, so lernte ich HansJ�rgen Massaquoi kennen, irgendwann 1932 in den H�userschluchten Hamburg-Barmbeks bei einer �Kloppe�, brachialen K�mpfen zwischen verfeindeten Stra�enhorden, mein Gegen�ber damals sechs, ich neun Jahre alt. Die Erinnerung an diese Szene blieb aus leicht begreifbaren Gr�nden v�llig einseitig, war ich doch f�r �Mickey�, wie er gerufen wurde und ich ihn ein Dasein lang nenne, nur ein Bleichgesicht unter anderen Bleichgesichtern, er dagegen durch sein dunkles �u�eres weit herausgehoben, eine lokale Ber�hmtheit, von der ich bereits geh�rt hatte, bevor wir uns dann gegen�berstanden. Das ist nunmehr siebenundsechzig Jahre her, lebt aber immer noch momentaufnahmehaft gestochen vor meinem inneren Auge - Urdatum einer Begegnung, aus der sp�ter eine Lebensfreundschaft wurde, die sich nun also auch in einem zweiten Buch verzeichnet sieht. Zahlreiche Erlebnisse darin aus der Nazizeit decken sich mit meinen eigenen, und das bis hinein in eine atemberaubende Parallelit�t von Empfindungen aus simultanen Ursachen rassistischer
Verfolgung, ganz abgesehen von der intimen Kenntnis der Orte und Schaupl�tze dieser bedr�ngten Vita. Eine schmeichelhafte Lekt�re f�r die damals erwachsenen Zeitgenossen des Autors ist �Neger, Neger, Schornsteinfeger!� nicht. Im Mikrokosmos der ungew�hnlichen Hamburger Biografie differenziert sich wie in einem Prisma der Makrokosmos des Dritten Reiches in eine hitleranf�llige bis hitlerh�rige Mehrheit und eine indifferente bis regimeabstinente Minderheit. Gleichzeitig aber entrollt sich hier auch ein Lehrst�ck, mit welch teuflischen Verf�hrungsk�nsten die NSPropaganda auf die Jugend einwirkte, ein Sog, in dessen Bann tief hineingezogen worden zu sein der Autor offen bekennt. 1933 eben sieben Jahre alt und getrieben von dem verst�ndlichen Wunsch, anerkannt und den Altersgenossen gleichgestellt zu sein, kommt er erst durch qualvolle pers�nliche Erfahrungen langsam hinter den wahren Charakter des Systems - ein Spagat, der den Verfemten lange Zeit schier zu zerrei�en drohte. Denn zu verstecken gab es hier ja nichts. Dieser Hamburger Junge brauchte auf der Brust keinen Stern oder sonstigen Ausweis seiner angeblich rassischen Minderwertigkeit durch seine Hautfarbe �ffentlich stigmatisiert, war er im Hakenkreuzdeutschland selbst sozusagen das Brandmal seiner eigenen Aussto�ung. �Neger, Neger, Schornsteinfeger!� ist im �brigen das Werk eines au�ergew�hnlichen, ja geradezu barocken Erinnerungsverm�gens, aber auch einer Sensibilit�t, wie sie nur durch fr�he Leiden geformt werden kann und dann �ber ein ganzes Leben hin weiter vibriert. Und es ist das Hohe Lied auf eine Mutter, deren wortloser Liebe, allt�glicher Tapferkeit und unersch�tterlicher Menschlichkeit der Sohn nun ein Denkmal gesetzt
hat. Diese Frau war der ethische Lebenskompass, an dem Hans-J�rgen Massaquoi sich von klein an orientieren konnte - und der Quell seines erstaunlichen Selbstbewusstseins unter Bedingungen, wie sie sich widriger nicht denken lie�en. Nur allzu oft habe ich bei der bewegenden Lekt�re solcher Zeugnisse an meine Mutter, an Lilly Giordano alias Lea Bertini, denken m�ssen. Am gleichen Tag, dem 3. Mai 1945, in Hamburg befreit, hat das Schicksal uns die Jahre gemeinsamer Gef�hrdung �berleben und, wenn auch mit gro�en geografischen Distanzen, Freunde bleiben lassen. Denn w�hrend Mickey 1948 Deutschland verlie�, bin ich geblieben. Als wir uns dann, nun beide �ber vierzig und beide bei der schreibenden Zunft, zwanzig Jahre sp�ter zum ersten Mal in der Hansestadt wiedersahen, stellte sich heraus, dass der US-B�rger Hans-J�rgen Massaquoi des Deutschen zwar nicht mehr ganz so m�chtig war, wie ich es von damals im Ohr hatte, aber das mit der vertrauten und unverkennbaren Hamburger T�nung! Es w�re nicht zu z�hlen, wie oft Mickey und ich seither bei seinen Aufenthalten in Deutschland pers�nlich, aber auch m�ndlich und brieflich hin und her �ber den gro�en Teich von seinem und meinem Buch gesprochen haben und das mit so manchen Zweifeln beiderseits, ob der Traum davon wohl jemals Wirklichkeit werden w�rde ... Er ist es geworden - der meine fr�her, der seine jetzt. Und das, bekenne ich, empfinde ich als so etwas wie die Kr�nung unserer Lebensfreundschaft.
Ralph Giordano
ENDE