Lemniskate Roman
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Vielen Dank - an Mum & Dad für die Unterstützung, - an meinen »Zoo«, der so artig geblieben ist, obwohl ich keine Zeit hatte, - an die Geburtstagskinder, die an ihrem Ehrentag wegen Lemniskate ohne mich feiern mussten und mir das nicht übelnehmen, - an alle PreLeser, die mit ihrer konstruktiven Kritik geholfen haben, die Sache »rund« zu bekommen, - an »Fuathas«, für die Bildrechte und die Erlaubnis, ihn als »Bösewicht« outen zu dürfen *gg*, - an das Edition-Oktopus-Team, das mit seinem tollen Angebot die Veröffentlichung dieser Geschichte letztendlich doch möglich machte - und an alle Leser, die hoffentlich genauso mit den Helden aus Lemniskate mitfi ebern können wie ich selbst.
Impressum Raven »Lemniskate« © 2004 der vorliegenden Ausgabe: Edition Octopus Die Edition-Oktopus erscheint im Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat OHG Münster www.edition-oktopus.de © 2004 Raven www.creative-raven.com Alle Rechte vorbehalten. Satz, Layout, Artworks: Raven Druck: CCC GmbH Münster Herstellung: MV-Verlag ISBN 1-234567-89-0
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Inhalt Prolog:
Das Rad
01. 02. 03. 04. 05. 06. 07. 08. 09. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20.
Caerdale Die Vision Lazzards Bluthunde Duilliath & der Drachenritter Fuathas‘ Blutgericht Glendaloch Liosliath Süße Freuden Wiells Sage Kristallklar Traumfacetten Verlassen Vogelfrei Cobhans Ruadhan Zastros Fang Weiß vs. Weisheit Wiedersehen Neun mal zwanzig Vögel Das Element des Wissens
Kapitel: Kapitel: Kapitel: Kapitel: Kapitel: Kapitel: Kapitel: Kapitel: Kapitel: Kapitel: Kapitel: Kapitel: Kapitel: Kapitel: Kapitel: Kapitel: Kapitel: Kapitel: Kapitel: Kapitel:
Namen
7 9 27 45 55 65 81 97 109 125 139 151 169 179 195 213 235 253 271 287 301 306
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Prolog Und er sagte: »Laß mich Dir ein Gesicht zeigen, dessen Züge durch die Zeit verblassten. Szenen um Szenen gingen an ihm vorüber – Leben um Leben … bis später der Nebel, der sich in der Zeit verbarg, über alles gebreitet hatte und sein Blick verschleiert war – wie der unsere. Tausend Zeiten, tausend Leben, tausend Wege, tausend Schritte. Doch die Räder der Zeit drehen sich in ihren Rädern. Flammend erleuchtend und erlöschend wie die Räder Taranis’. Tausend Male, tausend Runden, … zwei Runden, auf ewig umschlungen, … Lemniskate.« Und so sei der Rat: »Seht Euren Emotionen entgegen wie der weißen Gischt am Strand, wenn die Flut kommt … und geht!«
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Erstes Kapitel »Es ist die alte Geschichte! Wenn euch jemand von etwas abhalten will, tut ihr es erst recht! Was ihr mit eurem Leichtsinn anrichten könnt, dringt gar nicht in euer Bewußtsein! Ihr spielt zu sehr mit eurem Glück!« Ihre steingrauen Augen fi xierten ihn, und er senkte schuldbewußt den Blick. Doch sie wußte, daß ihre Aufregung umsonst war. Sie konnte den Übermut der beiden nicht zügeln. Hilflos wandte sie sich ab. Eine Hand legte sich auf ihre leicht vom Alter gebeugte Schulter. »Verzeih uns noch einmal, Mutter«, bat das Mädchen. Nein, dachte sie, die junge Frau. Sie sah sich um und blickte in ihr Gesicht. Die schmale Nase, die feingeschwungenen Lippen, die großen Augen, das kupferfarbene Haar – wahrlich ihre kleine Feochadan war eine Frau! Sie erkannte die Aufrichtigkeit in den grünschillernden Augen dieser Frau, als sie sich schützend vor ihn zu stellen versuchte: »Ich habe ihn doch angestiftet. Es ist eigentlich meine Schuld. Er wollte gar nicht mitkommen. Ich werde es nicht wieder tun. Ich werde dafür sorgen, daß auch er nichts mehr anstellt!« Sie lächelte. Ein schmerzliches Lächeln. Feochadan versprach zuviel, als daß sie ihr Versprechen jemals hätte erfüllen können. Sie schaute über die Schulter ihrer Tochter und traf seinen Blick. Er wußte, daß er einen solchen Eid nicht halten würde und gab ihn nicht. Was er jetzt wohl denkt? Sie versuchte in seinem Gesicht zu lesen, doch die dunklen Augen blieben so undurchdringlich wie immer. Allein sein verwegenes Lächeln, das jeden Widerspruch im Keim erstickte, fehlte. Es würde zurückkehren, wenn er wieder völlig gesund war … dieses Mal zumindest noch! Madawc erinnerte sich erschauernd an die zurückliegenden Tage:
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Der Himmel war verhangen. Die Wolken trugen so schwer an Regen, daß sie den Horizont berührten. Den ganzen Tag hatte es schon nicht hell werden wollen. Ein ungutes Gefühl bedrückte sie. In zwei Nächten steht der Mondwechsel bevor … Die Coille Sidhe, die Waldgeister, trieben nun ihr Unwesen besonders stark. Sie reizten Mensch und Tier bis aufs Blut und ergötzten sich an ihrem Zorn oder ihrer Qual. Zu allem Übel zogen sie auf einem Weg der Alten, auf denen sich die Coille Sidhe ohnehin schon oft genug bemerkbar machten. Ban hatte den Pferden Beifuß-Bandagen um die Fesseln gelegt, aber zu solchen Zeiten half der Gegenzauber nicht viel. Unwillig zogen die Tiere die Wagen über den unebenen Weg. Madawc blickte zurück. Im grauen Nebel verblassten die Vorläufer des weiten Gebirges der Cobhans, in das sie vordrangen, um nach Caerdale zu gelangen. Schroffe Felsen blitzten dunkel zwischen nassen Moosen und Gräsern hervor. Fröstelnd zog sie den bunten Mantel enger um sich. Es war viel zu kalt. Auch eine Auswirkung des Dreizehnten? Hoffentlich war das Wetter bei Mondwechsel besser. Es wäre schade, wenn das Fest verregnet würde und niemand den vollen Mond am nächtlichen Himmel grüßen kann … Wo sie nur bleiben?! Sie waren schon viel zu lange fort. Wie sollten sie ihren Vorsprung wieder aufholen? Sie seufzte und rieb sich den schmerzenden Rücken, als sie durch die in satten Farben leuchtenden Tücher in den vorderen Teil des Wagens zurückkehrte. Sie wurde bereits ungeduldig erwartet. »Hast du sie schon gesehen?« fragte eine klare Jungenstimme. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Donn.« Enttäuscht zog er seine kleine Stupsnase kraus, so daß die vielen Sommersprossen tanzten. Doch die Aufregung packte ihn, bevor er schmollen konnte. »Glaubst du, er fi ndet einen? Er ist für Feo‘, da fi ndet er ganz bestimmt einen Kristall! – Er kann alles, was er will. Ist er nicht so, Madawc?« Gedankenversunken sah sie aus dem kleinen Fenster. »Hoffentlich …« , murmelte sie. Verständnislos sah der Junge sie an. Er
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spürte nichts von der drohenden Spannung, die ihre Ruhe störte. »Da!« rief Donn plötzlich und sprang auf. »Sie kommen!« Flink wie ein Wiesel rannte er los, sprang aus dem fahrenden Wagen und lief ihnen entgegen. »Suileach! Flann! Gear und Muirne! Mutter! Vater! Brad! Meara! Ban! Sie sind wieder da!« Die Wagen hielten und warteten. Madawc folgte Donn zögernd. Sie sah wie er lief – plötzlich stockte. Sie erstarrte. Durch den Nebel konnte sie kaum die Konturen des Pferdes ausmachen, das die beiden geritten hatten. Eine schemenhafte Gestalt rannte auf ihren kleinen Treck zu, den Brads Wagen abschloß. Sie sah, wie Brad vom Bock sprang, um Feochadan entgegen zu laufen. Donn führte vorsichtig das Pferd Wo ist ER?! schoß es Madawc durch den Kopf. Sie kniff die Augen zusammen. »Es muß etwas passiert sein!« rief Ban unnötiger Weise und sprang auch vom Wagen. Als sie die Augen wieder öffnete, kam Brad auf sie zu. Er trug eine leblose Gestalt. »Wohin?« fragte er und seine Stimme klang drängend. Betäubt deutete sie in den Wagen. Er schob sich an ihr vorbei. Ihr Blick fiel auf eine kraftlose weiße Hand, die schmutz- und blutverschmiert an Brads Seite herunter hing. Es hatte geschehen müssen – irgendwann … Warum ausgerechnet jetzt und an diesem Ort? fragte sie sich verzweifelt. Sie folgte Brad. Zögernd trat sie an das Bett und wurde sich endlich ihrer Aufgabe bewußt. Sie verdrängte ihre Angst und tat, was getan werden mußte. Sachkundig glitten ihre zitternden Hände über seine Glieder und tasteten nach Knochenbrüchen. Sie seufzte erleichtert, als sie nichts feststellen konnte und wandte sich den offenen Wunden zu. Der Riß an seiner Schläfe blutete zwar stark, war aber nicht besonders gefährlich, wenngleich er wohl eine Narbe zurücklassen würde. Die Verletzung an seinem Schenkel bereitete ihr mehr Sorgen. Sie konnte nicht erkennen, wie tief die Wunde war. Sie wußte nur, daß er sehr viel Blut verlor und hoffte, die Blutung würde Schmutz, der in die Wunde gelangt war,
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ausspülen. Langsam gewann sie die Kontrolle über sich zurück. Mit schnellen und sicheren Bewegungen versorgte sie die Verletzungen. Leicht tätschelte sie seine bleiche Wange. »Wach auf! Hörst du? Wach auf!« drängte sie. Doch er rührte sich nicht. Brad scharrte betroffen mit dem Fuß. Die beklemmende Stille im Wagen wurde durch ein ersticktes Schluchzen durchbrochen, als Feochadan eintrat. »Versuch, ihn wach zu bekommen!« befahl Madawc ihrer Tochter. Gehorsam kniete Feochadan neben dem Bett nieder. Wimmernd flüsterte sie seinen Namen. Skeptisch sah Madawc auf sie hinab. Feochadans Schultern zuckten krampfhaft zusammen, sie zitterte am ganzen Körper. Sie fühlte ihre Angst. Er muß sie auch fühlen. Doch er braucht Hilfe! Er konnte Feochadan nicht trösten. Er mußte getröstet werden! »Nein, Kind«, beschloß sie, »Geh besser zu den anderen. – Ich komme allein zurecht!« Ihre Tochter sah auf. Ihre verweinten grünen Augen starrten sie flehend an. Hilf ihm! baten sie innig, aber ihre Lippen blieben stumm. Feochadan spürte die Blicke Sobhrachs und Muirnes auf sich ruhen. Sie bemerkte, wie sie sich vielsagend ansahen und wußte, daß beide das Gleiche dachten. Anders als sonst begann ein Verständnis in ihr zu erwachen. Sie hatte nun nicht das Bedürfnis, sich gegen sie aufzulehnen und trotzig ihren verwegenen Abenteuern entgegenzueilen. Sie hatte statt dessen Angst. Waren sie zu weit gegangen? Hatten sie ihr Glück zu oft auf die Probe gestellt? Beide waren schon so manches Mal verletzt worden … doch dieses Mal … Er war so bleich! Das viele Blut! Er hätte auf der Stelle tot sein können … tot! Sie erschauerte. Beide waren sie nur knapp der wilden Jagd Lord Tods entronnen. Beide hatten sie waghalsig mit ihren Leben gespielt, ohne je daran zu denken, verlieren zu können. Was war, wenn er verlor? Sie hörte in ihrer Erinnerung seinen Schrei, als er in die Tiefe stürzte und den Aufprall seines Körpers … Sie sah zum Himmel, um das schreckliche Bild zu vertreiben. Die Wolken zerrissen, eine
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weiße Scheibe durchtrennte sie beinahe brutal. Der Mond ist fast voll … Sie fuhr herum und starrte auf Madawcs Wagen. »Nein!« schrie sie auf, als ihr bewußt wurde, welch ein schlechtes Omen das war, und rannte zurück. »Feo‘!« Ban hielt sie auf. Seine großen Hände legten sich mit sanfter Gewalt um ihre bebenden Schultern. »Er darf nicht gehen!« Ban strich besänftigend über ihren Kopf. »Es wird alles gut. – Es wird alles gut.« Madawc wechselte die Kräuterumschläge schon zum … sie wußte nicht wievielten Male. Unruhig warf er den Kopf hin und her. Sie griff nach seiner zur Faust verkrampften Hand, »Nein«, ächzte er. Seine Stimme klang bedrohlich, und Madawc zögerte. Wieder streckte sie ihre Hand aus. »Nein! Er ist nicht für dich!« Seine Augen waren geschlossen. Seine Zähne knirschten aufeinander. Plötzlich bäumte sich sein Körper wie unter furchtbaren Krämpfen auf. Mit aller Kraft preßte sie ihn auf das Lager. Seine Hand öffnete sich, als er erschöpft zurücksank. Etwas entglitt ihr und fiel polternd zu Boden. »Nein, nein, nein …« hauchte er mit verebbender Stimme. Mit klopfendem Herzen tastete Madawc im Dunkel über den hölzernen Boden. Endlich berührte sie etwas kaltes, scharfkantiges. Im weißen Licht des Mondes erkannte sie einen großen klaren Bergkristall … Kopfschüttelnd sah sie ihn an. Muß er Feochadan immer noch seinen Mut beweisen? Wußte er nicht, daß er ihr nichts mehr zu beweisen hatte? Wußte er nicht, daß es für sie keinen anderen mehr gab? Sie wandte sich dem Verletzten zu und zuckte zurück. Durch das Fenster drang das Mondlicht auf sein Lager. Es ließ seine blassen Züge noch fahler, noch durchscheinender – noch todesähnlicher erscheinen. Er lag völlig ruhig. Sie konnte nicht einmal mehr seinen Atem hören. In einem Schatten sah sie eine Bewegung. Plötzlich war es furchtbar kalt. Aus dem Dunkel löste sich eine vermummte Gestalt. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. »Lord Tod«, rauh vor Angst kam ihr der Name über die
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plötzlich trockenen Lippen. Er kam näher. »Nein«, flüsterte sie abwehrend. »Es kann nicht Zeit sein!« Sie sah ihn flehend an. Langsam ließ er sich neben dem Jungen nieder. »Es steht nicht gut um ihn«, sagte der Lord endlich. »Der hohe Blutverlust …, die Zeit …, der Ort … Er ist sehr schwach.« »Aber … aber er ist noch so jung!” stammelte Madawc verzweifelt. »Bitte, verschont ihn – nur noch einmal!« Er lächelte sie an, doch seine Augen blieben kalt – kalt wie alles an ihm. »Noch einmal? – Wie viele Male wollt Ihr mir diese Bitte stellen? Er wird mich begleiten – irgendwann. » »Nicht jetzt! Ich flehe Euch an!« Doch es klang mehr nach einer Forderung. Sie warf einen schmerzvollen Blick auf seine reglosen Züge. Lord Tod streckte die Hand nach ihm aus. Madawc stockte der Atem, als die kalte Klaue über seiner ungeschützten Kehle schwebte, jedoch nicht hinabstieß. Etwas hielt sie davon ab. »Nun gut«, sagte der Lord unvermittelt. »Ich lasse ihn zurück. – Das allerletzte Mal. – Sagt ihm das!« Er erkannte ihren Unglauben und lächelte, was überraschend ein wenig Wärme verbreitete. »Ich gebe Euch recht. Er ist zu jung, um zu sterben – Aber … da ist etwas … Ich kann es nicht erkennen! – Nun, die Zeit wird es offenbaren. Ich kann warten.« Verwirrt starrte sie ihn an. Er trat in den Schatten zurück und verschwand. »Feo‘?« Aodhans Stimme war so matt, daß sie sie kaum hörte. »Madawc …« »Ich bin bei dir, Aodhan. Ich bin ja da!« Tränen rannen über ihre faltigen Wagen und tropften auf seine heiße Hand …
∞ »Caerdale!« brüllte Ban zurück in den Wagen und riß Madawc aus ihren Gedanken. »Wir sind da«, bemerkte sie. Erleichterung sprach aus dem Klang ihrer Stimme. Hier waren sie willkommen. Caerdale war überall für seine Gastfreundschaft und seine Feste bekannt. Es gab kaum eine Gruppe Wandernder,
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oder Tinkers, wie man sie geringschätzig nannte, die auf ihrem Zug durch die Länder und Jahreszeiten nicht mindestens einmal den beschwerlichen Weg nach Norden in die Cobhans in Kauf nahmen. Hier konnten sie eine Weile bleiben. Sie warf Aodhan einen liebevollen Blick zu, den aber weder er noch Feochadan bemerkte, da sie aus den Fenstern sahen und die Bewohner des Dörfchens begrüßten. »Na! Wieviele Riesen habt ihr dieses Jahr zu Narren gemacht?!« hörte sie eine neckende Stimme rufen. »Ein oder zwei Duzend, nicht wahr, Feo‘?« gab Aodhan grinsend zurück. Seine Augen blitzten schelmisch. Eine beruhigende Wärme breitete sich in ihr aus. Ja, es wird alles gut werden …
∞ Voller Mitgefühl nahm man in Caerdale die Nachricht von Aodhans Sturz auf. Er versuchte natürlich, das Geschehene herunterzuspielen. Doch da Feochadan ihn darin diesmal nicht unterstützte, sondern bedrückt schwieg, ahnten sie, wie dramatisch ihr Abenteuer hätte ausgehen können. Aber: Lugnasard stand bevor! Eine Zeit für fröhliche Lieder und Tänze wartete auf sie. Mit unglaublichem Geschick lenkte er von sich ab und brachte sie dazu, sich daran zu erinnern. Wehmütig sah er den anderen nach, als er allein zurückblieb. Madawc legte ihm die Hand auf die Schulter. »Es ist deine eigene Schuld«, sagte sie leichthin. Er seufzte. Sie wußte, wie gern er jetzt bei ihr wäre. Seine Energie scheint unerschöpflich zu sein … Lord Tods Besuch lag erst zwei Tage zurück! Sie hatte ihm nichts davon gesagt, solange Feochadan anwesend war. Nun wäre eine Gelegenheit, mit ihm zusprechen … nein … Sie brachte es nicht fertig. Die lustige, nicht ganz richtig gespielte, aber dafür von Herzen kommende Musik drang zu ihnen. Bittend wandte er sich ihr zu. »Laß mich wenigstens zusehen!«
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Er lächelte fragend. Sie konnte es ihm nicht abschlagen. »Also gut.« Seine Augen blitzten in liebevollem Trumpf. Ban stützte ihn, als er zu den Feuern hinkte. Er sah die dünne Schweißschicht auf seiner bleichen Stirn und das Zittern seiner überanstrengten Muskeln, schwieg aber dazu. Lachend ließ Feochadan sich neben ihn auf die weichen Felle fallen. »Ja, so ist es richtig. Lassen wir uns verwöhnen!« Mit leuchtenden Augen verfolgten sie gemeinsam das Fest. Madawc beobachtete sie lächelnd. Es wurde kühler. Sie ging, eine Decke zu holen. Im Dunkel des Wagens stieß sie gegen den Schemel, und etwas fiel aus den wollenen Falten auf den Boden. Im Mondschein erkannte sie den Kristall. Eine bedrohliche Last legte sich auf ihre schmächtige Brust und ließ sie nach Atem ringen. – Etwas lag in dem Kristall, doch was? Die Feier dauerte bis zum nächsten Morgen. Die wenigen, die noch wach genug waren, gingen zu ihren Behausungen, um dort ihren Rausch auszuschlafen. Andere waren an Ort und Stelle liegengeblieben und schnarchten nun in den höchsten Tönen. Madawc hatte sich nicht mehr dazu entschließen können, zu den Feiernden zurückzukehren nach den dunklen Vorläufern einer bösen Vision. Doch nun wollte sie sehen, ob ihre Tochter und er es bequem hatten. Sie lagen immer noch auf den Fellen, welche sie hervorragend vor Kälte und Feuchtigkeit schützten, Feochadan halb auf ihm. Ihre Arme umschlangen ihn, als wollte sie ihn niemals loslassen. An seiner Seite hatte sich Donn wie ein kleines Tier zusammengerollt und kuschelte sich in seinen freien Arm. Ein friedliches Bild … Madawc lief ein unerklärlicher kalter Schauer über den Rücken. Vorsichtig hob sie den schlafenden Jungen auf und trug ihn zum Wagen seiner Eltern, denen er des Nachts entwischt sein mußte. Die nächsten Tage nutzten sie, um ihre Wagen zu reparieren und auszubessern, Handel zu treiben und zu erzählen. Aodhan
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erholte sich unvermutet schnell und sprühte bald fast über vor Tatendrang. Madawc lenkte seine Kraft in sinnvolle Bahnen und ließ ihn Zaumzeug fl icken. Feochadan und Eda halfen ihm. »Was macht eigentlich Fuathas?« fragte Feochadan, um sich durch ein paar Geschichten bei der monotonen Arbeit unterhalten zu lassen. »Ach, nein«, stöhnte Aodhan gelangweilt. »Nicht schon wieder dieser Scharlatan!« »Woher willst du wissen, daß er kein Magier ist?« fuhr sie ihn heftig an. »Er ist ein Mensch!« erwiderte er. Seine Worte klangen arrogant. Feochadan wußte, daß er von ihnen überzeugt war – zu Recht vermutlich. »Wahre Magie wird sich nie in den Händen eines Menschen entwickeln! Ein Mensch kann nur Tricks beherrschen, nie aber Magie!« Eda nickte zustimmend. Sie wollte ihm gefallen. »Nur weil du in Liosliath aufgewachsen bist, glaubst du, alles über Magie zu wissen, wie?!« beharrte Feochadan. Ihre Augen funkelten. »Nein. – Niemals weiß jemand alles über Magie – nicht einmal die Elfen aus Liosliath.« Sein Stimme klang ernst. Bei diesem Thema war nicht mit ihm zu reden. Eine seiner Eigenarten, die sie so faszinierte. Manchmal war er so geheimnisvoll, wie seine Paten, die Elfen. »Wenn du meinst«, gab sie schließlich nach. »Was gibt es also von dem Scharlatan zu berichten, Eda?« Eda blickte unsicher zum Horizont. Über den Wolken des Waldes blitzte eine Spitze empor, die sich nicht mit den anderen im Wind wiegte. Selbst jetzt, als mehr verborgen war als offensichtlich, hatte der Turm eine bedrohliche Ausstrahlung, die das Mädchen erschauern ließ. »Er will unsterblich sein«, brachte sie schließlich hervor. Aodhan lachte leise auf, konzentrierte sich aber weiter auf die Lederriemen. »Er hat’s mit Kräutern versucht … und mit Drachenblut.« »Was?!« Aodhan sprang abrupt auf. »Er hat einen Drachen getötet?!« Er zitterte vor Zorn und Haß. Eda zuckte zurück. Sie war den Tränen nahe, so hatte sie sich erschrocken. »Nein! Nein, er hat
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keinen getötet!« versuchte sie ihn zu beschwichtigen. Feochadan hob die Hand und er vergaß schnell, was er hatte sagen wollen. »Was hat er denn getan?« fragte sie leise, um das Mädchen nicht noch mehr einzuschüchtern. »Er … nun … er hat doch … alle wissen es … und alle haben Angst vor ihnen, wenn die Reiter kommen!« Feochadan warf ihm einen strafenden Blick zu, weil sein Aufbrausen, das schlichte Gemüt der jungen Dorfbewohnerin so sehr ins Schleudern gebracht hatte und sie nun kaum ein vernünftiges Wort aus ihr herausbrachten. »Wovor?« bohrte sie sanft weiter. »Er hat sie gefangen, als sie noch ganz klein waren …« Aodhan öffnete entsetzt den Mund, aber er sagte nichts. Fuathas hat sich erdreistet, Drachen zu versklaven! Er war so empört, daß er kaum hörte, was Eda weiter stammelte. Während sie sprach beruhigte sie sich wieder. Auch Aodhan hatte sich bald wieder unter Kontrolle. – Was sollte er auch tun? Er war hilflos. Er mußte tatenlos zusehen, wie ein verrückter Zauberer die Symbole der Freiheit, Weisheit und Ewigkeit zu Reittieren degradierte und sie so vermutlich zu wahnsinnigen Bestien machte … In stiller Trauer um sie wandte er sich wieder dem Zaumzeug zu, an dem er gearbeitet hatte. Eda war irgendwie von ihrer Geschichte abgelenkt worden und erzählte nun etwas anderes. Aber Feochadan interessierte Fuathas viel mehr. Zuerst versuchte sie sanft, das Thema wieder anzusprechen, doch Eda hatte sich so in die andere belanglose Sache hineingesteigert, daß Feochadan direkter werden mußte. »Und was macht Fuathas jetzt?« Eda sah sie überrascht an. Wie kommt meine schöne Freundin auf den Magier? Sie hatte ihre erste Geschichte längst vergessen und begann sie nun von neuem. Aodhan schmunzelte belustigt, als Feochadan ungeduldig die Augen verdrehte, bis Eda endlich an die Stelle kam, an der sie abgebrochen hatte. »… Das war alles nichts. Da hat er was Neues gesucht. Ein Kobold hat ihn
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drauf gebracht. Er – der Kobold – hat ‘nem Zwerg ‘nen Schatz gestohlen und ihn Fuathas gegeben.« »Einen Schatz?« Eda nickte eifrig. »Ja, da soll eine Truhe gewesen sein, auf der war so ein Zeichen …« Mit einem Ast kratzte sie die verschlungene Form einer liegenden Acht in den staubigen Boden. Aodhan blickte beiläufig auf … »… und in der Truhe ist ein Stein. Ein roter Kristall, und der soll unsterblich machen.« Feochadan wollte mehr wissen. »Er ist ganz sicher, daß es der Stein kann. – Aber es klappt noch nicht.« Sie warf Aodhan, der ihr nun auch aufmerksam lauschte, einen kurzen Blick zu. »Er braucht nämlich Magie dazu.« Sie plapperte weiter und erzählte etwas von Gefangenen, an denen Fuathas mit dem Stein herumexperimentieren würde und die dann Monde lang im Sterben lägen. Aodhans Gedanken lösten sich von ihrer Rede. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, die Drachen zu rächen, wenn der Stein dem Scharlatan soviel bedeutet, wäre sein Verlust sicherlich recht schmerzhaft für den Zauberer. Außerdem hatte er Feochadan einen Kristall versprochen, den sie bis jetzt nicht erhalten hatte … Er sah zum Turm, und ein siegessicheres Lächeln legte sich auf sein Gesicht, dessen Augen in Vorfreude blitzten.
∞ Schweigen legte sich über das Land. Hinter einigen Regenwolken versank die Sonne als glutroter Ball. Ihr Licht ließ den Horizont verbrennen. Der Boden kühlte jetzt schon schnell aus und leichte Nebelschwaden erhoben sich aus den feucht werdenden Wiesen und Wäldern. Aodhan blickte in das friedliche Dörfchen zurück. Die letzten Lampen wurden mit der Sonne gelöscht. Caerdales Leben erschlummerte, um dem nächsten Morgen frisch entgegenzusehen. Er wandte sich wieder dem steilen Pfad zu, den er in der zunehmenden Dunkelheit immer schwerer ausmachen
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konnte. Rechts und links des schmalen Weges huschte und raschelte es eilig, sobald er einen Schritt tat. Ein Uhu grüßte dröhnend den Mond, der gelb hinter einem Wolkenschleier hervorlugte, sich aber nicht zeigen wollte. Außer dem dünnen blauen Streifen des Nachthimmels und dem bleichen Schimmer einiger Steine und Blüten konnte er jetzt nur noch schwarze Schatten erkennen, die Bäume, Wegelagerer, Trolle oder sonst etwas sein konnten … In dieser Gegend er-wartete er keine Einhörner oder Nymphen. Hier, wo sich ein Mensch mit Magie versucht?! Plötzlich brach die schwarze Wand des Waldes ab. Er sah in eine Schlucht, aus der sich ein Fels in den Himmel bohrte, wie eine Lanze aus einer klaffenden Wunde. Auf der Spitze des Felsens war die Burg mit dem Turm der Vögel, nach dem sie benannt war, Dun na h-Eoin. Flackerndes Licht drang aus winzigen Fenstern. Leicht wird es nicht werden … Er hatte noch einen recht langen und in der Finsternis nicht ungefährlichen Weg vor sich. Er mußte zuerst die Schlucht hinunter und dann den Felsen erklimmen. Er tastete nach seinem Bein. Es pochte etwas in der Verletzung, aber er würde es aushalten können. Er machte sich an den Abstieg. Zunächst konnte er, wenn er vorsichtig war, normal weitergehen, doch dann mußte er klettern. Immer wieder griffen seine bloßen Hände in der Dunkelheit in scharfe Dornen, die schmerzhafte Risse hinterließen, oder gar stecken blieben. Zweimal gab der Stein, auf dem er stand, nach, und er konnte sich nur im letzten Augenblick irgendwo festhalten. Schließlich hatte er den Grund der Schlucht unter den Füßen. Jetzt schon waren sein Gesicht und sein Hände von Ästen und Gräsern zerkratzt und zerschnitten. Er atmete schwer. In seinem Oberschenkel pulsierte das Blut schmerzhaft durch noch nicht ganz verheilte Adern. Er sah zu der scharfen Silhouette des Dun na h-Eoin auf. »Unsterblich«, schnaubte er verächtlich. »Er will unsterblich sein und versklavt Symbole der Ewigkeit! Ich werde dir zeigen,
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daß du zu weit gegangen bist, Mensch!« Damit erklomm er den kalten Fels. Der Wind wurde schärfer. Er zupfte nicht mehr spielerisch an ihm, sondern riß ihn beinahe von den schmalen Vorsprüngen im Stein, an denen er mit klammen Fingern hing. Keuchend stemmte er sich auf das Plateau. Seine Hände waren aufgeschürft und schmutzig. Sie hinterließen eine bizarre Spur, als er sich über das schweißüberströmte Gesicht strich. Er blickte kurz zurück, doch die Dunkelheit war schon zu mächtig, als daß er etwas hätte erkennen können. Einige der Fackeln in der Burg schienen gelöscht worden zu sein. Nur noch vereinzelt flackerte gelbes Licht aus offenen Fenstern. Vorsichtig näherte er sich dem Tor. Natürlich war es verschlossen. Vermutlich standen bewaffnete Wachen hinter den schweren metallbeschlagenen Türflügeln. Die Mauer war aus rauhem, kaum beschlagenem Fels und bot eine gute Aufstiegsmöglichkeit. Seine kalten Hände brannten von den Blessuren des bisherigen Aufstiegs; er ignorierte den Schmerz wie das Pochen in seinem Bein. Verbissen kämpfte er sich Zoll um Zoll vor bis er das Ende des steinernen Schutzwalls erreichte. Geduckt rang er nach Atem und überlegte, wie es weitergehen sollte. Springen konnte er unmöglich …
∞ Erbost schlang sie den weiten mit Perlen besetzten Umhang enger um sich. Ihre kalten grauen Augen sprühten vor Wut. Er war unfähig! Niemals durfte er den Stein besitzen. Niemals durfte er seine Macht erhalten! Der Narr! Mit weiten hastigen Schritten eilte sie zu ihren Studiengemächern. Er hatte keinen Verstand! Er war geblendet von der Voraussicht der Macht, die der Stein versprach! »Ha!« spie sie haßerfüllt hervor. »Du wirst sein Geheimnis nicht ergründen! Niemals! Niemals wirst du die Magie erschließen – ohne meine Hilfe! – Niemals,
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Fuathas!« Sie konnte nicht verstehen, daß er nichts bemerkte. Die Zeremoniepergamente sind ganz offensichtlich nicht vollständig. Selbst ein Küchenjunge hätte es gesehen! Ja, selbst ein Küchenjunge erkennt, daß er unfähig ist! Sie! Allein sie hatte das Recht auf den Stein! Sie hatte ihn dem Kobold abgeschwatzt. Sie hatte die Legenden zusammengetragen, Bücher und Schriftrollen gewälzt, Nacht um Nacht! Während sich Fuathas bei seinen unsinnigen Foltern vergnügte! Jedes Kind wußte, daß falsch genutzte Magie Verderben verhieß! Der Stein war ihr Eigentum! Sie würde die Magie lenken können und sie nicht zu sadistischem Zeitvertreib vergeuden. Sie … Sie erstarrte in der Bewegung und huschte lautlos in den dunklen Gang zurück, aus dem sie gerade treten wollte. Sie hatte eine Gestalt bemerkt, die sich geduckt zu Fuathas‘ Studienzimmer schlich und sich immer wieder sichernd umsah. Sie kannte den jungen Mann nicht. Aus der Burg stammt er nicht, was auch seinen miserablen Zustand erklärte: Er war voller Schmutz … Nur langsam drang es in ihr Bewußtsein: … ein Eindringling. Ein Räuber! Ein Dieb, der von der Geschichte des Kristalls angelockt wurde wie die Motte vom Licht! Sie lächelte voller Genugtuung. Ihr übernatürlich schönes Gesicht blieb aber kalt. Wie die Motte in der Flamme verging, würde auch er enden. Schade … Er wirkte trotz des Drecks recht anziehend auf sie. Sie zuckte die Schultern. Fuathas hatte Vorsichtsmaßnahmen getroffen. »Im Falle, daß sich Unbefugte nähern, habe ich den Stein mit Magie umgeben, die ihn schützt«, hörte sie seine Stimme in ihrer Erinnerung. Sie sah förmlich sein verschwörerisches Lächeln vor sich. Der junge Dieb hatte die Tür erreicht und lauschte. Du wirst nichts hören, dachte sie bedauernd. Seine Hand legte sich zögernd auf den gebogenen Griff der Tür und drückte ihn lautlos hinunter. Mit kaum wahrnehmbarem Quietschen schwang das Hindernis langsam beiseite. Wieder verharrte er zögernd, doch dann betrat er den Raum.
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Mit jedem Schritt wurde er selbstbewußter. Schließlich stand er vor der Kiste, in welcher der Stein ruhte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Welcher Art ist wohl die Falle, die Fuathas gelegt hat? Der Dieb griff nach der Kiste. Einen Augenblick lang war sie versucht ihn zu warnen, aber sie schwieg, denn ein ungeheuerlicher Verdacht keimte in ihr auf …
∞ Er war überrascht gewesen. So leicht hatte er nicht erwartet, sein Ziel zu erreichen. Vorsichtig schüttelte er die hölzerne Kiste. Er zuckte zusammen, als er etwas, wie ein erwartungsvolles Summen zu hören glaubte. Für seine Flucht war die Kiste zu unhandlich. Er wollte nur den Kristall. Entschlossen öffnete er den Deckel. Der Stein lag funkelnd in weichen dunklen Samt gehüllt. Seine Form war ihm seltsam vertraut. Er griff nach ihm. Wieder zuckte er zurück, als sich der Kristall beinahe in seine Hand schmiegte und wie ein lebendes Wesen vor Freude zu schnurren schien! Er schüttelte den Kopf über sich selbst und schrieb diese merkwürdige Idee seinen überspannten Nerven zu. Eilig verschloß er die Kiste und stellte sie wieder auf ihren Platz, während sich der Kristall offenbar zufrieden in seinen Beutel verbarg. Er sicherte und trat aus dem im Halbdunkel liegenden Raum. Bisher war er unbemerkt geblieben. Er konnte jedoch nicht hoffen, daß er auch unbehelligt wieder nach Caerdale kam, wenn er noch länger hier blieb! Also beeilte er sich, von Dun na h-Eoin zu verschwinden. Er ahnte nicht, daß ihm ein Schatten folgte, der sich besser in dem alten Gemäuer auskannte als er. Er bemerkte auch nicht den kleinen schwirrenden Lichtpunkt, der sich aus diesem Schatten löste, als er über den Hof rannte und den Schatten im Dunkel des Ganges zurückließ. Das Rufen eines Wärters erschreckte ihn so sehr, daß er trotz seiner vorangegangenen Bedenken, beinahe instinktiv von der Mauer sprang, auf der er ein prächtiges
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Ziel für jeden Bogenschützen abgegeben hätte. Pfeifend entwich die Luft aus seinen Lungen, als er hart auf dem unebenen Boden aufkam. Sein Bein knickte kraftlos ein. Er fürchtete, daß die Wunde wieder aufgebrochen war und wagte nicht hinzusehen. Er rutschte die Felswand zur Schlucht mehr herunter, als daß er lief. Selbst am Fuße des großen Basaltbrockens gönnte er sich keine Pause. In leichtem Trab, um sein Bein zu schonen, lief er in der Schlucht in südlicher Richtung. Er wußte, daß er den Aufstieg nach Caerdale heute nicht mehr schaffen, aber genauso wenig hierbleiben konnte. Also lief er … egal wohin. Der Lichtpunkt folgte ihm in angemessenem Abstand. Selbst wenn er seine Anwesenheit wahrgenommen hätte, hätte er nichts Böses von ihm vermutet; er wäre womöglich darüber verwundert gewesen, hier einen Dhraghonyie anzutreffen, aber nicht mehr.
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Zweites Kapitel Uralte weise Augen blickten träge zum Horizont. Die Sonne war längst verschwunden. Die Sterne hatten ihre Macht zurückgewonnen und blickten triumphierend auf das blaue Tuch des Himmels. Er konnte keine Ruhe fi nden in dieser Nacht. Die Zeit für eine kosmische Veränderung ist nahe. Er spürte es in seinen alten Knochen. Noch wurde ihm nicht offenbart, was sich ändern würde. Er hoffte jedoch, daß er es noch erleben konnte … Ja, er war sehr alt. Er hatte viel erfahren, viel gesehen, gelernt, gelehrt … Es ist an der Zeit, sich Lord Tod und der Wilden Jagd anzuschließen. Jedoch – etwas hielt ihn zurück. Er war der älteste seiner Art. Seine Haut war bleich und faltig geworden mit den Jahrhunderten, die sie erlebt hatte. Seine Muskeln waren nicht mehr so kraftvoll wie einst … und sein Geist wurde immer häufiger müde. … schrecklich müde. Er wollte ihm die verdiente Ruhe gönnen. Es ließ ihn aber nicht. Der Drache blinzelte mit Augen, die in allen Farben gleichzeitig schillerten. Er sah zum Himmel. Sternschnuppen jagten tollkühn über ihn hinweg. Er runzelte die schuppige Stirn. Zwei der fallenden Sterne hatte eine merkwürdige Bahn beschrieben … eine Kurve, ähnlich einer liegenden Acht?!
∞ Madawc schreckte hoch. »Ein Traum …«, versuchte sie sich zu beruhigen. Nur ein Traum …? Es war so wirklich gewesen … Nein, sie machte sich zu viele Gedanken. Sie sah zu Feochadan hinüber. Auch sie wurde offenbar von einem Alpdruck gequält. Unruhig wälzte sie sich hin und her und stöhnte. Sollte sie ihre Tochter in ihre Vorahnung einweihen? Feochadan würde einmal ihre Stellung in der kleinen Gruppe übernehmen … Manchmal befürchtete sie, das Mädchen könnte dieser harten Aufgabe
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nicht gewachsen sein. Sie ist noch so wild. Sie sucht noch nach Erfahrungen. Sie ließ sich noch zu schnell zu unüberlegten Dingen hinreißen. Doch, wenn sie einmal die anderen führen wollte, mußte sie sich beherrschen können und das Wohl aller berücksichtigen. Dazu gehörte es auch, daß sie keines der Gruppenmitglieder gefährdete. Denn jeder Verletzte konnte eine schnelle Flucht nur behindern und so alle ins Verderben stürzen … Sie hatte sich ertappt! Wieder einmal versuchte sie, Feochadan die Verantwortung für das Geschehene zuzuschieben. Dabei wußte sie, daß Aodhan seinen eigenen Kopf besaß. Er erkannte sehr wohl das Risiko, dem er gegenüberstand. Doch es reizte ihn, sein Geschick herauszufordern. Was war es, das sie mehr an ihn als an ihre eigene Tochter band? In gewisser Weise fühlte sie sich schuldig. Ob Feochadan spürte, was in ihrer Mutter vorging? Es gab Augenblicke, da glaubte Madawc, Haß in ihren grünen Augen zu sehen. Weiß sie, wen sie haßt? Madawc bezweifelte es. Feochadan liebte ihn über alles, und sie würde alles für ihn tun …
∞ Noch jemand schlief nicht in dieser Nacht. Dunkle Augen trotzten ihrer Schwärze, obwohl er sie kaum noch offen halten konnte. Donn fröstelte. Er konnte erst dann die Träume begrüßen, wenn er ihn sicher zurück wußte. Er war sehr erschüttert gewesen, als Feochadan ihn aus den Cobhans gebrachte hatte und er so allein und verletzlich ausgesehen hatte. Es durfte ihm nichts geschehen, dachte er trotzig, er war doch ein Held! Er muß immer siegen, über jede Gefahr! – So ist es bisher immer gewesen … Entschlossen rieb er sich mit seiner kleinen Faust über die Augen. Wohin ist er gegangen? Ächzend setzte er sich auf. Es gab scheinbar keine Stelle seines Körpers, die nicht schmerzte. Die Feuchtigkeit des Bodens hatte seine Muskeln verkrampft. Immer noch erschöpft
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prüfte er, wie stark seine Blessuren waren. »Das Glück steht mir immer noch zur Seite«, murmelte er erfreut. Dann erinnerte er sich an den Kristall. Tastend griff er in den Beutel. Und wieder war ihm, als legte sich der Stein in seine Hand. Neugierig betrachtete er ihn. Das unangenehme Brennen, das von den Schürfwunden ausging, verschwand unvermittelt. Überrascht blickte er auf seine Handflächen. – Nichts war mehr zu sehen! Der Stein glomm, als würde er liebevoll über sein erstauntes Gesicht schmunzeln. Aodhans Herzschlag beschleunigte sich. Was geht hier vor? Er war mißtrauisch, aber nicht so verängstigt wie ein anderer Mensch, wenn er etwas Unerklärlichem gegenüberstand. Der Kristall leuchtete schwach auf. Das pulsierende Licht beruhigte ihn ein wenig. »Sollte Fuathas echte Magie als das erkannt haben, was sie ist?« Er sprach mehr zu dem Stein, als zu sich selbst. Das Glühen wurde schwächer, gerade so, als stimmte der Kristall traurig zu. »Was mache ich mit dir? – So schön du bist, Feo‘ kann dich nicht bekommen, nicht wahr?« Er überlegte. Fuathas durfte den Stein nicht wiedererlangen, er mußte in wissende Hände, die ihn so behandelten, wie es seiner würdig war. Das Licht, das der Kristall ausstrahlte, verfi nsterte sich, als erinnerte er sich an eine schreckliche Vergangenheit. Aodhan strich beruhigend über die glatten Kanten des Kristalls. »Blyann«, sagte er schließlich. »Ja, ich werde sich zu Blyann bringen. Er wird wissen, wohin du gehörst.« Entschlossen rappelte er sich auf. Sein Bein schmerzte immer noch. Bittend sah er in die Facetten des Steins. »Kannst du das auch heilen?« Der Stein erstrahlte und Aodhan spürte nichts mehr von der Verletzung. Doch plötzlich verlosch das Licht. Mit einem erstickten Aufschrei ging er zu Boden. Keuchend starrte er den Kristall an, der bedauernd und beschämt zurück blitzte. »Schon gut«, beruhigte er ihn immer noch nach Atem ringend. »Es wird auch so gehen.« Es mußte so gehen! Die Schmerzen ignorierend kämpfte er sich wieder auf die Beine.
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Fuathas hatte die Kräfte des Kristalls offenbar übel mißbraucht. Blyann wußte sicher, wie er zu behandeln sein würde. Aodhan warf einen kurzen wehmütigen Blick in die Richtung, in der er Caerdale vermutete und setzte sich dann in die entgegengesetzte Richtung auf den Weg nach Liosliath in Bewegung. Er spürte die forschenden Blicke in seinem Rücken nicht. Er ahnte die böse Erwartung nicht, die im Kopf des Dhraghonyies an Form gewann.
∞ Unausgeruht erwachte Madawc noch bevor die Sonne den Horizont ganz erreicht hatte. Mürrisch tat sie, was jeden Morgen getan werden mußte. Als sie aus dem Wagen trat, erblickte sie eine kleine zusammengekauerte Gestalt auf den Stufen von Sobhrachs Wagen. Erstaunt ging sie hinüber. »Nanu«, sagte die leise, um drinnen niemanden zu wecken. »He, Donn, was sind das für Geschichten? Wach auf!« Verschlafen blinzelte er sie an. »Ist er da?« Er gähnte. »Ich bin doch eingeschlafen …« »Wer ist da? Was machst du hier draußen? Warst du etwa die ganze Nacht hier?« Er nickte. Seine Augen drohten ihm wieder zuzufallen. »Nun sag’ schon, was machst du hier?« fragte sie, als sie ihn von den Stufen aufhob und zu ihrem Wagen hinübertrug. Er kuschelte sich an sie. Sein kleiner Körper war völlig durchgefroren. Schon wieder im Einschlafen murmelte er: »Gut. – Wenn er wieder da ist, kann ich ja schlafen … Dachte schon, er kommt überhaupt nicht wieder … aber jetzt ist er da … ja, er ist … jetzt da …« Ein Verdacht keimte in ihr auf. Behutsam legte die den Jungen in ihr noch warmes Bett und deckte ihn gut zu. Dann lief sie zu Bans Wagen, den er sich mit Aodhan nachts teilte. Schon von weitem hörte sie Bans Schnarchen. Sie raffte ihre Röcke zusammen und erklomm die Stufen. Sie zögerte, ehe sie den bunten Vorhang beiseite schob, als
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könnte sie damit etwas verhindern. Schließlich jedoch gab sie sich einen Ruck. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus, als ihr Blick auf die unberührten Decken von Aodhans Lager fiel. »Ban!« raunte sie mit tonloser Stimme. »Ban!« Er wandte sich um, schnarchte aber weiter. »Ban!!« Ihre Stimme klang nachdrücklicher. Sie unterstrich ihr Drängen mir einem leichten Stoß in seine kräftigen Rippen. »Au!« beschwerte er sich schlaftrunken. »Was?« »Ban …!« mehr konnte sie nicht sagen. Langsam wurde er wach. Verwirrt setzte er sich auf. »Madawc? – Ist etwas passiert?« Stumm deutete sie auf Aodhans Schlafplatz. Ban folgte ihrem Blick und zuckte anzüglich lächelnd die Schultern. »Wird mit Feo‘ unterwegs sein …« »Unsinn!« fuhr sie ihn barsch an. »Sie schläft in unserem Wagen!« Er hob vielsagend die Augenbrauen. »Nein, nicht was du denkst!« Sie wurde böse, aus Angst, daß ihr Traum Wahrheit werden würde. »Donn hat gesehen, wie er wegging – allein.« Ban lag etwas auf der Zunge, das er nach einem Blick in ihr besorgtes Gesicht aber nicht aussprach. »Er wird schon wieder auftauchen«, sagte er statt dessen ziemlich lahm. Was soll ich tun? Vielleicht hat Ban recht mit seiner Vermutung … Aodhan war ein junger, sehr attraktiver Mann … Sie konnte sich so etwas von ihm nicht vorstellen. In dieser Beziehung verhielt er sich sehr elfisch – und im Stillen dankte sie Blyann für seine Erziehung! Sie mußte abwarten und konnte nur hoffen, daß er bald zurückkehrte …
∞ In der dunklen muffigen Kammer verglommen die rußverbreitenden Fettlampen im erwachenden Morgen. Ein nicht mehr junger Mann hockte vor einem Tisch, der über und über mit
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Papier bedeckt war. Seine Züge waren ungesund eingefallen. Die Augen lagen tief in ihren dunklen Höhlen. Zorn loderte in ihnen. Warum gelang es ihm nicht, dem Kristall seine Macht zu entreißen, damit er für alle Zeit Herrscher über alles Land werden konnte?! Er war besessen von der Gier nach Macht. Ihm war es gelungen, Drachen zu zähmen! Es muß mir auch gelingen, einen Stein zu besiegen! Man hatte ihn verspottet, als er schwor, triumphierend in die Hallen des Wissens zurückzukehren. Sie hatten ihn verlacht! Dabei hatten die noch weniger Magie als ich! Er hieb mit der knochigen Faust auf den Tisch. Seine Zähne knirschten aufeinander. In den Gängen hörte er aufgeregtes Rufen und Laufen. Unwirsch erhob er sich, um nachzusehen, was die Störung zu bedeuten hatte. Da wurde die Tür aufgestoßen. Ein hochgewachsener, hagerer Soldat stand breitbeinig vor ihm. Sein blondes Haar fiel ihm tief in die fi nstere Stirn, die so vernarbt war wie sein ganzer drahtiger Körper. Fuathas’ Zorn wuchs über seine Unverschämtheit. Er würde dem Hauptmann seiner Streitkräfte seinen Platz zuweisen, und wenn er ihm das Rückgrat brechen mußte! Er wird vor mir kriechen, wie es seiner Stellung entspricht! »A o g a i l !« fauchte er, doch der blonde Hüne schnitt ihm mit einer barschen Handbewegung das Wort ab. »Der Stein, Mylord!« sagte er ruhig. Fuathas vergaß augenblicklich seine Zurechtweisung. »Er ist verschwunden.« Nur langsam drang die Bedeutung dieser Worte in Fuathas’ Bewußtsein. »Verschwunden …« echote er. »Verschwunden?!« Seine Stimme dröhnte wie ein Donnerschlag. »Wie kann er verschwinden?« Aogail lächelte vielsagend. »Ihr seid der Magier«, erwiderte er schlicht. »Und Ihr habt meinen Besitz zu bewachen!« schnauzte Fuathas beinahe hysterisch. »Wie konnte das passieren?« Aogail wurde wieder ernst. Von oben herab antwortete er: »Wie ich schon sagte, Mylord, Ihr seid der Magier.
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Ich kann Euch nur vor irdischen Mächten schützen …« »Schweigt!« befahl Fuathas. »Ihr hättet Eure Aufgabe besser erfüllen müssen!« Seine Stimme senkte sich gefährlich. »Der Stein konnte nicht von selbst verschwinden. Er ist von einem Bann umgeben gewesen. Jemand muß ihn aus der Truhe gestohlen haben. – Und Ihr hättet das verhindern müssen!« Aogail wurde bleich. Seine Züge blieben unbewegt. Er zögerte. Dann verneigte er sich tief. Mit gesenktem Haupt sagte er: »Ich habe versagt … Ich schwöre bei meinem Blut, daß ich den Kristall zurückbringen werde.« Fuathas lächelte befriedigt. Es war ihm gelungen, Aogail auf die Knie zu zwingen. Er kostete seinen Triumph voll aus. »Geht und sucht ihn!« Aogail sprang auf und wandte sich, dem Befehl zu gehorchen, als ihn Fuathas zurückrief. »Aogail! Denkt daran, auch den Dieb zu fangen – und vergreift Euch in Eurem gedemütigten Stolz nicht an ihm. Es ist mein Privileg, ihn zu töten!« Der Hauptmann verneigte sich erneut. »Und noch etwas: Solltet Ihr ohne beide zurückkehren, so werdet Ihr anstelle des Diebes hingerichtet!« »Ja, Mylord.« Aogail stürmte an der schmalen Frau vorbei, die die Szene interessiert verfolgt hatte. Ein höhnischer Zug lag um ihre elegant geformten Lippen. Ohne Fuathas ihr Mitgefühl ausgedrückt zu haben, zog sie sich unbemerkt zurück.
∞ In ihren Räumen suchte sie ein unscheinbares, gläsernes Gefäß, in dem ein kleiner Lichtpunkt schwach leuchtete. »Dein Freund wird mich zu ihm führen, nicht wahr, Dhraghonyie?« Ihre Stimme klang sanft, aber ihre Augen blitzten grausam, als sie das niedergeschlagene kleine Wesen musterten, welches wußte, daß sie Recht hatte. Er würde sie führen, um es zu retten.
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Aogail hatte eine schwache Spur. Einige Tropfen noch relativ frischen Blutes führten ihn zur Wehrmauer. Aber sie verloren sich hinter ihr im felsigen Abgrund. Der Dieb ist verletzt. Nun, so kann er nicht weit sein. Sollte er Reiter zur Suche einsetzen oder die Drachenritter? Die Frage beantwortete sich von selbst: Wie sollten Reiter den Stein fi nden? Sie hatten kein Gespür für Magie, die Drachen dagegen schon … Aogail schüttelte den Kopf. Wer kann so töricht sein, einem Magier einen Zauberkristall zu stehlen? Er wandte sich um und blickte den Turm hinauf. Seine farblosen scharfen Augen fi xierten ein bestimmtes Fenster. Sie war ihm noch nie sehr geheuer gewesen …
∞ Dumpfes Schweigen lag über dem Tal. Die Sonne war bis zu ihrem höchsten Stand geklettert, und er war noch immer nicht zurück. Viele Blicke sahen sich suchend um. Manche schauten in schlimmer Vorahnung zur Spitze des Dun na h-Eoin, die heute noch drohender als sonst aus der Wipfelreihe hervorstach. Donn stand am Waldrand. Suileach und Flann saßen etwas abseits. Die beiden Kinder vergötterten Aodhan ebenfalls, aber sie wußten auch, was er Donn bedeutete. Flann sah zum Dun na h-Eoin. »Was ist das?« fragte er plötzlich. »Was denn?« Er deutete auf einige dunkle Silhouetten, die sich von dem Turm gelöst hatten und nun um ihn kreisten. Donn hob schützend die Hand über die Augen, so wie es Aodhan immer tat, um etwas in der Ferne besser erkennen zu können. »Drachen«, sagte er. Er versuchte, seiner Stimme einen ebenso gleichmütigen Klang zu verleihen wie es Aodhan immer tat, wenn er die mächtigen Tiere ausmachte. Er ist ihre Anwesenheit gewohnt … Donns Herz klopfte statt dessen vor Aufregung. »Hier?« Suileachs Stimme klang skeptisch. Feochadan lief in ihrer Nähe vorbei.
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»Feo‘?!« rief Flann. »Feo‘, sind das Drachen?« Sie stockte und folgte seinem zeigenden Arm mit ihrem Blick. Ein Zittern durchlief ihren Körper, als sie die Schatten von Dun na h-Eoin ausschwärmen sah. … Er hat keinen getötet … alle wissen es … und alle haben Angst vor ihnen… Er hat sie gefangen, als sie noch ganz klein waren … hörte sie Edas Stimme in ihrer Erinnerung. Ein Schatten kam direkt auf Caerdale zu. Er war unheimlich schnell. »Kinder! Kommt her!« drängte sie. Verwirrt sahen sie sie an. Wovor hatte sie Angst? Aodhan fürchtete Drachen nicht. Warum sollten sie zu ihr kommen? Die Drachen werden uns nichts tun! »Ihr sollt herkommen!« Unwillig gehorchten sie ihr. »Madawc!« Alarmiert wegen der Angst in Feochadans Stimme sahen alle von ihrem Tun auf. »Wir müssen fort! Die Drachen …!« Sofort brach ein heilloses Durcheinander im Dorf los. Schreiend und verängstigt liefen alle in Panik wild umher. »In den Wald! Flüchtet in den Wald!« Der Schatten war jetzt so nahe, daß Feochadan seine Umrisse deutlich erkannte. Sie hörte ein markerschütterndes Kreischen. »Monster«, hauchte sie entsetzt. »Er hat Monster aus ihnen gemacht!« Jetzt verstand sie Aodhans Wut … Ein neuer Schock ließ sie erstarren. Aodhan! In der Aufregung hatte sie ihn ganz vergessen! Sie konnten doch nicht ohne ihn aufbrechen! Ban und die anderen hatten die Pferde schon eingespannt. Brads Wagen setzte sich gerade in Bewegung. »Nein!« schrie sie. »Wir müssen auf Aodhan warten!« Donn sah zu ihr auf. Madawc stellte sich vor sie. Sie wirkte plötzlich viel größer als ihre Tochter. Ihre Stimme duldete keinen Widerspruch. »Wir fahren. – Jetzt!« Sprachlos starrte Donn sie an. Sie war wie eine Fremde für ihn, so kalt und abweisend. Hilfesuchend blickte er Feochadan an, doch sie kämpfte mit Tränen und brachte kein Wort hervor. »Bring die Kinder in die Wagen!« Madawcs Stimme klang hart. »Mach schon!« drängte sie barsch. Wie betäubt folgte sie
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dem Befehl, unfähig, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Sie bemerkte Madawcs zitternde Hände nicht. Sie bemerkte nicht, daß auch sie mit Tränen kämpfte. Das bedrohliche Kreischen war beängstigend nahe. Sie hob die Kinder auf die Wagen und sprang selber auf. Ruckartig zogen die Pferde an. Madawc preschte auf Aodhans Pferd an ihnen vorbei und setzte sich an die Spitze, um die Wagen zu führen. Feochadan blickte zurück. Brüllend fuhr der Drache auf das Dorf hinab und zerriß die vor ihm fl iehenden Menschen. Ihr Schreien verfolgte sie bis in den Wald. Die Kinder weinten verängstigt. Madawc ritt neben Ban. Ihre Züge waren wie versteinert. »Was immer ihren Angriff provoziert hat …, wir müssen fort von hier. Im Zweifelsfall waren er immer die Tinkers.« Seine Stimme klang rauh, denn sein Hals war trocken: »Aber … Aodhan.« »Er wird schon wieder zu uns stoßen«, antwortete sie unbewegt. Ein kalter Schauer lief über seinen Rücken. Er hatte diese Antwort nicht erwartet.
∞ Aodhan saß indessen an dem fröhlichen kleinen Bach, der ihn schon seit einer Weile begleitete und kühlte seine Wunden. Sein Magen knurrte vernehmlich, aber außer einer Handvoll Beeren konnte er ihm nichts bieten. Zur Jagd hatte er keine Zeit. Er wäre auch zu erschöpft gewesen, um irgendeinem Tier nachzustellen. In Caerdale werden sie jetzt ein großes Festmahl haben … Er verzog das Gesicht bei dieser Vorstellung und trank noch mehr von dem kühlen Wasser. Es sättigte ihn keineswegs, aber er hatte das Gefühl, sein Magen sei voll. Daran hätte er denken sollen. Bis nach Liosliath sind es mindestens sechs Tagesreisen. Mit dieser kärglichen Verpflegung würde er nicht einmal die Hälfte des Weges schaffen! Sollte er den Stein um Hilfe bitten? Nein, dachte er, als er sich an den letzten Versuch erinnerte.
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Resigniert stand er auf und ging weiter. Er versuchte, nicht an seinen Hunger zu denken und konzentrierte sich auf den Weg. Der Bach säuselte zu seiner Rechten. Ein aufmunternder Wind blies und zupfte verspielt an seinen Haaren. Vögel zwitscherten in den hellsten Tönen Melodien, die nur sie kannten. Der Wald roch berauschend – genüßlich tief atmete er ein. Der Weg schlängelte sich immer weiter ins Tal, heraus aus den Cobhans. Dessen Gipfel schoben sich in den Himmel und warfen blauleuchtende Schatten. Allmählich wurden die Bäume höher. Sie sahen nicht mehr ganz so aus, als müßten sie all ihre Kraft darauf verwenden, sich gegen den Wind zu stemmen. Das Gras unter seinen Schritten war auch verändert. Es strahlte in einem Grün, das es nur zu dieser Jahreszeit gab. Zwischen den Halmen äugten Veilchen hervor. Dicke Hummeln brummten durch die warme Luft und wichen den akrobatischen Schmetterlingen aus. Dann hörte Aodhan das warnende Keckern eines Hähers und kurz darauf, wie etwas durch das Gehölz brach. Schemenhaft konnte er ein kleines Rudel Rehe ausmachen. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Verdammt! Sie Sonne hatte schon längst ihren Zenit überschritten und neigte sich nun gen Westen. Schwärme von Mücken tanzten in ihrem warmen roten Licht. Auch wenn er eigentlich weiter mußte, sollte er sich besser ein Lager suchen, das trocken und windgeschützt war. Nach einer Weile hatte er gefunden, was er gesucht hatte: Eine kleine Mulde, umstanden von verfi lzten Büschen und einigen mächtigen Tannen, lud zu bleiben ein. Das Licht wurde schwächer. Langsam zog eine feuchte Kälte auf, die ihn frösteln ließ. Er rollte sich wie ein Tier zusammen. Ehe er einschlief, sah er zum sternenklaren Himmel. … Ewigkeit … Ob die Sterne ewig leuchten? … Sie sehen aus wie Diamanten … Sind Diamanten ewig?
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Die Kinder lachten nicht, liefen nicht umher. Mit großen Augen sahen sie zu Feochadan – dann zu Madawc und wieder zurück. Donns Fäuste ballten sich. Doch sein vor Zorn bebender Mund blieb stumm. Über Flanns runde Bäckchen kullerten anklagende Tränen, aber auch er gab keinen Laut von sich. Suileach starrte mit hartem Gesichtchen den Weg zurück, den sie gekommen waren. Er wird uns nie finden! Madawc zieht nach Osten statt nach Westen! Niemand sagte etwas. Nicht einmal Ban versuchte, sie davon abzubringen. »Geht zu Bett«, die Stimmen ihrer Mütter duldeten keinen Widerspruch. Suileach hörte Donns Zähne knirschen, als er sie noch fester zusammenbiß. Sie taten, was von ihnen verlangt wurde. Doch lagen alle drei Kinder mit offenen Augen in den Fellen. Durch das Fenster im Wagen konnte Suileach die Sterne sehen. »Gebt auf ihn acht! Zeigt ihm unseren Weg!« bat sie leise. Madawc saß am Feuer des Lagers. Mit fi nsterer Miene starrte sie in die Glut. Das Schweigen seit ihrem überstürzten Aufbruch vergrößerte ihren Schmerz. Die anderen hielten sie für hart … Dabei ahnten sie nicht einmal, was er ihr bedeutete, was es sie gekostet hatte, sich so zu entscheiden! Sie wünschte, Blyann wäre bei ihr! Er hätte einen Rat gehabt oder irgendeinen Zauber, der Aodhan sicher zu ihnen zurückbrachte. Wenn die Ungewißheit nicht wäre! Sie sah zu den Sternen. Diese leuchteten wie jede Nacht …, aber etwas sagte ihr, daß nichts mehr sein würde, wie es einmal gewesen war … Sie spürte eine beklemmende Angst. Je weiter sie nach Osten zogen, um so stärker wurde sie. Ban kam. Stumm setzte er sich neben sie. Er war der einzige, dem sie sich anvertrauen konnte … Er wußte, was in ihr vorging. Ihre Blicke trafen sich. Es schien ihr, als fühlte er ebenfalls die Gefahr. Seine Augen hatten ihren Glanz verloren. Das funkelnde Leuchten seiner
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Jugend, das immer wieder neu aufblitzte, wenn Aodhan in der Nähe war, es war verloschen. Krampfhaft versuchte sie, den Kloß hinunterzuwürgen, der sich in ihrer Kehle bildete. Spürte Ban das, was sie befürchtete?
∞ Der kleine Lichtpunkt schwebte noch immer über ihm. Unentschlossen blickte der kleine Dhraghonyie zurück. Wenn er jetzt umkehrte, um die Zauberin zu holen, konnte der Mensch aufwachen und verschwinden … Aber ich muß sie holen! So zielstrebig wie der junge Mann nach Süden lief, konnte er nur einen Grund haben. Er wollte nach Liosliath, der Stadt der Elfen. Wenn der Stein erst dort war, konnte er seine Gefährtin nie wieder auslösen! Hilflos sah er sich um. Plötzlich hörte er das Sirren hauchzarter Flügel. Ein anderer Dhraghonyie! Er kam direkt auf ihn zu. »Ceud mil failté! – Wohin des Weges?« fragte er freundlich. Er schluckte und sagte: »Ich … ich bin in einer Notlage, Freund.« »Oh!« meinte der andere mitfühlend. »Kann ich dir helfen?« Er nickte eifrig. »Weißt du, ich muß diesen jungen … Edelmann begleiten, um, wenn irgendeine Gefahr droht, Hilfe vom Schloß holen zu können.« Der Dhraghonyie hörte ihm aufmerksam zu. »Droht ihm denn eine Gefahr?« fragte er ernst. Er nickte. »Ja, er ist … schwer krank. Ich muß zum Schloß! Er will einfach seine Wanderung nicht aufgeben. Er will seine Krankheit nicht wahrhaben. Deshalb ist er auch allein unterwegs. – Er weiß nicht einmal etwas von mir!« »Was kann ich tun?« Er atmete innerlich erleichtert auf. »Folge ihm, wohin er auch geht. Laß dich aber nicht sehen! Leg mir eine Spur, damit ich den alten Lord herführen kann.« Der Dhraghonyie nickte zustimmend. »Beeil dich, Freund. Er sieht wirklich nicht sehr gesund aus!« Aber er war schon fort. Khaly zuckte die Schultern. Ein merkwürdiger Kerl! Nun, er hatte versprochen, ihm zu helfen,
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also würde er es tun. Neugierig betrachtete er den schlafenden Menschen. Für einen Edelmann sah er ziemlich mitgenommen aus. Seine Züge … sie zeugen von adeligem Blut … Es war schließlich nicht an ihm, zu beurteilen, ob er aussah wie ein Lord oder nicht. »Ach, da ist er ja!« hörte er Hagith rufen. Kurz darauf war er von seinen Freunden umringt. Er erzählte ihnen, was vorgefallen war. Hagith runzelte die Stirn. »Seltsame Geschichte«, meinte er. »Ich habe versprochen zu helfen. Ich muß mein Versprechen halten«, gab Khaly zu bedenken. »Von welchem Schloß ist er denn?« fragte einer der anderen. »Hier in der Gegend gibt es kein Schloß.« Khalys Freunde nickten zustimmend, und Hagiths Züge verfi nsterten sich, als er feststellte: »Es gibt nur Dun na h-Eoin!« Die anderen verstummten erschrocken. Khaly schüttelte den Kopf. »Aber in Dun na h-Eoin gibt es keine Dhraghonyies«, widersprach er. »Da hat er recht!« Hagith blickte auf den schlafenden jungen Mann hinab. »Ja, hat er …« murmelte er gedankenverloren.
∞ Unruhig scharrte er mit seinem mächtigen Drachenschwanz über den glatt gescheuerten Fels. Die Spitze zuckte nervös wie bei einer gereizten Raubkatze. Die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, schien für ihn verloren zu sein. Er spürte, daß etwas geschehen würde und er wußte, daß alle anderen es auch fühlten. »Lazzard!« hörte er eine jugendliche Stimme einige Felsen tiefer. »Sieh! Dort kommen Einhörner!« Er blickte in die Richtung, in die der junge Drache deutete. Zunächst konnte er in dem dämmrigen Licht nichts erkennen. Dann lösten sich die anmutigen Silhouetten von mindestens zwanzig Einhörnern aus dem aufsteigenden Nebel. Ein stolzer Hengst trat mit hoch erhobenem Haupt hervor, so daß sich die
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Strahlen der untergehenden Sonne in seinem Horn fi ngen und es erglühen ließen. »Ceud mil failté!« grüßte er. Seine Stimme war klar und voller Kraft. Würdig senkte er das Horn zu Boden, um Lazzard zu ehren. »Seid Ihr auch Uns tausendfach willkommen. Was ist Euer Begehr?« erkundigte sich der alte Drache formell. »Wir sind einen langen Weg gekommen. Jeder von uns. – Aus Boglach, von der Haeth, dem Aescbourne und aus den Cobhans – mich selbst führte der Weg aus Lios nach Glendaloch. Alle wurden wir getrieben von einer unbestimmbaren Befürchtung, die uns beunruhigte. Wir hofften, Ihr könntet uns in Eurer Weisheit sagen, was uns offenbar bedroht.« Lazzard hatte es geahnt! Ehe er antworten konnte, tönte ein neuer Ruf zu ihnen. »Elfen!« Aus Osten hallte das nächte Wort. »Kobolde!« Und noch eine andere Stimme rief: »Trolle!« Kurz darauf standen die Abgesandten aller Arten auf der Lichtung. Alle erzählten die gleiche Geschichte. Alle Augen waren voller Hoffnung auf ihn gerichtet. Es schmerzte ihn, sie enttäuschen zu müssen. »Wir danken Euch für Euer Vertrauen …, aber die Zeiten wandeln sich. Wir haben auch keine Erklärung für die Spannung. Wir werden wissen, was geschehen wird, wenn es uns offenbart werden soll. Ihr seid eingeladen, hier auf diesen Augenblick zu warten und Euch von Eurer strapaziösen Reise zu erholen.« Formell nahmen alle die Einladung an. Dann begannen sie erregt zu diskutieren und zu spekulieren, was sich wohl auf sie zubewegte.
∞ Fuathas durchmaß das mit Fackeln erleuchtete Zimmer immer wieder. Er hatte nach Aogail schicken lassen, doch er war nirgends zu fi nden. Das konnte nur bedeuten, daß er den
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Dieb noch immer nicht gestellt hatte! Wie ist es nur möglich, daß ein Mensch sich scheinbar in Luft auflösen kann?! Fuathas blieb abrupt stehen. Und wenn der Dieb kein Mensch war? Vielleicht hat ein Elf den Stein gestohlen oder der Kobold, dem Boadicea den Kristall abgekauft hat … Er öffnete die Tür, um Aogail selbst zu rufen. Da hörte er, wie sich zwei Stimmen leise unterhielten. »Er macht sich immer mehr zu einem Narren!« »Ja, zuerst kann ein Tinker hier eindringen, und dann kann ihn nicht einmal die Drachenrittergarde fangen!« »Ha, ha! Das ganze Land lacht über ihn! Wahrlich, ein großartiger Zauberer, der sich von einem gewöhnlichen Dieb bestehlen läßt!« Fuathas lief rot an vor Zorn. Aber er war nicht in der Stimmung, diesen Schwätzern ihre Zungen herausreißen zu lassen. Er wollte das Blut des Diebes! »Ein Kopfgeld!« überlegte er. Doch welche Beschreibung wollte er geben? – Schließlich konnte er nicht jeden, der verletzt war – Aogail hatte gesagt, der Dieb wäre verwundet – in die ohnehin überfüllten Kerker werfen bis er den wahren Schuldigen in seiner Gewalt hatte. »Tinker?« Er erinnerte sich an das Gespräch. Richtig, vor wenigen Tagen war Lugnasard. In Caerdale waren bestimmt auch dieses Jahr Tinkers gewesen. »Also gut, Bastard! Ich kriege dich!«
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Drittes Kapitel »Ja, ein furchtbares Ungeheuer war es! Es zerstörte das ganze Dorf und zerfetzte jeden, den es in die todbringenden Klauen bekam! Es war entsetzlich! Nur wenige sind entkommen – auch Madawcs Leute …« Der Erzähler senkte vielsagend die Stimme. »Laufen können die!« brüllte ein grobschlächtiger Klotz von einem Mann. In seinen blutunterlaufenen Augen stand die Gier nach Geld. »Das wird ihnen nichts nützen!« donnerte er triumphierend. »Wir kriegen dieses Volk!« »Ja!« stimmten ebenso fi nstere Kerle ihrem Anführer zu. Sie bemerkten den kleinen Jungen nicht, der ihnen zugehört hatte und nun wie von Furien gehetzt in Richtung Wald lief. »Auf in die Cobhans!« brüllte der Anführer und seine Bluthunde johlten. Donn zitterte am ganzen Leib. Er konnte selbst kaum fassen, was er sagte. »… Aodhan hat Fuathas den Stein gestohlen … Sie jagen ihn. Fuathas hat ein Kopfgeld ausgesetzt! – Wenn sie ihn kriegen, werden sie ihn umbringen!« Die anderen hörten ihm entsetzt zu. Madawc wandte sich ab und schloß die Augen. Ihre Hand fuhr zu dem Beutel an ihrem Gürtel. Der Bergkristall lag schwer in ihm. Hätte sie ihn nur Feochadan gegeben! »Haben sie seine Beschreibung?« Donn schüttelte den Kopf. Tränen standen in seinen dunklen Augen. Seine Lippen bebten, als er Madawc anklagend anstarrte. Sie drehte sich ihnen wieder zu. Wieder wirkte sie größer als sie tatsächlich war. Eine Macht ging von ihr aus, die keiner von ihnen zu bezweifeln wagte. In ihrer Stimme klang etwas Endgültiges mit, als sie prophezeite: »Dann werden sie alle Tinkers jagen, nicht nur Aodhan.« Feochadan wurde bleich. Ich bin schuld! Sie hatte diesen unseligen Bergkristall haben wollen, wegen dem er sich beinahe
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zu Tode gestürzt hatte! Dann hatte sie auch noch Eda dazu gedrängt, von Fuathas zu erzählen. – Sie hätte es wissen müssen! Sie hätte ihn davon abhalten können! Was sollte sie jetzt tun? Was sollte sie tun?!
∞ Die Dhraghonyies folgten dem Menschen unbemerkt. Hagith zweifelte noch an ihrer Mission, aber Khaly hatte schließlich ein Versprechen gegeben … Aodhan fühlte sich furchtbar. Irgendetwas zehrte an seinen Kräften, mehr als die Wunde oder sein Hunger. Er spielte mit dem Gedanken, den Kristall doch zu bitten, ihm Linderung zu verschaffen, verwarf ihn aber wieder. Lustlos kaute er auf einer muffig schmeckenden Wurzel herum. Er wußte, sie war nahrhaft, jedoch was half das? Sie schmeckte dadurch um keinen Deut besser! Die Sonne kletterte höher und höher. Die trällernden Lerchen hatten Mühe mitzuhalten. Sie flogen so hoch am wolkenlosen Himmel, daß er sie kaum noch sehen konnte. Der Weg, den er eingeschlagen hatte, verlief am Rande eines Waldes. Die Bäume warfen kühlende Schatten, während über den Wiesen neben ihm die Sonne die Luft zum vibrieren brachte. Der Bach plätscherte immer noch neben ihm her. Da sie nicht mehr höher steigen konnte, versuchte die Sonne nun, das Blätterdach zu durchdringen, um mit dem Wasser des Baches zu spielen. Belustigt beobachtete er ihr Unterfangen, bis bunte Kreise vor seinen geblendeten Augen tanzten. Unwillig gestand er sich ein, daß nicht nur das Licht daran schuld war. Ein Ziehen breitete sich seit dem Morgen in seinem Kopf aus, das mal schwächer, mal drängender wurde. Der Bach wurde breiter. Sein Gurgeln lauter. Das Wasser traf auf hartnäckige Felsen und spritzte schäumend auf.
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Er mußte bald an der Haraleah, einem den Cobhans vorverlaufenden Gebiet, sein. Der Bach würde in den Bourne fl ießen, den er überqueren mußte. Doch das würde ihm an der Bromford nicht schwerfallen. Am nächsten Morgen würde er sie erreichen. Die Sonne verschwand am Horizont. Er war überrascht, wie schnell der Tag vergangen war. Einige Vögel riefen der Sonne ihren Gruß nach, dann sang nur noch der Bach. Wind spielte dazu in den Wipfeln der Bäume und im Gras. Erschöpft sank er zu Boden. Er war zu müde, um die unzähligen Farben am Himmel recht würdigen zu können. Nach der einen Nacht hatte Aodhan den Kristall nicht wieder angerührt. Unsicher glitt seine Hand zu dem Beutel, in dem er ruhte. Er lag warm in seinen Fingern. Aodhan bildete sich ein, er wäre schwerer geworden. Das ist Unsinn. – Unsterblichkeit … Ein Stein, der Unsterblichkeit verheißt. So etwas Dummes konnte sich auch nur Fuathas ausdenken! Der Stein hatte ohne Zweifel Magie, aber machte er deshalb unsterblich? Aodhan seufzte und steckte ihn zurück. Er war zu müde, um zu denken und sein Kopf schmerzte höllisch. Hagith glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er den roten Kristall in den Händen des Menschen erkannte. »Khaly! Sieh dir das an!« Die anderen kamen mit dem Gerufenen. Sie staunten ebenso wie er. »Ich glaube, wir sollten etwas unternehmen!« meinte Hagith mit tadelnder Stimme, als sie immer noch mit offenstehenden Mündern den Kristall anstarrten, der mit jedem Atemzug des Menschen einen winzigen Bruchteil größer wurde. »Dein seltsamer Freund hat dich belogen«, stellte Hagith sachlich fest. Khaly nickte betäubt. Er konnte nicht fassen, daß einer aus ihrer Art mit Dun na h-Eoin zu tun hatte! »Wir … wir müssen einen falsche Spur legen!« stotterte er. »Guter Einfall! Außerdem muß jemand nach Glendaloch. Die Drachen müssen kommen!« Die kleine Gruppe stob ausein-
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ander. Ein Teil flog den Weg zurück, den sie gekommen waren, der andere entschwand in Richtung Drachenland und Hagith blieb bei dem Menschen.
∞ Für Madawc gab es jetzt nur noch einen sicheren Platz: Liosliath! Sie waren sofort nach Donns Bericht von den Kopfgeldjägern aufgebrochen und vermieden von nun an alle oft befahrenen Wege. Jedes laute Geräusch ließ sie zusammenfahren. Hinter jedem Busch erwarteten sie eine Horde Halsabschneider. Feochadan wagte nicht, ihre Mutter anzusehen. Sie glaubte, Madawc würde ihre Schuld augenblicklich erkennen. Sie waren die Nacht hindurch gefahren und hielten auch bei Morgengrauen nicht an. Morgengrauen, welch seltsam schreckliches Wort! Voller Scham mußte Feochadan sich eingestehen, daß sie mehr Angst um Aodhan als um die Gruppe hatte. Plötzlich blieben die Wagen stehen. Erschrocken riß sie den Vorhang zurück, der das Innere des Wagens vom Bock trennte. Brads hinteres Rad war gebrochen. Ungeduldig ritt Madawc auf und ab, während die anderen ein neues Rad an den Wagen bauten. Alles verlief in einer unheimlichen Stille. Jeder lauschte auf etwaige Verfolger. Plötzlich zerriß der klagende Schrei eines Käuzchens die nachmittägliche Ruhe. Madawc zuckte sichtlich zusammen. Ein furchtbares Omen … Ein Käuzchen am Tag bedeutet den sicheren Tod für jemanden. »Ban!« brüllte Madawc unerwartet. »Führe du sie nach Liosliath! Feochadan! Nimm ein Pferd und folge mir!« Verwirrt tat sie, was ihre Mutter verlangte. Ihre Unsicherheit wuchs, als sie erkannte, wohin sie ritten – zurück nach Caerdale!
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Der stolze Einhornhengst stand neben dem hochgewachsenen Elfen. Seine tiefblauen Augen starrten ebenfalls die bizarren Felsformationen hinauf. Wann würde ihnen der weise Lazzard sagen, was geschehen sollte? Er war sicher, daß er es genauso wenig wissen wollte wie er selbst. »Einige Fragen blieben besser unbeantwortet«, murmelte der Elf, doch es war dem feinen Gehör des Einhorns nicht entgangen. »Sehr wahr«, erwiderte es. »Jedoch, wer sollte bestimmen, welche Fragen ungestellt zu sein haben? Ihr?« Blyann fühlte sich beleidigt, obwohl er wußte, daß das Einhorn recht hatte. Er war anmaßend gewesen. Seufzend blickte er sich um. Alles schien so friedlich … Die Sonne lächelte freundlich auf sie herab. Sie Gesandten saßen bunt durcheinander gewürfelt in ihrem warmen Licht und unterhielten sich leise. Der Elf bemerkte einen Kobold, der etwas abseits stand. Sein schrumpeliges Gesicht war grimmig – und irgendwie … wissend? Blyann näherte sich ihm neugierig. Der Kobold war ziemlich klein und stand auf krummen dürren Beinen, die wahrscheinlich ob des überdimensionalen Bauches ihre säbelartige Form erhalten hatten. Ein stacheliger feuerroter Bart bohrte aus den lederigen Falten seiner Züge. Hinter unglaublich buschigen, ebenfalls roten Augenbrauen starrten ihn plötzlich grünstechende Augen an. »Was ist?« Der Kobold klang gereizt. »Oh, nichts! – Vergebt mir meine Aufdringlichkeit. Ich … äh … ich sah Euch abseits stehen und dachte, … Ihr wünschtet vielleicht Gesellschaft?« Blyann setzte sein unschuldigstes Lächeln auf, aber der Kobold blieb grimmig. »Falsch gedacht«, schnauzte er. »Ich will meine Ruhe!« Blyann verbeugte sich galant. »Wie Ihr wünscht!« Er zog sich zurück, doch nicht zu weit. Der hastige Blick des Kobolds, der prüfte, ob er auch wirklich verschwand, hatte seine Neugier noch mehr geweckt.
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Blyann ahnte nicht, daß sein Verdacht tatsächlich begründet war. Hinter den kleinen grünen Augen arbeitete es fieberhaft. Sollte dieser Elf etwas bemerkt haben? Seine Züge waren so verdammt ebenmäßig, jede Frage glitt von ihnen ab. Er konnte nichts in ihrer marmornen Schönheit lesen. Sart wußte, er mußte vorsichtig sein … sehr vorsichtig!
∞ Khaly und seinen Freunde gelang es bis zur Dämmerung des neuen Morgens die Spur, die sie gelegt hatten, zu verfälschen. Sie waren auf dem Weg zurück zu Hagith, als sie unvermutet auf eine Gruppe ziemlich fi nsterer Reiter trafen. Ihr Führer hockte am Boden, um nach Spuren zu suchen. Schon in seiner zusammengekauerten Stellung war er eine imposante Gestalt, doch als er sich aufrichtete und mit blutunterlaufenen Augen die Umgebung absuchte, wichen die Dhraghonyies beeindruckt zurück. Er schnaubte und wischte sich mit der Pranke über das fleischige Gesicht. In einer Behändigkeit, die man seinen Körpermassen nicht zugetraut hätte, sprang er auf sein Pferd, das erschreckt wieherte. Er deutet nach Süden. »B r o m f o r d !« brüllte er und hieb dem verängstigten Pferd seine Hacken in die Flanken. Die anderen taten es ihm johlend nach. Wie die Wilde Jagd brachen sie durch das Unterholz. »Schnell! Schnell zu Hagith!« rief Khaly und flog so geschwind er konnte. Es gelang ihnen, die Reiter hinter sich zu lassen. Khaly überlegte, wie er die Aufmerksamkeit des Menschen erlangen sollte, um ihn warnen zu können. Er stoppte abrupt, so daß die nachfolgenden Dhraghonyies in ihn hineinflogen. Der Lagerplatz war leer, und auch von Hagith fehlte jegliche Spur!
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»Psst!« hörte Khaly ein leises Zischen. Suchend sah er sich um. Etwas glomm verhalten zwischen den Blättern eines nahen Busches, dann tauchte Hagith auf. »Wo ist er?« flüsterte Khaly in tonlosem Entsetzen. »Da kommen …« »… Reiter, ich weiß«, vervollständigte Hagith. »Woher …?!« Hagith schmunzelte über Khalys erstaunte Züge. »Von ihm. – Ja, der Mensch hat sie gehört!« Khaly schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich!« Hagith nickte. »Er hat auch nicht die Reiter gehört, sondern die Häher, die ihr Kommen ankündigen!« Anerkennend hob Khaly die winzigen Augenbrauen. Diese Aufmerksamkeit kannte er nur von Wildtieren, Waldläufern und magischen Wesen. »Aber, wo ist er?« Hagith lächelte. »Na, da!« Khaly folgte mit den Augen seinem weisenden Arm und konnte es kaum fassen, als er den Menschen direkt unter sich erblickte. Irgendwie schien er eins zu sein mit seiner Umgebung. Erst jetzt, als ihn Hagith auf ihn stieß, konnte er ihn sehen. Er hatte schon die ganze Zeit so dagestanden und gelauscht, ob die Reiter näher kamen. Khaly sah, wie er zitterte, aber er wußte nicht, ob Angst oder Schwäche der Grund dafür war. Er sah den fieberigen Glanz in seinen dunklen Augen, die forschend ins Dickicht starrten. Der Anführer ritt an ihm vorbei, ohne seine Anwesenheit auch nur zu ahnen. Die anderen achteten nicht auf ihre Umgebung; sie folgten dem Riesen blind. Erleichtert sank der Mensch zu Boden, als seine Verfolger im Unterholz verschwanden. Doch in seinem Unterbewußtsein blieb eine Unruhe. Sie sind auf meiner Spur. Über kurz oder lang würden sie ihn stellen. Er hatte keine Waffe, nur seinen Dolch. Damit würde er sich kaum verteidigen können. Khaly las in seinen Zügen ein Aufflammen von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Gern hätte er ihn getröstet, aber es war besser, wenn der Mensch von ihnen nichts wußte …
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Der winzige Lichtpunkt wäre Aogail beinahe entgangen, als er flackernd im unsteten Licht des Morgens in Boadiceas Fenster verschwand. Also doch! Sein Verdacht war berechtigt! Sie hatte den Stein stehlen lassen! Die Nymphe würde sie zu seinem Versteck führen … Er sattelte einen der Drachen und wartete … »Liath! Liath!« Ihr sirrendes Stimmchen überschlug sich vor Freude, ihn unbeschadet zu sehen und aus Angst über ihr beider Schicksal. Er war offenbar sehr erschöpft. Sein ehemals strahlendes Glühen war nicht mehr als ein unstetes Flimmern. Seine überanstrengten Flügel versagten ihm plötzlich den Dienst. Sie schrie entsetzt auf, als er fiel. Eine weiße schmale Hand fi ng ihn auf, ehe er auf den Boden prallte. »Mein kleiner Freund«, säuselte die Zauberin. »Du bist zurück. Brav, brav, mein Lieber. – Erzähle!« Boadiceas Augen verfi nsterten sich, als Liath von den Kopfgeldjägern berichtete, die auch ihm begegnet waren. Sie konnte nicht länger warten. Früher oder später würden ihn Fuathas’ Bluthunde stellen und zerfetzen. Der Geifer troff ihnen sicher jetzt schon aus den gierverzerrten Fratzen. Sie seufzte. Ihr lag nicht daran, den Dieb zu bestrafen – nein, sie hätte ihn gern belobigt für sein Geschick. Fuathas hatte andere Pläne mit ihm … eine fi nstere Zukunft stand dem jungen Tinker bevor, und eine kurze. »Wie nah war die Meute?« fragte sie den Dhraghonyie gedankenverloren. »Wenige Stunden, Mylady. Wenn er nicht aufgebrochen ist, sind sie bald bei ihm!« Sie durfte ihre eigenen Pläne nicht vergessen. Dem Stein sollte auf keinen Fall etwas zustoßen können und niemals sollte Fuathas je wieder seine Klauen um ihn legen! Plötzlich fuhr sie herum. In der Bewegung nahm sie ihre bestickte Haube ab und ließ sie achtlos zu Boden fallen.
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Sie entkleidete sich und schlüpfte in weiche leinene Unterwäsche, um dann in ein leichtes, kunstvoll geschmiedetes Kettengewand zu steigen.
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Viertes Kapitel Aodhan lief. Sein Atem ging keuchend. Schweiß rann ihm über das Gesicht und in kleinen Bächen über den Rücken. Seine Kleider waren naß und klebten an seinem Körper. Die Muskeln waren müde und schmerzten bei jeder seiner Bewegungen. Weiter … Er mußte weiter. Seit über einer Stunde lief er in leichtem Trab. Die Begegnung mit den Kopfgeldjägern hatte ihn aufgeschreckt. Er wagte nicht, sich Ruhe zu gönnen oder sein Bein zu schonen. Er wußte nicht, wie er den Schmerz aushielt. Er versuchte, ihn aus seinen Gedanken zu verbannen. Der Himmel über ihm war verhangen. Eisiger Wind fuhr ihm ins Gesicht, aber er konnte das fiebrige Glühen nicht kühlen. Aodhan fühlte, sie waren in der Nähe. Sie wollten ihn! Fuathas muß sich ziemlich in Unkosten gestürzt haben, daß er so viele Schergen werben konnte … Mit jedem weiteren schmerzhaften Schritt wurde die Gewißheit größer, daß sie ihn bekommen würden. Die Geräusche um ihn klangen dumpf. Alles schien weit weit entfernt. Die Luft sickerte träge in seine Lungen, zu träge, um seinen Mangel auszugleichen. Ihm war furchtbar heiß. Wankend blieb er stehen. Seine Knie zitterten vor Anstrengung. Ein dunkler Druck lag auf seinen Schläfen. Er versuchte sich zu konzentrieren, aber selbst das Denken war anstrengend. Plötzlich hörte er johlende Stimmen. Banditen? Wem sie auch gehörten, er versteckte sich besser. Er tauchte in eine Buschgruppe ein und blickte durch die Blätter geschützt nach Norden. Am Horizont konnte er dunkle Umrisse ausmachen, die rasch näher kamen. Wild aussehende Männer jagten auf trophäengeschmückten Pferden heran. Einen hatte er schon einmal gesehen an diesem Tag. Voller Grauen erinnerte er sich an den brutalen Blick der blutunterlaufenen Augen. Die Kerle lachten und grölten sich Gemeinheiten zu. Ein jüngerer Mann blieb zurück.
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»He, was ist mit dir Breandan? Komm schon, sonst kriegen wir den Bastard nie!« brüllte ihm der Anführer zu, doch Breandan zügelte sein Pferd und sah sich forschend um. Aodhan drückte sich noch tiefer auf den Boden. Breandan sprang vom Pferd und betrachtete das Gras und den Staub sorgfältig. Verdammt, fluchte Aodhan innerlich. Geh schon! »Breandan! Was ist jetzt? Hast du ihn etwa?« Die anderen lachten höhnisch. Der Angerufene stand nun zum Greifen nahe neben Aodhan – und er sah ihn nicht. »Nein!« brüllte Breandan zurück, jedoch ganz überzeugt schien er davon nicht zu sein. »Dann beeil dich, Mann!« Die Gruppe ritt weiter, während Breandan zögerte. Aodhan kauerte neben ihm. Sehnsüchtig blickte er zu Breandans Pferd. Ich habe nichts mehr zu verlieren! Lautlos sprang er den Jüngling von hinten an. Überrascht fuhr der herum. Aodhan tastete nach seinem Messer. Endlich spürte er seinen kühlen Griff. Doch ehe er zustechen konnte, hatte Breandan ihn abgeschüttelt. Hart schlug Aodhan auf. Sirrend peitschte das Schwert des Kopfjägers um Haaresbreite an ihm vorbei in den staubigen Boden. In unglaublicher Geschwindigkeit war Aodhan wieder auf den Beinen. Mit Mühe parierte er mit dem Messer einen Schlag und drang auf den unerfahrenen Breandan ein. Dieser verlor durch Ungeschick sein Schwert. Mit bloßen Fäusten stürzte er sich nun auf Aodhan. Er tauchte unter Breandans Pranken weg, mußte aber einen rabiaten Tritt in die Rippen einstecken, der ihm den Atem raubte. Breandan erkannte seine mißliche Lage und ließ sich auf ihn fallen. Er war mindestens doppelt so schwer wie Aodhan! Verbissen preßte er ihn zu Boden. Seine Augen blitzten. Sein Atem ging stoßweise. »Hab‘ ich dich!« brachte er triumphierend zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Aodhan starrte ihn schweigend an. Etwas Hartes drückte in seinen Rücken.
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Der Schwertknauf! Unendlich langsam umfaßten seinen Finger den Griff. Mit ungeheurer Wucht riß er das Schwert nach oben und traf Breandan mit der Breitseite am Schädel. Benommen sank der Kopfgeldjäger zur Seite. Aodhan konnte sich nur mühsam von der Last befreien. Dann rannte er, das Schwert noch immer fest umklammert haltend, zu dem Pferd. Mit einem Satz saß er im Sattel. Angstvoll wieherte das Tier auf und preschte los. Die anderen waren schon weit voraus, aber das Wiehern erregte ihre Aufmerksamkeit. »Das ist nicht Breandan!« »Das ist der Dieb! I h m n a c h !« Brüllend nahmen sie Aodhans Verfolgung auf. Er hörte das Donnern der Hufe immer näher kommen. »Bitte! Lauf!« flehte er sein Pferd an. Es rannte, als hätte es ihn verstanden, wie um sein eigenes Leben. Er kämpfte, um dem Verlangen, die Augen zu schließen, widerstehen zu können. Sein Kopf dröhnte. Ihm war schlecht. Krampfhaft krallte er sich an dem schweißnassen Hals des Pferdes fest. Er spürte eine Bewegung neben sich und erwartete einen tödlichen Schwerthieb. In weiter Ferne hörte er ein grauenhaftes Kreischen und einen angstvollen Schrei. Aber es war nicht mehr wichtig … nicht mehr wichtig … Die Dunkelheit verschlang alles …
∞ Gleichmäßiges Schaukeln verstärkte Aodhans Benommenheit. Er roch nasses Fell. Als er die Augen zögernd öffnete, sah er Schaumflocken an weitgeblähten Pferdenüstern. Ächzend richtete er sich auf. Er war furchtbar müde … Ihm war abwechselnd heiß und kalt, und die Übelkeit erfaßte ihn immer stärker. Matt blickte er sich um. Das Pferd war zurück in die Cobhans gelaufen. Wo er genau war, wußte er nicht.
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Dunkle Wolken begleiteten sie schon seit einer Weile. Ihre Ränder leuchteten in unheilverkündendem Gelb. Diese Verfolger konnte er nicht abschütteln. Er lächelte schwach. Er hatte er geschafft! Ich bin ihnen entwischt! Zu gerne hätte er ihre Gesichter gesehen, als sie den Staub schlucken mußten, den die Hufe seines frisch gestohlenen Pferdes aufgewirbelt hatten. Der Wind wurde aufdringlicher. Er riß an der Mähne des Pferdes und zerzauste seinen Schweif. Der eisige Atem fraß sich durch Aodhans ledernes Wams und ließ seine Zähne aufeinanderschlagen. Seine Augen brannten vom Sand, den der Sturm in sie rieb. Halb blind überließ er es dem Pferd, einen Weg zu fi nden. Plötzlich öffnete der Himmel seine Pforten. Vom Wind gepeitscht jagten kalte Tropfen zu Boden. Das Pferd zögerte. Donner grollte drohend. Das Tier warf sich gegen den Orkan. Aodhan lag mehr auf seinem Rücken, als daß er saß. Er machte sich nicht einmal die Mühe, sich an dem Pferd festzuhalten, oder sich vor den Hieben des Sturms zu schützen. So traf ihn dessen volle Wucht. Der Druck preßte ihm die Luft aus den brennenden Lungen. Er rang nach Atem. Langsam wich die Apathie von ihm. Er kehrte in die Realität zurück. Ein Blitz. Das Land erbleichte unter seinem Licht. Die C o b h a n s ! Erst jetzt drang es in sein Bewußtsein. Blitze und Donner maßen sich in ihrer Kraft. Wenn ich mich nur orientieren könnte! Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er, etwas Vertrautes in der unwirtlichen Felslandschaft zu erkennen. Hier jedoch war er nie zuvor gewesen.
∞ Hagith, Khaly und den anderen Dhraghonyies saß neben der Kälte noch der Schock in den winzigen zerbrechlichen
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Knochen. Sie hatten nicht damit gerechnet, daß der junge Mann den Kopfgeldjäger angreifen würde. Sie hatten auch nicht mit dem furchtbaren Drachenritter gerechnet, der seine Verfolger gestoppt hatte. Hagith erschauerte bei der Erinnerung an das scheußliche Krachen, als sich die mächtigen Kiefer des versklavten Drachens um die zappelnden Körper der Kopfgeldjäger für immer geschlossen hatten. Sie waren alle so entsetzt gewesen, daß sie beinahe den Träger des Steins verloren hätten. – Hagith kletterte vorsichtig aus ihrem Versteck in der Satteltasche. Der Regen hatte aufgehört. Das Pferd ruhte sich grasend aus. Mißtrauisch untersuchte Hagith den Himmel. Es schien, als sei ihnen der Drachenritter nicht gefolgt. Warum hat er dem Menschen geholfen?
∞ Blyann ließ den Kobold nicht aus den Augen. Der fühlte sich sichtlich unwohl unter seinem forschenden Blick. Er wich dem Elf aus, so oft er konnte. Blyann hatte immer noch den Eindruck, daß der Kobold etwas vor ihnen verbarg. Ob er wußte, was geschehen würde? Warum sagt er es dann nicht? Blyann schüttelte über sich selbst den Kopf. Es gab Zeiten, da hatte er die Gedanken eines unerfahrenen Jünglings! Dabei sollte er in zwei Jahrhunderten doch weise geworden sein – oder zumindest besonnener. Woher sollte ein Kobold wissen, was die Zukunft brachte, wenn es nicht einmal der weise Lazzard wußte? Er schmunzelte, doch sein Lächeln verblaßte, als er darüber nachdachte, welche Erfahrung er kurz zuvor gemacht hatte. Unsicher blickte er zu den Drachenfelsen auf.
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Die Sonne neigte sich gen Westen. Das Dröhnen in seinem Kopf verhinderte jeden Gedanken. Feuchte Nebelschwaden erhoben sich aus den noch immer tropfnassen Gräsern und Wäldern. Die Sonne hatte das Land nicht trocknen können bevor sie unterging. Sie hatte auch die klamme Kälte aus seinen Knochen nicht vertreiben können. Eine steile, lehmige Wand baute sich vor ihm auf. Er stieg ab. Unsicher hielt er sich an dem Pferd fest. Er mußte es aufgeben: Es würde sich nur die Beine brechen bei dem unberechenbaren Boden. Er seufzte bedauernd und gab ihm einen aufmunternden Klaps. »Lauf nach Haus’!« trug er dem davontrabenden Pferd auf. Dann wandte er sich der Steilwand zu. Entschlossen begann er den unangenehmen Aufstieg. Der glitschige Lehm bot kaum Halt, so daß er immer wieder abrutschte. Nach einer Ewigkeit, so schien es ihm, erreichte er endlich die Kuppe. Ein kaum beschreibliches Bild offenbarte sich seinen staunenden Augen. So weit war er nie in die Cobhans vorgedrungen. »Cobhans?! Wo wir waren, das waren Hügel!« murmelte er überwältigt. Sein Blick glitt über unendliche Reihen von riesenhaften eisbedeckten Gipfeln, die sich bis zum Horizont und noch weiter erstreckten. Einer war höher und schöner als der andere. Unwillig riß er sich von dem wunderbaren Anblick los. Dieses war die falsche Richtung. Er mußte zurück. Angewidert sah er den Lehmhang hinunter. Nein, davon hatte er genug. Es mußte einen leichteren und angenehmeren Weg nach unten geben. Er sah sich um. Der Wind vertrieb das Pochen in seinem Schädel ein wenig. Ganz in seiner Nähe brach ein felsiges Skelett durch die lehmige Haut, das sanft dem Tal zugeneigt war. »Na, also.« Zielstrebig ging er los. Nach kurzer Zeit bemerkte er, daß er sich in der Entfernung verschätzt hatte. Es schien, als käme er den Felsen überhaupt nicht näher. Die Sonne hatte schon den Horizont erreicht. Er wußte, daß es gefährlich war, weiterzugehen und zögerte. Er kannte das Land hier nicht.
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Im Dunkeln den Abstieg zu wagen ist tollkühn. Über das Brausen des Windes hörte er plötzlich ein hohes Sirren. Ein Drache, vermutete er … Er zuckte zusammen und fuhr herum. Riesenhaft und fast schwarz stand er am Himmel. Undeutlich konnte er einen Reiter auf seinem Rücken ausmachen. Aodhans Herz hämmerte wild. Er hatte keine Zeit zum Denken! In halsbrecherischer Geschwindigkeit sprang er die Felsen hinunter. »Bleib stehen!« brüllte der Drachenritter gegen den Wind an. Doch Aodhan rannte weiter, ohne darauf zu achten wohin! Plötzlich versperrte ihm eine beinahe senkrechte Felswand den Weg. Keuchend blieb er stehen und sah sich gehetzt um. Seine Lungen stachen. Sein Bein protestierte gegen die Flucht und rebellierte im Schmerz. Ein Kreischen, direkt hinter ihm. Er schluckte schwer und wandte sich langsam um. Grüne Augen mit rautenförmigen Pupillen starrten ihn an. Der Drachenritter sprang aus dem Sattel. Lauernd blickte er ihm entgegen. Der Drache fauchte unterdrückt. Im seinen Augen glomm Haß. Haß auf seinen Reiter, Haß auf ihn. »Ergib dich, Dieb!« forderte die metallisch klingende Stimme durch das geschlossene Visier. Aodhan preßte sich noch dichter an die Felswand, die seine Flucht verhindert hatte. Der Drache kreischte schrill. Siegessicher kam der Gepanzerte auf Aodhan zu. Der Drache wich etwas zurück und flatterte mit den gewaltigen ledrigen Schwingen. Jetzt, schoß es durch Aodhans Kopf, und er rannte los. Böse fauchte der Drache auf. Ehe ihn sein Reiter erreichen konnte, schwang er sich in die Luft und jagte den Flüchtenden. Aodhan spürte seinen heißen Atem im Nacken. Er hörte kraftvolle Kiefer wenige Zoll breit über ihm zusammenschnappen. Eine Schwinge streifte ihn und brachte ihn fast zu Fall. Er strauchelte, konnte sich aber fangen. Plötzlich packten ihn messerscharfe Klauen an der Schulter und hielten ihn fest.
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Er verlor den Boden unter den Füßen. Verbissen kämpfte er um sein Bewußtsein. Halb wahnsinnig vor Schmerz griff er nach seinem Dolch. Ohne zu wissen, wo er den Drachen traf, stach er auf ihn ein. Das darauf folgende Brüllen klang eher nach Wut als nach Schmerz. Der Griff lockerte sich. Aodhan entglitt den Klauen, die tiefe Furchen rissen. Er fiel in die Tiefe, den Drachen im Sturzflug hinter sich wissend. Aber der Drache war zu langsam. Er konnte seinen Fall nicht aufhalten. Krachend splitterten Knochen, als er hart auf den zerklüfteten Fels aufprallte. Seine Sinne schwanden gnädig. Er fühlte eine Hand an seinem Hals. Blinzelnd versuchte er, die Augen zu öffnen. Durch einen blutigen Schleier sah er eine Gestalt, die ihm sanft über das Gesicht strich. Feochadan, dachte er und quälte sich, ihren Namen zu flüstern. Für wenige Augenblicke schwand der Schleier und er blickte in das Gesicht einer Fremden. In ihren Augen stand eine Mischung aus Gleichmut und Bedauern. Die tobenden Strudel zogen ihn wieder in ihren Bann. Hilflos kämpfte er gegen sie an, nur, um noch tiefer in ihnen zu versinken.
∞ Sie kniete neben ihm und durchsuchte seine Taschen. In einem Beutel fand sie den Stein und nahm ihn an sich. Sie zögerte und betrachtete den Dieb. Er würde sterben. Die Verletzungen waren zu schwer, als daß er sie überleben konnte. Er sah sie an. Sie konnte den Schmerz in seinem Augen fast selber fühlen. Sie sollte ihm den Gnadenstoß versetzen. Boadicea erhob sich und zog ihr Schwert. Die Spitze funkelte in kaltem Trost über seiner bebenden Kehle. »Mylady!«
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Sie fuhr herum. Aogail stand hinter ihr. Sein Drache wartete gehorsam etwas abseits. »Ihr habt ihn! Gratuliere! Fuathas wird Euch sicher reichlich dafür belohnen!« Sie bemerkte den Hohn in seiner Stimme nicht, sonst hätte sie ihn auf der Stelle getötet, denn dann hätte sie gewußt, daß er ihr auf die Schliche gekommen war. So nickte sie nur förmlich. »Ich hab den Stein, laßt uns zurückkehren, Aogail.« Sie wandte sich zum Gehen. »Mylady, der Dieb! Fuathas besteht darauf, ihn zu bestrafen.« »Ihr sehr doch selbst, daß er fast tot ist.« Ihr waren Fuathas’ Foltern ein Gräuel. Aogail schüttelte den Kopf. »Ich habe Befehl, ihn dem Lord auszuliefern!« Mit einem bedauernden Blick auf den zerschlagenen Körper zuckte sie die Schultern und ging zu Duilliath, ihrem Drachen. Aogail hob den leblosen Körper des Diebes mühelos auf und warf ihn über den Sattel seines Drachens. Hagith und Khaly sahen einander hilflos an. Der Stein war wieder in der Gewalt des Bösen …
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Fünftes Kapitel Ohne zu ahnen, was sie an diesem Tag würden erblicken müssen, kletterte die Sonne über den Horizont. Lazzard beobachtete ihr Bemühen. Etwas sagte ihm, daß die Zeit gekommen war … wozu wurde ihm immer noch nicht offenbar.
∞ In Dun na h-Eoin wurde schon seit der Rückkehr Aogails und Boadiceas eifrig hantiert. Noch in der Stunde ihrer Ankunft wurden Boten in alle umliegenden Dörfer gesandt, die das Ereignis kundtaten. Und so strömten sie herbei. Schaulustige, Gaukler, Straßenhändler, Barden. Einige wären dem makabren Fest offensichtlich lieber ferngeblieben, aber Fuathas hatte ihre Anwesenheit befohlen. Ein spitzzüngiger Sänger spottete über den Magier, der sich von einem Dieb bestehlen und ihn entkommen ließ. Er verstummte jedoch schnell, als sich ihm zwei fi nstere Soldaten näherten. Etwas verloren stand die junge Frau an den Toren und schaute in das bunte Treiben. Ihr war nicht zum Lachen zumute. Dunkle Ringe lagen unter ihren großen grünen Augen, die vom Weinen gerötet waren. Ihre Wangen waren bleich und schienen hohl. Sie zuckte zusammen, als ihr jemand auf die Schulter tippte. »Mutter.« Madawc nickte nur. Sie wirkte angegriffen. Ihre Haut war durchscheinend und fahl. Sie holte tief Luft. Feochadan entging das rasselnde Geräusch nicht. »Laß uns gehen.« Gemeinsam tauchten sie in die Menge ein, die sie bald zum Turm geschoben hatte. Feochadan wich zurück. Vor den hohen Toren des Turmes bereiteten Priester und Sklaven eine Hinrichtung vor …
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Madawc wünschte so innig wie sie, daß nicht Aodhan an dem hölzernen Pentagramm stehen würde, das die Sklaven gerade aufrichteten. Die rot verhüllten Priester bestrichen die Stufen des eigens hergerichteten Podestes mit magischen Tinkturen, während sie monotone Zaubergesänge murmelten. Als das Pentagramm stand, besprachen fünf Priester auch dieses. Immer mehr Menschen drängten auf den Platz vor dem Turm. Sie interessierten sich nicht mehr für die Barden oder Tänzer; sie wurden von der Faszination des Todes angezogen.
∞ Es war sehr ruhig. Augen, die in irisierenden Farben leuchteten, starrten ins Leere. Sie sahen das Spiel der Wolken nicht mehr, das sie bis eben in seinen Bann gezogen hatte. Die Lider schlossen sich immer weiter, so als würden sie bald ganz zufallen. Ein tiefes Seufzen entrang sich seiner nichtmenschlichen Kehle. Noch einmal atmete Lazzard tief durch. Sein rautenförmiger Kopf ruhte auf einem Felsen, der so weiß war wie die schuppige Haut des Drachens. Seine Augen schlossen sich kurz. Er schnaubte unwillig, wie jemand, der wach bleiben mußte, obwohl er völlig erschöpft war und nun zwischen Pfl icht und Wunsch hinundhergerissen wurde. Er blinzelte, doch das Bild vor seinen Augen verschwamm zu einem roten Leuchten. Sein altes Herz schlug schneller. Die Vision! Das Glühen pulsierte. Ein Kristall blitzte auf. Blutrot funkelte er ihn an und lockte verheißungsvoll. »Das ist es also!« Er ließ nach den Drachen und den Gesandten rufen, die sich unter seinem Felsen versammelten. Doch ehe er dazu kam, ihnen zu sagen, was er nun wußte, erreichten vier erschöpfte Dhraghonyies den Ort. Erregt berichteten sie von dem Kristall, den der junge Mensch bei sich trug und von dem abtrünnigen
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Dhraghonyie aus Dun na h-Eoin. Lazzard zweifelte plötzlich an der Vision. Sollte sie ihm etwas anderes zeigen? »Was werdet Ihr tun?« fragte der Führer der Einhörner. Lazzard blickte ihn an. »Wir werden den Stein retten.« In großer Eile wurde ein kleiner Trupp Drachen zusammengestellt. Sie würden schneller Dun na h-Eoin erreichen als die anderen. Sie konnten die Gebirge überfl iegen. Rhyss führte sie. Lazzard mußte zurückbleiben. Er war zu alt für solche Abenteuer. Sehnsüchtig sah er den anderen nach.
∞ Das Drehen wurde langsamer. Die Nebel legten sich, die ihm chaotisch die Sicht versperrt hatten. Dafür drang nun der Schmerz messerscharf in sein Bewußtsein. Sengendes Feuer schien statt Blut in seinen Adern zu pulsieren. Er versuchte sich aufzusetzen, fiel aber kraftlos zurück. Verbissen kämpfte er sich schließlich hoch. Es war feucht und dunkel. Er roch moderndes Stroh und hörte entfernt das verängstigte Quieken einer Ratte. Vorsichtig tastete er nach seiner Schulter und zog stöhnend die Hand wieder zurück. Es war zu fi nster, um etwas erkennen zu können, und er war froh darüber. In seiner Nähe spürte er plötzlich eine Bewegung. Er wandte sich um und starrte in zwei weit auseinander stehende grüne Augen mit rautenförmigen Pupillen. Langsam senkten sie sich auf ihn herab, um dann über ihm zu verharren. Er wagte nicht, sich zu rühren. Er würde dem Drachen nie entkommen … nie.
∞ Rhyss kontrollierte die Formation und sah nach dem Sonnenstand. Es war bald Mittag. Sie hatten schon eine gute Strecke zurückgelegt. Er konnte zufrieden sein. Doch er war zu auf-
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geregt. Mein erster Auftrag … Er mußte sich würdig erweisen! Lazzard hatte ihn ausgewählt. Er durfte ihn nicht enttäuschen. Wenn er nur wüßte, was ihm bevorstand. Der Weise hatte zur Eile gedrängt. Er befürchtete, dem Kristall könnte etwas zustoßen. Dies hatte er zu verhindern. »Schneller!« trieb er die anderen an und flog als Beispiel voraus.
∞ Blyann war verwirrt. Die Dhraghonyies waren so unvermutet aufgetaucht; selbst Lazzard schien aus der Fassung gebracht … Aber nicht nur der Drache war aufgewühlt gewesen. Blyann war der erschrockene Ausdruck auf den merkwürdigen Zügen des Kobolds nicht entgangen, als die Dhraghonyies den Stein erwähnten. Was hat dieser Sart damit zu tun? Blyann zermarterte sich das Hirn. Nur gut, daß Lazzard Rhyss nach Dun na h-Eoin geschickt hat. Der junge Kämpfer würde den Stein schon sicher zurückbringen. Dun na h-Eoin? Blyann erstarrte. Caerdale! M a d a w c !
∞ Der Drache schnaubte leise. Aodhan konnte es kaum fassen. Er war Gefangener eines Drachen! Fuathas hat sie zu wahren Schatten ihrer selbst werden lassen … Er konnte den Gedanken nicht zu Ende führen, denn die Tür wurde aufgestoßen. Geharnischte stürmten herein und rissen ihn brutal nach oben. »Legt ihn in Ketten!« befahl ein blonder Hüne, der offenbar ihr Anführer war. Aodhan rang um sein Bewußtsein. Er konnte nicht stehen. Jeder Atemzug brannte wie Feuer, ob seiner zersplitterten Rippen. Alles andere schien weit entfernt. Die Stimmen und die Hammerschläge hallten dröhnend in seinem schmerzenden Kopf wider. Plötzlich blendete ihn grelles Licht!
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Eine bedrückende Stille legte sich über den Platz. Die Menge starrte gebannt auf das sich langsam öffnende Portal. Fuathas trat heraus, gefolgt von zwei Soldaten. Sie zogen an schweren Ketten. Dann erschien der Gefangene. Feochadan wandte sich schluchzend ab. Selbst den zynischen Schaulustigen stockte der Atem, als sie sahen, wie Aodhan zugerichtet war. Zwei weitere Soldaten stützten ihn. Eigentlich trugen sie ihn mehr. Seine Schulter war bis zur Brust zerfetzt. Ein Knochensplitter war durch die Haut nach außen gedrungen. Und er blutete aus zahlreichen anderen Wunden. Die Menge raunte. Sie verstummte sogleich, als Duilliath, der Drache, hinter dem geschundenen Dieb aus dem Tor trat und warnend fauchte. Die Soldaten banden Aodhan an das Pentagramm. Fuathas trat vor, um zu sprechen: »Ewigkeit!« schmetterte er. »Unsterblichkeit! – Einigkeit mit den Göttern! – Ein Geschenk der Götter. Magie, der Weg mit den Göttern zu sein. L e m n i s k a t e ! Magisches Symbol, Götterpräsent, Kristall der Ewigkeit! Hüter der Ewigkeit!« Er starrte in die Menge und wies anklagend auf die leblose Gestalt, die am Pentagramm hing. »Er hat ihn gestohlen! Er hat dieses Symbol besudelt, durch seine niedrige Gier! Er hat die G ö t t e r beleidigt!« Er atmete tief ein. Seine Augen blitzten teufl isch. »Sollen s i e ihn dafür bestrafen!« Er eilte zu einer Säule und enthüllte den Kristall. »Lemniskate! – Magie, wirke, wie die Götter es wollen!« In diesem Augenblick begannen die Priester mit einem unheimlichen Gesang. Die Melodie war so schrecklich, daß sie am Verstand eines jeden nagte und zerrte. Niemand der Zuschauer verstand, was sie sangen … hätten sie es gewußt, sie wären dem Wahnsinn verfallen. Fuathas stand vor dem Stein, die Arme ausgebreitet, als empfi nge er einen alten Freund. Sein Kopf war gesenkt.
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Er schien Instruktionen zu lauschen, welche die Götter durch den Stein sandten. Er war völlig gefangen von ihrer Botschaft.
∞ Aodhan hatte kaum etwas erkennen können; die Sonne schien ihm direkt ins Gesicht. Er hörte das wogende Murmeln vieler Stimmen und spürte Duilliaths Atem im Genick. Die Ketten rieben an seinen Handgelenken. Holz scheuerte an seinem entblößten Rücken. Die Stimmen – sie kamen näher! Nein, nur einige. Sie klangen beschwörend. Er konnte sich ihrer Anziehungskraft nicht erwehren. Ein Gefühl unendlicher Müdigkeit ergriff ihn. Schwach versuchte er, sich dagegen zu wehren, doch seine Knie gaben nach. Die Ketten zerrten bösartig an seinen Gelenken. Geräusche drangen zu ihm. Woher? Die Dunkelheit, die ihn umgab wurde tiefer – immer tiefer … Blendendes Rauschen! – Schmerzhafte Laute des Nichts marterten ihn in ihrer Intensität. Entfernt hörte er noch das rhythmische Auf und Ab des Gesanges der Priester. Nach einer Ewigkeit, so schien es ihm, änderte es sich. Das Rauschen wurde schwächer. Die Dunkelheit waberte in Farbigkeit, die durch farblose Blitze lautlos durchschnitten wurde. Plötzlich! Kein Rauschen mehr! Ruhe! Schreckliche Ruhe! Dröhnende Stille! Spannung und Angst ergriffen ihn. Er fühlte sich zittern unter ihrer Last, einer Last, die mit jedem keuchenden Atemzug schwerer auf ihn niederdrückte.
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Fuathas riß sich von dem Anblick des Steines los. Seine Züge waren hart vor Konzentration. Er schritt auf Aodhan zu. Das stumme Wispern seiner Lippen wurde lauter, bis er die übernatürlichen Silben zum Himmel brüllte. Seine zur Klaue verkrampfte Hand streckte sich nach Aodhan. Der junge Dieb wich ihr kaum merklich aus. Die zitternden Finger des Magiers zeichneten eine Rune über seinem Körper und verharrten erwartungsvoll über ihm. Kälte … schmerzhafte Kälte ließ seine Zähne aufeinanderschlagen. Sie betäubte ihn und zehrte an seiner Kraft. Es schien, als bildete sie scharfkantige Kristalle in seinen Adern, die begannen, sie bösartig zu zerschneiden. Jeder Muskel kreischte nach Wärme und verkrampfte sich, als sie verweigert wurde. Fuathas war zufrieden mit dem, war er sah. Er berührte den Tinker kurz an der brennenden kalten Stirn und wandte sich wieder dem Kristall zu. Wie es wohl ist, zu erfrieren? Sein Geist versank in den Stein, der ihm eine Antwort auf seine Frage gab, als er ihm Einblick in das Innere des Diebes bot: Berge, gigantisch! Mit strahlenden Schneekronen und vergletscherten Tälern entstanden in schmerzhafter Schönheit in seiner Einbildung. Ein endloses, in Ewigkeit erstarrtes Eismeer … Schnee begann zu fallen, leicht zunächst, doch dann wurde aus der Brise ein reißender Sturm, der die vereisten Flocken vor sich her peitschte und sie ihm ins Gesicht schlug. Der Sturm kreischte und schrie, daß man sein eigenes Wort nicht mehr hätte verstehen können. Er glaubte, taub und blind werden zu müssen. Mit aller Gewalt riß er sich von der Vision los. Sein Blick durchforschte die bleichen Züge des Tinkers. Seine schmalen Lippen schimmerten bläulich und waren aufgesprungen, wie vor Frost. Etwas ist anders …
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Fuathas ging näher. Er schüttelte ungeduldig den Kopf. Er leidet nicht! Seine Qualen sind nicht furchtbar genug, um seine Tat zu bestrafen. Der Magier warf einen kurzen prüfenden Blick auf die schweigende Menge. Sie sind Tiere! Sie müssen seine Schreie hören, um seinen Schmerz zu erkennen. Zielstrebig fuhr er fort. Vernehmlich begann er eine groteske Litanei zu rezitieren. Die unverständlichen Worte sprudelten immer schneller aus seinen Lippen hervor, daß sie zu unterschiedlichen Zisch- und Schnalzlauten zerschmolzen. Die Kristalle lösten sich auf! Das Blut pulste wieder in seinem ursprünglichen Zustand durch Aodhans mißhandelten Adern. Doch wie nach einem Schock durch Schnee, wurde die plötzliche Wärme bald unerträglich. Schweiß brach ihm aus und rann in brennenden Bächen über sein schmerzverzerrtes Gesicht und seinen zerschundenen Körper. Die salzige Flüssigkeit ätzte sich in seine halb geöffneten Augen und die nässenden Wunden. Seine aufgesprungenen Lippen wurden trocken – schließlich blutig. Das kleine Rinnsal, das sich einen Weg über sein Kinn suchte, versengte seine Haut, unter der es siedend zu brodeln begann. Fuathas mußte nicht den Kristall zur Hilfe nehmen, um den Zustand seinen Opfers abschätzen zu können … Ja, da wollte er ihn haben! Jede Faser des übel zugerichteten Körpers spiegelte sein Leiden wider! Er blickte in die Menge und sah in entsetzte Mienen. Dies ist ihre Sprache! Agonie, das war, was sie beeindruckte! Und sie sollten noch beeindruckter werden!
∞ Betäubt starrte Feochadan auf das grausame Geschehen. Stunden waren vergangen, seit die Soldaten Aodhan an das
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Pentagramm gekettet hatten. Stunden, in denen Aodhan unter vermutlich bestialischen Bännen lag, und sie konnte nichts tun, als der Magier nun einen neuen Fluch über ihn sprach. Es war ihre Schuld. Sie hätte niemals Fuathas erwähnen dürfen! Sie kannte ihn doch! Wäre Blyann nur hier! »Oh, … ’dhan!« flüsterte sie tonlos.
∞ Fuathas‘ häßliche spinnenartige Finger glitten fast liebkosend über Aodhans Hals. »Riah!« befahl er donnernd und Aodhan rang sichtlich nach Atem. Die Menge war zu entsetzt über das, was sie sah, um irgendetwas von sich zu geben, und so hallte das verzweifelte Keuchen über sie hinweg. Pfeifend schnappte er nach Luft, die ihm aber verwehrt wurde. Sein Kampf wurde schwächer. Die rasselnden Laute verebbten. Feochadans Augen waren weit aufgerissen. Nein! Das darf nicht sein Ende sein! Mehr tot als lebendig hing er in seinen Fesseln. Beinahe beiläufig wischte Fuathas’ Hand durch die Luft. Die Atmung des Diebes regenerierte sich. Gierig sog er die Luft in seine schmerzenden Lungen. Fast mißtrauisch betrachtete Fuathas den jungen Mann. Keiner der Sklaven hatte diesen Teil der Zeremonie in seinen vergangenen Versuchen je erreicht – geschweige denn überlebt! … und sie waren in besserer körperlicher Verfassung gewesen als der Tinker … Sollte er etwa … Nein, das wäre grotesk! Ein Priester reichte ihm eine Schale. Gedankenverloren trank er das kraftspendende Gebräu. Er blickte zum Himmel. Es war schon weit nach Mittag. Er hatte nicht bemerkt, wie schnell die Zeit verflossen war. Fuathas würde der Sonne das Leben des Diebes als Opfer mit zur Ruhe geben.
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Madawc schaute zu dem Pentagramm auf. Ihre Züge waren unbewegt, die steingrauen Augen weit. Der Schock stand in ihnen. Sie sahen nicht mehr, was geschah, sie blickten in eine andere Welt, die nur sie sehen konnten. Ihr Ausdruck war unbeteiligt, als sie die bildhafte Erinnerung an eine Legende gewahrten. Eine Legende von anderen Dimensionen, welche die ihre begleiteten. Dimensionen, die durch nichtstoffl iche, übersinnliche Wesen belebt wurden. Ein Wesen der ersten Welt begab sich auf eine Wanderschaft durch die anderen Dimensionen. Sie waren sehr, sehr fremd und ihm teilweise feindlich gesonnen. Und obwohl es um die Gefahr wußte, der es sich aussetzte, wenn es weiterziehen würde, drang es in die Welt der Menschen ein. Es war entsetzt und fasziniert zugleich über die Wunder dieser Dimension. Als es genug gesehen hatte, kehrte es in seine Welt zurück. Doch irgendwann später fanden Menschen seine Spuren und sie machten sich ihrerseits auf den Weg, es zu fi nden. Sie ahnten jedoch nichts von den anderen Dimensionen und erlagen ihren Gefahren. Jahrhunderte hindurch brachen Abenteurer und Magiere erfolglos auf, um zur ersten Welt zu gelangen, aber alle scheiterten an den dazwischen liegenden Dimensionen der elementarischen Reiche: der Wärme, der Luft, des Lichtes und des Wassers. Warum erinnere ich mich an diese alte Geschichte?
∞ Kaum hatte er sich etwas erholt, nahm er schemenhaft Fuathas’ Schatten vor sich wahr. Er versuchte zurückzuweichen, um ihm zu entkommen, doch die Fesseln hielten ihm stand. Er fühlte die kalten Hände des Magiers über seine Augen gleiten. Panische Angst erfaßte ihn, als er ahnte, was geschehen würde. Schmerz! Schmerz! Schmerz! Jagte es durch sein gefoltertes Gehirn. Undurchdringliches Weiß blendete seine Augen.
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Es drang bis in seine Gedanken, verdrängte sie – zerschlug sie. Nichts! Nichts … nichts … Bisher hatte er die Marter lautlos über sich ergehen lassen, doch nun schrie er, daß selbst Fuathas bis ins Mark erschüttert war. Er riß an den Fesseln, als sei er wahnsinnig geworden. Fuathas beobachtete seinen Kampf verwirrt. Es ist g a n z anders als bei den anderen Malen. Die Schreie des Diebs rissen an den überanstrengten Nerven des Magiers. Sollte ihn das erwarten?! Oder bestraft ihn der Stein tatsächlich? Er blickte kurz zu dem Kristall … war er geschrumpft? Er wirkt viel kleiner als zuvor … Fuathas wollte die folgende Stufe einleiten. Der Kristall blitzte in der Sonne. Abrupt brach das gellende Kreischen des Diebes ab. Fuathas fuhr herum. Was geschieht hier?! Blut hämmerte in Aodhans Ohren. Das Rauschen drohte, ihn taub zu machen. Der alles auslöschende Schmerz war verschwunden. Seine Gedanken kehrten zurück. Er glaubte, Regen zu hören. Leises Plätschern und Gurgeln, wie die Tropfen in einem Bach … Erleichterung erfüllte ihn. Ein Traum! Es war nichts als ein entsetzlicher Traum gewesen, aus dem er nun aufwachte. Neben ihm würde der Bourne fl ießen und sein altes Lied summen, und heute würde er Feochadan sehen, um ihr den … Nein, das ist auch nur ein Traum. Doch das Gurgeln wurde zu einem bedrohlichen Tosen. Beunruhigt versuchte er, die schmerzenden Augen zu öffnen, doch es gelang ihm nicht. Es klang, als stürzten gewaltige Wassermassen auf etwas herunter. Ein brutaler harter Aufprall. Er schluckte etwas Kaltes, Nasses – oder, schluckte es ihn?! Es drang in seine Nase, seine Ohren, seinen Mund, seinen Magen, seine Lungen! Es ließ ihm nicht einmal die Möglichkeit zu schreien Fuathas hatte die Kontrolle verloren. Der Kristall tat, was er wollte! Was sollte er tun? Dem Tinker die Kehle durch-
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schneiden, damit er nicht die Unsterblichkeit erlangen konnte? Oder zog er damit den Zorn des Steins auf sich, wenn er den Dieb bestrafte? Aodhan war übel. Alles war durcheinander. Alles drehte sich. Nichts war oben, nichts unten. Die fremde Flüssigkeit was aus seinem Körper gewichen. Langsam regenerierten sich seine Sinne. Was würde jetzt geschehen? Fuathas stand vor ihm. Er spürte seine Anwesenheit. Vorsichtig öffnete er die Augen und blickte erstaunt. Nichts und niemand war vor ihm. Nichts war unter ihm! Er schwebte. Oder fiel er?! Erschrocken suchte er nach Halt, mußte aber feststellen, daß er sich nicht bewegen konnte! Aber er spürte Bewegung! Ob das der Tod war? Nichts? Starrheit und Bewegung? Ein Funkeln blendete ihn. Er blinzelte und erkannte die Wirklichkeit: Menschen sahen stumm zu ihnen auf. Die Sonne verschwand hinter den Berggipfeln. Fuathas stand unschlüssig vor ihm. Seine Züge spiegelten seine Verwirrtheit wider. Wieder blitzte etwas im Licht der untergehenden Sonne auf. Er sah in die Richtung, aus der das Leuchten kam. Der Kristall. Er schwebte über der Säule, auf der er gelegen hatte, und … er wuchs! Die Sonne brach sich in seinen Facetten. Sie löste sie! Der Stein zerbarst in Millionen Splitter, die auf ihn zujagten. Er hörte sich schreien, als ihn der kristallene Staub traf und die Splitter in sein Fleisch drangen. Er spürte sich an den Ketten reißen. Er sah Fuathas’ ungläubiges Gesicht. Dann brach etwas über ihn herein, das unglaublich war!
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Feochadan hatte ihn aufgegeben. Er würde sterben. – Er mußte sterben nach all den Schmerzen, die ihm Fuathas beigebracht hatte! Stumme Tränen liefen über ihr bleiches Gesicht. Das Kreischen des Drachen riß sie aus ihrer Trauer und die Menge aus ihrer Erstarrung. Verwirrt starrten sie die Bestie an, die fauchend aufflog. Die anderen Drachenritter konnten ihre Tiere nicht mehr bändigen, sie folgten Duilliaths Ruf. Wild brüllend stiegen sie auf. Sie stürzten sich auf etwas, das aus den Wolken brach. Ein bronzefarbener freier Drache jagte auf sie hinab. Ihm folgten weitere Drachen, die sich mutig ihren zu Monstern gewordenen Brüdern zum Kampf stellten. Die Luft bebte vor Lärm. Die Drachen kreischten, winselten und fauchten in der unbarmherzigen Schlacht. Die Menschen schrien vor Angst und rannten panisch umher. Nur Feochadan und Madawc standen wie gebannt durch Aodhans gequälte Klage und rührten sich nicht. Der bronzene Drache schlug Duilliath mit den mächtigen Klauen eine tiefe Wunde. Duilliath stürzte brüllend in die Tiefe, gefolgt von zwei freien Drachen. In halsbrecherischer Geschwindigkeit jagte der bronzene Drache über die Köpfe der Menge auf das Pentagramm zu. Suchend kreiste er über dem Platz. Seine scharfen Augen sahen die Truhe mit der liegenden Acht offen auf einer Säule stehen. Doch wo war der Kristall? Die Sonne war fast hinter den Gipfeln der Cobhans verschwunden. Sie sandte einen letzten Strahl über das Land, der sich in einem winzigen Kristall brach. Der bronzene Drache zögerte. War das möglich? War es das gewesen, was sie geahnt hatten? Duilliath hatte seinen Sturz abgefangen und jagte auf ihn zu. Er mußte jetzt handeln! Seine mächtigen Klauen umfaßten den Körper, der kraftlos an dem Pentagramm hing. Die Ketten zerrissen wie Spinngewebe.
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Duilliath kreischte zornig. Doch zwei freie Drachen drangen auf ihn ein, ehe er den Bronzenen erreichte, der mit mächtigen Flügelschlägen in die Dunkelheit verschwand.
∞ Leere. Trostloses Nichts war alles, was geblieben war. Sie hatte keine Tränen mehr. Der Drache hatte ihn retten wollen, doch er war zu spät gekommen. Sie schluckte. Es war vorbei. Sie mußten zurück. Es gab nichts mehr zu tun an diesem furchtbaren Ort. Mechanisch wandte sie sich um. Madawc stand noch immer reglos auf das nun leere Pentagramm starrend. Sie schien im Jahrzehnte gealtert. Ihre Züge waren grau vor Trauer. »Komm, Mutter«, bat Feochadan tonlos. Sie war erschüttert über ihren Zustand. Madawc rührte sich nicht, »Mutter, er ist tot.« Die alte Frau sah sie an. Ihre grauen Augen blickten trübe und verständnislos. Feochadan kämpfte mit den Tränen. »Laß uns gehen.« Madawc legte den Kopf schief. »Wohin?« fragte sie. »Zu Blyann.« Madawc nickte und lächelte. »Er wird schon bei ihm sein!« Feochadan forschte in ihrem Blick. Ihre Mutter meinte Aodhan … Sie lächelte wie ein kleines Kind, als sie zu den Pferden ging.
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Sechstes Kapitel Schweigend ritten sie Richtung Liosliath. Madawc lächelte immer noch. Feochadan wußte nicht, was sie tun sollte. Sie befürchtete, daß ihre Mutter sterben würde, wenn sie die Wahrheit erfuhr. Diese Angst war stärker als ihre Trauer. Der Morgen dämmerte, aber sie wollte keine Rast einlegen. Sie war so durcheinander und fühlte sich schrecklich einsam. Was soll ich nur den anderen sagen? Sie schluckte das Schluchzen hinunter, das ihre zugeschnürte Kehle heraufkroch. Sie würde es nicht aussprechen können. Sie konnte nicht einmal daran denken! Aber ihre Gedanken kehrten immer wieder zu ihm zurück. Jedes Mal, wenn sie kurz die Augen schloß, sah sie ihn vor sich. In der Stille des Morgens hörte sie in der Erinnerung seine Schreie. Sie zitterte vor Erschöpfung. Sie blickte zurück. Madawc hockte zusammengesunken auf dem Rücken seines Pferdes und lächelte. Ihre Lippen waren blau vor Kälte. Sie mußten rasten, damit ihre Mutter sich aufwärmen konnte. »Wir halten hier«, sagte sie sanft. Madawc blickte sie freundlich an. »Sind wir schon da? Wo sind sie?« Feochadan schüttelte den Kopf. »Nein, wir sind noch nicht da.« Ihre Mutter nickte. »Natürlich nicht, er wäre uns auch entgegengekommen mit Blyann, wie immer.« »Ja, Mutter.« Sie half ihr vom Pferd. Es schien ihr, als hätte Madawc all ihre Kraft verloren. Sie wirkte so zerbrechlich. Feochadan entzündete ein Feuer. »Setz dich. Ich suche ein paar Kräuter.« Gehorsam sank Madawc zu Boden. Sie blickte in das prasselnde Feuer. Funken stoben auf. Die Flammen flackerten um die dürren Zweige wie leckende Zungen. Die Glut blendete ihre tränenden Augen. Bilder erschienen ihr. Gesichter, Geschichten. Blyann lächelte ihr entgegen. Seine edlen Züge erstrahlten in der ewigen jugendlichen Schönheit der Elfen.
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Weisheit stand in seinen wunderbaren Augen. »Wo ist ’dhan?« fragte sie ihn. Er lächelte immer noch. »Weißt du es nicht mehr?« Verwirrt versuchte sie ihn zu verstehen. »Erinnere dich«, forderte er sie auf. »Woran?« Sein Bild verschwand. Ein verkohltes Holzstück fiel in die Glut und zerfiel. Plötzlich fiel auch die innere Sperre des Schocks von ihr, und sie fühlte die gleiche Leere wie Feochadan zuvor. Sie hatte nicht viele Kräuter gefunden, aber sie würden sie stärken. Als sie an ihr Lager zurückkehrte, stand Madawc bei Aodhans Pferd. Sie streichelte die weichen Nüstern des Tieres, das sie aufmerksam betrachtete. Als sie Feochadans Schritte hörte, wandte sie sich um. Ihre Züge waren von Trauer gezeichnet. Das abwesende Lächeln war verschwunden, aber ihre Kraft zurückgekehrt. »Er … er ist tot?« Es klang mehr wie eine Feststellung. Feochadan nickte. Tränen schossen in ihre Augen. Achtlos ließ sie die Kräuter fallen und umarmte Madawc schluchzend. »Ich dachte, ich hätte dich auch verloren!« brachte sie tränenerstickt hervor. Madawc streichelte beruhigend über ihre zitternden Schultern. »Du hast mich wieder – ich habe mich wieder gefunden …«
∞ Sart lief unruhig hin und her. Seine grünen Augen huschten fahrig zu Blyann und in die Richtung, in die die Drachen verschwunden waren. Sie werden es erfahren! Er sollte sich jetzt der Gnade des Weisen ausliefern und besser nicht warten, bis sie selbst auf den Gedanken kamen, ihn zu verdächtigen. Er sah zu dem Drachenfelsen. Lazzard meditierte. Seine Augen waren geschlossen. Er sollte ihn nicht stören … Er fühlte einen forschenden Blick und wandte sich um. Der aufdringliche Elf fi xierte ihn mit seinen undurchdringlichen Augen. Sart war
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verwundert, als er etwas wie Angst in den ebenmäßigen Zügen las. Was hat der Elf zu befürchten?
∞ Liath, der Dhraghonyie, erwachte aus seiner Bewußtlosigkeit. Suchend sah er sich in den Gemächern der Zauberin um, aber Boadicea war nirgends zu sehen. Das Glasgefäß, in dem sie Nialle gefangenhielt, stand auf dem Tisch. Die kleine Dhraghonyie hockte zusammengekauert hinter den durchscheinenden Wänden. »Nialle!« »Liath?!« Sie sprang auf. »Wo ist die Zauberin?« Sie zuckte die Schultern. Ein merkwürdiger Ausdruck lag in ihrem zierlichen Gesicht. »Was ist geschehen?« Sie schluckte. »Sie haben den Kristall benutzt …« Entsetzt sah er sie an. »Fuathas hat die Macht?« Sie nickte betäubt. Sein Kopf senkte sich. Sie hatten versagt. Er wäre lieber tot gewesen, als nun vor den Weisen treten zu müssen, um ihm zu sagen, daß sie ihre Aufgabe, den Kristall zu schützen, nicht erfüllt hatten. »Liath!« riß sie ihn aus seinen fi nsteren Selbstvorwürfen. »Wir müssen nach Glendaloch.« »Ja …« Als er sie aus ihrem gläsernen Gefängnis befreit hatte, flogen sie aus dem Fenster ins Freie. Entsetzen zeichnete sich in ihre Züge bei dem Anblick, der sich ihnen bot. Dun na h-Eoin war halb zerstört. Überall lagen verstümmelte Leichen oder Sterbende in ihrem Blut, unter Trümmern begraben. Drachenkadaver hatten Häuser unter ihrer Last zusammenbrechen lassen. Ein schwarzer Drache hatte sich trotz seiner schweren Verletzungen bis zu der hohen Mauer Dun na h-Eoins geschleppt und eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Sein rautenförmiger Kopf stützte sich schwer auf die bröckelnden Zinnen der Mauer. Die stumpfwerdenden Augen starrten gen Glendaloch.
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Ban stand auf einer der unzähligen Brücken in den gigantischen Bäumen von Lios. Er hatte die Gruppe sicher in die Elfenstadt gebracht, wie es ihm Madawc aufgetragen hatte. Blyann war nicht da. Man sagte ihm, er sei in Glendaloch. Irgendetwas in der magischen Welt stünde bevor, und er hätte deshalb mit Lazzard dem Weisen zu sprechen. Ban verstand nichts von Magie, aber er wünschte, ihr Freund wäre in Liosliath, wenn Madawc kam. Er spürte eine Bewegung neben sich. Donn trat schüchtern näher. Er war blaß und seine dunklen Augen waren groß vor Angst. Er schluckte schwer. »Siehst du sie?!« flüsterte er und sah fragend zu Ban auf. Er schüttelte den Kopf. Donn erinnerte sich, daß er eine ähnliche Frage schon einmal gestellt hatte. Es schien ihm, als sei es eine Ewigkeit her, … Das Gefühl, das ihn ergriffen hatte, als er Feochadan hatte allein kommen sehen, brannte noch erschreckend deutlich in seinem Innern. Er hatte Angst, es wieder spüren zu müssen.
∞ Rhyss war erschöpft. Der schwarze Drache hatte ihm einige böse Hiebe beigebracht, die ihn schwächten. Auf seinem Weg durch das Dunkel der Nacht hatte er sich immer wieder nach seinen Gefährten umgesehen. Als jedoch die Sonne aufging, wußte er, daß sie ihm nie mehr folgen würden. Seine Flügelschläge wurden kraftloser. Er sackte ab. Es war zu gefährlich weiterzufl iegen. Er mußte sich erholen. Seine müden Augen suchten nach einer geeigneten Stelle. Schließlich landete er auf einem kleinen Felsplateau. Vorsichtig legte er den leblosen Körper des Menschen ab und untersuchte seine eigenen Wunden. Matt sah er sich um. Sie waren nicht sehr weit gekommen.
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Sein Blick traf auf den Menschen. Ob er überhaupt noch lebt? Die Müdigkeit übermannte ihn, und er versank in kräftespendenden Schlaf.
∞ Madawc trieb ihr Pferd nicht besonders an. Sie wußte nicht, wie sie es den anderen sagen sollte. Voller Schmerz erinnerte sie sich an die haßerfüllten Blicke der Kinder, als sie den Befehl zum Aufbruch gegeben hatte. Sie würden ihr die Schuld an seinem Tod geben … Haben sie nicht Recht damit? Sie sah Feochadan an. Ihre schmalen Züge waren voller Trauer, aber sie wußte, daß sie sich selbst für das Geschehene verantwortlich machte. Es wäre leicht gewesen, sie darin zu bestärken. Es war ihr immer leicht gefallen, Feochadan die Schuld zuzusprechen … Sie betrachtete die Landschaft. Kleine Seen kündigten Lios an. Nebel stieg über ihnen auf. Der Tau lag dicht auf dem hohen, weichen Gras. Die Luft war klar und kühl. Doch ihr Geschmack war nicht mehr so erfrischend. Madawc hatte ein bitteres Gefühl. Ihre Hand berührte zögernd einen kleinen Beutel an ihrem Gürtel. Nur sie wußte, daß in ihm der Bergkristall verborgen war, den er Feochadan aus den Cobhans geholt hatte … »Mutter, die Bäume! Wir sind da!« Sie zuckte zusammen. Nein, noch nicht … Sie konnte Blyann nicht sagen, daß er tot war. Er hatte ihn ihrer Obhut anvertraut. Sie erinnerte sich an das lange Gespräch, das sie vor vielen Jahren geführt hatte, in einer Zeit, als sie noch jung gewesen war. Nein, so lange ist es nicht her … Blyann war bedrückt gewesen. Den ganzen Tag hatte er kaum ein Wort gesagt. »Was hast du?« Sie konnte sein Schweigen nicht länger ertragen. Nach einer Weile offenbarte er ihr seine Sorgen. »Es geht um Aodhan.« »Was ist mit ihm, er ist doch
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nicht krank?« Sie erinnerte sich, wie erschrocken sie gewesen war bei dem Klang seiner Stimme. »Nein, nein es geht ihm gut. Er ist kräftig und sehr klug …« Sie lächelte, denn sie wußte, Blyann war sehr stolz auf seinen Zögling. »Ja«, stimmte sie zu. »… und hübsch ist er, fast wie ein echter Elf.« Sie bemerkte das schmerzliche Zucken um seine Mundwinkel nicht. »Also doch«, seufzte er. »Was bedrückt dich? Du bist ihm ein sehr guter Lehrer gewesen. Niemand kennt so viele Pflanzen wie er, niemand weiß so viele Geschichten, niemand ist beim Jagen geschickter.« »Niemand weiß mehr über Elfen und Magie als er.« Madawc hatte die Schultern gezuckt. »Was macht das? Es ist nie schlecht, etwas zu wissen.« Er lachte auf. Niemals würde sie den verzweifelten Klang dieses Lautes vergessen. »Madawc, er ist ein Mensch. Ich habe etwas aus ihm gemacht, das er nicht ist, nie sein wird. Ich habe ihn erzogen wie meinen eigenen Sohn, aber er ist kein Elf. Er weiß viel von Magie, aber er wird sie nicht verstehen. So etwas ist gefährlich, sehr gefährlich …« Sie nickte zögernd. Er sah sie an. Sie versank in seinen bernsteinfarbenen Augen. »Du verstehst es auch nicht«, stellte er traurig fest. Dann schwieg er gedankenverloren. »Du weißt, was er mir bedeutet. Ich will nicht, daß ihm etwas zustößt.« Er stockte. Es schien ihn viel Kraft zu kosten, die folgenden Worte auszusprechen. »Er muß weg von hier. Er darf nicht länger in Liosliath bleiben. Jetzt schon beginnt er Fragen zu stellen, die ich ihm nicht beantworten darf! Madawc, ich bitte dich, nimm ihn in deine Gruppe auf. Ich weiß, ihr zieht weit im Jahr. – Zeig ihm deine Welt, die seine ist. Laß ihn Liosliath vergessen!« Madawc hatte ihn entsetzt angesehen. »Du willst, daß wir nie zurückkommen?« Blyann schwieg. Ein furchtbarer Kampf schien in ihm zu toben. Endlich schüttelte er den Kopf. »Nein, das würde ich nie von dir verlangen. Ihr könnt jeden Herbst zurückkehren, wie ihr es schon immer tut. – Weißt du, ich denke, die Zeit mit euch wird
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ihm helfen, sich zu fi nden. Er muß einen Platz haben, an den er gehört. Bei uns wird er immer willkommen sein, aber er muß wissen, daß ihr seine Welt verkörpert.« Sie hatte genickt, obwohl sie damals nur die ersten beiden Sätze bewußt wahrgenommen hatte. Sie durfte nach Liosliath zurückkommen. Sie durfte ihn jeden Herbst wiedersehen! Mehr hatte sie nicht interessiert … Im Laufe der Jahre hatte sie jedoch erkannt, daß es dem Elf um Aodhan gegangen war, nicht um sie … Doch weil der Junge Blyann so ähnlich war, hegte sie keinen Groll gegen ihn. Bald sah sie in jeder seiner Bewegungen und Gesten die Anmut des Elfen … ihres Elfen. Angstvoll blickte Madawc zu den riesigen Bäumen auf, in deren Wipfeln versteckt Liosliath lag. Sie hatte Blyann nie gesagt, was sie für ihn empfunden hatte und statt dessen all ihre Liebe Aodhan geschenkt, der ihr von ihm anvertraut worden war. Nun ist der Junge tot … Werde ich Blyann jetzt ganz verlieren?
∞ Ban kam ihnen entgegen. Madawc spürte die Blicke, die aus den Wipfeln auf sie gerichtet waren. Sie wußte, daß sie es ahnten. Bans Züge wurden aschfahl, als er ihre Gesichter sah. Sie mußte ihm nicht sagen, was geschehen war, er las es in ihren Augen. Cein, Blyanns Vater, begrüßte sie. Der alte Elf spürte ihren Schmerz und drang nicht weiter in sie. Er wußte, sie hatte noch eine schwere Aufgabe zu erfüllen. Fast für sie bittend sah er die stumm wartenden Menschen an, in deren Blicken trauerndes Wissen stand. Die Elfen zogen sich zurück und ließen ihre menschlichen Gäste allein. Madawc atmete tief durch. Ehe sie sprach, sah sie jedem Mitglied ihrer Gruppe in die Augen.
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»Es war Aodhan. Sie haben ihn gefaßt und … und getötet.« Ein bestürztes Murmeln kam über die Lippen ihrer Leute. Donn trat plötzlich vor. Tränen rannen anklagend über sein schmal gewordenes Gesicht. Er hatte die Fäuste geballt und starrte sie verzweifelt an. »D u !« stieß er hervor und seine Stimme klang drohend. »Ich hasse dich, Madawc. Du hast ihn umgebracht! Du hast ihn zurückgelassen, ihn verraten! Ich werde dich immer dafür hassen!« Er sprach leise, aber wegen der betretenen Stille konnte jeder seine Worte hören. Sie zitterte. Sie hatte es befürchtet. Daß es so schlimm werden würde, hätte sie nicht geahnt. Suileach und Flann traten hinter Donn. Sie mußten nichts sagen. Jeder verstand diese Geste. Muirne und Sobhrach waren entsetzt über das Verhalten ihrer Kinder. Doch ehe sie sie zur Raison bringen konnte, ergriff Feochadan das Wort: »Ihr seid ungerecht. Madawc hat keine Schuld. – Donn, du hast selber immer gesagt, daß er tat, was er wollte. Madawc hat ihn nicht gezwungen, den Stein zu stehlen. Es war seine Entscheidung. – Wenn du jemanden verurteilen willst, mußt du mich mit deinem Haß bestrafen; er hat den Stein für mich gestohlen, weil er den Kristall aus den Cobhans verloren hat, als er die Felswand herunterfiel.« Madawc griff zu dem Beutel an ihrem Gürtel. Ihre Lippen öffneten sich, als wollte sie etwas sagen. »Nein«, schluchzte Donn aus der Fassung gebracht. »Nein, sie hätte warten müssen … dann wäre er hier … sie hätte warten m ü s s e n !«
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Blyann beobachtete den Kobold ununterbrochen. Seit einigen Stunden lief er unschlüssig vor Lazzards Felsen umher. Er wirkte sehr nervös. Zögernd sah er zu dem Drachen auf.
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Dann tat er einen trotzigen Schritt. Im gleichen Augenblick hallte ein lang erwarteter Ruf zu ihnen: »Rhyss kehrt heim!« Blyann vergaß den Kobold und lief mit den anderen aufgeregt, um nach ihm Ausschau zu halten. Der bronzene Drache bot einen erbarmungswürdigen Anblick. Seine ehemals glänzenden Schuppen waren matt und blutig von unzähligen bösen Wunden. Er war völlig erschöpft, obwohl seine Rast fast einen Tag gedauert hatte. Mit letzter Kraft schaffte er es, auf Lazzards Felsen zu landen. »Mein Freund!« begrüßte ihn der Weise. »Du kommst allein?« Er nickte und suchte nach Worten. »Die anderen sind im Kampf gefallen.« »Im Kampf?« »Die versklavten Brüder … es war furchtbar.« Lazzard wollte ihm Ruhe gönnen, etwas jedoch mußte er noch wissen. »Und Lemniskate. Wo ist der Stein?« »Es gibt keinen Stein mehr.« Bestürzt raunten Rhyss’ Zuhörer. »So hat der Magier gewonnen …« Die Niedergeschlagenheit in Lazzards Stimme spiegelte nur einen Bruchteil seines Gefühls wider, aber sie fuhr allen Anwesenden tief ins Herz. »Ich … ich bin mir da nicht so sicher«, widersprach Rhyss. Erstaunt blickte Lazzard auf. Ächzend trat der verletzte Drache ein Stück zur Seite. Vor ihm lag die regungslose Gestalt eines Menschen. »Wer ist das? Der Magier?« »Nein, das ist sein Opfer. – Ich kann Euch nicht sagen, wie es dazu kam, aber es scheint, als steckte Lemniskate in diesem jungen Menschen.« Forschend betrachtete Lazzard die Gestalt. Könnte es das sein? Ist das die Veränderung, die bevorgestanden hat? Vorsichtig berührte er den jungen Mann an der verletzten Schulter. Er gab kein Lebenszeichen von sich. Sanft schob er seine Schnauze unter den zerschlagenen Körper und drehte ihn um, so daß er sein Gesicht sehen konnte. Unter all dem Schmutz und Blut erkannte er Züge, die ihn an die Elfen erinnerten. Dunkles Haar klebte an der schweißnassen, blutigen Stirn.
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Noch einmal berührte er ihn. Vor seinem geistigen Auge erstrahlte Lemniskate als Kristall ein letztes Mal. Rhyss hatte Recht mit seiner Vermutung. Der Stein der Ewigkeit hatte einen neuen Hüter gewählt! Der bronzene Drache stöhnte. Lazzard kehrte in die Wirklichkeit zurück. »Wir müssen die Wunden versorgen …, ist einer unserer Gäste ein Heilkundiger?« Ein hochgewachsener, nicht mehr all zu junger Elf trat hervor. »Blyann Ap Cein«, stellte er sich vor. »Kommt herauf und seht, was Ihr tun könnt, Ap Cein!« Blyanns Herz klopfte bis zum Hals, als er den Felsen erklomm. Lazzard wies auf den bronzenen Drachen, doch dieser schüttelte den Kopf. »Meine Wunden sind nicht so tief wie seine.« Sein schmaler Kopf deutete zu Boden. Blyann folgte seinem Blick und erstarrte. »’dhan!« hauchte er entsetzt, als er den am Boden liegenden erkannte. »Ihr kennt den Menschen?« Lazzard war höchst erstaunt. Blyann hörte ihn gar nicht. Auf zitternden Beinen ging er näher. Er sank zu Boden, um ihn zu berühren. Durch Schleier von Tränen sah er die furchtbaren Verletzungen. Er kann nicht mehr am Leben sein! Zögernd streckte er seine zitternde Hand nach dem Hals des jungen Mannes aus, um nach seinem Puls zu fühlen. Im ersten Augenblick glaubte er, seine Befürchtung würde sich bewahrheiten, doch dann spürte er ganz schwach einen matten Schlag, und noch einen, und noch einen … er lebte! Niemand bemerkte in diesem Moment den Kobold, der verloren die Szene beobachtete. Unzählige Fragen tobten durch Blyanns Gedanken. Wie hat das geschehen können? Was ist überhaupt passiert? Blyann überwand seine Scheu und fragte Lazzard. »Ich kann Euch nicht sagen, weshalb es Euren Zögling traf. Schicksal oder Bestimmung? Wer weiß schon, was es wirklich gibt?« Der Elf gab sich damit nicht zufrieden. »Mir ist es gleich, ob er zufällig dort war oder
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nicht. Ich will nichts hören von Göttern, die Wesen lenken wie Figuren in einem Schachspiel. Was wird aus ihm? – Was i s t mit ihm?« Lazzard nickte mitfühlend, ein trauriger Ausdruck lag auf seinen Zügen, als er leise sagte: »Ich habe keine Antwort … Es ist, als sei all mein Wissen verschwunden, sogar mein zweites Gesicht versagt sich mir.« Er fuhr nach kurzem Zögern fort, jedoch klang es, als spräche er mehr zu sich als zu Blyann. »Ich dachte, es sei mein Alter. Lord Tod erschien mir mehrfach in meinen Träumen. Ich glaubte, daran läge der Verfall meiner Kräfte … Aber ich fühle mich nicht schwach. – Versteht Ihr? Ich werde noch nicht gehen – es ist, als sei ich eben erst eingetroffen … Etwas Neues, etwas völlig Freies, Ungezwungenes, nicht Voreingenommenes, etwas, das bereit ist zu lernen, von vorn zu beginnen, zu leben; so etwas steckt in mir, und ich glaube, wir alle fühlen es.« Blyann sah ihn an. Der Drache las in seinen Augen den bitteren Widerspruch, doch er nahm es ihm nicht übel. Er grämte sich um das Leben seines Schützlings, während er ihm seine Gefühle offenbarte, die dem Elfen keine sichere Antwort auf seine Fragen geben konnten. »Es klingt wirr für Euch. Ich glaubt, ich sei senil geworden auf meine alten Tage. Aber wenn Eure Angst um ihn gewichen ist, werdet auch Ihr es spüren.« Er legte den Kopf schief und blinzelte ihm aufmunternd zu. »Ich denke nicht, daß Eurem Ziehsohn nun noch etwas Schlimmes widerfährt. Seine Wunden sind schwer, aber sie werden heilen mit der Zeit. Gewiß wird er sie auch fühlen, die Kraft des Neuen!« Blyann seufzte zweifelnd. Seine innere Stimme erhob Einspruch gegen Lazzards Vorhersage. Der Elf spürte, in welchem Zustand sich Aodhan befand.
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Madawc war am Ende. Die Kinder schnitten sie. Feochadan hatte versucht, sie zu verteidigen, doch sie waren von ihrer Schuld überzeugt. Blyann war immer noch nicht aus Glendaloch zurück. Mit jedem weiteren Tag wuchs ihre Angst davor, ihm gegenübertreten zu müssen. Die schmerzhafte Leere, die Aodhans Verlust in ihr Inneres gerissen hatte, breitete sich mit dieser Angst aus. Sie war kaum noch in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Überall vermutete sie Vorwürfe gegen ihr Handeln und Schuldzuweisungen, aber sie wehrte sich nicht dagegen, obwohl diese Anspannung stark an ihren Kräften zehrte. Mit der Zeit begann sie selbst daran zu glauben.
∞ »Es … es geht um Lemniskate«, stotterte der Kobold zögernd. Er hatte das Gefühl, Lazzards Augen würden ihn durchbohren. »Was wißt Ihr davon?« Sart konnte nichts aus dem Klang der Stimme des Drachens lesen. »Nun …«, weiter sollte er nicht kommen, denn zwei völlig erschöpfte Dhraghonyies erschienen. Rhyss führte sie. Seine Wunden waren in der kurzen Zeit sehr gut verheilt. Nur noch einige matte Stellen auf seinen Schuppen verrieten einen Kampf. »Lazzard, diese beiden Dhraghonyies kommen von Dun na h-Eoin. Sie waren die Schutzgeister Lemniskates …« »Das ist der Kerl!« rief die eine Dhraghonyie plötzlich aufgeregt aus und wies auf Sart, der erschrocken zusammenzuckte. »Dieser Kobold hat den Kristall aus den Höhlen von Tír mBeo gestohlen und an die Hexe Boadicea verschachert!« Sart schluckte schwer, als sich alle Blicke auf ihn legten. Er wich zurück, stieß aber bald gegen ein geschupptes, lebendiges Hindernis. »Du!« begehrte ihr winziger Begleiter auf, doch Lazzards Geste ließ ihn verstummen. Der weiße Drache senkte
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sich zu dem Kobold hinab. Die buntschillernden Augen starrten in ein angstvolles Gesicht, das unter den roten Stoppeln totenbleich geworden war. Sart wagte nicht, diesem Blick auszuweichen. Er war erleichtert, als sich der Drache den anderen zuwandte, um sein Urteil zu verkünden. »Dieser Kobold hier hat die Höhlen von Tír mBeo entweiht, indem er die heilige Reliquie Lemniskate stahl. Er besaß sogar die Unverfrorenheit, den Kristall zu verkaufen! Dabei handelte er so verantwortungslos wie irgend möglich, denn er überließ den magischen Stein einem Zauberer und einer Hexe übelsten Charakters.« Sart schloß die Augen. Er wollte nicht sehen, wie der Drache die Strafe aussprach … »Unter anderen Umständen hätten Wir ihn diese Freveltat schwer sühnen lassen müssen.« Erstaunt öffnete Sart ein Auge. »Angesichts der Tatsache, daß nur so der Stein seiner Bestimmung folgend einen neuen Hüter wählen konnte, bitte ich Euch, Gesandte der magischen Rassen, ein mildes Urteil über diesen von schnödem Mammon geblendeten zu verkünden.« Nun starrte Sart den Drachen verblüfft an. Damit hatte er nicht gerechnet. Eine Weile herrschte Schweigen. Dann brach eine klare, bitter klingende Stimme den Bann. »Lazzard, Ihr seid sehr, sehr großzügig mit der Vergabe Eurer Gnade.« Sarts Augen suchten den Sprecher. Sie fanden Ap Cein, den Elfen. »Es ist nicht an mir allein, einen Spruch zu fällen. Jedoch denke ich, wir sollten dem Schuldigen die Möglichkeit geben, selbst eine angemessene Buße zu wählen.« Die Kehle des Kobolds schnürte sich zu, als er die Zustimmung in den Augen der anderen sah. Was sollte er sagen? Sollte er sich all seiner Schätze entledigen? Oder schwören, nie wieder ein Juwel zu betrachten? Sollte er sich etwa selbst verbannen?
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Lazzard erkannte seine Qual und erlöste ihn davon. »Laßt ihm Zeit, sich etwas Angemessenes zu überlegen«, schlug er vor. »Wann soll die Entscheidung getroffen sein?« Lazzards gütige Augen waren traurig über die Härte des Elfen. Er konnte ihn verstehen, aber deshalb mußte er sein Verhalten nicht gutheißen. »Morgen, bei Tagesanbruch.«
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Siebtes Kapitel Cein erwartete den bronzenen Drachen in der Ebene des großen Sees. Sie lag einen halben Tagesritt von der Stadt entfernt. Dort hätte der Drache nicht landen können, außerdem waren seine menschlichen Gäste noch zu verschreckt von dem Geschehen in Caerdale. Wenn Blyann mit einem Drachen zurückkehrt, muß etwas Wichtiges geschehen sein, etwas außerordentlich Wichtiges! Beinahe lautlos setzte der mächtige Körper des Drachen vor dem alten Elfen auf. »Ceud mil failté!« entbot Cein seinen Gruß, der von Rhyss erwidert wurde. Blyann rutschte von dessen Rücken. Sein Kopf wurde von vier Dhraghonyies umflattert. Erstaunt bemerkte Cein auch noch einen Kobold auf dem breiten Rücken des Drachens. »Cein! Hilf uns!« forderte Blyann ihn auf. Er trat näher. Der Kobold löste Lederriemen, die um den Körper des Drachen gebunden gewesen waren. »Was ist denn …?« »Du mußt ihn mir tragen helfen. – Sart ist zu klein. Er kann ihn mir nicht runterreichen.« »Wen?« »’dhan.« Cein starrte ihn mit offenem Mund an. Der Junge ist tot! »Aber …« »Pack jetzt mit an, wir müssen ihn in die Stadt bringen. Seine Wunden heilten nicht in Glendaloch. Wir hatten nicht die richtigen Kräuter, doch das werde ich dir später erklären, nun komm schon!« Rhyss duckte sich tiefer an den Boden, damit Cein besser nach oben gelangen konnte. Der Kobold blickte ihm mißtrauisch entgegen. Beinahe unwillig ging er beiseite. Ceins Augen trafen auf eine grob gezimmerte Bahre, die sie an den Drachenkörper gebunden hatten. Er zuckte zusammen, als er das bleiche Gesicht des Totgeglaubten sah. Fragend schaute er den Kobold an. Wie hatte der junge Mann die Verletzungen und die Torturen des Magiers überleben können? Blyann wird es mir erklären.
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Behutsam griff er nach der Bahre. Blyann nahm sie entgegen und zog sie sogleich zu den von Cein mitgebrachten Pferden, um die Trage an einem Sattel zu verzurren. Stumm folgte ihm der Kobold. Cein sprang von dem Rücken des Drachens, den die anderen vergessen zu haben schienen. Entschuldigend wandte sich der alte Elf Rhyss zu. »Verzeiht ihre Unhöfl ichkeit …« Der bronzene Kopf nickte sachte. »Ich weiß, in ihren Gedanken ist jetzt nur er. – Doch das macht nichts«, er schwieg geheimnisvoll und fuhr dann bedauernd fort: »Ich wäre gern geblieben, um zu sehen, daß es ihm tatsächlich besser geht, aber hier wäre ich Euch keine Hilfe. – Bitte sagt ihm … er wird auf mich zählen können.« Cein blickte ihn verständnislos an. Rhyss lächelte. »Bringt ihn sicher nach Liosliath«, trug der Drache ihm auf, dann breitete er seine mächtigen Schwingen aus und flog davon. Blyann, der Kobold und die Dhraghonyies erwarteten Cein schon ungeduldig. Der Kobold saß auf des Elfen Pferd, wie er mit Mißbilligung feststellen mußte, doch Blyanns Blick und sein Sinn für Höfl ichkeit ließ ihn dazu schweigen. Umständlich stieg er hinter dem rothaarigen Wicht auf. »Also, auf nach Liosliath«, seufzte er und folgte Blyann, dessen Pferd die Bahre zog. Eine Weile ritten sie ohne ein Wort zu sagen. Doch dann hielt es Cein nicht mehr aus. »Willst du mir nicht endlich mal erklären, was geschehen ist?« platzte es aus ihm heraus, was sonst nicht seiner Art entsprach, aber er war so verwirrt, daß er sich nicht im Zaum halten konnte. Aus seinen Gedanken gerissen sah Blyann ihn an. »Was?« »Du kommst her mit einem Drachen, Nymphen, einem Kobold und einem Menschen, von dem wir alle glaubten, er sei tot und sagst kein weiteres Wort!« Nun war es an Blyann, verwirrt zu schauen. »Tot? – Ihr wußtet davon?– Von wem?« Er stockte, denn er ahnte die Antwort. »Madawc, ist sie etwa in Liosliath?«
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Cein nickte. »Sie erreichten vor zwei Tagen die Stadt. Ban hatte die anderen schon vor drei Tagen hergebracht. Madawc und Feochadan waren in Dun na h-Eoin bei … bei Aodhans Hinrichtung.« »Hinrichtung?« Blyanns Herz setzte einen Augenblick aus. Seinen Begleitern erging es nicht anders. »Er hatte den Zauberer bestohlen. Fuathas schickte die Drachenritter aus, die Caerdale dem Erdboden gleichmachten, dann setzte er ein Kopfgeld auf Aodhans Leben aus. – ’dhan war von Madawc getrennt geworden, und sie war nach dem Angriff auf Caerdale mit den anderen geflohen; aber eine innere Stimme rief sie nach Dun na h-Eoin. Als sie und Feochadan eintrafen, war Aodhan schon in Fuathas’ Gewalt. Madawc und Feochadan wurden Zeugen, wie Fuathas ihn mit Magie folterte, bis er tot war. Dann erschienen plötzlich freie Drachen, die …« Er stockte. Rhyss war bronzefarben gewesen, und er hatte ausge-sehen, als hätte er vor nicht allzulanger Zeit gekämpft. »Er … lebt«, brachte Blyann hervor. Seine Stimme klang rauh vor Schmerz. Ich habe es geahnt! »Und er w i r d leben.« Cein warf einen zweifelnden Blick auf die ausdruckslosen, totblassen Züge des Menschen. Abrupt stoppte Blyann sein Pferd. Hinter seiner sorgenzerfurchten Stirn arbeitete er fieberhaft. »Sie darf ihn nicht sehen«, sagte er schließlich. »Niemand darf etwas von ihm erfahren!« »Was soll das, Blyann? Hat Madawc nicht schon genug gelitten? Und Feochadan? Was ist mit ihr? Willst du ihr Herz brechen?« Bernsteinfarbene Augen bohrten sich in Ceins Blick. »Nein«, erwiderte Blyann in einer bedrückenden Ruhe. »Deshalb sollen sie ihn nicht sehen. – Laß ihn tot sein – für sie.« Cein schüttelte den Kopf. »Ich verstehe dich nicht!« Blyanns Augen sagten mehr als jedes weitere gesprochene Wort und Cein fügte sich seinem merkwürdigen Wunsch.
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Es gab Plätze in Liosliath, die selten besucht wurden, sogar von Elfen. Nie jedoch gelangte ein Mensch zu ihnen. An einen solchen Platz hatte Blyann seinen Schützling gebracht. Cein hatte ihm die nötigen Kräuter und Tinkturen geholt und saß nun auf einem schlichten Stuhl vor der kleinen Feuerstelle. Der alte Elf beobachtete Blyann. Er hoffte, irgendeine Antwort in seinem Gesicht auf seine Fragen zu fi nden. Endlich hatte Blyann den letzten Verband um eine scheußliche Wunde gelegt und räumte die Schalen und Messer an ihren Platz. Sechs sehr unterschiedliche Augenpaare erwarteten ihn. Er räusperte sich und sah sich nochmals nach Aodhan um, der regungslos auf dem bequemen Lager ruhte. Dann griff er nach einem Stuhl und gesellte sich zu den anderen. »Ich glaube«, begann er etwas zerknirscht, »ich sollte euch erst einmal miteinander bekannt machen.« Er deutete auf den alten Elfen und sagte: »Dies ist Cein Ap Raghallach, mein Vater.« Die Dhraghonyies und der Kobold neigten höfl ich die Köpfe. »Cein, dies sind Khaly und Hagith. Sie trafen auf Aodhan, als er mit Lemniskate auf dem Weg hierher war. Sie erreichten Glendaloch, nachdem …« Er schluckte schwer. »… nachdem ihn ein Drachenritter gestellt hatte.« Cein nickte. »Warum seid Ihr nun hier?« erkundigte er sich. Hagith ergriff das Wort. »Mylord, wir sahen den Stein in seinen Händen. Wir wußten, er wurde von Fuathas’ Schergen gejagt. Wir versuchten ihn zu schützen und glaubten ihn verloren, als der schwarze Drache ihn packte. Wir fürchteten um die Existenz unserer Welt und flogen nach Glendaloch, wo wir Lazzard selbst um Schutz bitten wollten. Dann kehrte Rhyss allein aus dem Kampf zurück …« Er schwieg bedeutsam und fuhr fort: »Lemniskate hat gewählt. Nun wollen wir sehen, was die Zukunft bringen wird.« Cein runzelte die Stirn und blickte Blyann an. »Die beiden Dhraghonyies, Nialle und Liath, waren die Schutzgeister des Steins. Sie haben geschworen, ihm zur Seite zu stehen.« Nialle nickte zustimmend. »Wir werden bleiben und unsere Auf-
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gabe erfüllen, egal, welcher Inkarnation Lemniskates wir zu Diensten sein sollen.« In Ceins Augen wurde seine Hilflosigkeit und sein Unverständnis immer offensichtlicher. »Dies ist Sart, der Kobold«, Blyanns Stimme klang merkwürdig, als er ihn vorstellte, Cein bemerkte den verschreckten Blick des Kobolds. »Er hat ein großes Unrecht wiedergutzumachen und einen Eid geschworen, Aodhan immer und überallhin zu begleiten.« Die Augen des Kobolds senkten sich schuldbewußt. Cein schüttelte den Kopf. Er begriff die Zusammenhänge nicht. Blyann versuchte sie ihm zu offenbaren, obwohl er selbst kaum etwas wußte. Er gab sich große Mühe, positiv zu klingen und die Hoffnung aufleben zu lassen, die in Lazzards Augen gestanden hatte, die böse Ahnung jedoch machte es ihm sehr schwer. »Lemniskate hat seinen neuen Bewahrer gewählt. – Aodhan ist Lemniskate.« Cein starrte ihn an. Wie konnte das sein? Wie kann ein Mensch von einem magischen Stein erwählt werden? Kein Mensch hat Magie! Blyann kannte die Fragen, die seinem Vater durch den Kopf gingen. Er hatte eben diese Fragen gestellt und er hatte keine Antworten auf sie erhalten. Cein erhob sich und ging zu dem bewußtlosen jungen Mann hinüber. »Er ist Lemniskate?« Blyann nickte. »Aber wie …? Wer hat ihn darauf vorbereitet?« Blyann zuckte hilflos die Schultern. »Wir wissen es nicht.« Greifbares Schweigen erfüllte den kleinen Raum. Cein starrte in das schmale Gesicht des Menschen. Er erinnerte sich, als er Aodhan das erste Mal begegnet war. Er ist so ein aufgeweckter kleiner Junge gewesen, ein bißchen wild vielleicht und unbedacht … Immer hatte ein Lächeln in diesem Gesicht gelegen, ob auf seinen Lippen oder in den unendlich dunklen Augen … Niemand hatte diesem Lächeln widerstehen können, nicht einmal er selbst. Und nun, nun war das Lächeln verschwunden. Die Augen waren geschlossen und in seinen blutleeren Lippen lag ein Zug tiefen Schmerzes, tiefer als jede körperliche Pein. Der Elf spürte, wie etwas in ihm zerbrach, und er wußte, Blyann
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hatte diesen Verlust auch durchlitten. Er glaubte zu verstehen, weshalb Madawc nichts von seinem Überleben erfahren sollte und stimmte Blyanns Entscheidung zu. Betroffen kehrte er zu den anderen zurück. Fragend sah er sie an. »Was soll nun werden?« Statt einer Antwort echote die Frage aus ihren Augen zurück.
∞ Blyann mußte sich zusammennehmen. Sie durfte nichts erfahren, ja nicht einmal etwas ahnen. Mit zögernden Schritten ging er an diesem Morgen auf die bunten Wagen zu, die auf dem großen Platz in den Wipfeln der mächtigen Bäume standen. Nie hätte er geglaubt, Madawc jemals belügen zu müssen. Er hatte ihr immer vertraut und hoffte, daß auch sie ihm gegenüber offen gewesen war. Der in satten Farben leuchtende Vorhang wurde beiseite geschoben. Eine sehr schlanke, junge Frau trat aus dem Wagen. Ihre grünen Augen weiteten sich, als Feochadan ihn erkannten. »Blyann!« Das erstickte Aufschluchzen fuhr ihm durch Mark und Bein. Sie lief ihm entgegen und schlang ihre Arme um seinen Hals. Hemmungslos ließ sie ihrer Trauer freien Lauf. Madawc mußte sie gehört haben, denn sie erschien kurz darauf. Blyann war erschüttert. Sie schien um Jahrzehnte gealtert zu sein. Ihre Haut war grau. Dunkle Ringe lagen unter den einst wunderschönen Augen, die ihm nun gerötet entgegenblickten. Sie war mager geworden. Ihr Rücken schien vor Gram gebeugt. »Weißt du es schon?« Er war entsetzt über die Mattigkeit ihrer ehemals kraftvollen, befehlsgewohnten Stimme. Krampfhaft suchte er nach Worten, nickte dann aber nur stumm. Sie senkte den Kopf. »Es tut mir leid«, die Worte waren nicht mehr als ein Hauch. Tröstend legte er die Hand auf die knochige Schulter. »Wie ist es geschehen«, seine Stimme war voller Schmerz.
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Madawc glaubte, wegen des furchtbaren Verlustes, den sie ihm zugefügt hatte. Sie zitterte und schüttelte den Kopf. »Bitte, Madawc, sag mir, wie er … gestorben ist.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Feochadan sah ihn flehend an: »Frag uns nicht danach. Laß die Erinnerung nicht wieder aufleben!« Die Verzweiflung in ihrem Tonfall traf ihn, aber er mußte es erfahren. Möglicherweise ergab sich etwas, daß ihn weiter brachte auf der Suche nach Antworten. »Ich will euch nicht weh tun. – Versucht, mich zu verstehen!« Er wußte nicht, was er ihnen damit abverlangte. Inzwischen waren die anderen Tinkers aus den Wagen gekommen. Er spürte die Spannung, die zwischen Madawc und ihnen stand beinahe körperlich und war schockiert darüber. Donn trat hervor. Seine kindlichen Züge waren ernst geworden – todernst und voller Haß. »Los, sag es ihm! Er hat ein Recht darauf zu erfahren, wie sein Sohn ums Leben kam – und wir haben das gleiche Recht, es zu wissen!« Der Knabe sprach nicht wie ein Kind, und niemand betrachtete ihn mehr als solches, weshalb er auch wegen der Unverschämtheit seiner Worte nicht gerügt wurde. Beinahe lautlos begann Madawc zu sprechen. Ihre Augen blickten in eine nur für sie wieder entstandene Welt der Erinnerung. Feochadan kannte diese Welt und kämpfte gegen sie an, als sie sich auch in ihr Bewußtsein drängen wollte. Die anderen, einschließlich Blyann, ahnten nichts von ihren Gefahren, so daß sie ihre Realität traf wie ein brutaler Faustschlag. » … Der Drache, er hatte ihn gepackt. – Seine Schulter war zerfetzt. – Blut. Alles war voll von seinem Blut. – Er konnte nicht gehen. – Sie zerrten ihn zu dem Pentagramm. Er hatte keine Kraft mehr. Er wollte sterben, doch der Magier ließ ihn nicht gehen! Er quälte ihn! – Nicht einmal die Kraft zu schreien hatte ’dhan, aber das Monster hörte nicht auf! Immer kurz vor dem Ende brach Fuathas ab. – Er ließ ihn nicht gehen! Er machte ihn
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wahnsinnig und dann endlich tat ’dhan, was er von ihm wollte. Er schrie! Schrie! Schrie!« Sie zitterte am ganzen Körper. »Und da machte er seinem Leid ein Ende. Der Kristall zerbarst in scharfe Splitter, die wie Pfeile in ’dhans Körper fuhren …« Feochadan brach unter der Last der Erinnerung zusammen. Madawc starrte mit leeren Augen ins Nichts. Der Triumph, der in Donns Blick gestanden hatte, war verschwunden. Statt dessen spiegelte sich nun Grauen in ihnen. Ban verbarg sein Gesicht hinter den großen Händen. Seine Schultern zuckten unter krampfhaftem Schluchzen. Brad versuchte Meara zu beruhigen, die immer wieder »Nein, nein« hervorstieß. Suileach und Flann starrten Madawc in stummem Entsetzen aus großen Kinderaugen an, während ihre Mütter sich gegenseitig trösteten. Und Blyann trug die ohnmächtige Feochadan in den Wagen. Als er sie auf dem schmalen Lager niederlegte, erwachte sie: »Warum hast du uns das angetan? Es war nicht ihre Schuld! Warum bestrafst du sie so grausam? Sie hat ihn geliebt, wie du auch! Es war nicht ihre Schuld!« Er war noch zu betäubt von den Bildern, die Madawcs Worte in sein Innerstes geschmettert hatten, um ihre Worte zu hören. Es ist noch schlimmer, als die Tinkers denken. Fuathas’ Strafe ist furchtbarer als der Tod!
∞ Die Sonne war schon lange untergegangen. Nebel stieg von den Seen auf und kroch feucht über das entschlummernde Tal. Der Mond warf sein kaltes, silbernes Licht über ihn und ließ ihn frösteln. Er zog den Umhang enger um seine Schultern. Seine bernsteinfarbenen Augen verfolgten das Spiel dieses Lichtes mit den schwarzen Wellen des Sees. Der Stein, auf dem er hockte, war kalt und unbequem, aber er rührte sich nicht, um in die Stadt zurückzukehren. Ein Reiher schrie ganz in seiner Nähe. Er zuckte zusammen bei dem uner-
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warteten Laut in der nächtlichen Stille. Wie sollte er ihm helfen? Konnte ’dhan es verstehen? – Er mußte es verstehen! Er hatte gehofft, seine Befürchtung würde sich nicht bewahrheiten. Gleichzeitig hatte er gewußt, wie sinnlos diese Hoffnung gewesen war. Wie hätte er darauf vorbereitet sein können? Wer hätte es ihm erklären sollen, wenn nicht einmal Lazzard, der Weise, etwas davon ahnte?! Niemand hatte es vorhergesehen. Niemand hätte sich darauf einstellen können, auch kein magisches Wesen … Es wäre genauso ahnungslos wie Aodhan. Vielleicht hatte er eine Chance. Blyann sah zu der weißen Sichel am nachtblauen Himmel in der Hoffnung eine Bestätigung dafür zu fi nden. Nacht für Nacht saß Blyann auf dem Stein am See und grübelte. Aodhan lag noch immer in tiefer Bewußtlosigkeit. Blyann befürchtete, er wollte nicht mehr aufwachen. Es war, als sei er tot. Keine Regung war in seinem Gesicht zu erkennen, das Tag für Tag scharfkantigere Züge bekam. Er wurde immer schwächer. Was würde geschehen, wenn er nie die Augen aufschlug? Er kann nicht sterben … Blyann bemerkte den leuchtenden Punkt erst, als er direkt vor ihm schwebte. »Blyann!« Es war Nialle. »Komm schnell, es geht ihm nicht gut!« Ihr Drängen machte ihm Angst. Mit weitausholenden Sätzen rannte er durch die Nacht zu ihrem verborgenen Versteck. Sart riß die Tür auf, als er ihn kommen sah. Der Kobold sah verschreckt aus. Blyann stürzte an ihm vorbei. Cein stand neben Aodhans Lager und versuchte, ihn festzuhalten. Aodhan warf sich gegen ihn. Cein wußte nicht, woher er die Kraft nahm und konnte der Wucht kaum etwas entgegensetzen. Der Atem des jungen Mannes ging stoßweise. Seine Augen waren weit aufgerissen. Ein Blick lag in ihnen, als sähen sie unbeschreibliches Grauen.
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»’dhan!« schrie Blyann ihn an, um ihn aus seinem Schock zu holen, aber er reagierte nur noch heftiger. Cein konnte ihn nicht mehr festhalten und wich vor seinen harten Schlägen zurück. Aodhan sprang auf. Sah sich gehetzt um. Plötzlich schien ihn etwas zu treffen. Er taumelte und stieß gegen den Tisch. Seine Knie knickten ein, und er brach zusammen. Leise wimmernd lag er auf dem kalten Boden und versuchte, sich aufzurichten. Blyann eilte zu ihm. »’dhan!« Aber er hörte ihn nicht. Sein Blick ging durch Blyann hindurch. Plötzlich packte er den Elfen am Arm. Sein Griff war unglaublich stark! Die Spannung löste sich unvermittelt von ihm. Die dunklen Augen sahen sich verwirrt um. Erleichterung spiegelte sich in ihnen, als sie den Elfen erkannten. »Blyann!« Seine Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern. Der Elf kämpfte mit den Tränen. »Ah!« Der erstickte Aufschrei kam so unerwartet, daß alle zurückwichen. Kraftlos fiel seine Hand von Blyanns Arm. Sein Körper krampfte sich zusammen – wieder und wieder. Ein Zittern durchlief ihn, bis er endlich still lag. Sein Atem ging flach und flatternd, die Augen hatten sich erneut geschlossen. Blyann hob den nun wieder leblosen Körper zurück auf das Lager. Mit zitternden Händen breitete er die Decken über ihn. Sanft berührte er die bleiche Wange. Der Knochen stand scharfkantig vor, daß er fürchtete, er müßte die Haut jeden Moment durchtrennen. »Was … was war das?« brachte Sart endlich hervor. Blyann versuchte, sich zu sammeln. »Ich weiß es nicht.« Oh, wie er dieses Gefühl der Hilflosigkeit haßte! Wie er es verabscheute, nicht zu wissen. Wie er sich selbst verachtete, weil er die Hoffnung aufzugeben begonnen hatte! »Feochadan«, wisperte Aodhan mit ersterbender Stimme. Cein warf Blyann einen prüfenden Blick zu. Er sah das Aufkeimen von Zweifel und es beunruhigte ihn.
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Nachdenklich hielt Blyann an Aodhans Seite Wache. Er hatte Sart abgelöst, der sich nun ruhelos hin und her wälzte. Nach einer Weile verriet ein tiefes schnarchendes Geräusch, daß der Schlaf den Kobold doch noch übermannt hatte. Soll ich es ihnen doch sagen? Was ist, wenn Aodhan darauf besteht, sie zu sehen? Er würde ihn nicht aufhalten können. – Er hatte ihn nie aufhalten können, weshalb er ihn mit Madawc fortgeschickt hatte … Eine leichte Berührung riß ihn aus seinen Gedanken. Aodhans Hand lag auf seiner. »’dhan?!« Er spürte seinen Blick. »Ich … ich habe Durst …« Er konnte ihn kaum verstehen, so tonlos war seine Stimme. »Ich hole dir Wasser!« Vor Aufregung verschüttete er mehr, als er ihm brachte. Blyann entzündete eine Kerze. Aodhans Augen waren geschlossen. Hatte er geträumt? Dann wandte Aodhan langsam den Kopf. Blinzelnd sah er ihn an. »Das Licht«, brachte er mühsam über seine aufgesprungenen Lippen. »… es tut weh!« Sofort blies Blyann die Kerze aus. Im Dunkel reichte er ihm die Schale mit Wasser. Er hörte, wie er es gierig schluckte und ahnte, wie schmerzhaft es war, als sein Stöhnen zu ihm drang. »Möchtest du noch etwas? Hast du Schmerzen? Wo sind die Schmerzen am schlimmsten?« raunte Blyann, ohne seine Antwort abzuwarten. Aodhans Hand legte sich abwehrend auf seinen Arm. »Nicht … nicht so viel … Ah, nein Kopf, rede nicht so schnell …« »Ja, ist gut, entschuldige.« »Ich bin müde, schrecklich müde …« »Du mußt sich ausruhen! Schlaf! Ich bin bei dir. Es wird alles gut!« Das folgende Schweigen machte den Elf fast verrückt, aber er beherrschte sich. Nach einer Weile fragte Aodhan: »Blyann? Was ist geschehen? – Ich hatte einen Traum … ich muß ihn dir erzählen … wenn …« Doch er war zu erschöpft, um den Satz zu vollenden.
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Achtes Kapitel Donn hockte schweigend auf den hölzernen Stufen zu ihrem Wagen. Seine dunklen Augen fi xierten Blyann, der mit Feochadan sprach. Er konnte nicht hören, was er sagte. Der Ausdruck in Feo‘s Gesicht ließ ihn ahnen, daß es wieder um Aodhan ging. Warum ließ der Elf sie nicht in Ruhe? Weshalb brach er kaum verheilte Wunden wieder auf? Blyann wandte sich zum Gehen. Unbemerkt folgte ihm der Junge durch die halbe Stadt. Bald wurde Donn unaufmerksam, da nichts außergewöhnliches geschah, und plötzlich hatte er den Elf aus den Augen verloren. In diesem Teil Liosliaths war er nie zuvor gewesen. Neugierig sah er sich um. Die Hütten waren ähnlich wie am großen Platz, vielleicht etwas schlichter. Seine Blicke wurden freundlich erwidert. Ziellos schlenderte er durch die verästelten Gassen in den machtvollen Baumkronen. Ein Elf bot ihm ein Skaga an. Skagas waren eine Art süßer Fladen, die man mit Sahne und heißen Früchten aß. Donn balancierte den dampfenden Skaga in einer Hand, während er mit der anderen die Sahne darüber strich und schließlich die in Sirup erhitzten Früchte darauf goß. Die Wärme des Skagas ließ die Sahne flüssig werden. Vorsichtig, um nichts zu verkleckern, biß er ab. Seine Zähne versanken in weichem warmem Teig, der, wie der Geruch es ahnen ließ, süß und schwer schmeckte. Dann durchdrangen sie die Schicht der verflüssigten Sahne, die sich mit dem Sirup vermischt hatte. Schließlich trafen sie auf die erste warme Frucht. Sanft zerplatzte die dünne Haut und offenbarte einen wunderbar weichen und doch noch angenehm festen Kern. Donn war berauscht von dem Geschmack. »Hmmm!« brummte er genüßlich und schloß die Augen, um sich ihm ganz hinzugeben. »Danke!« rief er dem Elf noch einmal zu, der ihm lächelnd nachwinkte.
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Donn war so vertieft in seinen Genuß, daß er die kleine Gestalt nicht bemerkte, die eben aus einem Laden trat und er sie beinahe umließ. »Oh, verzeiht …«, begann er eine Entschuldigung, die ihm im Halse stecken blieb, als er in die grünen stechenden Augen eines Kobolds blickte. »Schon gut«, grunzte der ihn an und eilte davon. Verwirrt starrte Donn ihm nach. Ein Kobold in der Elfenstadt? Ist er etwa ein Spion? Schnell schob er den Rest des Skagas in den Mund und lief dem Kobold nach. Immer wieder sah sich der kleine Wicht um, als fürchtete er, verfolgt zu werden. Mal nahm er die Hauptstraße, dann verschlug es ihn in winzige Gassen, die sich zu beiden Seiten davonstahlen. Donn vermutete, der Kobold versuchte ihn abzuschütteln, aber er war fl ink und jetzt, da er einen echten Verdacht hatte, besonders aufmerksam. Endlich blieb der Wicht vor einer etwas abseits liegenden Hütte wartend stehen. Sichernd sah er sich um und trat schnell ein. Vorsichtig schlich Donn näher. Er versuchte durch ein Fenster in das Innere der Hütte zu schauen, aber es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. Es war später Nachmittag. Bald würde die Sonne untergehen und sein Freund, der Kobold, wollte sicher nicht im Dunkeln sitzen! Donn würde warten, bis er die Lampen entzündete. Bis dahin versteckte er sich auf einem weit herunterhängenden Ast der Stadtbäume. Die Zeit verging schleichend langsam. Gelangweilt lag er in seiner unbequemen Lauerstellung und gähnte. Plötzlich hörte er Stimmen. Zwei Elfen näherten sich der Hütte. Donn glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er Cein und Blyann erkannte. Die beiden klopften an die Tür, die nach kurzem Zögern von dem Kobold geöffnet wurde. Verrat? – Ist Blyann dazu fähig? Er glaubte es nicht und Ceins Anwesenheit schloß diese Möglichkeit völlig aus. Aber was geht da unten vor? Es dämmerte endlich. Ein sanftes Licht fiel aus dem kleinen Seitenfenster. Lautlos huschte Donn aus seinem Versteck.
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Er mußte sich auf die Zehenspitzen stellen, um etwas erkennen zu können. In der Nähe des Fensters stand ein Tisch, auf dem zahllose Kräuter lagen. Vier Dhraghonyies stellten eine Mischung zusammen, die der Kobold in Tuch wickelte. Cein beobachtete sie dabei. Aus dem hinteren dunkleren Teil des Raumes trat Blyann. In seinen Händen hielt er benutzte Verbände. Sein Gesicht strahlte von einem Lächeln. Der Kobold gab ihm die Kräuterumschläge und folgte ihm mit einer Lampe in den hinteren Teil des Raumes. Dieser war ebenso schlicht wie der vordere. Ein schmuckloser Schrank stand an einer Wand und ein großes, mit Fellen ausgelegtes Bett, in dem eine Gestalt lag. Donn zog sich an dem Fensterbrett etwas höher, um den Kranken erkennen zu können. Seine dunklen Augen weiteten sich. »’dhan!« hauchte er tonlos. Ohne zu überlegen, rannte er um die Hütte und stieß die Tür auf. »’dhan!« sprudelte es überglücklich aus ihm heraus, und er stürzte sich auf ihn. Mit all seiner Kraft klammerte er sich an ihn. Als sich Aodhans Arme um ihn legten, brach er in Tränen aus. »Ich … wir dachten«, schluchzte Donn herzzerreißend. »… aber jetzt wird alles gut, nicht wahr? Ich habe es gewußt! Du schaffst es! Es wird alles gut!« Aodhan strich lächelnd über seinen Kopf. »Ja, es wird wieder gut«, bestätigte er, und Donn erschrak über die Schwäche seiner Stimme. Der Junge spürte, wie sich Blyanns Hand auf seine Schulter legte. »Du hast es gehört, mein Sohn, jetzt laß ihn los.« Heftig schüttelte er den Kopf und preßte sich noch fester an seinen Helden, der leise ächzte. »Du tust ihm weh!« machte ihn Blyann darauf aufmerksam. Erschrocken löste Donn seine Umarmung und sah Aodhan an, der offensichtlich unter Schmerzen litt. »Es tut mir leid, das … das wollte ich nicht!« Aodhan lächelte schief. »Ich weiß, Donn.« Die beiden bemerkten die sorgenvollen
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Blicke der anderen nicht. Hilflos sah Blyann zu Cein. Das hatte er vermeiden wollen. Während er unter dem aufmerksamen Blick des Jungen Aodhans Verbände wechselte, überlegte er fieberhaft, was er ihnen sagen sollte. Umständlich schlang er das letzte Tuch um Aodhans Rippen. Er sah ihn an. Mit leuchtenden Augen erwartete Aodhan Donns Bericht. Doch der Junge war zu überwältigt, um zu sprechen. »Wann seid ihr angekommen?« fragte Aodhan leise. »Vor zwanzig Tagen.« Donn griff nach seiner Hand. Aodhan warf Blyann einen verwirrten Blick zu. »Ein Glück, daß sie dich gefunden haben! Feo‘ wird vielleicht Augen machen! – Sie war so traurig. Sie hat überhaupt nicht mehr lachen können. Aber jetzt bist du wieder da!« Aodhan bemerkte Blyanns Versuch, den Jungen zu bremsen. Etwas stimmt nicht. Cein wandte sich ab, als er ihn ansah. »Ach, ich möchte gar nicht gehen, um sie zu holen. Ich bin so froh, bei dir zu sein!« Vorsichtig umarmte er ihn. Blyann hockte sich neben das Lager. »Donn, du darfst Feochadan nichts verraten. Es soll eine Überraschung sein, für alle, verstehst du? Wir wollen, daß ’dhan wieder ganz gesund wird, und dann steht er plötzlich vor ihnen! Na, ist das nicht ein Spaß?« Er versuchte seiner Stimme einen begeisterten Klang zu geben, aber Aodhan hörte die Spannung, die in ihr lag. Donn sah den Elf zweifelnd an. Feochadans Trauer war kein besonderer Spaß … Hilfesuchend blickte der Junge in das blasse Gesicht seines arg mitgenommenen Helden. So krank wie jetzt hat er noch nie ausgesehen … Sie würde sich noch schlimmer grämen, wenn sie ihm so gegenüberstünde. Zögernd nickte er. »Aber ich darf dich doch besuchen, bis dahin?« Aodhan lächelte. »Bestimmt!« Der Junge grinste zurück. »Es ist spät«, mahnte Blyann. »Oh, ja! Ich muß zurück! Mutter wird schimpfen!« Aodhan lachte leise. »Das wird sie«, bestätigte er. »Sart wird dich begleiten.« Ceins Vorschlag klang eher nach einem Befehl, und Donn wagte nicht zu widersprechen.
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Der Kobold hielt die Tür auf. Auf dem Absatz blieb der Junge stehen und wandte sich um. »Bis morgen?« »Bis morgen.« Sart schloß die Tür. Das Lächeln auf Aodhans Lippen verschwand schlagartig. Fragend starrte er Blyann an. Als weder der noch Cein ihm etwas erklären wollten, ergriff er selbst das Wort. »Was ist los? Was soll diese Überraschung? Warum wart ihr so seltsam?« Cein wich seinem Blick aus. Blyann schluckte und suchte nach der richtigen Art, es ihm beizubringen. »Es stand sehr schlecht um sich«, begann der Elf mit trockener Kehle. Cein horchte auf. Ein Verdacht drängte sich in seinen Sinn. »Wir wußten nicht, ob du … ob du überleben würdest. Wir wollten ihnen Schmerzen ersparen, verstehst du?« Mit offenem Mund starrte Cein ihn an. »Ihr habt ihnen nichts von mir gesagt? Für sie war ich – bin ich tot?« Aodhans dunkle Augen trafen Blyanns Blick. Der Elf konnte Angst in ihnen lesen – Todesangst. »Ist es …«, seine Stimme versagte, »… immer noch so schlimm?« »Nein«, griff Cein ein, ehe Blyann nicken konnte. Sein Blick ließ Blyann schweigen. »Wir wollen nur ganz sicher sein. – Du mußt sich jetzt ausruhen. Schlaf!«
∞ Bis Sart zurückkehrte, wechselten Vater und Sohn kein Wort. Sie überließen dem Kobold und den Dhraghonyies die Wache bei Aodhan und gingen zu ihren Hütten. Es war still. Liosliath schlief friedlich. »Wie konntest du das tun?« durchbrach Ceins leise Frage diesen Frieden. »Wie konntest du ihn derart belügen? Du mußt ihm die Wahrheit sagen!« »Ja doch!« entgegnete Blyann ihm heftig. »Ja, ich weiß, aber nicht jetzt. Er ist zu geschwächt. Er braucht seine Kraft, um ge-
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sund zu werden, nicht, um etwas zu verstehen, daß nicht einmal Lazzard begreifen kann!« Cein schüttelte den Kopf. »Er hat die Kraft dazu, sonst hätte ihn der Stein nicht zu dem gemacht, was er nun ist.« Blyann starrte ihm in hilflosem Zorn entgegen. »Was ist er jetzt? – Beantworte mir diese Frage! Was ist er?« Er schnaubte höhnisch, als Cein schwieg. »Siehst du, du weißt es nicht. Ich weiß es auch nicht. – Was soll ich ihm sagen, wenn er mir die Frage stellt?« Cein legte ihm die Hand auf die Schulter. »Erkennst du, warum du ihn belogen hast? – Du willst Zeit gewinnen.« Blyann scharrte gereizt mit dem Fuß. Seine Augen blitzten. »Warum hast du mitgemacht, wenn du es für so niederträchtig hälst, was ich tue?« »Um dich vor einem noch größeren Fehler zu bewahren, du Narr!!!! – Hast du seine Angst nicht gesehen? Du hättest ihm die Hoffnung genommen, wenn du seine Frage bejaht hättest! Vielleicht wäre er wieder bewußtlos geworden, woraus er diesmal nicht mehr zurückgekehrt wäre! – Ich verstehe dein Verhalten, aber ich kann es nicht billigen, um eurer beider Willen nicht. Wenn du ihn belügst, wird er dir nicht mehr trauen!« Blyann blieb verstockt, obwohl er die Wahrheit erkannte, die aus Ceins Worten sprach. »Denk darüber nach, mein Sohn, und handle.« Damit ließ ihn der alte Elf in der Einsamkeit der Nacht stehen.
∞ Sobhrach war außer sich gewesen vor Sorge um Donn. Ein Schwall von Vorwürfen übergoß ihn, als er endlich in den Wagen geklettert kam. Seine Mutter bemerkte das versonnene Lächeln nicht, das auf seinem Gesicht gelegen hatte und schickte ihn ohne Abendessen zu Bett. In Madawcs Wagen war noch Licht. Ob Feochadan wieder weint? Oft hatte er sie schluchzen gehört, wenn schon alle schliefen …
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»Du mußt nicht mehr traurig sein, Feo‘«, flüsterte er, ehe seine Augen zufielen.
∞ Madawc sah erstaunt auf, als Sobhrach in den Wagen trat. Sie hatte Donns Mutter nicht erwartet. Ihre Augen hatten die gleiche Anklage geschrien wie die ihres Sohnes … Vor Donns Geburt hatte Sobhrachs Wesen keinesfalls etwas von einer Blume, was ihr Name hätte vermuten lassen können, es kam dem eines übermütigen Vogels wesentlich näher. Das Kind hatte sie schließlich zur Ruhe gebracht, eine unstete Ruhe, denn in ihrem Inneren verlangte alles nach der alten Freiheit zurück. Sobhrach war gespalten gewesen in ihrem Verhältnis zu Aodhan. Sie hatte seine Unbekümmertheit beneidet und sie gleichzeitig durch ihn miterlebt. Sein Tod hatte sie in ihrer Verantwortung für immer gefangen … Madawc betrachtete die junge kräftige Frau: Mit vor der Brust verschränkten Armen stand sie in wildledernen Hosen breitbeinig vor ihr. Der hastige Flug ihrer hellbraunen Augen verriet ihre Unsicherheit. »Sobhrach, was kann ich für dich tun?« fragte Madawc, der bewußt war, wieviel Überwindung es Donns Mutter gekostet hatte, zu ihr zu kommen. »Es geht um meinen Jungen«, antwortete sie, bemüht, den besorgten Ton aus ihrer herben Stimme zu vertreiben. »Donn? Was hat er angestellt?« Sobhrach zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht, was er tut, das ist es ja. Seit einer Woche verschwindet er jeden Morgen und kommt erst abends wieder.« »Vielleicht hat er in der Stadt ein paar neue Freunde kennengelernt?« Sobhrach schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Er ist so anders. – Er erzählt nichts mehr. Früher war er kaum zu bremsen und das einzige, was wir jetzt zu hören bekommen, ist Guten Morgen und Gute Nacht!«
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Es widerstrebte Madawc, den Gedanken zu äußern, der ihr durch den Kopf ging, aber er war die einzige Erklärung, die ihr einfiel. Sobhrach seufzte. Bevor Madawc ihr Zögern aufgab, sagte sie es. »Ich dachte, es läge an dem Verlust, den er erlitten hat …«, beinahe entschuldigend sah sie Madawc an, »… aber nachdem er es erfahren hatte, war er nicht so, wie er jetzt ist …« Sie rang sichtlich nach den richtigen Worten. »Es hat ihn tief getroffen. Eine Welt ist für ihn eingestürzt. Er suchte nach Hilfe. Immer war er in meiner Nähe. Er erzählte von belanglosen Dingen, nur um die Stille und seine Einsamkeit zu verscheuchen …« »Was tut er nun?« Sobhrach seufzte hilflos. »Wenn ich das wüßte … Es ist, als wollte er unbedingt etwas los werden, aber wenn man ihn darauf anspricht, antwortet er ausweichend oder gar nicht.« Madawc grübelte. »Möchtest du, daß ich mit ihm rede?« fragte sie. Sobhrach zögerte erneut. Ihr Gesichtsausdruck drückte keine besondere Begeisterung aus. »Ich will dir nicht zu nahe treten, Madawc«, es war ihr offenbar sehr unangenehm, »… aber ich glaube nicht, daß er sich etwas von dir sagen läßt …« Madawc schluckte schwer. Tränen stiegen heiß in ihre Augen, aber sie zwang sie zurück und nickte. »Du hast recht«, stimmte sie mit trockener Kehle zu. Sie fühlte sich, als hätte ihr Sobhrach ins Gesicht geschlagen. Sie hörte kaum, was sie sagte. »Kannst du Feochadan bitten, mit ihm zu sprechen? Sie ist alles, was von … ihm noch da ist. Auf sie wird Donn hören.« Stumm nickte sie und wandte sich ab. Sie konnte sich kaum noch beherrschen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern bis sich Sobhrach endlich entschloß, den Wagen zu verlassen.
∞ Die Sonne stieg behäbig über den Horizont. Freundlich strichen ihre warmen Strahlen über das schlummernde Land,
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es zu wecken. Sie glitten behutsam über die Seen und nahmen den Nebel fort, der als Decke über sie gebreitet war. Keck leuchteten sie in die kunstvoll an die Dächer der Häuser Liosliaths gebauten Schwalbennester. Aber die Vögel nahmen es ihnen nicht übel. Frohgelaunt jagten sie der Sonne entgegen und riefen allen ihr Kommen zu. Feochadan blinzelte verschlafen, als sie Madawc sanft schüttelte. »Donn ist wach.« Sie brummte unwillig. Muß der Bengel so früh auf Abenteuersuche gehen? »Steh schon auf!« drängte Madawc. »Ist ja gut. Ich komme doch!« Gähnend setzte sie sich auf und zog sich an. – Früher hatte es ihr nichts ausgemacht, sogar vor der Sonne auf den Beinen zu sein … »Er geht!« drängte Madawc. Sie sah aus dem Fenster. Beschwingt hüpfte Donn davon. Eilig lief sie ihm nach, um ihn nicht zu verlieren. Die Häuser um den großen Platz hatten die Läden noch geschlossen. Kaum ein Laut war zu hören außer dem Kreischen der Schwalben. Donn schien sich gut auszukennen. Zielstrebig bog er von der Hauptstraße ab und verschwand in einer der kleinen Gassen, um irgendwann später wieder auf eine Hauptstraße zu treffen. Offenbar nahm er eine Abkürzung. Langsam belebte sich die Stadt. Donn kam an einem kleinen Haus vorbei. Ein Elf erwartete ihn scheinbar schon. Sie wechselten einige Worte, die Feochadan nicht verstehen konnte, dann überreichte ihm der Elf einen Korb. Donn grinste über das ganze Gesicht und bedankte sich, dann ging er weiter. Der Elf sah ihm winkend nach. Sie überquerten einen der unzähligen Marktplätze der Stadt. Feochadan hatte Mühe, den Jungen nicht aus den Augen zu verlieren. »Habt Ihr Interesse an feinen Stoffen?« hörte sie plötzlich eine angenehme Stimme. »Ich? Nein, danke!« Doch ein schmaler Arm hielt sie auf. »Ihr habt so schöne, grüne Augen.
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Diese Farbe stünde Euch hervorragend!« Ärgerlich sah sie den Händler an. »Ich sagte doch: Nein!« fuhr sie ihn barsch an. Er zuckte zurück. Seine Augen waren groß geworden, und er zitterte am ganzen Körper. »Verzeihung«, bat sie zerknirscht. Ängstlich fi xierte er sie. »Es tut mir wirklich leid!« versuchte sie ihn zu überzeugen. Er sah auf den Stoff. »Also gut!« seufzte sie, und ein breites Lächeln legte sich über sein Gesicht. Umständlich schnitt er ihr etwas von dem Tuch ab und wickelte es in Papier. Ungeduldig riß sie es ihm aus der Hand und gab ihm einige Münzen. Verzweifelt suchten ihre von ihm belobten Augen nach Donn, der natürlich längst verschwunden war. Was sollte sie nun tun? Zurückgehen? Die Stimmung im Lager ist nicht die beste. Das bunte Treiben hier war ihr eine willkommene Abwechslung. Langsam spazierte sie über den Markt. Interessiert betrachtete sie einen Stand, an dem Krüge feilgeboten wurden, die wunderschön bemalt waren. Auf dem Heimweg würde sie einen kaufen. Madawc braucht Ablenkung. Sie sah so schlecht aus. Eine kleine Freude würde ihr guttun. An einem anderen Tisch gab es frische Früchte. Jetzt erst bemerkte sie, wie hungrig sie war. Sie nahm einen Apfel. Er leuchtete so rot und verführerisch, daß sie ihm nicht widerstehen konnte. Nach einer Weile erinnerte sie sich wieder an das Tuch, das ihr der Händler aufgeschwatzt hatte. Sie war zu beschäftigt gewesen, um es zu betrachten. Feochadan wickelte es aus dem Papier. Ein glänzender Stoff lag in ihren Händen. Er war sehr, sehr zart und leicht. Sie konnte kaum erkennen, wie er gewebt worden war. Kühl schmiegte er sich an ihre Haut. Die Sonne brach sich schillernd in dem leuchtenden Grün. Das Tuch war außerordentlich hübsch. Sie legte es sich um den Hals und ging weiter. Um einen Stand mit Schmuck hatte sich eine kleine Menge versammelt, welche die
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Schönheit der Ketten und Ringe bestaunte. Feochadan drängte sich durch sie hindurch, um auch etwas zu erkennen. Wahrlich, die Elfen verstehen das Schmiedehandwerk. Kunstvolle Ornamente, gebildet aus hauchzarten Gold- und Silberfäden, umrankten leuchtende Juwelen. Feochadans Blick fiel auf einen prachtvollen Armreif. Winzige Strukturen waren in glänzendes Silber gearbeitet, das einen großen Rubin einfaßte … Feochadan sah plötzlich nichts mehr außer dem Stein. Blutrot funkelte er ihr entgegen. Grausame Erinnerungen erwachten. Auf einmal kam ihr der Lärm des Marktes unerträglich vor. Eilig verließ sie das nun unpassende Getöse. Sie hatte nicht darauf geachtet, wohin sie lief und fand sich in einer einsamen, abgelegenen Gasse wieder. Die Ruhe tat ihrem Schmerz wohl. Sie wollte allein sein und ging weiter, aus der Stadt hinaus. Bisher hatte sie keine Möglichkeit gehabt, über das Geschehene richtig nachzudenken. Die Sorge um Madawc hatte verhindert, daß es ihr wirklich bewußt wurde: Er war nicht mehr da. Sie würde sein Lachen nie wieder hören. Sie konnte nie mehr den Ausdruck in seinen Augen sehen, der ihr deutlicher gesagt hatte, daß er sie liebte, als jedes Wort. Es gab so viel, das sie hätten tun können. So viele Abenteuer würden umsonst warten, weil ihr eigentlicher Herausforderer tot war … Tränen rannen lautlos perlend auf das grüne Tuch. Aus der Ferne hallte plötzlich ein helles Jungenlachen zu ihr. »Donn?« Sie wischte schnell die Spuren ihrer Trauer aus dem Gesicht und lief in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Über einen breiten Ast, der sich bequem wie eine Brücke über den Abgrund neigte, gelangte sie in eine unbewohnte Baumkrone. Dickes weiches Moos, das jedes Geräusch verschluckte, überdeckte die Rinde. In einer Astsenke bildete sich ein behaglicher windgeschützter Platz. »… Thorwall hielt den Skaga – so wie ich jetzt!« hörte sie Donn plappern. »Und dann? Natürlich: Platsch! Mitten auf seine Weste!« Er lachte und zog eine Grimasse, die wohl das Gesicht
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desjenigen widerspiegelte, dessen Mißgeschick er jemanden erzählte. Feochadan war froh ihn gefunden zu haben. »Hier bist du also«, sagte sie und trat aus dem Schatten. Der Junge erstarrte und blickte sie erschrocken an. »Feo‘!« keuchte eine leise Stimme, überwältigt von Gefühlen. Ein eisiger Schauer lief über ihren Rücken. Sie kannte diesen Klang, und sie hatte sich eben damit abgefunden, ihn nie mehr zu hören. Ihre Kehle schnürte sich zusammen. Nein, das war unmöglich! Mit steifen Beinen kam die näher. Ihre Hand legte sich auf ihren Mund, dessen Lippen lautlos seinen Namen formten. Ihr Blick traf auf eine am Boden sitzende, in Decken gehüllte Gestalt. Unter einem grünen Hemd sah sie einen dicken Verband hervorblitzen. Ihre Augen wanderten weiter, über seine von den Ereignissen gezeichnete Züge. Sie erschrak, ob der Hagerkeit des vertrauten Gesichtes. Dann vereinten sich ihre Blicke. Seine Augen waren so erschreckend tief und dunkel geworden! Ohne Widerstand versank sie in ihnen. Kraftlos ging sie in die Knie. Seine Hand ergriff ihre zitternden Finger und drückte sie. »’dhan …« brachte sie endlich hervor und schlang die Arme um ihn. Sie spürte seinen Atem an ihrem Hals, schmeckte seine Haut unter ihren Lippen, fühlte sein Herz wild gegen seine Rippen hämmern und ertrank in ihrem Glück! Hilflos und etwas unbehaglich betrachtete Donn die Szene. Blyann stand plötzlich neben ihm. »Was macht sie hier?« Der Elf war schreckensbleich. Donn zuckte die Schultern. »Sie war auf einmal da! – Jetzt ist die Überraschung futsch.« Das Paar bemerkte nichts von ihrer Unterhaltung. Sie nahmen nichts mehr wahr als einander … Blyann verlor die Kontrolle! Er hätte dem Jungen die Besuche nicht gestatten dürfen! Er hätte Madawc sagen sollen, alles wäre in Donns Phantasien geschehen. Doch dafür war es jetzt zu spät. Er spürte eine Bewegung hinter sich und wandte sich um. Cein warf ihm einen vielsagenden Blick zu.
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Jemand tippte auf Feochadans Schulter. Fragend sah sie auf. Blyann lächelte sie schief an. »Entschuldigt, daß ich unterbreche, aber es wird kühl. Aodhan sollte jetzt lieber ins Haus kommen.« In ihren Augen schimmerte ein angstvolles Flackern. »Ich nehme ihn dir nicht weg!« versuchte der Elf sie zu beruhigen. Nur zögernd ließ sie ihn los. Aodhans dunkle Augen hingen an ihren. Blyann stützte ihn, damit er aufstehen konnte. Schmerz spiegelte sich in Aodhans Zügen, aber seine Augen leuchteten. Betroffen bemerkte sie, wie stark er hinkte und auf Blyanns Hilfe angewiesen war. Donn erkannte ihre Besorgnis. »Oh, es geht ihm jetzt schon viel, viel besser! Vor einer Woche hättest du ihn nicht wiedererkannt!« Cein versetzt ihm einen kurzen Stoß, und Donn verstummte. Nach dem kurzen Stück Weges war Aodhan sehr erschöpft, so daß er sich hinlegen musste. Schwach ergriff er wieder ihre Hand. Draußen jagten Schwalben im letzten Licht der Sonne. Ein trauriges Lächeln legte sich auf Aodhans Gesicht. »Ich hab’ sie nicht kommen sehen, in diesem Jahr …« Seine Stimme war kaum mehr als ein Hauch, als er einschlief. Feochadan schluckte schwer. Sie wußte, was ihm die Schwalben bedeuteten. »Feo‘, wir müssen jetzt gehen«, sagte Donn leise, um Aodhan nicht zu wecken. Sie schüttelte den Kopf. Hilfesuchend sah Donn zu den beiden Elfen. Blyann trat zu ihr. »Er schläft. Dieser Tag hat ihn sehr erschöpft. Er braucht die Ruhe jetzt«, appellierte er an ihre Verantwortung, doch wieder schüttelte sie den Kopf. »Ich lasse ihn nicht mehr allein!« »Er ist nicht allein. Wir sind bei ihm. Es wird ihm nichts geschehen.« »Ich bleibe! – Oder ich nehme ihn mit!« »Sei nicht unvernünftig, Feochadan. Er braucht Pflege und die Möglichkeit, seine Wunden heilen zu lassen …« Sie funkelte ihn an. »Das können wir ihm auch geben! Madawc hat ihm schon unzählige Male das Leben gerettet!« Blyann spürte den wissenden Blick seines Vaters
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im Rücken und fuhr sich müde mit der Hand über die Augen. »Also gut, dann bleib.« »Ich will auch bei ihm sein!« rief Donn sogleich, aber er bestand nicht auf seinem Wunsch, als er in Blyanns Augen das warnende Funkeln gewahrte. Enttäuscht aber gehorsam folgte er Sart, der ihn nach Hause geleitete. Sie hatten Feochadan nicht einmal dazu überreden können, sich in das Bett im Nebenzimmer zu legen, um zu schlafen. Sie kuschelte sich in einen bequemen Sessel, den sie neben Aodhans Lager gestellt hatte. Obwohl sie fest schlief, umfaßte sie noch immer seine Hand. Blyann betrachtete sie kopfschüttelnd. »Und nun?« Er hatte es erwartet. »Wann willst du es ihm sagen?” »Es muß sich ergeben …« Cein sah ihn fest an. »Du weißt, du hast keine Zeit mehr. Es geht ihm besser, und er will zu ihr. Sie hat recht, von nun an kann sie für ihn sorgen. Du hast keinen Grund ihn festzuhalten. Du kennst ihn, er wird sich nicht festhalten lassen!«
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Neuntes Kapitel Madawc sah Blyann angstvoll entgegen. Donn hatte ihr erzählt, Feochadan wäre bei ihm gewesen in der letzten Nacht. Etwas muß geschehen sein, sonst würde er nicht allein kommen. Ob sie sich auch von mir abgewandt hat? Blyann sah sehr ernst aus. Seine bernsteinfarbenen Augen waren dunkel, ein Zeichen, daß er Kummer hatte. Er wollte nicht im Lager mit ihr sprechen und half ihr auf ein Pferd. Gemächlich verließen sie die Stadt. Fragend blickte sie ihn immer wieder an, aber seine Züge blieben so verschlossen wie seine Lippen. Sie versuchte nicht, das Schweigen zu brechen, aus Angst, das zu hören, was sie befürchtete. Sie mußte sich ablenken, um nicht daran zu denken. Ihre Augen glitten unstet über die einmalige Hügellandschaft mit den zahllosen Seen. Mit der Zeit ließ sie sich von dem Anblick gefangen nehmen. Duftige Täler lagen eingebettet von schützenden Anhöhen in der morgendlichen Sonne. Das klare Wasser der Seen reflektierte die warmen Strahlen und brach sie in alle Farben. Das sehr friedliches Bild verwob sich in ihr Bewußtsein, das sie nie vergessen würde. Blyann hielt an und sprang vom Pferd. Dann bot er ihr galant die Hand zum Absteigen. Früher hätte sie sie nie ergriffen, aber sie fühlte sich nicht mehr so beweglich und sicher wie damals. Er führte sie nahe an das Ufer eines wunderschönen Sees. Sein Wasser leuchtete wie polierte Jade. Der Sand, mit dem die Wellen spielten, glänzte silbrig. Madawc kannte diesen Ort … Es war sehr lange her, daß sie das letzte Mal hier war. »Airgiod? Warum hast du mich hierher geführt?« Verwundert sah sie ihm in die Augen.
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»Dieser Platz«, erklärte er sanft, »hat mir immer viel bedeutet. Hierhin haben wir beide uns zurückgezogen, wenn die Feste in der Stadt zu laut wurden, weißt du noch? Wir haben uns stundenlang unterhalten. Unsere Seelen sind sich am Airgiod näher gekommen …« Er lächelte. »Immer wenn ihr weg wart, bin ich hier gewesen, denn Airgiod spiegelt deine Gedanken wider, und so war ich dir nahe, auch wenn ich dich meilenweit entfernt wußte.« Ungläubig weiteten sich ihre grauen Augen. »Ich weiß, was du für mich empfunden hast. Es tut mir leid, ich konnte dir damals nicht sagen, daß meine Gefühle dir gegenüber niemals die eines Liebhabers sein würden. Ich möchte dir heute sagen, daß sie tiefer sind. Mich bindet eine Freundschaft an dich, die ich mit nichts vergleichen kann. Keine elfische Frau kennt die Seiten von mir, die ich dir offenbart habe. Du weißt Dinge über mich, die weder mein Vater noch mein bester Freund auch nur erahnen.« Tief berührt wartete sie. Was wollte er ihr sagen? »Ich habe dich einmal um deine Hilfe gebeten …« Er bemerkte den schmerzlichen Ausdruck in ihren Augen. »Ohne zu fragen hast du mir diese Bitte erfüllt.« Ihre Augen schimmerten feucht und ihr Kinn zitterte. »Nein, weine nicht. Ich will dir keine Vorwürfe machen. Was geschehen ist, war nicht deine Schuld. Nicht einmal Aodhan war verantwortlich dafür …« Er brach ab und sah sie hilflos an. »Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. – Ich verstehe es selbst kaum!« Sie ergriff seine Hand uns schluckte die Tränen hinunter. »Erzähle von Anfang an, ich werde dir zuhören.« Dankbar erwiderte er den Händedruck und berichtete von seinem Besuch in Glendaloch, von der Spannung, die sie alle bedrückt hatte und vom Fehlen der Visionen bei dem alten, weisen Lazzard. Sie verstand nicht, was er sagte, aber sie lauschte aufmerksam seinen Worten. »… Rhyss kehrte aus einer Schlacht zurück, einer Schlacht über Dun na h-Eoin …« Er schwieg bedeutsam. Wissen dämmerte
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in Madawcs grauen Augen. »Hatte er … hatte er Aodhan?!« Ihre Stimme ertrank in ihren Tränen. Beruhigend nahm er sie in den Arm. »Du mußt nicht weinen! Es ist doch ganz anders!« Ein winziger Hoffnungsschimmer lag in ihrem Blick. »Madawc, er ist nicht tot. – Er lebt!« Regungslos starrte sie ihn an, als sei er verrückt geworden. Dann langsam entstand ein Lächeln in ihrem Gesicht, das zu einem lauten erleichterten Lachen wurde. »Er lebt? Wo ist er?« Sie wollte sofort aufbrechen, doch er hielt sie zurück. Seine Züge waren mehr von Sorge gezeichnet als je zuvor. Der Blick seiner Augen ließ ihre Freude sofort wieder verblassen. »Madawc, es … es ist etwas geschehen mit ihm. – Echte Magie hat auf Dun na h-Eoin auf ihn eingewirkt und ihn verändert.« »Ist er so schwer verletzt?« »Nein, nein. Seine Wunden heilen gut. Bald wird er nur noch ein paar Narben haben. – Aber Fuathas hat nicht nur seinen Körper verletzt …« Ihr Blick verfi nsterte sich bei der Erinnerung an seine Schreie. »Seine Seele?!« fragte sie tonlos. »Er ist wahnsinnig?!« Blyann schüttelte den Kopf. »Sein Verstand ist gesund wie eh und je.« Er suchte nach Worten, und sie gab ihm die Zeit, sie zu fi nden. »Lazzard hat ihn gesehen. – Er glaubt, daß Aodhan der Bewahrer von Lemniskate ist.« »Was heißt das?« Verständnislos sah sie zu ihm auf. »Wenn ich den Weisen richtig verstanden habe, bedeutet das Unsterblichkeit für Aodhan.« Unglauben stand in ihren Augen, die kurz darauf voller phantastischer Hoffnung leuchteten. »Aber warum machst du dann so ein Gesicht? Das ist doch eine wunderbare Nachricht!« Er lachte zweifelnd auf. »Wenn ich es auch so einfach sehen könnte!« flehte er. »Was befürchtest du? Keine Krankheit wird ihm je etwas anhaben können! Er wird nie von den Gebrechen des Alters geplagt werden!« Traurig sah er sie an und versuchte ein Lächeln. »Du hast ja recht, aber … ich habe so eine Ahnung …«
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Sie hörte kaum noch zu. Ein Ausdruck triumphierender Erleichterung lag auf ihrem Gesicht. »Ha!« lachte sie übermütig. »Fuathas wollte ihn töten und hat ihm statt dessen das geschenkt, wonach er selbst heiß begehrte!«
∞ Madawc und Blyann hatten sie darauf vorbereitet, aber als er ihnen dann tatsächlich gegenüberstand, traf es sie doch mehr, als die es erwartet hatten. Suileach wagte nicht, ihn zu berühren, sie glaubte, er sei ein Traum. Aber als sie sah, wie unbefangen Donn um ihn herumsprang, verlor sie ihre Angst. Mit großen Augen stand sie vor ihm und betrachtete ihn. Er hatte sich nicht viel verändert. Sein Blick war offen wie immer. Er lächelte sie freundlich an. Auf seiner Stirn war eine Narbe, die bis zum Haaransatz lief. Dort, wo sie sich wahrscheinlich fortsetzte, war sein schwarzes Haar weiß nachgewachsen, so daß ihm eine helle Strähne ins Gesicht fiel. Er streckte die Hand nach Suileach aus. Zögernd kam das kleine Mädchen auf ihn zu. Sanft umarmte er sie. Er ist wirklich! »Ich bin froh, daß du wieder da bist!« flüsterte sie in sein Ohr. »Und ich bin froh darüber, daß du das sagst«, raunte er zurück. Sie errötete und senkte verlegen den Blick. Er legte die Hand unter ihr kleines Kinn und drehte es so, daß sie ihn ansehen mußte. Er schien ihren Anblick in sich aufzusaugen, daß er ihn nie vergessen würde. Ihr war etwas unbehaglich unter diesem Blick. Vorsichtig berührte sie die Narbe an seiner Stirn. »Wie ist das passiert?« wollte sie wissen. »Magie. Freigesetzte Magie.« Er bemerkte den erschrockenen Ausdruck in dem Kindergesicht, als Suileach kurz zu Blyann, einem Wesen der Magie, sah. »Es war nicht so schlimm«, beruhigte er sie, aber Suileach glaubte ihm nicht – auch nicht Feochadan, die Zeuge ihres Wortwechsels geworden war.
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»Du willst also bei ihnen bleiben?« fragte Blyann ihn überflüssigerweise. »Ich gehöre hierher, das hast du mir selbst immer gesagt.« Der Elf nickte, obwohl er wußte, daß sich durch seine Veränderung auch dieser Umstand gewandelt hatte. »Ja, das habe ich gesagt …« Cein trat zu ihnen. Er mußte eingreifen. Blyann hatte sich nicht überwinden können, mit ihm zu sprechen. Jetzt mußte er ihn dazu zwingen, sonst würde es der Junge nie erfahren! »Blyann, du hast ihm noch etwas anderes zu sagen!« mahnte er. Aodhan sah von einem zum anderen. Blyann wand sich vor Unbehagen. Seine Augen spiegelten die Enttäuschung über den scheinbaren Verrat seines Vaters. Cein fi xierte ihn fest. »Ja«, gab der Blyann gedehnt zu. »Ihr solltet nicht hier sprechen«, meinte Cein. »Warum nicht?« Aodhan wollte die Tinkers nicht schon wieder verlassen. »Glaub mir, es ist besser, wenn wir keine Zuhörer haben.« Unwillig folgte er seinem Ziehvater, der ihn vom großen Platz wegführte. Endlich blieb Blyann stehen. Ohne sich umzuwenden begann er: »’dhan, ich weiß, ich hätte nicht so lang warten dürfen, … ich dachte, du spürtest es vielleicht von selbst …« Aodhan verstand nicht. Blyann sah ihn an. Sein Blick erschütterte Aodhan. Er fühlte sein Herz fester gegen die Rippen hämmern. Seine Angst war größer als in dem Moment, da Fuathas sein Urteil sprach. »Du ahnst nichts?« Blyann hoffte immer noch, ihn nicht unvorbereitet zu treffen. Seine Hoffnung zerfiel, als der junge Mann den Kopf schüttelte. »Kannst du dich an die Geschehnisse in Dun na h-Eoin erinnern?« »Nicht an alles …« Seine Stimme klang rau. Blyann sah die Angst in seinen dunklen Augen. Ich quäle ihn! Er sollte ihm helfen und tat ihm weh! Er mußte sich zusammennehmen! Blyann holte tief Luft.
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»Es klingst absurd, Aodhan, aber du … du wirst ewig leben.« Zweifelnd sahen ihn unendlich tiefe Augen an. »Wie kommst du darauf?« fragte der junge Mann verblüfft. »Der Stein – er hatte Magie, nicht? Deshalb wolltest du ihn hierher bringen.« Aodhan nickte. Ein wissendes Grinsen legte sich plötzlich auf seine jugendlichen Züge. »Das ist nicht wahr!? Der alte Scharlatan hat es geschafft? Er hat tatsächlich das Mittel zur Unsterblichkeit gefunden? – Du meine Güte, es muß ihn förmlich zerrissen haben, als er bemerkte, daß es funktionierte und er es nicht mehr aufhalten konnte! – Was ist, Blyann? Trauerst du ihm etwa nach? Hat er etwas Besseres verdient? Er strebte nach Macht, das hat er nun davon!« Blyann sah ihn bitter an. »Was ist es, das er davon hat?« Aodhan zuckte die Schultern. »Nichts. – Zumindest hat er nicht das, was er wollte.« »Nein, du hast es, obwohl du es nicht wolltest.« Unbekümmert lachte Aodhan auf. »Na und? – Ich wollte es nicht, weil ich daran glaubte, daß es möglich ist. Sag, Blyann, habe ich jetzt auch Magie? – Ich meine, nun, wo ein Teil von mir dieser Stein ist? – Habe ich seine Fähigkeiten?« Mit gemischten Gefühlen betrachtete der Elf ihn. Mache ich mir zu viele Gedanken? Es scheint ihn nicht zu belasten. Es war offensichtlich ein neues, aufregendes Abenteuer für Aodhan, in das er sich nun, da seine Kräfte zurückkehrten, nach alter Manier hineinstürzte. »Ich weiß nicht, welche Auswirkungen der Stein auf dich haben wird.« Aodhans Augen blitzten. Etwas völlig Neues geschah. Nicht einmal Blyann, der immer auf jede Frage eine Antwort gehabt hatte, ahnte, was passieren würde! Er bemerkte den besorgten Zug um den Mund seines väterlichen Freundes. »Warten wir ab, wie es sich entwickeln wird«, schlug er ihm zuversichtlich vor. Blyann lächelte unsicher. »Was könnten wir auch sonst tun?« Aodhan sah ihn schelmisch an. »Wie wäre es mit einer kleinen Geburtstagsfeier?« fragte er mit verschwörerischem Unterton. »Schließlich werde ich nur einmal unsterblich,
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oder?« Blyann war nicht sonderlich begeistert von seiner Idee, aber er konnte ihm seine Bitte nicht abschlagen. Gemeinsam kehrten sie zum großen Platz zurück, ohne die kleine Gestalt zu bemerken, die sie belauscht hatte.
∞ Sein Held! Er war jetzt ein echter Held! Jemand, der einen Platz haben mußte zwischen den alten Sagen und Geschichten, die man immer erzählte, wenn man gesellig beisammensaß! So schnell er konnte lief er zu Wiell, dem Oberbarden Liosliaths. Erstaunt öffnete der Elf die Tür, als er durch wildes Klopfen bei seiner Arbeit gestört wurde. »Donn?« Der Junge stürmte an ihm vorbei in das behagliche Zimmer. Unzählige Instrumente hingen an den Wänden, von denen Donn wußte, daß Wiell alle spielen konnte. »Ollamh Wiell! Nehmt die Cruit! Eine neue Sage ist zu schreiben!«
∞ Obwohl er sich eigentlich schonen sollte, ließ es sich Aodhan nicht nehmen, bei den Vorbereitungen des Festes zu helfen. Für die anderen war es ein Abschiedsfest, denn Madawc wollte den Rest des Sommers nutzen, wieder auszuziehen. Sie wußte, die anderen waren unruhig. Ihnen lag es nicht, lange an einem Ort zu bleiben. Jeden Winter machte sich dieses Unvermögen schmerzlich bemerkbar. Sie waren sehr lange in Liosliath geblieben: Sechsunddreißig Tage. Nun, da Aodhan zurück war, und er trotz seiner Verwundungen seinen alten Tatendrang ausstrahlte, wurden die Tinkers von seiner Unrast noch mehr angesteckt als je zuvor.
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Als der Abend dämmerte waren alle Kuchen und Pasteten gebacken, alle Braten geröstet und alle Weine herbeigetragen worden. Das Fest konnte beginnen. Plötzlich erschien es Madawc, als läge die furchtbare Zeit, in der sie geglaubt hatte, ihn verloren zu haben, Ewigkeiten zurück. Ja, ihre Erinnerungen an den schrecklichen Tag in Dun na h-Eoin begannen bereits zu verblassen! Ein kurzer Blick auf Feochadans strahlendes Gesicht verriet ihr, daß es ihrer Tochter ebenso erging. Ein warmes Glücksgefühl durchdrang sie, als sie Aodhans lachende Augen trafen, die glänzten, als sei nie etwas geschehen. Blyann stand neben ihr. Er lächelte, und sie wußte, alles war gut. Wiell trat in die Mitte des Platzes und eröffnete die Tänze. Fröhliche Melodien luden ein, sich zu ihnen ausgelassen zu wiegen. Blyann tippte Madawc auf die Schulter. Verwirrt sah sie auf. »Darf ich dich bitten, mit mir zu tanzen?« Ein dankbares Lächeln spielte um ihre Lippen. »Du darfst!« Feochadan beobachtete sie und seufzte. »He, was hast du?« fragte Aodhan. Sie schmiegte sich dichter an ihn. »Ich wünschte, es könnte immer so sein!« Er grinste. Seine Augen leuchteten verschmitzt. »Wer weiß, vielleicht geht dein Wunsch ja in Erfüllung«, flüsterte er ihr ins Ohr. Sie schnurrte wohlig, fast wie eine Katze. »Es wäre wunderbar, wenn wir in aller Ewigkeit zusammen sein könnten!« Wiells letzte Weise war zu Ende. Die Tänzer und die Zuhörer bedankten sich für sein Spiel. Wider Erwarten ergriff der Ollamh nach einer kurzen Pause das Wort. Erstaunt lauschten Elfen und Tinkers seiner Rede, deren Inhalt nur Donn bekannt war. »Liebe Freunde, erinnert euch an die alten Sagen, an Táin Bó Cúailnge, das Wegtreiben der Rinder von Cooley, an Compert
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Con Cullainn, die Empfängnis CuChulains, an die Geschichte Finn mac Umaills und an alle anderen. Wieder und wieder rufen wir uns wunderbare Taten und wundersame Begebenheiten in Erinnerung. Doch all diese Geschichten liegen so lange zurück, daß nicht einmal mehr bekannt ist, wer sie ersann. Wie oft haben wir uns gewünscht, einmal Teil einer Legende zu sein, die noch Jahrhunderte nach dem Jetzt an ähnlichen Feuern wie diesen erzählt werden?« Seine schmalen weißen Hände glitten über die Saiten der Cruit. Eine geheimnisvolle Melodie zog sie in ihren Bann. Wiell erhob sich. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, als er über den Platz ging. Blyann stockte der Atem, als er sah, wie der Elf vor Aodhan stehen blieb, um sich in Dankbarkeit vor ihm zu verneigen. »Dir verdanken wir, daß unser Traum in Erfüllung geht.« Ein erstauntes Raunen erhob sich. Feochadan sah Aodhan verwirrt an. Er schien überrascht, aber seine Augen hatten den gleichen wissenden Ausdruck wie die des Elfen. Wiell schritt zurück an seinen Platz. An alle gewandt fuhr er fort: »Viele Namen werden vergessen werden, aber einige bleiben in den Gedanken erhalten, und mit ihnen wird jeder unsterblich!« Damit begann er zu spielen. Die Melodie war kraftvoll beschwingt. Ein etwas bedrohlicher Unterton mischte sich dazu, dann sang er: »Ciaran und Feochadan ihn sieht, wie Duilliath seine Kreise zieht, ahnt die Gefahr, Fuathas ist nah, ein Funke in Aodhans Auge liegt. Wollt’ sich messen, Gefahr ward vergessen, beweisen die Macht, die in Liebe nur liegt.
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Hat es genommen und konnte entkommen. Dun na h-Eoin, er wußte, er siegt. Boadicea mit Zauber und List, Nialle bei ihr du gefangen bist. Sie deckt seine Flucht, Lemniskate sie sucht, Aodhan nicht ihr Opfer ist. Das Kopfgeld wird groß, wohin soll er bloß? Sie treiben ihn im steinern’ Meer, die Sonne brennt heiß, gebadet in Schweiß. Es folgt ihm nun ein ganzes Heer.
Räuber und Schergen, geführt zu den Bergen von Spuren des Diebs, der Schande gebracht. Zähne sie blecken, die Lefzen sich lecken, die Bluthunde freu’n sich auf die Schlacht.
Doch keiner ihn faßt, und die Hex’, ohne Hast, auf Ewigkeit kann warten lang.
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Ein magisches Band zwischen beiden entstand, das niemand sollte trennen dann. Durch die Wunde geschwächt, es geht ihm sehr schlecht, die Meute kann ihn holen ein. Der Plan ist vertan, ihn retten sie kann durch Handlung nur, nicht geduldig sein. Drachenritter stellt ihn bitter! Es bleibt ihm nur ein Weg zur Flucht! Der Drache greift ein, geblendet vom Schein und Glanz des dunklen Reiters Sucht. Fuathas ersann, was er ihm antun kann, doch alles schien ihm als Strafe zu klein. Mit jedem Tag mehr wuchs sein Zorn und das Heer! Nun Tod nicht sollt’ sein Urteil sein! Magische Macht war als Ende gedacht, sie würde ihm bringen viel Schmerzen und Pein! Stunden gezählt!
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Kristall hat gewählt! Aodhan soll der Bewahrer sein!« Ein triumphierender Akkord, gefolgt von einer stolzen Folge von Terzen, dann kehrte der beschwingte Grundton vom Anfang zurück und schloß in einem freudigen hohen Klang. Ohne daß sie den Sinn des Textes schon ganz begriffen hatten, applaudierten Wiells Zuhörer. Währenddem kam aber die Erkenntnis. Ihr Jubeln wurde lauter, doch jetzt galt es nicht mehr allein dem Meisterbarden, sondern dem Held seiner Geschichte. Blyann ließ sich von der Begeisterung der anderen mitreißen. Seine Zweifel erschienen ihm plötzlich lächerlich. Er sollte sich mit dem Jungen freuen und ihn in all seinem Tun unterstützen. Er bahnte sich einen Weg durch die Glückwünschenden. Aodhan grinste beinahe entschuldigend zu ihm auf. »So hatte ich es nicht gemeint«, sagte er, so daß nur Blyann es hören konnte. »Du vielleicht nicht, es dafür um so mehr.”
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Am frühen Morgen war der große Platz wieder voller Elfen, die ihre berühmten Gäste verabschieden wollten. Sart und die Dhraghonyies wurden mit guten Ratschlägen bedacht, wie sie Aodhan am besten im Auge behielten. Einige junge Elfenmädchen baten mit entschuldigendem Blick zu Feochadan ganz besonders darum, daß sie ihn beschützten. Sie steckten Sart alle möglichen Dinge zu, die er ihm geben sollte, damit er sich an sie erinnern konnte. Der Kobold seufzte, brachte es aber nicht über das Herz, sie ihnen zurückzugeben. Cein und Blyann standen bei Aodhan, Madawc und Feochadan. In der Nacht waren Blyanns Bedenken zurückgekehrt, aber er wußte, er würde ihn nicht dazu bewegen zu bleiben. Er umarmte zuerst Feochadan, dann Madawc. Es schien, als wollte er den Abschied von ihm herauszögern, doch dann gab es kein Zurück. Er presste ihn so fest an sich, daß er ächzte, aber Aodhan protestierte nicht. Blyann glaubte, Angst in seinen tiefen schwarzen Augen zu sehen. »Also dann …«, sagte er mit belegter Stimme. »Du weißt, daß du immer willkommen bist …« Aodhan nickte stumm. Unwillig ließ er ihn los. Cein drückte ihn kurz an sich und wünschte ihm alles Gute. Mit gemischten Gefühlen beobachteten die beiden Elfen, wie er den schwarzen Hengst bestieg, um den anrollenden Wagen zu folgen. »Es ist ja nur bis zum Herbst!« rief Aodhan Blyann zu, doch es schien ihm, als machte sich der junge Tinker selber Mut. Mut, um ein Abenteuer zu bestehen, das noch niemand vor ihm gewagt hatte herauszufordern. Ein Abenteuer, aus dem es kein Entrinnen für ihn geben würde, denn die Ewigkeit läßt nicht mit sich spaßen, niemals ist sie ein Spiel!
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Zehntes Kapitel »Die Narren zum Ruadhan ziehen zu schauen und zu staunen. »Magisch’ Kräfte ihm verliehen!«, die Massen, wie sie raunen. Wollen alle ewig sein! Keiner sieht des Wahnsinns Schein, der in den Augen lieget, pfuscht Zauber in ein Leben ein, der Vater Tod besieget. Erinnerung zur Folter wird, wenn Lebende vergehen. Das Herz, die Seele wird zerstört, durch das, was ewig’ Augen sehen. Sie sehen welken, was sie geliebt, und können nichts abwenden. Hoffnung hin zu Splittern stiebt: » Kann es nicht beenden!«”
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Es nieselte schon den ganzen Tag. Nebel verschleierte die Sicht. Hinter ihm versuchte eine nun rosige Sonne ihre schwächer werdenden Strahlen dem tropfnassen Land zu senden, um es zu trocknen. Die Gräser belächelten ihre rührende Fürsorge, denn sie hatten sich schon mit den diamantenen winzigen Perlen abgefunden. Sie begrüßten den Herbst, der nun Feuchtigkeit im Überfluß brachte. Der Sommer war sehr, sehr trocken gewesen. In einigen Teilen des Landes war die Ernte unter sengender Glut verbrannt. Selbst Waldbeeren waren rar gewesen, so daß viele Menschen Hunger leiden würden in diesem Winter. Madawc ging allein durch den dunkler werdenden Wald. Seufzend blickte die inzwischen weißhaarige Führerin der Tinkers in den großen Korb an ihrem dürr gewordenen, ehemals kräftigen Arm. Eine Hand voll Pilze kullerte in dem Korb umher. Die Trockenheit des Sommers hatte sogar diese Nahrungsquelle fast versiegen lassen. Das Knacken einiger Zweige ließ Madawc zusammenzucken und nach dem scharfen Dolch greifen, der an ihrem Gürtel baumelte. Ein ausgemergelter Rehbock starrte genauso erschrocken wie sie aus dem Unterholz. Madawcs Magen knurrte vernehmlich, und sie schämte sich dafür. Sie liebte die graziösen Tiere, aber im Lager warteten hungrige Münder, die sie mit den wenigen Pilzen kaum sättigen konnte. Der Rehbock schien ihre Gedanken erraten zu haben und floh, ehe sie auch nur blinzeln konnte. Enttäuscht und erleichtert zugleich ging sie weiter. Umständlich steckte sie den Dolch an seinen Platz zurück, so daß sie ihn jeder Zeit ziehen konnte. Die Dürre hat einiges verändert. Früher hatte man in den Dörfern immer noch Platz am Feuer für einen Wandernden gehabt. Jetzt, wo jeder weitere leere Magen den Tod aller bedeuten konnte, verjagte man sie gnadenlos. In ihrer Verzweiflung betrieben einige Seßhafte regelrechte Hatzen und vergeudeten dabei ihre wenigen Kräfte. Ihnen mußte es ähnlich ergehen wie Madawc
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bei dem Anblick des ausgehungerten Rehbocks. Schmerzlich erinnerte sie sich an einen Abend ihrer Wanderung: Sie hatten sich lautlos an einem Dorf vorbei gestohlen, aus dem sie am Morgen mit Pfeilen und Steinen vertrieben worden waren. Aus einer der Hütten drang eine wohlbekannte Melodie zu ihnen. Der Wind wehte die Worte, die von einer kraftlosen, aber durch das Lied hoffenden Stimme gesungen wurden, zu ihnen. »Ciaran und Feochadan ihn sieht …« In solchen Zeiten brauchten sie ihre Helden, die das Böse besiegten und vom Licht belohnt wurden … Madawc runzelte die faltig gewordene Stirn. Sie glaubte inzwischen nicht mehr an die Geschichte. Aodhan war so natürlich, so ausgelassen, wie er es immer gewesen war. Nichts außer der weißen Strähne, die ihm immer wieder unbezähmbar ins Gesicht hing, hatte sich an ihm verändert oder deutete darauf hin, daß er unsterblich sein sollte. Sie erreichte das wohlverborgene Lager. Kein Bratenduft lockte sie. Feochadan kam ihr entgegen. Die Entbehrungen hatten auch an ihr gezehrt, aber es schien ihrer Mutter, als würde es sie noch schöner machen. Ein Gefühl des Stolzes erfüllte ihre Brust, als sie der hochgewachsenen jungen Frau den Korb überließ. Feochadans volles langes Haar war zu einem dicken Kranz geflochten, der ihren Kopf umspannte wie eine kupferne Krone. Große grüne Augen blickten bedauernd auf die wenigen Pilze. »Hoffentlich haben die Männer mehr Glück als wir«, seufzte sie. »Schau, Mutter, wir haben nicht einmal genießbare Wurzeln gefunden!« Madawc ließ ihren Blick über die karge Ausbeute ihres Sammlerzuges schweifen. Ein winziges Büschel vertrockneter Kräuter, ein paar wurmstichige Äpfel, etwas morsche Rinde und ihre Pilze. Wenn wir wenigstens etwas Milch für die Kinder hätten! »’dhan!« rief Donn und rannte auf den Waldrand zu.
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Ein großer, schlanker Schatten löste sich aus dem diffusen Dunkel der Bäume. In den letzten Strahlen der Sonne blitzte eine silbrige Strähne in sonst schwarzem Haar wie ein Hoffnungsschimmer auf. Mit federnden Schritten kam er näher. Der Junge umsprang ihn wie ein kleiner Hund und redete wild auf ihn ein. Aodhan lachte herzhaft über Donns Geschichte und fuhr mit einer Hand liebevoll durch Donns Haar. »Schlingel!« schimpfte er ihn scherzend und wandte sich dann an der Frauen. »Ah, Madawc, bist du auch gerade gekommen! Feo‘, ich habe eine Stelle im Wald entdeckt, dort gibt es einen Wasserfall – himmlisch! Gleich Morgen müssen wir hingehen, ja!? – Zeigt mal, was habt ihr gefunden?« Seine Züge verzogen sich in gespielter Enttäuschung. »Das ist nicht sonderlich viel, ach ja, von dem Zeug gibt es dafür reichlich!« Ekel spiegelte sich in seinem Gesicht wieder, als er die Rinde sah. »Leg du erst einmal etwas auf die Tücher, ehe du zu nörgeln beginnst!« empörte sich Feochadan. Ihre Augen lächelten, aber etwas in ihrer Stimme zeigte Madawc, wie besorgt ihre Tochter über ihre Lage war. Aodhan trat theatralisch zurück. »Ich?! – Ich bin ein Held, vergeßt das nicht, werte Lady!« »Du wirst ein sehr hungriger Held sein, wenn du nichts mitgebracht hast!« drohte sie. Ihr Blick ließ ihn eindeutig wissen, daß sie von seinem Spaß nicht mehr allzuviel hielt. Aodhan blickte zu Donn hinab. »Ich glaube, ich habe die Lady verärgert …« Feochadan stemmte die Fäuste in die Hüften. Treib es nicht zu weit! mahnten ihre Augen. Er verneigte sich tief vor ihr. Unterwürfig sah er zu ihr auf. »Vielleicht kann das Euren Zorn mildern …?« Er erhob sich. Vor ihm lagen zwei magere Kaninchen. Er lächelte und zuckte entschuldigend die Schultern. »Mehr habe ich nicht fangen können. Leider sind die auch nicht besonders fett.« Donns Augen leuchteten. Kaninchen! Oh, das wird ein Festessen geben! Feochadan nahm wortlos die Kaninchen und brachte sie Muirne. Madawc sah Aodhan tröstend an, doch er brauchte keinen Trost.
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Ein breites Grinsen lag auf seinem Gesicht. Er hatte die Erleichterung in Feochadans Blick gesehen … Donn zupfte an Aodhans Umhang. »Nimmst du mich mit?« fragte er. »Wohin? Zum Wasserfall?« Aodhans Augen folgten Feochadan. »Wenn du willst – Feo‘ ist offenbar zu beschäftigt.« Ein zorniges Funkeln sprühte aus grünen Augen zu ihm. Er wußte, was er davon zu halten hatte. Der Zorn galt eher ihr selbst als ihm, aber … Strafe muß sein! Er hob Donn auf seine Schultern und ging mit ihm zum Feuer. Ban und die anderen Männer kehrten erfolglos von der Jagd zurück. Das Wild wußte um ihren Hunger und hütete sich davor, ihnen zu nahe zu kommen. Obwohl sie den ganzen Tag unterwegs gewesen waren, fielen sie nicht gierig über das wenige her, das auf ihren hölzernen Tellern verführerisch dampfte, sondern knabberten beinahe ehrfürchtig an jedem noch so winzigen Knochen. Madawc blickte durch das Feuer zu Aodhan, der Donn auf dem Schoß sitzen hatte. Sie bemerkte, wie er dem Jungen seine Portion überließ, als dieser, immer noch hungrig, seine Teller schon geleert hatte. Sie wußte, es war nicht das erste Mal, daß Aodhan dies tat. Madawc fürchtete um Aodhans Gesundheit. Seine dunklen Augen erfaßten ihren Blick. Für einen Moment glaubte sie, in dem tiefen Schwarz zu versinken … Ihre Befürchtung verblaßte … Hat er sich doch verändert?
∞ Noch bevor die Sonne den Horizont ganz überwunden hatte, waren Aodhan und Donn auf dem Weg zum Wasserfall. Aodhan wußte, daß es für ihn wichtigeres zu tun gab, als den Jungen zu irgendwelchen Plätzen zu führen. Feochadan würde ihm Vorwürfe machen, aber das war ihm gleich. Über alle Pfl ichten wollte er den Spaß nicht vergessen! So ernst unsere Lage auch ist, die Kinder sollten sich freuen und lachen können …
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Vielleicht hätte er Suileach und Flann auch mitnehmen sollen … Nein, Flann ist zu klein und Suileach kränkelt seit einigen Tagen. Der Weg wäre zu anstrengend für die Kinder gewesen. Er blickte zurück. Donn gab sich Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Kaum merklich verringerte Aodhan sein Tempo. Der Wald um sie herum schlief noch. Einzig das Geräusch ihrer Schritte und das leise Säuseln des Windes in den kahl werdenden Wipfeln war zu hören. Der Nebel, der am Abend aufgezogen war, huschte noch immer um die alten knorrigen Stämme. Aodhan blinzelte, aber das verschwommene Bild der im wogenden Nebelmeer ruhenden Felsen wurde nicht klarer. Für einen winzigen Moment erfaßte ihn Panik. Eine Hand schwebte über seinen Augen! Gefahr drohte von ihr! Dann plötzlich war sie verschwunden. Was er sich einbildete! Der Nebel liegt in der Luft, deshalb ist meine Sicht getrübt … »Ich höre Rauschen! Sind wir bald da?« riß ihn Donns klare Stimme aus seinen Gedanken. Er blieb stehen und lauschte. »Ja, es ist nicht mehr weit.« Nach wenigen Schritten standen sie an einem tiefen Abgrund. Die Schlucht war dicht mit Farnen und Büschen bewachsen. Ein silbrig glänzendes Band durchschnitt das herbstlich bunte Laub. Feine Wasserwölkchen stoben durch die Luft, wenn das klare Naß auf die schwarzen Felsen traf und sie polierte. »Er ist wunderschön«, hauchte Donn überwältigt. »Warte, bis die Sonne in die Schlucht scheint!« Gespannt sahen beide zu dem leuchtenden Blätterdach der Buchen und Eichen. Einige Sonnenstrahlen blitzten zwischen den Ästen hindurch. Ein blutrotes Buchenblatt funkelte geheimnisvoll. Es wehte lockend im Wind. Aodhans Aufmerksamkeit wurde von ihm gefangen. Er sah nichts mehr außer dem Blatt, dem Rot, dem Leuchten. Es blendete ihn fast, doch dann löste sich eine Form aus den Strahlen, ein Blatt.
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Es war Rot. Es leuchtete. Es blendete ihn. Eine Form entstand. Ein Blatt, ein Rot, ein Leuchten … »Du hast recht!« begeisterte sich Donn. Aodhan zuckte erschrocken zusammen. Verwirrt sah er den Jungen an, der staunend in die Schlucht schaute. Seine Augen folgten Donns Blick. Die Sonne brach sich in dem klaren Wasser, daß es blitzte wie ein Diamant, die Farne glühten wie Smaragde, die Felsen glichen Opalen und dunklen Saphiren. Der Wind hatte einer Buche ein Blatt gestohlen und trieb es vor sich her. Behutsam landete es im ruhigen, diamantenen Wasser. Es glomm so rot, daß das Feuer eines Rubins erblaßte. Aodhan glaubte, die Facette eines geschliffenen Juwels zu betrachten. In ihrem Innern reflektierten andere Facetten ihr Spiegelbild, in dem sich unzählige andere Schliffkanten spiegelten. Tiefer und tiefer lockten ihn die Spiegelungen zum Herzen des Juwels … Donn wandte sich um. Seine Lippen waren geöffnet, als wollte er etwas sagen, aber sie blieben stumm, als sein Blick auf Aodhan fiel. Dessen Züge waren seltsam entrückt und leer. Die dunklen Augen starrten in eine nur für sie sichtbare Welt. Unsicher stand Donn vor dem jungen Mann, der wie zu Stein erstarrt schien. Was soll ich tun? Ist ’dhan krank? Mußte er ihm helfen? Wie konnte er ihm helfen? … hat er eine Vision? Dann durfte er ihn auf keinen Fall stören! Aodhan rührte sich nicht. Die Angst des Jungen wuchs mit jedem Atemzug. Tränen der Hilflosigkeit kullerten lautlos über seine bleichen Wangen.
∞ Feochadan sah immer wieder zum Wald. Er ist ein Schurke! Wie konnte er mit Donn eine Wanderung machen, wo sie doch
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so dringend seine Hilfe gebraucht hätten?! Er sollte seine Kräfte und die des Jungen schonen! Es war verantwortungslos, sie derart zu vergeuden! Wegen eines Wasserfalls! Ha! Als gäbe es nicht unzählige Bäche, die irgendwann irgendwo in irgendeine Tiefe stürzen! Was war an diesem so besonderes? Er hatte den Platz ursprünglich ihr zeigen wollen, aber sie hatte ihn grob zurückgewiesen. Sie machte einen zögernden Schritt in Richtung Wald. Nein, sie war sicher, er wußte, daß sie ihm folgen und ihre Aufgaben vernachlässigen würde! Oh nein, ’ dhan, diese Genugtuung sollst du nicht haben! schwor sie sich innerlich und wandte sich wieder um, ihrer Arbeit zu. Madawcs Blick traf ihre Augen. Ein aufforderndes Lächeln um ihre Lippen schien zu sagen: Geh schon! Dankbar wirbelte Feochadan herum und rannte auf die Bäume zu. »Ich gehe nur, um ihn zurückzuholen!« rief sie ihrer Mutter über die Schulter zu. Beide wußten, daß es nicht der Wahrheit entsprach. Etwas ziellos trabte Feochadan durch den Wald. Es war albern gewesen, einfach loszugehen. Woher sollte sie wissen, wo der Wasserfall war? Sie könnten überall sein! Ein leuchtender Punkt schwebte plötzlich auf sie zu. »Nialle!« freute sie sich über den Anblick der Dhraghonyie. »Oh, Feochadan!« Der Klang ihrer sirrenden Stimme ließ ihr Herz einen Schlag lang aussetzen. »Wo ist er? Was ist geschehen?« »Es beginnt!« Obwohl die junge Frau nicht wußte, was sie meinte, ahnte sie doch, worum es ging. »Bring mich zu ihm!« »Nein, geh’ allein! Halte dich nördlich, dann stößt du auf sie. Ich muß Madawc und Sart holen.« Feochadan nickte betäubt und lief in die beschriebene Richtung. Es beginnt! echoten Nialles Worte in ihren Gedanken. Sie machten ihr Angst! Unwirsch riß sie die Büsche auseinander, die ihr den Weg versperrten. Aodhan sah sie überrascht an. Donn saß weinend auf seinem Schoß. Der Junge zitterte am ganzen Körper. Ihr plötzliches
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Auftauchen lenkte ihn aber von seinem Erschrecken ab, und sein Schluchzen verebbte. »Nanu, habe ich dir so gefehlt?« wunderte sich Aodhan neckend. Sie wußte nicht, sollte sie lachen, weinen oder wütend sein Gesicht zerkratzen! Er erhob sich. Unsicher kam sie näher. Seine Hand strich beruhigend Donns Kopf. »Kannst du …« begannen Feochadan und Aodhan gleichzeitig. Mit einer großzügigen Geste überließ er es ihr, den Satz zu vollenden. »Kannst du mir sagen, was hier vorgeht?« Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Das wollte ich gerade fragen: Du stürzt aus dem Gebüsch wie eine Furie und erschreckst uns fast zu Tode!« Ehe sie antworten konnte, brachen Madawc und Sart auf scheuenden Pferden aus dem Unterholz. Der Kobold sprang zu Boden und rannte zu Aodhan, der verwirrt zu ihm hinabsah. Aodhans Blick wanderte zu Madawc. In ihren grauen Augen stand die gleiche Sorge wie in den grünen des Kobolds. »Also gut, was, bei Lazzard, ist in euch alle gefahren?« Aodhan stemmte die Hände in die Hüften und schaute von einem zum anderen. Donn klammerte sich ängstlich an seinem Bein fest. »Nialle, sie sagte …« begann Sart, aber Aodhan schnitt ihm mit einer zornigen Handbewegung das Wort ab. »Nialle?! So, habt ihr uns wieder die Dhraghonyies als Spione hinterhergeschickt, wie?!« Er bemerkte Sarts Versuch einzulenken, kam ihm aber zuvor. »Mir ist gleich, welche Schwüre ihr aus welchem Grund geleistet habt! Ich will auch mal meine Ruhe! Könnt ihr euch vorstellen, wie es ist, wenn man auf Schritt und Tritt beobachtet wird?! – Nein, das könnt ihr nicht! Ich will, daß ihr damit aufhört, ist das klar?!« Er funkelte Sart an. Die Drohung in seinem Blick ließ dem Kobold kalte Schauer über den Rücken laufen, daß er unwillkürlich einige Schritte zurückwich. »Sie haben sich nur um dich gesorgt!« warf Madawc ein. Er fuhr herum. »Aus welchem Grund? Ich habe ihnen keinen Anlaß gegeben!«
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Madawcs Blick deutete auf Donn, der noch immer zitternd Aodhans Bein umfaßte. »Warum hat er geweint? Könnte es sein, daß es derselbe Grund ist?« Aodhan erwiderte kalt ihren Blick. So abweisend hatte sie ihn noch nie gesehen. Seine Hand strich sanft über Donns Kopf. Er sah dem Jungen liebevoll in die angstgeweiteten Augen. »Sag es ihr«, bat er leise. Unsicher schaute Donn zu Madawc. Sie fi xierte Aodhan. Etwas Lauerndes schien in ihrem Blick zu liegen. Der Junge zögerte. Hilfesuchend versanken seine Augen in tröstender und flehender Schwärze. Entschlossen löste er sich von Aodhan und trat Madawc entgegen. »Es war nicht seine Schuld. – Ich wäre beinahe gefallen, aber er hat mich festhalten können. Ich war so erschrocken, daß …« Es war ihm offensichtlich unangenehm, über seinen kindlichen Tränenausbruch zu sprechen. Madawc, Sart und Feochadan wußten, daß der Junge log, um Aodhan zu schützen – aber wovor?
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Elftes Kapitel Steig tiefer herab! Tiefer! Herab, herab in die Einsamkeit, in das Herz des kalten Kristalls, in die Welt, die keine ist! Finde nur Finsternis, hier, wo nach außen die Feuer glühen. Finde die Beraubung und Zerstörung aller Eigenheit! Sieh die Spiegel im Spiegel, in Spiegeln, in Spiegeln … niemals endend, zerstückelnd, zersetzend! Komm näher, spüre die Kälte des kristallenen Feuers! Sieh die Flammen! Ein Funken, er ist kalt, er spiegelt die Flamme. Sie ist kalt, sie spiegelt den Funken, Funken, Kälte, Spiegel, Flamme, Kälte, Spiegel!!! Niemals endend! Nie!! Ächzend fuhr er auf. In der Dunkelheit hörte er seinen eigenen keuchenden Atem. Kalter Schweiß perlte auf seiner Stirn und rann über seinen bloßen Rücken. Er spürte sich zittern. Was für ein Traum! Seine Hand tastete trostsuchend nach Feochadan. Sie brummte unwillig im Schlaf. Etwas an der Berührung ließ sie jedoch erwachen. »Was ist?« fragte sie schlaftrunken. »Ein Traum … nur ein Traum.« Der Klang seiner Stimme war beunruhigt, so, als wüßte er, daß dem nicht so war. Sie versuchte in der Dunkelheit sein Gesicht zu erkennen, doch es lag verborgen im Schatten. Das kalte Mondlicht brach sich auf seiner schweißglänzenden Brust. Ihre Hand strich behutsam über die weißen Narben, die Duilliaths Klauen hinterlassen hatten … »Wovon hast du geträumt? Er schwieg. »Von Dun na h-Eoin?« »Nein.« »Von dem Drachen?« »Hör auf damit! – Ich will nicht mehr daran denken!« fuhr er sie grob an, doch sie verstand seine Reaktion. Sie hatte sich auch nicht erinnern wollen. Feochadan spürte seinen Blick in der Finsternis. Es tat ihm leid, daß er so unwirsch zu ihr gewesen war. Vergeblich wartete sie auf entschuldigende Worte
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oder eine Geste, die sie einander wieder näher brachte. Die Stille war beinahe greifbar. Feochadan setzte sich auf und sah auf ihn hinab. Nun schien der Mond in sein Gesicht. Ein abwesender Ausdruck lag in seinen Zügen. Er wirkte so fremd und unnahbar. Früher hatte sie gewußt, was hinter den strahlenden dunklen Augen vor sich ging – oder sie hatte es zumindest schnell erraten. Doch nun ergab sich kein Anhaltspunkt. Es war, als versuchte sie einen Fisch aus einem zugefrorenen See zu fangen, den sie durch das Eis zwar sehen, aber nicht greifen konnte … Am Fenster bemerkte sie ein schwaches Leuchten. Liath. Was hat Nialle gemeint, als sie sagte, es begänne? Was beginnt? Sie hatte geglaubt, alles sei vorbei. Außer den Erinnerungen, die auch bald verblassen würden, sollte nichts bleiben – oder gar von neuem beginnen! Sie betrachtete Aodhan. Er war inzwischen wieder eingeschlafen. Seine Züge hatten sich entspannt. Die Distanz, die sie für kurze Zeit gespürt hatte, war verschwunden. Sie war ihm so nah wie immer. Liath klopfte leise an den Rahmen des Fensters. »Feochadan?« fragte er flüsternd in die Dunkelheit. »Ja?« »Ist etwas geschehen?« »Ein Traum«, wisperte sie zurück. Sie sah dem Dhraghonyie unschlüssig auf und ab schweben. »Er ist wieder ruhig?« Sie bejahte. Er schwieg nachdenklich. »Gute Nacht, Feochadan!« wünschte er schließlich gedankenverloren und entschwand in die Finsternis.
∞ Als Feochadan erwachte, war Aodhan nicht da. Sie sprang erschrocken auf und lief nur in ihrer Leinenwäsche aus dem Wagen. Die anderen waren schon eifrig dabei, die Wagen zum Aufbruch zu rüsten. Am Abend wollten sie Liosliath erreichen. Suchend, ja fast gehetzt, sah sie sich um. Panisch erkannte sie, daß er nicht im Lager war. Ban ging an ihr vorüber und sagte
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etwas zu ihr, aber sie hörte nicht zu. »Wo ist ’dhan?« fragte sie barsch. Ban musterte sie überrascht. Als er nicht sofort antwortete, packte sie ihn am Kragen. »Wo ist er?!« »Hier.« Sie fuhr herum. Aodhan lächelte sie unschuldig an, aber seine Augen blitzten Ban verschwörerisch zu. »Tu das nie wieder!« warnte sie ihn mit bebender Stimme. Der Schreck und die alte Erinnerung steckten ihr noch in den Knochen. Bedauernd blickte er in die Schale in seinen Händen, die voller Beeren war. »Schade, daß du nicht hungrig bist. – Ich hatte sie extra für dich gepflückt …, aber wenn du in Zukunft nicht mehr frühstücken willst …« Er zuckte die Schultern und steckte sich selbst eine Beere in den Mund. Langsam wich die Panik aus ihren Gedanken. Verständnislos sah sie ihn an. »Frühstücken?« Er umfaßte sanft ihre Schultern und schob sie zum Wagen zurück. »Eine Überraschung«, erklärte er. Sie sah so verängstigt aus, daß er ernst wurde. Sie lächelte schief. »Eine Überraschung«, echote sie. Erleichtert darüber hellten sich seine Züge wieder auf. Er grinste anzüglich und deutete auf ihre leichte Bekleidung. »Vielleicht solltest du dir besser etwas überziehen. Ich werde inzwischen die Beeren nicht mehr anrühren!« Er hob schwörend eine Hand. Sie küßte ihn flüchtig auf die Nasenspitze. Geschickt entwand sie ihm dabei die Schale. Sie lächelte ihm schelmisch entgegen. »Ich traue dir nicht!« Damit lief sie die Stufen hinauf, ihn dicht hinter sich wissend, und sie lachte unbeschwert.
∞ Der Tau lag noch über den Wiesen. Nur unwillig stieg der Nebel aus den Wäldern auf. Tief atmete Aodhan die feuchte Luft ein. Vor ihm auf dem schlammigen Weg hatte ein kleines Rudel Rehe seine Spuren hinterlassen, in denen nun das Regenwasser stand. Einige Spatzen hatte diese Pfützen als Bademöglich-
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keit genutzt. Jetzt schimpften sie ganz fürchterlich, weil er sie vertrieben hatte. Doch er ignorierte ihr Zetern und blickte zufrieden in das weite Tal vor ihm. Die Hügel wurden grüner. Lios war nahe. Dort herrschte selten Trockenheit. Nicht umsonst nannte man das Land der Elfen auch das Land der Seen. Aodhan kehrte immer wieder gern zurück. Für ihn war es die Heimat. Hier war er aufgewachsen. Blyann hatte ihm alles gezeigt und erklärt. Unzählige Male war er mit den jungen Elfen auf Erkundungswanderungen gewesen. Sie hatten Höhlen entdeckt und sich – trotz Verbot, sie zu betreten – natürlich prompt in ihren Gängen verirrt. Lannard, einer seiner Jugendfreunde, hatte eine Stelle im Wald entdeckt, an der jede Nacht ein Einhorn erschien, um bestimmte Kräuter zu verzehren. Voller Neugier waren sie aufgebrochen. Über eine Woche hatte niemand von ihnen geschlafen, aber sie hatten auch kein Einhorn gesehen. In der fünfzehnten Nacht, als alle schon längst in Traumwelten nach den sagenhaft Schönen suchten, trat das Einhorn endlich aus dem Dickicht. Staunend hatte er es betrachtet, und er war überwältigt gewesen von dem Anblick. Er seufzte versonnen. Leise Schritte näherten sich ihm, aber er wandte sich nicht um. Er hatte sie erkannt. Zwei schmale, zerbrechlich wirkende Arme legten sich sanft von hinten um seine Taille. »Träumer«, flüsterte Feochadans weiche Stimme zärtlich. Er lächelte und lehnte sich an sie. Über seine Schulter sah sie in das Tal. Sie war auch gern in Liosliath, obwohl ihr das Treiben der Stadt etwas zu lebendig war und sie nicht besonders gern seßhaft blieb. In Liosliath aber hatte sie Zeit für Aodhan und sich. Sie blickte dem Herbst immer mit Freude entgegen, denn nun kam die Zeit der Ruhe, die Zeit der Barden, ihrer Ge-
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schichten, die Zeit der Träume, die Zeit der Erinnerungen … Ein bitterer Geschmack legte sich in ihren Mund. Entschlossen schob sie das Kinn vor und umschlang Aodhan etwas fester. In dieser Zeit mußte es auch Erinnerungen geben, die vergessen werden konnten … »He, was hast du vor? Willst du mich zerquetschen?« protestierte Aodhan plötzlich und machte sich aus ihrer Umklammerung los. »Nein, ich bin nur soooo glücklich!« Sie wirbelte lachend herum. »Ah, du freust dich auf die Skagas!« »Ja!« Er grinste neckend und klopfte auf ihr mager gewordenes Hinterteil. »Paß nur auf, daß du nicht fett wirst von dem vielen süßen Zeug!« »Schuft!« fuhr sie auf und schlug spielerisch nach ihm, doch er wich lachend aus. »Du kriegst mich ohnehin nicht!« hänselte er. »Das werden wir sehen!« Damit rannten beide los und tollten über die Weiden. Inzwischen hatte Bans Wagen die Bergkuppe erreicht. Sein mächtiges Zugpferd keuchte und sein Atem wehte weiß davon. Ban sah lächelnd hinter den beiden her. Ja, es scheint wieder wie früher zu sein. »Wo sind sie?« Madawcs Stimme drang mürrisch zu ihm aus dem Wageninnern. »Wo werden sie sein?« fragte Ban zurück. Sie seufzte. »Sie sind wie Cuileans!« Ban lachte dröhnend. Seine blauen Augen blitzten. »Du warst doch auch mal jung, Madawc«, stichelte er liebevoll. Augenblicklich wurde der Vorhang, der das Innere des Wagen vom Bock trennte, beiseite gerissen. Majestätisch, wie eine Königin, blickte die weißhaarige Frau auf den hünenhaften Mann hinab. Eine der sanft geschwungenen Augenbrauen war warnend hochgezogen. »Willst du andeuten, ich sei eine Greisin?« Er grinste. »Das würde ich nie wagen!« Sie schüttelte lächelnd den Kopf und stöhnte: »Keinen Respekt!« Dann deutete sie auf Feochadan und Aodhan, die nun schon ziemlich weit entfernt über die Ebene stürmten. »Und keine Disziplin!« Vom zweiten Wagen
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schallte Brads kräftige Stimme zu ihnen. »Seid ihr angewachsen da vorn? Nun macht schon, sonst sind die beiden noch vor uns in Liosliath!« »Ja, ja, es geht schon weiter!« brüllte Madawc zurück. Zu Ban gewandt brummte sie: »Und Geduld haben sie auch keine!«
∞ »Komm! – Hier muß es irgendwo sein!« Er zog sie hinter sich her. Sie hatte Mühe, ihm zu folgen. Verfi lzte Brombeerhecken erschwerten es noch mehr. Wie kann er nur irgendeinen Weg in diesem Dickicht finden? »Wohin willst du eigentlich?« fragte sie atemlos. »Die Höhle! Sie muß hier sein! – Diese Eiche dort … und dieser Stein … ja, richtig! Komm!« Plötzlich standen sie vor einer steilen Böschung. Er zögerte nur kurz, doch das genügte Feochadan, um ihren Arm aus seinem Griff zu lösen. »Oh nein, da gehe ich nicht ‘runter!« prophezeite sie. Er beachtete ihre Weigerung nicht und rutschte den Hang hinunter. Suchend sah er sich um. »Na, also!« rief er erfreut aus und blickte zurück zu Feochadan. »Komm, Feo‘!« Sie schüttelte bestimmt den Kopf. »Feigling!« Das wollte sie sich nicht sagen lassen. Mit wenigen Sätzen war sie bei ihm. Er fi ng sie lachend auf. »Mylady! Caer An Beag!« Mit weitausholender Geste deutete er auf einen dunklen Höhleneingang. Skeptisch sah sie ihn an. »Kleine Festung? Ein seltsamer Name für eine Höhle.« Er zuckte die Schultern. »Wir haben sie als Kinder so genannt. Ihren wahren Namen habe ich vergessen.« Er nahm ihre Hand und ging auf die schwarze Öffnung im Felsen zu. »Du willst doch da nicht etwa rein?« »Natürlich, warum hätte ich dich sonst herbringen sollen … und …« ein zweideutiges Funkeln blitzte aus seinen Augen. »… und weshalb habe ich darauf geachtet, daß uns niemand folgt?«
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Sie sah ihn zweifelnd an. »Wir müssen nicht tief hinein«, versuchte er sie zu beruhigen. Endlich nickte sie und folgte ihm. Es war stockfi nster. »Wir haben kein Licht, laß uns umkehren!« Erleichterung klang aus Feochadans Stimme, einen Vorwand gefunden zu haben, nicht in den dunklen Schlund hinein zu müssen. »Wir brauchen kein Licht. Es ist nur ein kurzes Stück dunkel«, zerschlug er ihre Hoffnung leichthin. Tatsächlich erschien es ihr nach einer Weile nicht mehr ganz so schwarz zu sein. Vor sich konnte sie einen schmalen Schatten ausmachen und schemenhaft einige Stalagmiten erkenne. Der schmale Gang weitete sich stetig. Diffuses Licht erhellte ihn und ein Gurgeln wie von Wasser hallte von den glatten Wänden. Plötzlich legten sich warme Dampfschwaden über sie, als sie eine hohe Halle betraten, die rosig leuchtete. In ihrem Zentrum befand sich ein kleiner, nicht sehr tiefer See, der von warmen Quellen gespeist wurde. »Na, was sagst du?« Sprachlos sah sie sich um. »Es ist unglaublich!« brachte sie schließlich hervor. Er lächelte wissend. Ebenso war es ihm auch ergangen, als er zum ersten Mal in die Hohe Halle getreten war. Es dauerte eine Weile, bis beide den Anblick vollends in sich aufgenommen hatten. »Kann man darin baden?« erkundigte sich Feochadan auf den See deutend. Sein Grinsen beantwortete ihre Frage. Hastig entledigten sie sich ihrer Kleider und sprangen in das dampfende Becken des Sees. Kichernd und prustend planschten sie im warmen Wasser bis sie müde wurden. Erschöpft kletterten sie auf die Felsen zurück und trockneten sich ab. Aodhan zog sie sanft zu sich und küßte ihre bloße Schulter. Sie schmiegte sich an ihn und seufzte zufrieden. »Weißt du eigentlich, wann wir das letzte Mal allein waren?« fragte sie. »Es ist in jedem Fall zu lange her«, raunte er zurück. Sie nickte. Es war schön, seine Nähe zu spüren. »Ihr wart als Kinder hier?« Er nickte. »Wo sind deine Freunde? In Liosliath haben wir nie Elfen getroffen, die du von früher kanntest.« Er lächelte be-
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dauernd. »Sie tun, was alle Elfen tun, wenn sie in ihrem Alter sind … sie suchen Brugh na Boinne.« »Die Burg am Boinne? Die Burg aus der Sage von CuChullain?« Sie schmunzelte. »Sie ziehen aus, ein Märchen zu fi nden?« »Nein!« widersprach er heftiger als er wollte. »Brugh na Boinne ist wirklich! Eines Tages wird ein Suchender auf die verlorene Stadt treffen!« Aufgewühlt starrte er in das dampfende Wasser des Sees. Er duldete ihre liebkosende Hand mehr, als daß er sie genoß. Sie versteht es nicht! Sie ahnte nicht einmal, was diese Burg den Elfen – und ihm bedeutete! »Vielleicht ist es gar nicht so dumm, nach einer Sage zu suchen«, wisperte sie versöhnlich. »Vielleicht ist Brugh na Boinne genauso wirklich wie du …« Sie küßte ihn und bemerkte die Spannung nicht, die sich auf ihn legte.
∞ Wenige Stunden nach der Ankunft des Trecks erreichten auch Aodhan und Feochadan die Elfenstadt. Sie wurden herzlich begrüßt. Als sich die allgemeine Aufregung etwas gelegt hatte, schlenderten sie zum großen Platz, wo sie, wie in jedem Jahr, überwintern würden. Donn hockte lustlos auf dem Kutschbock. Feochadan bemerkte seinen vorwurfsvollen Blick. Sie schickte Aodhan voraus und ging zu dem Jungen. Beinahe böse sah er ihr entgegen. »Hattet ihr Spaß?« fragte er patzig. »Oh, ja. Es war sehr schön. Mir scheint, daß du einen weniger guten Tag hattest.« Schmollend schob er das Kinn vor. Sie setzte sich neben ihn. »Ich verstehe deinen Ärger«, sagte sie sanft. »Ich wäre auch am liebsten immer bei ihm.« Donn verdrehte die Augen. »Aber wir wissen beide, das ist nicht möglich.« Der Junge konzentrierte sich offensichtlich zu Tode gelangweilt auf seine schmutzigen Füße, die er wild hin und her baumeln ließ. »Ach, Donn, mach doch nicht so ein Gesicht! – Du verdirbst ihm damit alles.« Er sah sie flüchtig an. Was meinte
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sie? »Willst du, daß er sich zwischen uns entscheiden muß, daß er sich dem anderen gegenüber immer rechtfertigen muß, daß er ihm gegenüber ein Schuldgefühl hegt? Willst du, daß er traurig wird?« Langsam schüttelte Donn den Kopf. Sie legte kameradschaftlich den Arm um seine Schultern. »Wie sollten ihn uns teilen, was meinst du?«
∞ Sart baute sich vor Aodhan auf. Der Kobold, der ihm nur bis zur Hüfte reichte, tippte gereizt mit dem Fuß, seine muskulösen Arme waren vor der Brust verschränkt. Die grünen Augen schillerten tadelnd im abendlichen Licht. »Du machst es uns nicht gerade einfach!« warf er dem hochgewachsenen Tinker vor. »Ich tue, was ich kann«, ein merkwürdiger Unterton klang in Aodhans Stimme mit. »Wir wollen dich nicht bespitzeln …« Die Szene am Wasserfall hatte Sart sehr getroffen, und er wußte, die Dhraghonyies empfanden ebenso. »Ihr hättet auch nicht viel zu sehen bekommen!« »Aodhan, sei doch vernünftig. Wir wollen doch gar nicht alles sehen. Wir wüßten nur gern, wo du bist, damit …« Blitzschnell packte der junge Mann ihn am Kragen. Sart beherrschte sich und ließ ihn widerstandslos gewähren. Tiefschwarze Augen drangen bis tief in sein Inneres. »Warum, Sart? Damit … was? Glaubst du, ich bekomme plötzlich Flügel oder Hörner? Der Stein hat nichts verändert, hörst du, nichts! Ich bin, was ich immer war, ein Mensch! – Ich kann nicht zaubern, fl iegen oder verschwinden! Ich habe keine Magie! Es gibt nichts zu sehen!« Er stieß ihn hart von sich und verschwand in der Dunkelheit. Sart richtete seine Kleider und sah ihm nach. Er spürte eine Bewegung neben sich und sah zu Blyann auf. Angst spiegelte sich in den bernsteinfarbenen Augen des Elfen. Angst, daß er eine falsche Entscheidung getroffen hatte.
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Aodhan bebte vor Zorn. Mit weitausholenden Schritten verließ er die Stadt. Er wollte nichts hören vom Lachen und von der Musik. Er wollte allein sein, allein mit seiner Wut. Je weiter er in die Nacht hinein lief, um so ruhiger wurde er. Worauf war er wütend? Auf Sart, der sich um ihn sorgte? Auf sich? Auf die Magie, die sich nicht zeigen will! Vor einem großen, silbrig glänzenden See blieb er stehen: Airgiod. Aodhan hockte sich auf einen flachen Stein und betrachtete die ruhige Fläche, in der sich der nächtliche Himmel spiegelte. Gespenstische Nebelschwaden strichen über ihn hinweg. Es war völlig still. Kein Käuzchen rief, kein Hase stahl sich durch raschelndes Gras, keine Kröte unkte. Es war kalt. Sein Atem wehte weiß von seinen Lippen. Gedankenverloren hing sein Blick auf der glatten Wasserfläche. War da nicht eine Bewegung?! – Tatsächlich! Unruhige Wellen wühlten Airgiod auf, daß es schien, als brodelte der See! Gebannt beobachtete Aodhan das unheimliche Schauspiel. Ein Wirbel bildete sich in der Mitte des Sees. Zunächst war er so winzig, daß er ihn kaum bemerkte. Schneller und schneller drehte sich der Wirbel und wuchs und wuchs. Plötzlich war es, als fiele das Wasser in unendliche Tiefe. Erschrocken klammerte sich Aodhan an dem Stein fest, auf dem er kauerte. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Hinter sich fühlte er eine andere Bewegung. Es musste Blyann sein. – Es konnte nur sein Ziehvater sein, außer ihm kannte fast niemand den fast verwunschenen See. Blyann sprach zu ihm. Aodhan wandte sich ihm zu und sah ihn an … Nein, er versuchte es, aber so sehr er sich bemühte, es gelang ihm nicht, den Elf zu fi xieren. Was ist los mit mir?! Was er auch ansah, es verschwamm vor seinen Augen. Blyann sagt etwas, aber was?! »Bitte, ich …«, Aodhan fehlten die Worte. Er wußte nicht, was er erwidern wollte. Die Stimme Blyanns
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sprach noch etwas, das Aodhan wieder nicht verstand. Er schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu ordnen, die wirr durcheinander rasten. Doch dadurch engte sich sein Gesichtskreis noch weiter ein. Aodhan fühlte sich bedroht und unsicher. Seine Bewegungen schienen durch eine unsichtbare klebrige Masse gehemmt zu werden. Seine Augen brannten. Die Bilder, die sie sahen, verschwammen immer mehr zu farbigen Schatten. Dumpf drangen Geräusche zu ihm. Er kannte sie, dennoch klangen sie erschreckend bedrohlich. Konzentrieren! schoß es durch seinen schmerzenden Kopf. Ich … muß … ich … m … mich … ich … nein … kon … nein … zen …trier … Verzweifelt versuchte er immer wieder gedanklich den Satz zu sprechen, doch Worte, Buchstaben, Laute kreisten in dem chaotischen Strudel des Sees in seinen Gedanken, in seinem dröhnenden Schädel. Blyann! flehte sein Verstand. »Rah … na …« brabbelte seine bleischwere Zunge. Er konnte nicht einmal den Namen des Elfen aussprechen. Was geschah mit ihm?!!! Plötzlich fühlte er eine überwältigende Schwäche. Kraftlos sank er zu Boden. Bunte Wirbel waren alles, was er sah. Diffuses Rauschen durchdrang seine Gedanken und löschte sie. Ein drückender Schmerz lastete auf ihm. Er sah seine Hände zu seinen Schläfen greifen, fühlte aber nichts, außer dem Schmerz. Dumpfes Murmeln gelangte aus weiter Ferne zu ihm. Er versuchte zu antworten, brachte aber nur ein Keuchen zustande. Die Farbschatten bewegten sich. Sie rotierten schneller, schneller, schneller! Übelkeit stieg in ihm auf. Sein Kopf! Er zersprang fast vor Schmerz. Sehen konnte er nun nichts mehr. Unvermittelt wich die Taubheit aus seinen Fingern, seiner Zunge, seinem ganzen Körper … Sein Blick klärte sich, aber der Schmerz blieb. Blyann stand vor ihm und starrte ihn besorgt an. »Es geht wieder« sagte Aodhan mehr zu seiner eigenen als zu Blyanns Beruhigung, aber seine Stimme klang zu brüchig, um überzeugend zu sein. »Was war mit dir? Du hast dich ganz
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seltsam benommen.« »Nichts. – Es ist vorüber …« Was Blyann wohl von seinem Kampf miterlebt hatte? Er wollte auf keinen Fall, daß man ihm vor lauter Sorge wieder atmende Schatten hinterher schickte, so bald er sich auch nur einen Meter entfernte. Also verbarg er, wie schlecht es ihm ging und erhob sich etwas unsicher mit dünnem Lächeln. »Laß uns wieder zu den anderen gehen. Es wird kalt.« Der Elf nickte stumm und ging zögernd voraus. Aodhan sah zurück auf den harmlos daliegenden See. Ruhig und unschuldig spiegelte er den Nachthimmel. Etwas blitzte kurz auf. Er betrachtete es und sah sein eigenes blasses, aufgewühltes Spiegelbild. Ränder lagen unter vor Schmerz dunklen Augen. Sonst sah man seinen Zügen nichts von dem Chaos an, das eben noch in ihm getobt hatte. Blyanns Gesicht tauchte ebenfalls in der spiegelnden Wasseroberfläche auf. Fragend waren des Elfen Augen auf ihn gerichtet, aber Aodhan wußte selbst nicht, was geschehen war.
∞ Aodhan lag wach und blickte aus dem Fenster zum tiefblauen Nachthimmel. Er fühlte sich erschöpft, wagte aber nicht einzuschlafen, aus Angst, Bilder aus seiner Erinnerung im Traum erneut zu sehen. Angestrengt versuchte er, an etwas anderes zu denken. Feochadan … Er stellte sich ihr schmales Gesicht vor, die offenen Augen, den schönen Mund … Das Bild verschwand plötzlich. Ihr kupferfarbenes Haar … Ehe er den Gedanken zuende gebracht hatte, zerfiel er. Leere. Nichts … Weiß, weiß, weiß, weiß, weiß, weiß, weiß … Ein Horizont im Nichts. Er versuchte sich ihm zu nähern, doch es schien ihm, als käme er nicht voran, und er war müde. Ein Punkt am Horizont im Nichts! Also bewegte er sich doch,
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aber er kam dem Punkt nicht näher! Verharrte er? Nein, der Punkt, das Etwas wurde größer. Ein weißer Rahmen. In dem Weiß ein Horizont. Am Horizont ein Punkt … Der Rahmen zersplitterte. Weiße Bruchstücke funkelten und blendeten ihn. Keine Bewegung mehr. Keine Angst. Keine Erschöpfung. Weiß. Nicht tief, nicht hoch, nicht weit, nur weiß. Weiß, weiß, weiß, weiß, weiß … Nein, nicht weiß. Es gab verschiedene Flächen. Die Kanten bildeten sich blitzschnell, wie bei einem Eiskristall breitete sich das Netz aus. An einem Punkt trafen sich einige der Linien. Es gab viele, wie ihn, unendlich viele, aber Aodhan sah nur ihn. Er wurde von ihm angezogen. Er konnte seiner Macht nicht entweichen. Lichtkreise umgaben den Punkt … Pulsend leuchteten sie auf und erloschen. Aodhan war in ihrem Rhythmus gefangen. Voller Schrecken erkannte er ihn. Verzweifelt kämpfte er dagegen an, obwohl er wußte, wie sinnlos es war. Das wogende Murmeln vieler Stimmen … Ein keuchendes Geräusch – dann spürte er feuchte Wärme im Genick. Metall klirrte unnatürlich laut. Er war so müde! Ein Sprung. Nichts. Ruhe. Angst – und das Wissen darüber, was folgen würde! Kälte. Kristalle. Sie spiegelten sich in sich selbst – auf ewig. Hitze. Flammen. Sie züngelten und strahlten prasselnd, versengten, vertrockneten, daß alles zu Staub zerfiel.
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Ein Staubkorn. Es gab unendlich viele, die waren wie dieses, und alle trugen die Erinnerung der Flammen in sich. Ihr Prasseln hallte in ihnen – auf ewig. Luft. Unsichtbar und doch lebenswichtig. Ein- und Ausatmen. Ein. Aus. – Auf ewig. Dunkelheit. Farbigkeit. Weißheit. Volle Leere. Keine Gedanken. Keine Gefühle und doch alles auf einmal, denn alles trug alles in sich. Nichts war alles – auf ewig. Wasser. Klar. Undurchdringlich. Weich und doch stärker als Stahl oder Stein. Jeder Tropfen trug alles in sich. Jeder Tropfen spiegelte den anderen und in ihnen sich selbst – auf ewig. Nichts. Ruhe. Bewegung. Werden. Vergehen. Möglichkeiten, die ungenutzt bleiben, die immer sind und niemals sein werden – auf ewig. Lemniskate. Kristall. Flammend. Lebend. Alles in sich vereinend. Undurchdringlich klar in bewegter Ruhe. In den Facetten ein Bild. Aodhan konnte es nicht erkennen. Die Facetten rasten auf ihn zu. Entsetzt sah er sein Spiegelbild und schrie! Kräftige Hände schüttelten ihn. Eine Stimme drang zu ihm, die sich vor Angst überschlug. »Aodhan! Komm zu dir!« Er öffnete die Augen und blickte in Sarts bleiches Gesicht. Hinter dem Kobold erkannte er die verschreckten Züge der Tinkers. Feochadan kniete schluchzend neben ihm. Jetzt spürte er, wie er zitterte. Sein Hemd klebte an seinem schweißnassen Körper. Etwas Warmes rann durch seine Hände. Verwundert blickte er auf die blutigen Abdrücke seiner
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eigenen Nägel. Blyann drängte sich durch die Tinkers. Eine steile Sorgenfalte hatte sich in die Stirn des Elfen gegraben. »Bring sie raus«, trug er Sart auf. Der Kobold berührte Feochadan sanft an der Schulter. »Ich werde nicht gehen!« kreischte sie hysterisch und schlug nach ihm. Sart versetzte ihr unvermittelt einen Fausthieb, der sie ohnmächtig werden ließ. Mit etwas Mühe zerrte er sie von Aodhan weg. Ban nahm ihm den leblosen Körper ab und trug ihn in die Dunkelheit. Eilig zogen sich die Tinkers zurück, als der Kobold sie daraufhin zum Gehen aufforderte. Nur Madawc und Donn verharrten starr auf den Stufen des Wagens. Blyann warf ihr einen drängenden Blick zu. Betäubt schob sie den Jungen vom Wagen weg. Der Elf wandte sich seinem Schützling zu. Aodhans dunkle Augen starrten ins Leere. Äußerste Spannung spiegelte sich in ihnen und den aschfahlen Zügen. »Was ist geschehen?« fragte Blyann. Seine Stimme war voller Emotionen. Angst, Schuld, Liebe, Sorge. Aodhan schien ihn nicht zu hören. »Versuch dich zu erinnern! – Wir wollen dir helfen!« versuchte es der Kobold. Die schwarzen Augen glühten plötzlich. »Ich will mich nicht erinnern«, der brüchige Klang ließ keinen Zweifel über seine Entschlossenheit. »Ich will nicht darüber reden. Ich werde es nicht anerkennen.« »Du mußt sprechen. Du kannst nicht allein damit fertig werden!« appellierte Blyann. »Sag uns, was mit dir geschieht!« Sein forschender Blick prallte an Aodhans plötzlich ausdruckslosen Zügen ab. »Nichts.« Sart packte seine zerkratzte Hand und hielt sie ihm vor Augen. »Reagierst du so auf nichts?« Aodhan wich seinem Blick aus. »Ich bin müde!« »Also gut«, gab Blyann nach. Sart wollte protestieren, aber der Ausdruck in den Augen des Elfen ließ ihn schweigen. »Ruh dich aus. Wir werden morgen darüber reden.« Ohne ein Wort schloß Aodhan die Augen. Fast augenblicklich schlief er ein. »Bleib bei ihm!« Sart nickte. Er wäre nun keinen Schritt von der Seite des Bewahrers gewichen.
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∞ Madawcs Hand strich behutsam über Feochadans Kopf, der in ihrem Schoß ruhte. Benommen öffnete die junge Frau kurz darauf die Augen und sah sie verwirrt an. Ein dumpfes Pochen an ihrem Kiefer ließ die Erinnerung wiederkehren. Sie fuhr zornig auf. Madawc hielt sie zurück. »Es ist besser, du bleibst. Blyann und Sart wissen, was sie tun.« Grüne Augen funkelten sie an. »Sie wollen uns trennen! »Madawc nickte. »Aber nur zu eurem Besten …« »Was gut für mich ist, kann ich selbst entscheiden!« Die schmale Hand ihrer Mutter legte sich auf ihren Arm. Ihre grauen Augen sprachen Bände. »Er kann es nicht – im Moment.« Unschlüssig sah Feochadan zu dem Wagen, dann schüttelte sie Madawcs Hand ab und ging hinüber. Sart versperrte ihr den Weg. Entschuldigend deutete er auf den roten Fleck an ihrem Kinn. »Tut mir leid. Ich wußte nicht, was ich anderes machen sollte«, sagte er leise. Sie versuchte an ihm vorbeizusehen. Er folgte ihrem Blick. »Aodhan schläft.« »Kann ich zu ihm?« Sart schüttelte zögernd den Kopf. »Warum nicht?!« Der Kobold betrachtete den Schlafenden gedankenverloren. Seine grünen Augen suchten ihre. »Blyann und ich, wir glauben, daß die Magie in ihm erwacht.« »Was bedeutet das?« Sie sah die Unsicherheit in seinem Blick. Er schien die Antwort selbst nicht zu wissen. »’dhan kann sie nicht kontrollieren«, erklärte Blyann, der plötzlich hinter Feochadan stand. »Er weigert sich, sie anzunehmen. Er kämpft mit ihr. – Dabei könnte es geschehen, daß jemand in seiner Nähe von der freien Magie verletzt wird …« Feochadan sah ihn mit großen Augen an. Ein flaues Gefühl breitete sich in ihr aus. Das haben die Dhraghonyies gemeint … Es ist nicht vorüber. Im Gegenteil. Es beginnt erst!
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»Kann ich ihm irgendwie helfen?« Blyann schüttelte bedauernd den Kopf. »Laßt ihn eine Weile in Ruhe. Sart und ich wechseln uns ab. Wir bleiben bei ihm. Er ist nicht allein.« Die junge Frau wandte sich betäubt um und ging. Erleichtert sah Blyann ihr nach. Der Elf spürte einen fragenden Blick. Sarts Züge spiegelten Hoffnung wider. »Ihr habt die Antwort?« Blyann lachte freudlos auf. Der Kobold erschauerte unter diesem verzweifelten Laut. »Ich habe ihr eine Geschichte erzählt, die ihre Wirkung nicht verfehlt hat, oder?!« »Erfunden? Ihr habt alles erfunden?!« Blyann zuckte die Schultern und blickte zu Aodhan. »Vielleicht ist ein bißchen Wahrheit an dem, was ich sagte …«
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Zwölftes Kapitel Blyann saß am Feuer, den Kopf in die Hände gestützt und grübelte. Cein beobachtete ihn seit einer Weile. »Hat sich etwas an seinem Zustand verändert?« erkundigte er sich schließlich. Ohne aufzublicken schüttelte Blyann den Kopf. »Nichts.« Seine bernsteinfarbenen Augen starrten in die Flammen und suchten nach einer Antwort. »Nach dem plötzlichen Fieber war er so matt … zwei Wochen … seit zwei Wochen schläft er … Er will nicht aufwachen.« Cein nickte. Der Junge wehrt sich noch immer gegen sein Schicksal. »Was ist mit den anderen?« Sein Sohn seufzte. »Sie sind voller Sorge … Madawc, sie verliert ihren Lebensmut. Jeder Tag, an dem er die Augen nicht öffnet, läßt sie um Jahre altern. – Ich glaube, sie stirbt aus Gram.« Seine Stimme zitterte vor Trauer um sie. »Feochadan leidet doppelt. Sie verliert ihn und vielleicht ihre Mutter. Aber sie ist stark genug, um nicht daran zu zerbrechen.« »Hast du sie zu ihm gelassen?« Blyann schüttelte den Kopf. Es klopfte. Erschrocken sah der Elf zur Tür. Sart stieß sie auf. Ein eisiger Wind fegte in den Raum und legte sich erdrückend auf Blyanns Brust. Die vor Kälte geröteten Wangen des Kobolds glühten vor Aufregung. »Er ist wach!« keuchte er. Ungläubig starrte Blyann ihn an. »Er ist wach!« rief Sart nochmals. Endlich drangen seine Worte in das Bewußtsein des Elfen. Ohne seinen Umhang rannte er in die Kälte hinaus zum großen Platz, Cein und den Kobold hinter sich wissend. Mit zwei großen Sätzen war er im Wagen und riß ungestüm den Vorhang beiseite. Aodhan saß aufrecht auf seinem Lager. Blyann bemerkte seine Veränderung sofort. Die markanten Züge seines Schützlings waren maskenhaft und ohne jeden Ausdruck. »’dhan«, sprach er ihn vorsichtig an, aber er reagierte nicht. Völlig bewegungslos saß er da und starrte durch sie hindurch. Blyann
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berührte ihn zögernd. Für wenige Augenblicke verschwand die Stumpfheit aus den schwarzen Augen. Sie sahen ihn, erkannten den Elf scheinbar erfreut. Sie nahmen sein Bild auf. Blyann fühlte, wie etwas von sich durch diese schwarzen Augen verschwand. Gleichzeitig erfüllte ihn das Wissen, daß dieser Teil von ihm nie verschwinden würde … Dann legte sich der Schleier der Abwesenheit wieder über Aodhans Blick. Blyann konnte ihn nicht noch einmal aus seiner Starrheit erlösen. Hilfesuchend sah er sich nach seinem Vater und dem Kobold um, doch ihre Mienen warfen wie Echos seine Frage zurück. Er bemerkte eine Bewegung hinter Cein – Feochadan. Nach kurzem Zögern ging sie mit steifen Schritten an Sart vorbei auf ihn und Aodhan zu. Sie wirkte gefaßt. Langsam ließ sie sich neben Aodhan nieder. Ihre Augen strichen über sein Gesicht, das so fremd und doch so schmerzhaft vertraut war. Sie wagte nicht, ihn zu berühren oder anzusprechen. Sie befürchtete, es sei ein Traum. Wie damals … Zum zweiten Mal war er ihr genommen worden. Zum zweiten Mal kehrte er nun zurück. Sie war damals zu glücklich gewesen, um seine inneren Verletzungen zu sehen. Jetzt waren sie offensichtlich. Tief in ihrem Innern wußte sie, daß er sich davon nicht mehr erholen würde, und so war ihre Freude durch vorahnende Trauer getrübt. Sie spürte die Blicke Blyanns, Ceins und die des Kobolds. Feochadans Augen aber versanken in unergründlichem Schwarz. Sie erkannte, daß die magischen Wesen nichts wußten. Woher sollten sie es wissen? Was geschieht, ist etwas Neues, etwas nie Dagewesenes, etwas Einmaliges. Keine Geschichte, Sage oder Ballade sprach von etwas Vergleichbarem. Sie lächelte traurig. So sehr sie sich bemühen würden, sie konnten ihm nicht beistehen. Es gab keinen Rat, den sie ihm geben konnten und keinen Trost … Einen Moment lang glaubte sie, Aodhan blickte sie an. Ein bestätigender Ausdruck schien in seinen Augen zu liegen. Sie erhob sich wie unter einer schweren Last. Die in ihr erwachsende
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Absicht drückte sie nieder. Sie wandte sich nicht um, als sie ging. Die Elfen und der Kobold sahen ihr verwirrt nach. »Sie weiß es«, stellte Cein fest, ohne selbst zu wissen, was.
∞ Madawc lag in Felle und Decken gehüllt kraftlos danieder. Ihre grauen Augen blickten trübe zu der schlanken Gestalt auf, die durch den Vorhang trat. »Wie geht es ihm?« fragte sie und hustete hart. »Besser, Mutter.« Madawc nickte matt. Das sagte Feochadan seit einer Ewigkeit! Sie hörte sie mit Geschirr klappern. »Ich habe keinen Hunger.« »Du mußt essen und zu Kräften kommen!« Madawc wollte widersprechen, ein Hustenanfall verhinderte dies jedoch. Als sie sich etwas beruhigt hatte keuchte sie: »Wozu? Er stirbt auch …« Feochadan sah sie fest an. Etwas in den grünen Augen ließ sie neue Hoffnung fassen. »Er wird nicht sterben, Mutter. Er ist unsterblich.« Sie sah durch das Fenster zu dem Wagen, aus dem Sart gerade heraustrat. »Er wußte es nur noch nicht …« Sie ahnte, daß er es von nun an erkennen würde. Aodhan hatte sich dagegen gewehrt, es zu leugnen versucht, aber nun würde er lernen, daß sein Widerstand nutzlos war. »Mutter, bitte iß. – Wir müssen Liosliath verlassen.« Madawc starrte sie aus weiten Augen an. »Jetzt, wo er Winter bald hereinbricht?« Feochadan war entschlossen. Ihre Mutter wußte, sie hatte ihre Gründe. Sie war ihr plötzlich so ähnlich … Madawc betrachtete sie. Nein, sie ist größer als ich, viel größer! »Wohin willst du?« »Die Haraleah ist vor dem ersten Schnee noch zu erreichen.« Madawc nickte. Dort gab es eine kleine Waldläufersiedlung, in der sie immer willkommen waren. »Ban kann unseren Wagen lenken, dann kannst du bei ihm sein.« Feochadan schüttelte den Kopf. »Aodhan wird nicht mit uns kommen.« Madawc erinnerte sich an ihren überstürzten Aufbruch aus Caerdale. Sie spürte den anklagenden Blick ihrer Tochter, als sie ohne ihn abfuhren, erneut … Was war vorgefallen? Voller Angst
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suchte sie Feochadans Augen. Sie glänzten feucht. »Er muß seinen eigenen Weg gehen«, erklärte ihre Tochter mit belegter aber fester Stimme. »Wann willst du fahren?« Feochadan wandte sich ab, damit Madawc nicht sehen konnte, welche Überwindung es sie kostete, diese Entscheidung vollends zu treffen. »Morgen.«
∞ Blyann sah erstaunt auf, als es bestimmt klopfte. Cein öffnete die Tür. »Feochadan?! Tritt ein!« begrüßte er sie. Förmlich ging sie an ihm vorbei. Sie wirkte majestätisch und trotz ihrer Jugend älter als Cein, ja, sogar älter als Lazzard! »Blyann, Cein, ich habe eine Bitte«, ihre Stimme klang kraftvoll und unbeugsam, wie die ihrer Mutter. »Sprich!« »Wir werden morgen aufbrechen und brauchen Proviant.« Blyann sprang auf. »Morgen? Warum?! Es wird bald zu schneien beginnen … Ihr wart jeden Winter in Liosliath!« »Es ist wegen Aodhan.« »Du kannst ihn nicht mitnehmen!« fiel Blyann ihr ins Wort. Sie sah ihn an, und er beruhigte sich. »Ihn betrifft meine zweite Bitte. Er ist kein einfacher Mensch mehr. – Er ist ein Wesen der Magie, wie ihr. Er muß jetzt in dieser Welt bleiben und uns vergessen – so wie damals, als du ihn mit Madawc fortgeschickt hast, damit er euch vergisst.« Sprachlos starrte Blyann sie an, und sie fuhr ruhig fort. »Wir werden nicht mehr hierher zurückkehren. Wie werden auch unsere alten Wege nicht mehr benutzen. – Sag ihm, er soll uns nicht suchen.« Betäubt nahm er die Worte auf. Nur langsam verstand er ihren Sinn. »Wirst du mir diese Bitte erfüllen, Blyann?« Er nickte stumm. Sie seufzte erleichtert. »Wann wollt ihr euch von ihm verabschieden?« fragte Cein, tief beeindruckt vor ihrer Rede. Offen sah sie ihn an. »Ich denke nicht, daß es gut ist, wenn er von unserem Aufbruch erfährt.« Der alte Elf nickte verständnisvoll. »Dann laß uns eure Verpflegung zusammenstellen.«
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∞ Zitternd vor Kälte und Anstrengung erreichte Madawc Bans Wagen. Mühevoll erklomm sie die Stufen. Sie zögerte, ehe sie den bunten Vorhang beiseite schob. Aodhan saß unbewegt auf seinem Lager. Sein leerer Blick war ins Nichts gewandt. Mit schleppenden Schritten ging sie auf ihn zu. »Junge«, flüsterte sie mit krächzender Stimme. »’dhan.« Er bemerkte sie nicht. Etwas in dem Nichts, in das er starrte, beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit. Sie strich sanft über sein bleiches Gesicht. Ein kaum merkliches Schaudern durchlief seinen Körper. Sein Blick wurde klarer. Die dunklen Augen fi xierten die alte Frau. Erschrecken lag in ihnen. Erschrecken über den rasenden Zerfall ihres Körpers, über die Nähe ihres Todes! Unwillkürlich wich er zurück, als ihm der scheußlich süße Geruch der Verwesung in die Nase zu steigen schien. Angewidert ertrug er ihre Berührungen, unfähig, etwas zu tun. Die Alte ließ ihn los. Der Ekel verschwand und die Leere kehrte wieder. Er bemerkte nicht, wie Feochadan und Sart Madawc aus dem Wagen führten. Er bemerkte nicht einmal Blyann, der ihm aufhalf und mit sich zog. Er folgte ihm. Es war ihm gleichgültig, wohin und warum.
∞ Cein stand an der geöffneten Tür und sah hinaus. Sein Blick hing an der Gestalt eines jungen Mannes, der auf einer der Brücken stand und in die schneebedeckte Ferne starrte. Unbeweglich, fast wie eine Statue, verharrte er in der klirrenden Kälte. Der schneidende Wind riß an seinem Haar. Er zerzauste die weiße lange Strähne mit den übrigen Schwarzen. Cein erkannte die Niedergeschlagenheit in seiner Haltung. Aodhan war über die Abreise immer noch nicht hinweg gekommen, obwohl sie
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schon Monate zurücklag. Blyann trat neben seinen Vater. »Ob er es je verstehen wird?« fragte er zweifelnd. »Er hat es schon begriffen. – Er gibt es nur nicht zu.« Der alte Elf fröstelte. »Hol ihn besser rein, sonst bekommt er wieder Fieber.« Blyann ging in den Schnee hinaus. Aodhan hörte ihn kommen, aber er wandte sich nicht zu ihm um. Seine dunklen Augen glitten suchend über das reine Weiß des Schnees. Aodhan zitterte – nicht vor Kälte, sondern wegen der damit verbundenen Erinnerung. Alles, was er betrachtete, barg irgendeine Erinnerung. Sie schoben sich vor alle anderen Gedanken. Er wußte, Blyann sah den Schnee ebenfalls, aber der Elf sah nicht das Weiß … Niemand außer mir sah je das Weiß … Irgendwo in diesem Weiß gab es einen Punkt, der ihm vertraut war, zu dem er gelangen wollte, jedoch sie ließen ihn nicht gehen. Ein Schneeball flog dicht an ihnen vorbei und zerstob, als er einen Baum traf. Aodhan hörte das Lachen der Elfenkinder, die im Schnee spielten. Donn … Wie mochte er es verwunden haben? Ein trauriges Lächeln blitzte in seinen Augen auf. Wiell hatte ihm erzählt, daß die Ballade die Idee des Jungen gewesen war. Er versuchte sich an den Text zu erinnern, aber statt der Worte durchdrang Schmerz seinen Kopf, wie so häufig. »Laß uns hineingehen«, schlug Blyann bibbernd vor. Aodhan spürte die Kälte nicht wie der Elf sie spürte. Ihm war es gleich, ob er draußen oder am Feuer stand. Die Kälte ist in mir … Blyann schob ihn zu der kleinen Hütte. Er sprach zu ihm, aber er wollte ihm nicht zuhören. Wo sie jetzt wohl sind? Angeblich wußte niemand, wohin Feochadan sie führen wollte. Seine Kiefermuskeln spannten sich. Blyann verstummte, als er bemerkte, daß Aodhan seinen eigenen Gedanken nachhing. Der Elf wünschte, Aodhan würde mit ihm reden. Wie soll ich ihm helfen, wenn ich nicht weiß, was in ihm vorgeht? Blyann spürte die wachsende Unruhe seines Schützlings. Die Zeit schien durch seine Finger zu rinnen wie kaltes,
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klares Quellwasser. Was er auch versuchte, er konnte die Distanz zu Aodhan nicht überwinden. Blyann wußte, er würde ihn nicht zurückhalten können, wenn der Schnee schmolz. Hilflos betrachtete er die unnatürlich ruhigen, entrückten Züge des jungen Mannes. Was geht nur hinter diesen unendlichen Augen vor sich?
∞ Er stand an der offenen Tür und starrte in die helle Nacht hinaus. Der Himmel war sternenklar. Sie sehen aus wie Diamanten auf blauem Samt! hörte er Feochadans Stimme in seiner Erinnerung. Der Schnee glitzerte unter dem silbrigen Licht. Diamanten … sie waren Symbole für Schönheit … und für Ewigkeit … Sie hätte einen Diamanten tragen sollen. Er hatte noch nie einen solchen Stein gesehen. Waren sie überhaupt wirklich? War Ewigkeit ein Traum oder ein Alptraum? Würde er aus dem Traum erwachen? Was wäre, wenn das passierte? Er schüttelte den Kopf, um die vielen Fragen zu vertreiben. Alles schien so friedlich. Fast schützend lag der Schnee weich und weiß über dem ruhenden Land. Er wirkte so unschuldig, dabei bedeutete er für viele den Tod. Tod … Der Gegner des Lebens – war er ein Gegenüber oder ein Feind? Sollte er Feind sein, hatte er ihn überlistet und mit ihm Fuathas, den lächerlichen Zauberer. Aber … wenn er Gegenüber war, ein gleichberechtigter Partner in einem immerwährenden Auspendeln des Gleichgewichtes … War der Zauberer vielleicht doch nicht so dumm? Er hat die Götter beleidigt! Sollen sie ihn dafür bestrafen! Lemniskate! Tu’ was du willst! Nein, Fuathas war unwissend gewesen. Der alte Narr hatte nicht bemerkt, was geschah, erst, als es zu spät war. Seine Hand klammerte sich fester an den hölzernen Türrahmen. So fest, daß seine Knöchel weiß hervortraten. Er spürte die Schwäche und die Übelkeit erneut, die ihn vor Unendlichkeiten ergriffen hatte. Gedanken, Vermutungen – alles wirbelte durch-
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einander. Er kniff die Augen zusammen, aber dadurch wurde er tiefer in den Strudel gezogen. Blyann … Der Elf sah ihn voller Sorge an. Feochadan … Wie eine Göttin blickte sie wissend herab. Madawc … Voller Trauer und Ungewissheit glänzten ihre trüb gewordenen Augen … Ihre Hand streckte sich nach ihm aus. In Bruchteilen von Augenblicken verdorrte sie. Ehe er sie ergreifen konnte, zerfiel sie zu Staub. »Nein! …« ächzte er tonlos, als er auf die Knie sank, doch er wußte, was die Vision bedeutet.
∞ Donn sah angstvoll auf. Ban trat hastig aus dem Zimmer, in dem man Madawc ein Lager bereitet hatte. Sein sonst recht feistes Gesicht wirkte eingefallen und hohl, als er an den Kindern vorbeilief, um Feochadan zu holen. Der Junge ahnte, daß ihre Führerin starb. Sein Herz klopfte wild vor hilfloser Wut. Er hatte sie verachtet, wenn sie Aodhan Vorhaltungen gemacht hatte. Er hatte sie gehaßt, als sie Aodhan in Caerdale zurückließ. ’ dhan hat sie trotz allem geliebt … dachte er. Ein Schluchzen ließ sich nicht länger unterdrücken. Er wollte sie nicht gehen lassen! Er liebte sie auch! Feochadan hastete an ihm vorbei. Sie hörte sein Schniefen nicht. Sie stieß die Tür auf. Der Raum war abgedunkelt. Madawcs Augen vertrugen kein helles Licht mehr. Sie sagte, das Weiß würde sie blenden. Feochadan kauerte sich neben das schmale Bett. Ihre Mutter versank in den vielen Fellen und Decken. Der schmächtige Körper verlor sich in ihnen. Graue Augen legten ihren Blick auf Feochadan. »Vergib mir«, hauchte Madawcs Stimme tonlos. Mit zitternden Fingern versuchte sie einen Beutel von ihrem Gürtel zu lösen. »Ich hätte ihn dir geben müssen vor langer Zeit …, es war meine
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Schuld. Er wäre hier, wenn ich ihn dir nur gegeben hätte!« Feochadan verstand nicht, was sie meinte. Endlich glitt der Beutel aus der Schlinge. Madawc hatte keine Kraft mehr, ihn ihr zu geben. »Nimm ihn jetzt. – Deine Entscheidung war gut. Sie tut weh, aber sie war richtig. – Ich bin so stolz auf dich, Feochadan …« Sie holte rasselnd Atem. »Vergiß ihn nicht! Er wird dich auch nie vergessen …« Ihre Stimme erstarb. Die grauen Augen wurden blicklos und stumpf. Sanft schloß Feochadans Hand die Lider. Sie spürte Tränen über ihre Wangen laufen. Sie tropften auf den ledernen Beutel. Umständlich zog Feochadan das Band heraus, das ihn verschloß. Ein großer klarer Bergkristall leuchtete ihr entgegen. Ihr Herz krampfte sich zusammen. »Nein …« hauchte sie voller Schmerz.
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Dreizehntes Kapitel Das melodische Gurgeln und Tosen wurde zarter mit jedem weiteren Schritt der Quelle entgegen. Sein Atem ging schwer, denn der Aufstieg war mühsam. Er wandte sich zu dem Schnauben hinter sich um und sah in ein rotes Gesicht, das über und über mit Schweiß bedeckt war. Das leuchtend rote Haar und der Bart war von silbrigen Strähnen durchzogen und klebte naß am Schädel des Kobolds. Grüne Augen funkelten ihm entschlossen entgegen. Er schmunzelte gönnerhaft. »Du wolltest unbedingt mitkommen«, verteidigte er sich. Ein mürrisches Brummen war alles, was Sart darauf erwiderte. Ich hatte ja nicht geahnt, worauf ich mich einlasse! Ein weiteres Jahr waren sie durch das Land gezogen, auf der Suche nach Madawc und den anderen. Nichts hatte Aodhan aufgehalten, keine Stürme, kein Regen, keine Flüsse, keine Felsen, keine Schluchten, weder Kälte noch Hitze. Unermüdlich war er auf Wegen gelaufen, die selbst Sart nicht kannte. Sie hatten alle Rastplätze besucht, doch es gab keine Spur von Madawcs Gruppe. Niemand hatte sie gesehen. Der Kobold wußte, daß es sinnlos war, sie zu suchen. Sie hat es selbst gesagt! Aber es gelang ihm nicht, Aodhan zu überzeugen. Es gab nur einen Ort, an dem sie noch nicht gewesen waren: Caerdale. Wie mußte sich der junge Bewahrer jetzt fühlen, da sie sich den Cobhans näherten? Forschend betrachtete Sart die hochgewachsene Gestalt vor sich. Aodhan sah in die Ferne. Er blickte über eine wunderbare Weite, die im warmen Licht der Sonne golden leuchtete. Der Wasserfall, der neben ihm in die Tiefe stürzte, war am Fuße des Berges ein schmales Flüßchen, welches sich seinen schlängelnden Weg durch das Land suchte und bis zu den weit entfernten Hügeln und Gebirgsketten zu einem ansehnlichen Strom wurde. Eine Windböe strich über sie hinweg. Lächelnd blickte Aodhan
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auf den Wasserfall. Tausende von diamantenen Spritzern funkelten und erstrahlten durch das Sonnenlicht. Der Wind trieb sie in kleinen Wölkchen vor sich her, um sie dann ihrer eigenen Wege ziehen zu lassen. Die tiefschwarzen Augen des jungen Bewahrers folgten diesem Weg. Mit dem Kobold hatte er ihn in umgekehrter Richtung beschritten. Er erinnerte sich an das Tosen der Fälle am Fuß des Berges, das nun, weit entfernt, kaum mehr als ein Flüstern war. Ein schriller Schrei ließ Aodhan aufsehen. Schützend hob er die Hand vor Augen und spähte in den Himmel. Dort zog ein Greif seine Kreise. Aodhan seufzte sehnsuchtsvoll und schaute dem Vogel nach, dem es sichtlich leicht fiel, die Felsen zu überwinden. »Geht es wieder, Sart?« erkundigte er sich geistesabwesend. »Wegen mir hättest du nicht stehenbleiben müssen!« brummte Sart beleidigt und folgte ihm weiter den Berg hinauf. Aodhan konnte die Gedanken, die sich in seinem Kopf bildeten, nicht beeinflussen. Immer wieder hatte er es versucht. Er wollte sich auch nicht geschlagen geben und kämpfte erneut dagegen an. Ihre Reise war glücklich verlaufen. Bis jetzt hatte sie kaum ein Wegelagerer oder Räuber überfallen; kein Dorf hatte seine Tore vor ihnen verschlossen, überall war man bereit, ihnen zu helfen. Es war wie in alten Zeiten, als er mit Madawcs Treck das Land durchstreift hatte – ungebunden und frei. Die unendlich scheinende Weite des Landes vor Augen, wurde ihm bewußt, daß er sie zum größten Teil bereits bereist hatte. Waren sie wirklich frei gewesen, er und die Tinkers? Ist der Greif frei oder der Fluß, die Wolken oder der Wind? – Nein. Irgendetwas band sie immer: Die Tinkers waren an ihre Wagen gefesselt, die ihr ganzes Hab und Gut darstellten, die nicht beschädigt werden durften, weshalb sie auch auf sichere Wege angewiesen waren. Der Greif hatte seinen Hort, an den er immer wieder zurückkehrte. Der Fluß lag in seinem ewigen Bett.
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Der Wind trieb die Wolken, also konnten auch sie nicht frei ziehen, aber des Windes Willür waren sie deshalb nicht ausgeliefert. Er mußte sich anderen Gesetzen unterwerfen … Und ich selbst? fragte sich Aodhan. Bin ich frei? Ihm stand die Ewigkeit offen. Er konnte alle Weiten bereisen, jeden Weg nehmen. Nein. Er war Gefangener der Freiheit! Er war Gefangener der Unendlichkeit. Er war gefesselt in der erdrückenden Enge der Weite. Er … Aodhan glitt auf den glitschigen Steinen neben dem Wildbach aus und mußte sich abstützen. Nur noch wenige Meter und sie hatten auch diesen Berg bezwungen. Einen von vielen, die waren, und – so wuchs seine beklemmende Ahnung – einer von vielen, die folgen würden. »Ah!« Er war so vertieft gewesen, daß er nicht auf die Disteln geachtet hatte, die vor ihm aufragten, und hatte prompt hineingegriffen. Verärgert zupfte er die kleinen Stacheln aus seiner Hand. »Warum, verdammt, spürt man Schmerz?! – Warum ist man überhaupt verletzlich?!« schimpfte er laut, ohne zu bemerken, daß er seine Gedanken aussprach. Hilflos sah Sart ihm zu. Was sollte er auch erwidern? Daß der Schmerz vor dem Tod warnte? Daß alles Lebendige verletzlich war? Aodhans Blick fiel auf die schlanken wehrhaften Disteln, die majestätisch ihre schönen Köpfe dem Himmel entgegen reckten. Sein Ärger verflog und sehnsuchtsvolle Trauer legte sich über ihn. Sie war genauso gewesen … Schön und gefährlich, wenn man nicht wußte, wie man sie anzufassen hatte. – Er hatte es gewußt. Er hatte auch den leicht verwundbaren Kern hinter der scharfkantigen Fassade gekannt … »Geh weiter oder willst du hier übernachten?!« trieb Sart ihn an. Der Kobold ahnte, daß er an Feochadan dachte. Ich muß ihn ablenken.
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Sart stocherte nachdenklich in dem kleinen, fast heruntergebrannten Feuer. Er kannte Aodhan nun schon seit über zwanzig Jahren. Wie oft hatte er seinen Schwur, den er in Glendaloch geleistet hatte, verflucht, als seine Muskeln schmerzten und seine Füße von Blasen übersät waren?! Er hätte ihn brechen können, natürlich, schließlich war er ein Kobold … Er blickte zu Aodhan hinüber, der sich eingerollt hatte wie ein Tier, um zu schlafen. Der junge Mann sah genauso aus wie damals, als er ihm zum ersten Mal begegnete. Nichts hatte sich an ihm verändert, und doch schien es ihm, als sei er ein völlig neuer Mensch. Das kurze Jahr, in dem sie mit den Tinkers umhergezogen waren, hatte ihm gezeigt, wie Aodhan gewesen war: unbeschwert, wild, waghalsig, immer auf der Suche nach Abenteuern und Nervenkitzel, dabei war er manchmal auch sehr bescheiden gewesen. Das Betrachten eines Schmetterlings konnte mit ihm zum einmaligen Erlebnis werden! Sart hatte die Kinder gut verstanden, wenn sie sich in seinem Bann gerne fangen ließen. Voller Bedauern mußte der Kobold beobachten, wie dieser Zauber immer mehr vor etwas anderem in den Hintergrund gedrängt wurde. Aodhan hatte schon vorher etwas Geheimnisvolles umgeben, gespannt, ja fast in freudiger Erregung hatte auch Sart der Enthüllung des Geheimnisses entgegengefiebert und jedes Mal, wenn Aodhan etwas von sich preisgab, lag ein Lachen in der Luft, in das man einstimmen mußte … Aodhans Undurchdringlichkeit war geblieben, jedoch war sie nun düster und unerfreulich. Die Geheimnisse, die jetzt in seinem Kopf umherspukten, waren so furchtbar, daß er nie darüber sprach. Manchmal, nachts, wenn ihn Erinnerungen in Alpträumen quälten und er ächzte und stöhnte, erfaßte Sart ein Schauer, denn diese Laute ließen erahnen, was Aodhan erlitt. Sarts Miene verfi nsterte sich. Der Zauberer hatte ihn grausam bestraft – zu grausam. Er kannte die Geschichte nur aus dem Lied – alle kannten sie nur daher außer Feochadan, Madawc und
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Aodhan. Keiner der drei hatte jemals alles erzählt. Feochadan hatte in Rätseln gesprochen, Madawcs Bericht war nicht besonders ausführlich, dafür aber um so erschreckender gewesen, und Aodhans absolutes Schweigen hatte eine derart eindringliche Wirkung, daß niemand wagte, ihn danach zu fragen. In Liosliath war das Lied nie wieder gespielt worden. Alles, was Aodhan an diese Zeit erinnern konnte, wurde vermieden. Doch durch dieses Verstecken, schien es Sart, als erinnerte Aodhan sich um so deutlicher.
∞ Nebel … rote Nebel wallten vor ihm in der Dunkelheit auf. Sie flüsterten, aber er konnte die Worte nicht verstehen. Eine Melodie. Zunächst wild und fröhlich, doch dann düster ahnend. Feochadan! Die Höhle Caer An Beag! Drachen! Sie kämpften in einer erbitterten Schlacht! Dun na h-Eoin! Aber es war nicht diese Schlacht! Hatz! Blut! Die Musik – getrieben, gejagt! Wortfetzen, die klagend sangen: »Ciaran und Feochadan ihn sieht, wie Duilliath seine Kreise zieht …« Der Drache! Schwarz! Wild! Ein scharfer Schmerz in seiner Schulter! Er konnte ihm nicht entkommen! Geblendet, gefangen, gefoltert … Die Musik, sie ahnt es, sie zeigt es, sie stöhnt! Geifern – eine blutrünstige Meute, die ihre gelben Zähne bleckt! »Lefzen sich lecken! – Die Bluthunde freu’n sich auf die Schlacht!« Magie oder Zauber? – Blendwerk! Wut und Erleichterung erfaßten ihn, aber … Die Musik, keine bloße Ahnung, sie wußte es! Die Nebel schluckten die Melodie. Ihr Flüstern wurde eindringlicher, lockender:
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»Komm zurück! Komm! Greif die Hand des Schicksals! Nimm sein Geschenk an! Vergiß, was du weißt! Laß Freud und Leid verblassen in Stille, die keine Aufruhr erfahren soll durch das Pulsen des Lebens …« Er konnte ihrem Bann nicht ausweichen und spürte die Kälte der ewigen Einsamkeit, in die sie ihn riefen. Die Musik – gehetzt, erschöpft, am Ende ihrer Kraft – seiner Kraft, riß ihn aus ihren Klauen. Der Schatten – Duilliath?! Schwarze Schwingen! Sein Herz raste! Weiße Augen fi xierten ihn. Die Musik – Endgültigkeit verheißend, barg sie einen Hoffnungsschimmer? »… der Tod sollt’ nicht sein Urteil sein!« Dunkelheit. Der Drache war hinter ihm. Böse wachte er über ihn. Benommen spürte er unterbewußt das Schaudern der Menge … Die Musik – erfreut und voller Triumph! »Kristall hat gewählt! – Aodhan soll der Bewahrer sein!« »Nein!« schrie er auf und fuhr hoch. Sein Atem ging keuchend. Er zitterte am ganzen Körper. Sart starrte ihn entsetzt an. So schlimm ist es seit langem nicht mehr gewesen! Aodhan bemühte sich, ruhig zu werden, aber er bekam seine zitternden Hände nicht unter Kontrolle. Seine Finger krampften sich um seinen Umhang. Er spürte die alten Schmerzen. Sie fraßen sich in seinen Verstand, obwohl die Wunden äußerlich längst vernarbt waren. Flehend suchte er Sarts Blick. Der Kobold erschauerte, als er den Ausdruck in den unendlichen schwarzen Augen sah. »Ich kann nicht«, stieß Aodhan gequält hervor. »Was kannst du nicht?« Sart sprang auf und legte ihm seine Decke um die krampfhaft zuckenden Schultern. »Nach Caerdale gehen.« Sanft strich Sart über seinen Arm. »Du mußt nicht gehen …« versuchte er ihn zu beruhigen.
∞ Der Wind blies kalt von Norden. Obwohl die Sonne schien, würde es nicht warm werden. Herbst verfärbte die Wälder.
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Noch nicht alle Blätter leuchteten golden oder rot, trotzdem trugen die schweren Wolken, die von sturmgleichen Böen getrieben wurden, schon Schnee. In wenigen Stunden konnte ihnen das gleich sein. Liosliath lag vor ihnen. Sart lächelte in Vorfreude auf ein warmes, trockenes Lager. Er warf Aodhan einen prüfenden Blick zu. Schweigend schritt dieser voraus. Bald würde er daheim sein … Hoffentlich hörten dann auch seine Alpträume auf … Er wußte, daß Aodhan seit jener Nacht fast nicht mehr geschlafen hatte aus Angst daß sie wiederkehren würden. Aodhan sieht furchtbar aus! Blyann würde ihm Vorhaltungen machen. Zu Unrecht, denn Sart hatte alles versucht. Es schien, als zöge sich Aodhan immer mehr in sich selbst zurück. Seine Antworten waren einsilbig geworden. Von sich aus begann er kein Gespräch. Düstere Gedanken beanspruchten seine volle Aufmerksamkeit. Durch nichts war er abzulenken. Blyann muß mit ihm sprechen! Sart sah auf zum Himmel. Eine bedrohliche Wolkenwand näherte sich ihnen rasch. Er schritt etwas zügiger aus und beobachtete die Bäume und Tiere. Sie würden ihnen zeigen, wann das Unwetter begann. Noch schien alles seinen gewohnten Lauf zu nehmen. Eine kleine Schar Kaninchen mümmelte das spärliche Gras, das sich durch den felsigen Boden emporreckte. Plötzlich jagte etwas kreischend auf sie zu. Erst in letzter Sekunde wich der Schwarm Schwalben ihnen aus. In atemberaubendem Tempo schnellten sie durch die Luft und fi ngen Insekten. Sie waren so fröhlich! Sart sah verstohlen zu Aodhan. Feochadan hatte ihm erzählt, daß Aodhan sie sehr liebte und die kleinen Luftakrobaten vermisste, wenn sie im Winter das Land verlassen hatten. Doch nun schien er sie nicht zu bemerken. Ein dumpfes Grollen drang zu ihnen. Erschrocken flüchteten die Kaninchen in ihre Höhlen. Die Schwalben leisteten ihnen weiterhin unbeeindruckt Gesellschaft. Doch dann, als sie den Berg fast hinter sich gelassen hatten, verließen sie sie eben-
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falls. Sie wußten, wann es Zeit war zu gehen. Als die ersten dunklen Wolken ihre Schatten über die ungleichen Wanderer fallen ließen, begannen die beiden, auf den nahen kleinen Wald zuzutraben. Dort würden sie wenigstens etwas Schutz fi nden. Kaum hatten sie sich unter das dichte Blätterdach einer uralten Buche gerettet, da tobte der Sturm los. Wütend riß der Wind an allem, was ihm zu trotzen wagte. Unbarmherzig schlug er morsche Äste von den Stämmen und trieb sie vor sich her. Bald gesellte sich ein unglaublicher Regenguß zu ihm. Der dichte Stamm der Buche bewahrte sie vor den stechenden Tropfen, die wie Pfeil-hagel alles Lebendige trafen. Ein lauter Knall. Sart zuckte zusammen. Es war der Donner. Kurz darauf verdunkelte sich der Himmel noch mehr. Fasziniert starrte Aodhan auf die gleißenden Blitze, welche die Finsternis durchschnitten. Der Himmel schrie auf unter ihrer Grausamkeit. So, wie er geschrien hatte – damals. Sart spürte Aodhans zittern. Der Himmel würde wieder sein, wie er immer war – er dagegen niemals mehr … »Genug!« brüllte Aodhan unvermittelt in den tobenden Sturm. »Genug!« In hilfloser Wut hämmerte seine Faust gegen den nassen Baumstamm bis seine Knöchel blutig waren. »’dhan! Hör auf damit!« Sart hielt seinen Arm fest. Dunkle Augen bohrte sich tief in seine Seele. Kälte erfaßte den Kobold. Er ließ ihn los und starrte ihn an. Zu oft hatte Sart versucht, ihn zum Sprechen zu bringen, zu oft war er gescheitert. Er wußte, Aodhan würde erst über alles reden, wenn er es selber wollte – und konnte. Nun fürchtete er, daß es nie dazu kommen würde. Die Stimmung, in der Aodhan sich befand … sie war schlecht für ihn … ob es möglich war, daß er seinem Leid selbst ein Ende bereitete …?!
∞ Blyanns Haar schimmerte silbern. Er hatte den Kopf in die Hände gestützt. Eine steile Sorgenfalte war in seine Stirn ge-
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graben, als er aufsah. »Ist es tatsächlich so schlimm?« fragte er tonlos. Sart nickte. Der Elf hatte es geahnt. Er wußte es, als er den jungen Bewahrer erblickte. Aodhan wirkte wie aus einer anderen Welt. Seinen bleichen Züge waren verschlossen. Die dunklen Augen blickten durch Blyann hindurch. Das, was sie sahen, hatte einen schmerzhaften Zug um seine Lippen entstehen lassen. Blyann spürte wie Sart, daß sie ihn verloren. Was kann ich nur tun? Er kam sich so schrecklich hilflos vor. Fragend sah er den Kobold an. »Sprich mit ihm. Bring ihn dazu, daß er endlich sagt, was ihn quält.« Sarts Rat brachte ihn nicht weiter. Blyann hatte die gleiche Erfahrung gemacht wie der Kobold: Auch auf seine Fragen folgte nur beharrliches Schweigen. »Warum? Was ist der Grund für sein Unglück?« Sart warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Er fi ndet sie nicht, deshalb ist er so verzweifelt! Wir waren überall, doch es gibt keine Spur von ihr.« Blyann fuhr sich müde über die Augen. Er schüttelte langsam den Kopf. »Er sucht nicht Feochadan.« »Wen denn?« »Ich weiß es nicht, aber sicher nicht sie. – Was hätte er davon, wenn er sie fände? Neuen Schmerz! Sie ist nicht mehr wie damals. Zwanzig Jahre! Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Für uns und für Feochadan, aber nicht mehr für ihn. In seinen Gedanken hat sie sich nicht verändert. Sie ist das junge wilde Mädchen geblieben, das er geliebt hat. Was für einen Schock würde er erleiden, sähe er die Spuren der Zeit in ihren Zügen! Wie schmerzhaft wäre die Gewißheit ihres baldigen Todes – aus seiner Sicht?« Blyann seufzte. »Ich bin sicher, er weiß das alles. Er sucht nicht sie.« Sart ging nachdenklich auf und ab. Die Worte des Elfen klangen einleuchtend. Dann sind unsere endlosen Wanderungen sinnlos gewesen?! »Umsonst«, ächzte er, als er sich an seine wunden Füße erinnerte. Niedergeschlagen schüttelte er den Kopf. Überall waren sie gewesen auf einer Suche nach den Tinkers, die nie das Ziel hatte, beendet zu werden …
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»Überall …?« Sart stockte. Blyann sah ihn fragend an. »Die Cobhans, Caerdale, Dun na h-Eoin! Dort waren wir nie!« sprudelte es plötzlich aus dem Kobold hervor. Seine grünen Augen leuchteten aufgeregt. Der Elf sprang auf. »Er sucht nicht sie. Er sucht sich! Er sucht seine Aufgabe, seinen Platz!« Sart nickte heftig. »Warum wart ihr nie in den Cobhans?« fragte Blyann plötzlich kritisch. Sart ließ die Arme sinken. Das euphorische Gefühl wich aus ihm. Krampfhaft überlegte er. Ihm fiel nur ein Grund ein. »Er konnte nicht dorthin zurückkehren. Seine Erinnerungen an das, was geschehen ist, waren zu stark …« Er entsann sich der furchtbaren Alpträume, aus denen Aodhan in jeder Nacht erwacht war, bis er es nicht mehr gewagt hatte, die Augen zu schließen. Gedankenverloren strich sich Blyann über das Kinn. »Vielleicht muß er seine Erinnerungen überwinden. Er muß in die Cobhans …« »In diesem Jahr ist das nicht mehr möglich«, gab Sart zu bedenken. Der Unterton in seiner Stimme erinnerte Blyann an Aodhans Zustand. Entschlossen ging er zur Tür und öffnete sie. »Er muß jetzt darüber reden!« Plötzlich traf in etwas an der Schulter. Benommen trudelte Nialle zu Boden. »Nialle!« rief Blyann überrascht aus und hob das winzige Wesen vorsichtig auf. Sie zitterte am ganzen Körper. Angestrengt versuchte sie, ihm etwas zu sagen, aber ein nicht zu kontrollierendes Schluchzen verhinderte es. »Beruhige dich!« »Ihr … ihr …«, stieß sie hervor. »Das Messer! – Er versucht … Das Messer!« Eine kalte Klaue krampfte sich um Blyanns Herz. »Wo ist er?!« brachte er mit rauher Stimme hervor. »Airgiod!« In wildem Galopp preschten die beiden Pferde durch das hohe nasse Gras. Im fahlen Mondschein glänzte es wie tausende von Schwertklingen, die sich blutgierig im Wind wiegten.
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Endlich tauchte der See vor ihnen auf. Ein schwarzes Pferd stand an seinem Ufer. Drei schwache Lichtschimmer umflogen den Kopf des Tieres. Blyann sprang ab. »Aodhan!« donnerte seine Stimme durch die kalte Nacht. Er rannte bis zu den weißen Felsen. Eine regungslose Gestalt lag vor ihnen. Blyann fiel auf die Knie. In Aodhans lebloser Hand lag ein blutbefleckter Dolch. Seine Augen waren geschlossen. Ein dünnes, dunkles Rinnsal sickerte aus seinem Mundwinkel. »Nein!« ächzte Blyann voller Schmerz. »Nein!« brüllte er und preßte Aodhan an sich. Ein leises Stöhnen ließ ihn aufsehen. Dunkle Augen glänzten matt im Mondlicht. »Es gibt kein Entkommen«, flüsterte Aodhan und hustete schwach. Ein Schwall hellroten Blutes lief über seine Lippen. Er wußte, daß er nicht sterben würde. »Was machst du nur für Sachen …?« fragte Blyann mit belegter Stimme und hob ihn auf.
∞ Blyanns Hände zitterten. Seine sonst beherrschten Züge spiegelten sein aufgewühltes Inneres wieder. Er spürte sein Herz bis zum Halse schlagen und rang nach Atem. Allein saß er in der Dunkelheit, allein mit seinem Schmerz. Es tat weh, Aodhan so zu sehen, wie er ihn gesehen hatte. Der Junge will wirklich nicht mehr leben. Er wollte sich töten. Der Schreck, der ihn durchfahren hatte, war nichts gegen den Schock, als Aodhan erkannte, daß es nicht möglich war. Er gab auf. Es würde ihn zerbrechen, und er wußte davon. Blyann erhob sich wie unter einer zentnerschweren Last und ging ins Nebenzimmer. Aodhan lag in den dunklen Fellen. Er war totenbleich. Wie oft habe ich ihn auf dieses Lager gebettet und um sein Leben gebangt? Warum treibt Lord Tod ein so grausames Spiel mit ihm?
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Er spürte eine Bewegung in den fi nsteren Schatten. Eine vermummte Gestalt kam auf ihn zu. Das Herz des Elfen setzte aus. Lord Tod! »Ich spiele nicht mit ihm«, hauchte er. »Unser Freund versuchte, mit mir zu spielen.« Er sah zu Aodhan. »Er hat gewonnen.« Lord Tod wandte sich Blyann zu. Tote Augen drangen kalt in die Seele des Elfen. »Er weiß, daß sein Sieg teuer bezahlt werden wird. Er beginnt zu verstehen, was Unsterblichkeit bedeutet. Aber er hat noch viel zu lernen.« Er ging zu Aodhan und strich sanft über sein Gesicht. »Ein schwerer Weg liegt vor dir, und nicht einmal ich kann dir Trost geben, wenn du an allem verzweifelst …« Der Lord seufzte und verschwand im Nichts. Nur langsam löste sich Blyanns Erstarrung. Auf bleischweren Beinen wankte er zu Aodhans Lager. Zögernd streckte sich seine Hand nach seinem Hals aus. Ehe er den Puls fi nden konnte, öffneten sich schwarze Augen. Wieder schienen sie tiefer geworden zu sein. Als ob sie mit jeder Erkenntnis ein Stück mehr Ewigkeit widerspiegelten … »Warum …?« Blyanns Stimme brach. Aodhan wich seinem Blick aus. Nach langem Schweigen sagte er endlich: »Ich dachte, ich könnte es nicht länger ertragen …« »Was? … Was quält dich so?« In Blyanns Augen glänzten Tränen. Aodhan schluckte schwer. »All der Zerfall. – Alles, was ich liebe, stirbt unter meinen Händen. Alles, was einst für mich ewig war, vergeht im nächsten Augenblick.« Er spürte die dunklen Augen auf sich ruhen. »Selbst du bist nicht ewig. – Nicht einmal Lazzard!« Blyann fühlte sich schuldig. »Trotzdem wirst du nie einsam sein!« wandte der alte Elf mit belegter Stimme ein. Aodhan antwortete mit Schweigen. Er war schon allein; einsamer als jedes Wesen auf der Welt; mit der Gewißheit, daß es niemals enden würde. »Das war nicht der einzige Grund, oder?« Aodhan sah auf seine Hände.
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Blyann nahm einen Stuhl und setzte sich zu ihm. Geduldig wartete er darauf, daß er antworten würde. – Er wartete lange. Es war offenbar noch nicht an der Zeit. Aodhan schien ihm nicht genug zu vertrauen. »Wovon man nicht sprechen kann, davon muß man schweigen«, zitierte Blyann mit trauriger Stimme. »Ich habe sehr viel verschwiegen.« Aodhans Stimme klang seltsam brüchig. Blyann nickte ernst. »Ja, das hast du. – Wir alle verschweigen viel, meist, wenn du kommst … Denkst du nicht auch, es ist falsch? Woher weißt du, daß du nicht darüber sprechen kannst? Weshalb kannst du es nicht einmal ertragen, andere davon reden zu hören? Wiell verstummt, wenn er dich sieht. Schürt das deine Erinnerungen nicht noch stärker?« In Aodhans Gesicht arbeitete es. Seine Kiefermuskeln spannten sich, als müßte er sich zwingen, nichts zu sagen. »Ich will nicht mehr daran denken! Aber alles, was ich sehe, läßt die Vergangenheit wieder aufflammen! Es gelingt mir kaum am Tage, dagegen anzukämpfen. – Und nachts siegt der Alpdruck über mich …« Er erschauerte unter der Erinnerung an die Träume, die ihn verfolgten. »Träume sind da, um zu vergessen, Aodhan. Sie sorgen dafür, daß Erinnerungen, die zerstören, verblassen!« »Nein!« erwiderte Aodhan heftig. »Es wird mit jedem Traum schlimmer! Bei jedem neuen Mal spüre ich wieder …«, er stockte. Niemals hatte er jemandem erzählt, was in ihm geschehen war, damals auf Dun na h-Eoin – so sollte es bleiben. »Ich spüre wieder die Erinnerungen«, fuhr er vage fort. Blyann kämpfte mit sich. Wenn ich mich nun zu weit vor wage, werde ich Aodhans Vertrauen gänzlich verlieren. Aber so kann es nicht weitergehen! »Du bist es, der die Erinnerungen vertieft! Ich habe lange genug zugesehen. Ich habe zu lange erlaubt, daß du dich in Selbstmitleid stürzt und dich daran betrinkst!« Überrascht starrte Aodhan ihn an. »Ich muß mich nicht selbst bemitleiden!« fuhr er Blyann an. »Meinst du, Blyann, ich sähe die verstohlenen Blicke nicht, die ihr mir alle nachwerft? Glaubst du, ihr könntet
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eure Hoffnung verbergen, daß alles nur eine tragische Legende war, eine Geschichte, die einem Barden nach Ereignissen einfiel, die niemanden mehr klar denken ließen, und dem deshalb die Phantasie durchging? Ich sehe das bedauernde Leuchten in euren hellen Augen, wenn ihr feststellen müßt, daß ich mich wieder nicht geändert habe! Ich werde mich nicht ändern, wann versteht ihr das endlich?!« Blyann hielt seinen bohrenden Blick stand. »Du hast dich verändert, ’dhan, das mußt du endlich verstehen und annehmen. Du machst dir etwas vor, wenn du glaubst, die Erinnerungen vergingen, wenn du sie fortdrängst und andere zwingst, die Vergangenheit zu verschweigen. – Ja, du weißt, woran gedacht wird, wenn man dich sieht, du weißt, worüber man schweigt in deiner Gegenwart. Versuch doch zu verstehen, warum deine Träume wiederkehren!« Aodhan schwieg bitter. Der Elf mochte Recht haben – es würde nichts ändern. Sollten sie reden, wovon sie wollten, all diese sterblichen Narren! Was wußten sie von Ewigkeit? Was wußten sie von unendlicher Erinnerung? Blyann schien seine Gedanken erraten zu haben. Seine Stimme klang sanft und doch bestimmt: »Das Sterbliche ist dazu da, das Unsterbliche zu behüten, hat einmal ein König gesagt.« Aodhan sah ihn an. Die bernsteinfarbenen Augen des Elfen leuchteten voller Zuneigung. Blyann war sicher kein Narr, aber woher sollte er wissen, was er durchlitt?! »Ich wollte nicht unsterblich sein«, wandte er leise ein. »Ich hatte keine Wahl.« Blyann mußte hart bleiben, sonst würde alles von neuem beginnen. »Hattest keine Wahl?! – Du hattest sie auf deine Weise. Niemand zwang dich, den Stein zu stehlen!« »Nein! Aber ich wünschte, Fuathas hätte mich zur Strafe getötet! Es wäre eine Gnade gewesen! Sein Urteil ist grausam!« Blyann schüttelte heftig den Kopf. Warum versteht er mich nicht?! »Du läßt es grausam werden! Du bestrafst dich, wenn du den Tod herbeisehnst, obwohl du weißt, daß er nie zu dir kommen
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wird. Du lebst! Und du wirst lernen.« Aufgewühlt erhob er sich und ging in dem dunklen Zimmer auf und ab. Das Feuer im Kamin warf seinen Schatten in grotesken Formen an die hölzerne Wand. »Kannst du die Veränderung nicht auf eine andere Art betrachten? Warum fühlst du dich, als stündest du allein in der Kälte eines regnerischen Tages? – Es kann nicht immer regnen. Es ist auch nicht immer kalt. Du bist nicht allein.« Aodhan schwieg. Der Elf setzte sich neben ihn auf sein Lager. Lange sah er ihm in die tiefen, dunklen Augen. »Feochadan«, sagte er schließlich und nickte verständnisvoll. »Du vermißt sie. – Sie wird dir immer fehlen. Sie hat erkannt, daß dein Weg ein anderer ist als ihrer. Glaubst du, sie hat nicht gelitten, als sie dich zurückließ? Du mußt deinen Schmerz ertragen und überwinden. Sie wußte, du kannst es. Nimm die Wahl an, akzeptiere deinen Weg, und du wirst wieder lernen zu leben!«
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Vierzehntes Kapitel Aodhan saß grübelnd an Airgiods Ufer, das langsam wieder grüner wurde. Blyann, Sart, die Dhraghonyies, Cein und Wiell hatten ihn den ganzen Winter hindurch gedrängt, über Dun na h-Eoin zu sprechen, darüber nachzudenken. Er sollte den Erinnerungen entgegensehen und sie zu deuten versuchen. Wie sollte er ihren Sinn erfassen? Er war ein Mensch gewesen, bevor ihn das Schicksal zu dem Bewahrer der Ewigkeit machte, bevor es ihn unsterblich werden ließ und ihn damit sogar von den Göttern trennte, welche durch die Menschen verehrt wurden … Er hatte nie viel über Götter nachgedacht. Die Elfen, bei denen er aufgewachsen war, unterwarfen sich keinen anderen Kräften als der Magie. Ebenso hielt er es, obwohl Madawc … er verharrte einen Augenblick bei diesem Gedanken. Madawc. Wie schön sie gewesen war und wie weise … Er versuchte sich ihr Bild ins Gedächtnis zu rufen. Nur undeutlich erkannte er eine blonde Frau mit steingrauen Augen … ihre Augen waren ihm am vertrautesten, ja, es waren ihre Augen … An den Schnitt ihrer Züge dagegen konnte er sich nicht mehr entsinnen. Er durfte sie nicht vergessen! Niemals! Nichts bleibt, wie es ist. Nicht einmal die Götter. Sie wandeln sich zu Helden, Dingen, Bäumen, Drachen, Elfen, Menschen …, hörte er ihre sanfte Stimme, die voller geheimem Wissen war. Dann sind sie sterblich? hatte er sie zweifelnd gefragt, denn die Macht – die Magie, welche er verehrte, war ewig. Selbstverständlich, wie sollten sie sonst wiederkehren? Alles folgt dem großen Rad. Es dreht sich bis in die Unendlichkeit. Durch das Rad versinken Zeiten, und sie gehen von neuem auf. Der Tod ist nicht das Ende. Er ist der Anfang eines neuen Seins. Er schluckte schwer und sah über die glänzende Oberfläche des Sees. Weiße duftige Wolken spiegelten sich kokett und huschten verspielt und ausgelassen weiter. Irgendwo würden sie zu Regen werden. Der Regen sammelte sich in Pfützen und
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kleinen Bächen. Die Bäche ergossen sich in Flüsse. Die Flüsse suchten ihren beschwerlichen Weg durch die Cobhans zu den sagenumwobenen Meeren und dort wurden neue Wolken geboren. So hatte es ihm Madawc erklärt. Erinnerst du dich an das Gedicht des Barden Taliesin? »Es heißt Wanderungen: Bin schon in vielen Aspekten erschienen, ehe ich …« murmelte er leise wie zur Antwort auf ihre Frage aus der Vergangenheit. Wie hieß die Zeile? Er hatte es vergessen … Wütend darüber schleuderte er einen Stein in die ruhige silbrige Scheibe Airgiods. Wenn der Tod den Anfang eines neuen Aspektes bedeutete und nicht das Ende war, was wurde dann aus ihm? Bedeutete sein Leben das Ende? Außer dem Rad gab es nur Magie, die unendlich war. Vielleicht sind beide ein und dasselbe? Vielleicht hatten die beiden unterschiedlichen Rassen nur unterschiedliche Bezeichnungen für eine Macht. Selbst wenn es so war, was konnte ihm diese Erkenntnis nutzen? Sein Blick glitt über die sanften Hügel um den See. Es war schön in Lios, und er war des Suchens müde geworden. Sollte er sich erneut auf den Weg machen, um diese Frage zu beantworten? »Die Wahrheit kann warten. – Sie stirbt nicht!« Es wurde kühl. Er erhob sich, um nach Liosliath zurückzugehen. Still blinkte ihm Airgiod zu. Er bezauberte ihn durch seine Schönheit. Nein, er wollte hier in Lios bleiben … … und dich in Selbstmitleid ertränken! stichelte Blyanns Stimme in seinen Gedanken. Tat er das? – Was er tat, hatte zumindest keinen Sinn. Tag für Tag durchstreifte er die nähere Umgebung der Stadt und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Die Kreise, die er um Liosliath zog, wurden dabei immer größer … Er war nun zwar Lemniskates Bewahrer, aber er war auch ein Tinker! Der Horizont leuchtete verlockend … Nimm die Wahl an, akzeptiere deinen Weg … Versuch zu verstehen, warum deine Träume wiederkehren! hallten Blyanns Worte durch seinen Kopf.
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Er wandte sich um und spähte nach Norden. Ein hauchzarter Dunstschleier verband den Himmel mit dem Horizont. Er verbarg etwas, das auch in ihm versteckt lag … Aodhans Augen leuchteten für kurze Zeit in ihrem alten Glanz. Ein Lächeln flog über seine Lippen. Er spürte wieder das Kribbeln im Bauch, das er so viele Jahre unterdrückt und beinahe auch vergessen hatte. Seine Entscheidung war gefallen.
∞ Immer wieder sah Blyann von seinem Teller auf und blickte zu Aodhan. Der Junge hat den ganzen Abend nicht einen Satz von sich gegeben! Ein undeutbares Lächeln lag um Aodhans Mund. Er schien Sarts Geschichte von den entlaufenen Ferkeln ebensowenig zu folgen wie der Elf. Cein, der Kobold und die Dhraghonyies lachten herzlich, und Blyann wurde abgelenkt. »In dir haben die kleinen Kerlchen ihren Meister gefunden!« lobte Cein und wischte sich glucksend über die Augen. »Das will ich meinen!« dröhnte Sart und kicherte. »Ich werde gehen«, sagte Aodhan ganz unvermittelt. Seine Stimme klang ruhig. Sieben Augenpaare starrten ihn überrascht an. »Ich werde gehen«, wiederholte er. »Wohin?!« Er lächelte Blyann zu. »Meine Erinnerungen verstehen lernen.« Der Elf wurde bleich. Cein warf seinem Sohn einen besorgten Blick zu. »Dun na h-Eoin?!« stieß Blyann hervor. Aodhan nickte. Sarts grüne Augen wurden groß. Der Kobold wußte, was Aodhan durchgemacht hatte, als sie Feochadan dort suchen wollten. Er zuckte zusammen, als ihn die Erkenntnis traf, daß seinen eben verheilten Füßen nun wieder eine lange Reise zugemutet werden sollte. Er spürte dunkle Augen auf sich ruhen und schämte sich für seine Gedanken. »Sart, du warst mir immer ein anhänglicher Begleiter und ein guter Freund. Du wirst verstehen, daß ich allein an diesen Ort
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zurückkehren muß …« »Niemals!« fuhr der Kobold auf. »Mein Schwur … und … und die Alpträume!« Aodhans Blick duldete keinen Widerspruch. Nicht einmal die Elfen wagten, ihn von seinem Vorhaben abbringen zu wollen. Cein und Blyann spürten, daß es Aodhans Schicksal war. Sie durften ihn nicht aufhalten, auch, wenn sie Bedenken hatten. »Wann?« hauchte Blyann in tonloser Ohnmacht. Aodhan erwiderte seinen Blick offen. »Morgen«, antwortete er genau wie Feochadan vor vielen Jahren und lächelte. »Aber …« Cein berührte Blyann am Arm, und er verstummte. Er schob seinen Teller von sich und stand auf. Tränen schimmerten in seinen bernsteinernen Augen. Er räusperte sich und fuhr fort: »Aber dann haben wir noch viel vorzubereiten …«
∞ Beschwingt schritt er aus. Die ersten Vögel trällerten ihm zu Ehren einen fröhlichen Gruß, den er gekonnt beantwortete. Er schaute über die morgendlichen Wiesen, auf denen schwache Nebel lagen. Dann heftete sich sein Blick entschlossen auf den mysteriösen Dunstvorhang im Norden. Sein Herz pochte heftiger gegen seine Rippen. Ein angenehmer Schauer lief über seinen Rücken. Ein neues Abenteuer wartete auf ihn. Das größte, das er bisher herausgefordert hatte, war es nicht ... Er war überzeugt, er würde die Antwort fi nden! Zuversichtlich suchte er sich einen Waldläuferpfad. Er bevorzugte die eleganten, kaum sichtbaren Wechsel gegenüber den oft schlammigen Wegen, die übliche Reisende wählten. Ein dicker Laubteppich schluckte das Geräusch seiner Schritte. Rechts und links des Pfades wuchsen dichte Büsche und Sträucher. Manchmal verfi lzten sich ihre Äste über dem Weg, so daß er sich tief unter ihnen ducken mußte. Eine ziemliche Steigung baute sich vor ihm auf. Wohlgelaunt machte er sich daran, sie zu überwinden.
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Durch die noch kahlen Baumkronen blitzte neckend die Sonne. Im Schatten war es noch empfi ndlich kalt, also beeilte er sich, ihr entgegenzugehen. Keuchend stand er schließlich auf der Anhöhe. Der Wind blies ihm schneidend ins Gesicht. Es stach in den Lungen, die kalte Luft zu atmen, aber er saugte sie tief ein. Frei! Er fühlte sich seit langem wieder frei! Nicht einmal Erinnerungen trübten seine Stimmung. Er hätte die ganze Welt umarmen können! In der Ferne hörte er das aufgeregte Blöken von Schafen. Er sah sich suchend um. War es möglich, daß er schon so weit gekommen war? Sein Blick wurde von einem unscheinbaren Felsen gefangen, der zwischen zwei gertenschlanken Buchenstämmen lag. Der Schäfer muß tatsächlich aus Cissal stammen! Übermütig zuckte er die Schultern. Ihn konnte nichts erschrecken an diesem prachtvollen Tag! Flink huschte er hinunter ins Tal, in dem das kleine Dörfchen lag. Mißtrauisch wurde er von den Bauern begafft. Sein freundliches Lächeln wurde nicht beantwortet. Er spürte unzählige Blick im Rücken, als er zielstrebig auf Welens Haus zuging. Noch bevor er klopfen konnte, wurde die Tür geöffnet. Ein junger Bursche starrte ihn lauernd an. »Hä?!« schnauzte der Geselle, wie Aodhan annahm. »Verzeiht mir die Störung, ist Welen im Haus?« fragte Aodhan höfl ich. Ein erstauntes Murmeln drang zu ihm. Die Augen des Jünglings wurden groß. »Der Alte ist seit zwei Wintern tot!« Aodhan zuckte zusammen. Der Schmied von Cissal war doch noch jung! Er hat unser Wagenrad repariert und die Achse ganz allein gehalten! Brad wollte es auch versuchen, aber … »Was wollt Ihr?« riß ihn die unfreundliche Stimme des jungen Mannes aus seinen Gedanken. Brad? – Dann war er das letzte Mal vor über zwanzig Jahren in dem Dorf gewesen! »He!« der ungehobelte Bursche stieß Aodhan an der Schulter. »Nichts … nichts …«, murmelte Aodhan verwirrt. Kurz darauf
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schlug die Tür vor seiner Nase zu. Betäubt verließ er das Dorf. Er sah die ersten Schneeglöckchen nicht, die taufunkelnd am Wegrand wuchsen. Ist alles tatsächlich so lange her? Es schien ihm, als spürte er noch das Brennen seiner verletzten Schulter! Zwanzig Jahre! Zwanzig lange Jahre … Was war in der ganzen Zeit geschehen? Sart und er hatten das Land durchreist, auf der Suche nach Feochadan. Sie waren in allen Dörfern gewesen, außer denen um und in den Cobhans. Ihm war nie wirklich aufgefallen, wie rasend schnell sich alles veränderte! – Doch, er hatte es bemerkt, weshalb er auch versucht hatte, sich das Leben zu nehmen … Nein, das war nicht der Grund! Er begann sich wieder in seinen eigenen Gedanken zu verfangen. Wütend darüber trat er heftig gegen einen kleinen Stein, der wild über den Weg kullerte. Der Stein war tiefschwarz. Aodhan hockte sich auf den Boden und betrachtete ihn. Seine Kanten waren gerade und wiesen kleine Unebenheiten auf. Das Gewicht und die Oberfl äche … es ist Basalt. Aodhan sah auf, aber er konnte durch die Bäume die nächsten Hügel nicht erkennen. Akzeptiere deinen Weg! Entschlossen steckte er den Stein in einen Beutel an seinem Gürtel. Er hatte noch nie ein Abenteuer unbeendet gelassen. Um sich abzulenken, betrachtete er die Landschaft. Freudig erkannte er alte Markierungen, bestimmte Bäume, Steinformationen, Hügel, Flüsse. Madawc kannte sie alle mit Namen. Sie hatte versucht, sie ihm beizubringen, er jedoch gab ihnen eigene Namen. Nun wünschte er, er wüßte wenigstens einige, um etwas zu haben, daß ihr auch vertraut war. Der Weg wurde felsiger. Ein merkwürdiges Gefühl breitete sich in ihm aus. Angst? Er wußte es nicht. Die Sonne schien durch die Bäume in ein dicht bewaldetes Tal. Die Flanke des Grats, den er beschritt, war eher licht. Durch den milchigen Dunstschleier erkannte er plötzlich Caer Coille. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Dieser Felsen,
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der aussah wie eine alte Festung, kündigte die Cobhans an. Unvermittelt trat er aus dem Wald heraus. Der kalte Wind, der ihm entgegenschlug, ließ ihn frösteln. Wahre Schauer jagte jedoch der erste scharf gezackte Bergkamm im dunstigen Licht der Abendsonne über seinen Rücken. Lauernd starrte er ihn an, so als wären diese Felsen ein Feind. Doch es schien, als hätte dieser Feind nicht die Absicht, ihn anzugreifen. Die Sonne neigte sich bedrohlich schnell dem klingengleichen Grat zu. Erstarrt wurde er Zeuge, als sie ihn traf. Der Himmel färbte sich in kürzester Zeit blutrot. Blutige Lichtfi nger umfaßten das kalte Schwarz, fast so, als flehten sie sterbend um Gnade. Aodhan zitterte. Erst als der letzte rote Schimmer verschwunden war, kehrte er in die Wirklichkeit zurück. Eine unwirtliche Wirklichkeit. Kalt und naß! Mißmutig machte er sich im Dunkeln auf die Suche nach einem halbwegs trockenen Lager, ohne Erfolg. Er konnte sich nicht dazu bewegen, weiterzuziehen. Er war nicht müde. Der Mond spendete kaltes aber ausreichendes Licht, und er kannte den Weg. Trotzdem wollte er nicht weiter. Mein Schwur … und … und die Alpträume! hallten Sarts Einwände gegen seinen Entschluß, allein nach Dun na h-Eoin zu gehen, durch seine Gedanken. Ächzend versuchte er eine bequeme Stellung zu fi nden und lehnte sich an den breiten Stamm einer Eiche. Seine dunklen Augen spiegelten die silbrige Sichel des Mondes wider. Was würde ihn erwarten, wenn er sie schloß? Erlebte er alles erneut? – Die Nacht würde er irgendwie überstehen, aber was war mit den kommenden Tagen? Was hielten sie für ihn bereit? Ob ihn jemand erkennen würde? Was war aus Caerdale geworden? Und was aus dem verrückten Zauberer? Er wußte nicht einmal, was mit Fuathas geschehen war! Er zögerte. Sollte er es wagen? Viele Jahre hatte er versucht zu vergessen … Was war geschehen? Woran konnte er sich erinnern? Langsam schlossen sich seine Lider. Vor seinem geistigen Auge flammten ungeordnet
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Bilder auf. Szenen aus seiner Kindheit in Liosliath; Feochadan, wie sie Wildpferde fi ng; Donn, der ihm nacheiferte; ernste graue Augen, in denen tiefes Wissen glomm – Madawc; kurz darauf Blyann, das schmale glatte Gesicht, in das mittellanges seidengleiches Haar fiel, manchmal wirkte es wie das eines aufrührerischen Jünglings, dann besonnen und weise, wie das Antlitz eines Alten … Es schien Aodhan, als könnte er sich nicht an Dun na h-Eoin erinnern. Er sah zu dem scharfen schwarzen Schatten vor dem freien, unschuldigen Blau der Nacht. Fragend blickte er in das strahlende Weiß des Mondes. Weiß. Er erschauerte. Daran erinnerte er sich. – Doch er wußte, da war mehr. Er hatte mehr gesehen, als dieses magische Chaos … Die Menschen, die Zeuge der Vollstreckung wurden. – Ihr Entsetzen … Duilliath, den Drachen, in seinem Rücken … Ein dumpfes Klopfen in seinem Schädel. Nein, das war keine Erinnerung. Er spürte es jetzt. Sein Puls wurde heftiger. Würde er es erneut durchleben? … wie das Schicksal, mein Junge! hörte er Blyanns Stimme in seinen Gedanken und sah sich ihm trotzig gegenüberstehen. Du wirst lernen, ’ dhan. Es wird schneller und einfacher gehen, wenn du es selbst willst. Er hatte ihn wütend angefunkelt. Ich will jetzt aber nicht lernen! Blyann lächelte warnend. Na gut, der Tag ist zu schön, um hier drin zu sitzen. – Aber merke dir, das Schicksal wird dich nicht so leicht entlassen. Es wird dich zwingen, zu erkennen, auch, wenn du dich widersetzt. Er hatte dagegen gekämpft. Er hatte versucht zu vergessen. Er wollte sein Schicksal nicht wahrhaben. Deshalb hatten ihn Alpträume bis in den Tag verfolgt. Deshalb spürte er alte Wunden, als seien sie vor kurzer Zeit geschlagen worden. Was hatte er übersehen? Was hatte er nicht erkannt? Worauf wollte sein Schicksal hinaus? Wieder sah er zu den ersten Vorläufern der Cobhans. Er war sicher, dort würde er die
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Antwort fi nden, jetzt, wo er bereit war zu lernen. Er schloß die Augen und lauschte auf die Geräusche des nächtlichen Waldes. Das morsche Knarren alter Eichen; das quietschende Reiben junger Buchen aneinander, das leise Flüstern der Birkenblätter, huschendes Hasten, ängstliches Verharren, eiliges Fressen, Sichern, Fressen, Zögern, aufgeschrecktes Fliehen, Stille, die nur durch das Summen des Windes gebrochen wurde. Dumpfer Schmerz lag auf seinen Schläfen am nächsten Morgen. Er war die ganze Nacht nicht von ihm gewichen. Zu seinem Erstaunen hatte er traumlos geruht. Allerdings fühlte er sich jetzt erschöpfter als am Abend. Seine Knochen schmerzten vor klammer Kälte. Sein Magen knurrte, obwohl er vor wenigen Stunden etwas Käse und Brot gegessen hatte. Das hohe gelbe Gras, durch das er schritt, war tropfnaß. Bald durchdrang die Feuchtigkeit seine Kleider. Der kalte Wind biß sich an ihnen fest und nagte beständig an ihm. Er überlegte, wo in der Nähe ein Dorf oder eine Herberge für die kommende Nacht lag. Er wollte sie nicht wieder im Freien verbringen. Hier in den Cobhans spürt man noch nicht viel vom Frühling! Sein keuchender Atem wehte weiß von seinem Mund, als er sich durch den knöcheltiefen Morast kämpfte. Es schien ihm, als käme er überhaupt nicht voran. Doch dann hatte er das sumpfige Stück hinter sich gelassen. Neben ihm ragte ein großer, schwarzer Felsen aus schütterem, moosigem Gras. Er sah über eine Ebene. Sanftes Auf und Ab von kleinen Kuppen und Hügelchen, Felsbrocken und Grasflechten bestimmten ihr Bild. Am Horizont zeigten sich die ersten hohen Berge des Gebirges. Über ihnen türmten sich bedrohliche Wolkenmassen, die der Wind beunruhigend schnell vor sich her peitschte. Wenn er auf der Ebene mit dem Unwetter zusammentreffen würde, hätte er keinen Schutz. Es gab keine Bäume, nicht einmal Büsche. Er zögerte nicht länger. Der Boden schien unter seinen Schritten zu federn.
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… wie auf Wolken! hörte er Feochadans Ausruf, als sie barfuß über das dichte Flechtwerk der Moose und Gräser gerannt war. Er blickte überrascht zurück. Ist das nicht ihr Lachen gewesen? Er lauschte, doch alles, was er hörte, war das Heulen des Windes. In der Ferne sah er, wie die ersten Wolken ihre Pforten öffneten. Die Konturen der Berge verwischten, bis nur noch der trübe, weiße Schleier auszumachen war. Wolkenfetzen jagten über ihn hinweg. Besorgt beobachtete er ihr Treiben und beschleunigte seinen Schritt. Er wußte, daß er es unmöglich bis zu den Bergen schaffen konnte. Von Tiamhaid, dem schwarzen Felsen aus, hatte alles viel näher gewirkt. Es begann zu tröpfeln. »Zu spät«, seufzte Aodhan und zog die wildlederne Kapuze tiefer ins Gesicht. Plötzlich schien eine wahre Flut aus den Wolken zu strömen. Der Sturm trieb die großen Tropfen fast waagerecht vor sich her, welche den ohnehin nassen Boden bald gänzlich aufweichten und Aodhan mit großer Wucht ins Gesicht schlugen. Er mußte schwer gegen den Sturm ankämpfen. Immer wieder glitt Aodhan auf dem schlammigen Untergrund aus. Beinahe hätte er den Langbogen zerbrochen, den er von Blyann zum Abschied bekommen hatte. Böse sah er zum Himmel. Hätte er nicht noch warten können, bis er die Cobhans erreicht hatte?! Er war naß bis auf die Knochen! Der kalte Wind ließ seine Zähne aufeinanderschlagen und biß in seinen Lungen. Es grenzte an ein Wunder, würde er nicht krank werden. »Hatschi!« nieste er. »Hatschi! Hatschi! Hatschi!« Mißmutig verzog er das Gesicht. Er hatte nichts anderes erwartet – bei seinem Glück. Selbst als er den Fuß der Berge erreichte, regnete es noch, nicht mehr so heftig, … aber immer noch recht naß. Lustlos suchte Aodhan nach ihrem alten Aufstiegspfad. Seine anfängliche freudige Erwartung war nicht mehr zu spüren. Er konnte sich nicht einmal zu dem Gefühl der Angst überwinden. Augenblicklich war ihm jedes
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Abenteuer und jede Aufgabe des Schicksals gleichgültig. Er wollte etwas Trockenes zum Anziehen, etwas warmes Essen und Trinken und ein trockenes, warmes und weiches Bett! Statt dessen glitten seine klammen, fast gefühllosen Finger über eisig kalte, scharfe Felsen auf der Suche nach einem Halt. Das Dröhnen in seinem Schädel hatte sich zu einem Stechen gewandelt, das noch unangenehmer und aufdringlicher war. Seine Augen brannten – doch es kam nicht vom Wind. Wieder und wieder rieb er sie, mit dem Ergebnis, daß er immer weniger sah. Plötzlich spürte er etwas Warmes im Gesicht. Seine Hand tastete danach. Entsetzt starrte er sie an. Aus einer klaffenden Wunde an seinem Handgelenk sprudelte pulsierend Blut! Er versuchte die Wunde zu schließen, aber auch die andere Hand wies eine solche Verletzung auf. Aber er spürte keinen Schmerz! Wo hatte er sich die Verletzungen zugezogen? Fassungslos starrte er auf die etwa gleich langen Schnitte. Schnitte?! War es möglich, daß er verblutete? – Nein, er war unsterblich! Das Blut und die Verletzungen verschwanden so unerwartet, wie sie aufgetaucht waren. Der Schmerz in seinen Schläfen verebbte. »Was war das?« fragte er sich verwirrt. Er wußte keine Antwort. Entschlossen sah er zu dem leuchtenden Schimmer am Ende des Passes. Dort. Dort würde er die Antwort fi nden! Er lief das letzte Stück und blieb keuchend zwischen den Flanken der Schlucht stehen. Vor ihm reihte sich Gipfel an Gipfel, Tal an Tal, Kette an Kette, scheinbar bis in alle Ewigkeit … Die Wolken zogen tief und dunkel über sie hinweg. In dem dämmrigen Licht wurde seine Aufmerksamkeit plötzlich auf ein warmes, sanftes Leuchten gelenkt. Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. »Ein Gasthaus? Hier? – Es muß neu sein …« murmelte er. Ein Lächeln spielte um seine vor Kälte bläulichen Lippen. »Eine sehr gute Idee, hier ein Gasthaus zu bauen, wahrlich!«
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Er beeilte sich, dem warmen Licht entgegenzugehen. In seinen Augen spiegelte sich die Vorfreude auf ein Bett.
∞ Riagan, der Wirt, führte ihn durch die kleine, freundliche Gaststube zu einem hübschen Zimmer, in dessen Kamin schon ein wärmendes Feuer prasselte. Müde setzte sich Aodhan auf das weiche Lager, als Riagan die Tür hinter sich schloß. Nur langsam bekam er wieder Gefühl in die tauben Finger. Er gähnte erschöpft. Die letzten Nächte waren so kalt gewesen, daß er kaum wirklichen Schlaf gefunden hatte. Matt entledigte er sich seines nassen Umhangs. Der Langbogen lehnte neben den Pfosten des breiten Bettes. Aodhan zog den schlichten Holzstuhl zu sich, um sein Schwert abzulegen. Er hatte es lieber in seiner Nähe. Die Zeit, während der er mit Sart das Land durchzogen hatte, war hierin seine Meisterin geworden. Man war nicht mehr so sicher auf den Straßen wie damals, als er sie mit den Tinkers bereist hatte. Er war ein geschickter Schwertkämpfer geworden – allerdings hatte er hartes Lehrgeld bezahlen müssen. Während dieser Lehre war seine Gewißheit, tatsächlich unsterblich zu sein, gewachsen. Selbst die schwersten Verwundungen waren nach einer Weile verheilt … Um so unsinniger erschien ihm nun sein Versuch, den Freitod zu wählen. Er fröstelte und schlüpfte aus den übrigen nassen Kleidern, um seinen unterkühlten Körper in trockene Leinenwäsche zu hüllen. Der Wirt hatte ihm ein warmes Mahl versprochen. Essen …? Er war zu erschöpft, um zu kauen. Aodhan entschied, sein knurrender Magen würde warten müssen. Schon im Einschlafen wunderte er sich darüber. Wenn er schon unsterblich war, warum mußte er dann hungrig werden und essen? Verhungern konnte er ja nicht …
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∞ Lächelnd lauschte er der süßen Melodie. »Feo‘«, murmelte er schlaftrunken und zog die Decke dichter um sich. Er sah ihr schmales Gesicht. Die großen grünen Augen blitzten in dem herrlichen Licht, das sie umgab. Ihr kupferfarbenes Haar war offen. Der Wind spielte versonnen mit den glänzenden Strähnen und wob Blüten in sie. Feochadan sang. Es war Wanderungen. Jetzt wo er die Worte vernahm, konnte er sich an sie erinnern: Bin schon in vielen Aspekten erschienen, ehe ich gült’ge Gestalt mir errang. Er ging näher. Er wollte ihre Stimme deutlicher hören. Sie lächelte ihm entgegen. Verwirrt blieb er stehen, denn er spürte Gefahr. Aber warum sollte von ihr Gefahr ausgehen? … Bin ein Regentropfen im Winde gewesen, Bin der fernste der Sterne … Er schüttelte den Kopf über sich selbst und ging weiter auf sie zu. Sie erhob sich und tanzte singend vor ihm her. … Bin eine Meeresströmung, ein Adler gewesen. … Bin das Wasser, der Schaum, Bin Schwamm im Feuer gewesen … Er folgte ihr, obwohl sich seine Nackenhaare aufstellten und alles in ihm Gefahr! schrie. Feochadan lief auf ihn zu und umfaßte seine Handgelenke. Lachend warf sie den Kopf zurück. Plötzlich verstummte sie. Mit unheimlichem Blick starrte sie ihm in die Augen, bis auf seine Seele. Er wich etwas zurück, doch sie folgte ihm. »Laß los, Feo«, bat er. Ihr Griff wurde fester und fester. »Was soll das? Laß los!« Gefahr! Grünes Feuer flammte aus ihren Augen, genährt von Haß und der Gier nach Rache. »Feo‘!« stieß er entsetzt hervor. Ein widerliches Grinsen entstellte ihre Züge, die sich plötzlich veränderten. Ihre Haut wurde durchscheinend und faltig. Die Lippen trieften bald vor zahnlosem Geifer. Er wich weiter zurück, doch ihre klauenartigen
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Hände ließen nicht los. … Bin ein Schwert in der Hand des Kämpfers … Die scharfen gelben Nägel gruben tiefe Furchen in seine Haut, als er sich zu befreien versuchte. Sieh, was mit mir geschieht! fuhr sie ihn an. Ihre Stimme klang rauh und tief, nicht wie er sie kannte. Sieh, wie mein Fleisch an meinen Knochen verwest. Sieh, wie mein Haar ausfällt und meine Zähne faul werden! Meine Augen sind trübe geworden … Aber sie sehen, daß du so schön bist wie damals! Meine Augen haben Madawc sterben sehen! Hast du sie so sehr gehaßt, daß du sie gehen lassen mußtest?! Plötzlich schmiegte sich der nach Aas stinkende Körper an ihn. Aodhan kämpfte gegen die Übelkeit an, die in ihm hochstieg. Haßt du mich so? Erinnere dich! Wir wollten immer zusammen sein. Sie stieß ihn hart von sich, ließ seine Hände jedoch nicht los. Er kam nicht von ihr frei! Weißt du noch? Welen, Eda, Sart, Nialle, Liath, Blyann und all die anderen? Früher oder später werden alle fort sein. Warum können sie nicht jung bleiben? Es ist hart, zu altern. Es ist eine Strafe! Ich habe nichts getan! Sieh mich an! Warum werde ich so bestraft?! Sie zog ihn zu sich. Ich will nicht sterben! Ich will Jugend! So, wie du sie hast – ewige Jugend! Gib mir von deinem Schatz! Ja, Jugend ist ein Juwel, ein Schatz, ein Diamant! Warum ist meine Jugend nicht auch ewig?! Aodhan war zu entsetzt von ihrer Verwandlung, um etwas zu erwidern. Erneut preßte sich diese scheußliche Frau an ihn. Er konnte ihr nicht entkommen. Sie verfügte über unnatürliche Kräfte. Ihr fast haarloser Kopf rieb sich an seiner Brust. Es gibt so viele Abenteuer, die auf uns warten. Wir haben so viele Träume nicht geträumt. Laß uns leben! Sie sah zu ihm auf und erkannte seine Abscheu. Ihre rotgeränderten Augen verengten sich. Die knochige Hand packte noch fester um seine Gelenke, daß er glaubte, sie müßten brechen.Du willst es mir nicht geben? »Ich kann dir nichts geben!« ächzte er verzweifelt. Sie kreischte
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erbost auf. Ihre messerscharfen Nägel zerfetzten seine Brust und zerkratzten sein Gesicht. Er versuchte sich zu schützen, wagte aber nicht, sich zu wehren. Er konnte Feochadan nicht schlagen! Niemals! – Das ist sie nicht! hallte es durch seinen Verstand, aber er war sich nicht sicher. Stumm ertrug er ihre Torturen. Warum wehrst du dich nicht?! brüllte sie ihn zornig an. Spürst du keine Schmerzen?! Er antwortete nicht, was sie noch rasender machte. Keuchend stand sie vor ihm. Ihr fauliger Atem stach in seiner Nase. Suchend glitt ihr Blick wie tastende Finger über seinen zerkratzten Körper, um dann in seinen Augen zu versinken. Sie durchforschte seinen Geist. Es gelang ihm nicht, sie zurückzudrängen. Endlich hatte sie etwas gefunden. Ein triumphierendes Kreischen ausstoßend stürzte sie sich auf ihn. Ihre krallengleichen Nägel schlugen nach seinen Augen. Wie Fuathas! schrie alles in ihm. Kurz glaubte er, statt der Frau den Magier zu sehen. Er erinnerte sich. Er fühlte die kalten Hände des Magiers über seine Augen gleiten … Wieder erfaßte ihn panische Angst, denn er wußte, was geschehen würde! »Nein!« brüllte er und hieb nach dem Schatten vor sich. Ein erstickter Aufschrei und die Erinnerungen verblaßten. Vor ihm auf dem weißen Boden lag Feochadan in ihrer jugendlichen Schönheit. Blut sickerte aus ihrem Mundwinkel. »Feo‘! Nein!« stieß er entsetzt hervor und sank zu ihr herab. Zitternd vergrub er sein Gesicht an ihrer leblosen Brust. Jemand schüttelte ihn an den Schultern. »Sir! Sir!« hörte er eine Stimme. »Feo‘!« Die reglose Gestalt verschwand im Nebel. »Mylord! Sir!« Die Stimme klang angstvoll. Verstört öffnete er die Augen. Er fand sich in einem kleinen Zimmer. Die Dämmerung brach herein und verbreitete ein warmes, angenehmes Licht im Raum. Der Wirt sah besorgt auf ihn herab.
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»Wir dachten, Ihr würdet ermordet, so habt Ihr geschrien!« erklärte er. Aodhan setzte sich auf und betrachtete seine Handgelenke. Nichts war von dem Kampf zu sehen. Sollte alles nur ein Traum gewesen sein? Es war so schrecklich wirklich. »Mir scheint, Ihr hattet einen üblen Alpdruck, junger Freund! Kommt mit herunter und trinkt einen Schluck zur Beruhigung.« Riagan erzählte etwas von Träumen, die ihn manchmal plagten, aber Aodhan hörte ihm nicht zu. Es war kein wirklicher Traum, aber was ist es dann gewesen sein? Etwas derart Schreckliches hatte er nie erlebt. – Außer einem Mal.
∞ Aodhan hatte beschlossen, nicht weiter zu gehen – zumindest jetzt noch nicht. Er fürchtete, sein Traum könnte wahr werden … Sein Blick glitt über die unzähligen fernen Gipfel und folgte den rasch vorbeiziehenden Wolken. Nein, so würde sie nie werden. Nichts könnte sie so verbittern … Er fühlte sich plötzlich schuldig. Steckte nicht viel Wahrheit in dem, was die häßliche Alte gesagt hatte? Sie würden alle sterben – alle, auch Blyann und sogar Lazzard. Leere breitete sich in ihm aus und Einsamkeit. Nur er würde bleiben … »Wozu?!« brüllte er voller Schmerz gegen den tosenden Wind und sah nach Norden. In Dun na h-Eoin konnte eine Antwort liegen. Was sollte er tun, wenn er sie dort nicht fand? War er verdammt, in alle Ewigkeit nicht zu wissen, weshalb er nicht sterben durfte? Einsam saß er auf dem Felsvorsprung und betrachtete das verblassende Abendlicht über den Gipfel der Cobhans. Irgendwo hinter einem der Berge lag ein kleines Tal, das Tal von Caerdale. Nichts erinnerte mehr an das kleine Dörfchen. Es war vergessen von der Welt. Weder der Wirt noch die Gäste der Schenke kannten Caerdale – er würde es nie vergessen … Donn hatte ihm von dem Angriff der Drachenritter berichtet … Es war seine Schuld. Wegen ihm existierte das Dorf nicht mehr.
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Dafür aber der Turm … Riagan hatte ihm von dem Turm und der Stadt erzählt. Man nannte ihn nicht mehr Dun na h-Eoin. Er lachte bitter auf. Nun hieß er Turm des Rot, Dun na Ruadhan, und kaum jemand erinnerte sich an die Legende, die ihm den Namen gab!
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Fünfzehntes Kapitel Es war sehr still an diesem Morgen. Die Stadt schien noch zu schlafen. Nur ein paar Raben kreisten um die Spitze des Turms. Die großen, grauen Augen der jungen Frau folgten ihrem Flug gedankenverloren von einem Fenster am hohen Turm aus. Es war kalt und sie zitterte in ihrer spärlichen Bekleidung. Die leuchtend rote Haarpracht, die ihre edel geschnittenen Züge umrahmte, fiel auf bloße weiße Schultern. Ihre schmale Hand wischte über sie, als wollte sie eine Spur verbergen. Sie schauderte und sah zu ihrem zerwühlten Bett. Sie hatte sich verkauft! Voller Haß verfluchte sie ihr Erbe. Wäre sie doch umgekommen, wie ihr wahnsinniger Vater! Wieder fiel ihr Blick auf die weißen Laken. Was tat sie alles, um Macht zu erringen?! Sie spürte die lüsternden Griffe noch auf ihrer Haut …, auf der Seele! Wozu? Um ihn für ihre Kriegspläne zu gewinnen? Nein, er hatte das gleiche Ziel. Er hätte ihr auch ohne ihr großzügiges Angebot seine Führer überlassen. Sie zuckte zusammen als sie in ihrer Erinnerung sein Lachen hörte, er hatte es von Anfang an gewußt! Sie war so töricht gewesen, es nicht zu sehen! Sie war sicher, er hatte, was sie be-gehrte, aber er stritt es ab. »Wir haben sehr viel Macht, meine Schöne. Deinen Wunsch jedoch kann nur das Rad erfüllen.« »Aber mein Vater! Er hatte einen Stein, der Ewigkeit verhieß!« Seine Hand war über ihre Kehle geglitten. Sie erschauerte bei dem Gedanken daran. »Es gab nur diesen einen …« Das wußte sie auch! Fuathas war ein Idiot, die Macht des Steins so zu vergeuden! Sie hatte seinen unheimlichen Blick auf sich ruhen gespürt und trotzig in seine weißen Augen gesehen. »Und wenn wir ihn suchen?« »Wen?« »Den Bewahrer. Irgendwo muß er sein!« Er hatte nur gelacht. »Was willst du mit ihm tun, wenn du ihn fi ndest?«
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»Es muß doch einen Weg geben!« »Es gibt keinen in die Ewigkeit, meine mächtige Königin.« Voller Ekel erinnerte sie sich an seinen Kuß. Sie schüttelte sich und rief nach einem Diener, um sich anzukleiden. »Also gut«, murmelte sie. »Wenn er mir nicht helfen will, werde ich ihn allein suchen!« In der Stadt gibt es genügend Strauchdiebe, Meuchelmörder und Schlimmeres. Sie würden sich um die Suche reißen, sähen sie ihr Gold!
∞ Niemand hatte sie erkannt in den zerlumpten Umhängen und Röcken. Überall juckte es und die Kleider stanken entsetzlich, so wie alles in dieser verfluchten Stadt! Sie rümpfte angewidert die Nase, als ihr ein Schwall bräunlichen Dampfes aus einer Gasse entgegenschlug. Plötzlich trat ein kräftiger Mann aus einem Schatten. Sein Bart strotzte vor Schmutz und Essensresten. In einer prankengleichen Hand hielt er den Rest einer kalten Schweinekeule. Er schmatzte laut und das Fett der Keule vermischte sich mit dem übrigen Unrat in seinem Gesicht. Sie spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Er rülpste vernehmlich. »‘schuldigung«, brummte er und grinste unverschämt. »Haben uns erst mal statt gegessen, M‘am.« Er winkte in die Dunkelheit. Aus dem Schatten lösten sich drei weitere Männer ähnlicher Manier. Sie musterte sie kurz. Ihr Aussehen war furchteinflößend, aber das war ihr gleich. »Hoffentlich seid ihr so, wie es euer Ruf verspricht.« »Oh, da seid unbesorgt! – Ich habe den Jungs schon gesagt, worum es geht …« Ein hagerer rattengesichtiger Kerl schob sich nach vorn. »Wie sollen wir ihn erkennen?« Seine Stimme klang zischelnd. »Das ist eure Aufgabe.« Der mit der Keule stieß ihm in die klapprig-dürren Rippen. »Werden schon seh‘n, Snarl!«
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»Wo sollen wir suchen?« fragte der andere. Sie wurde ungeduldig. »Ich würde euch nicht kaufen, wenn ich es wüßte!« »Verzeihung!« Sie gab jedem einen Beutel. »Den Rest bekommt ihr, wenn ihr ihn mir bringt.« Snarl wog den Beutel abschätzend in der Hand. »Was ist, wenn ihm – nun, etwas zustoßen sollte?« Er grinste bösartig. Ehe sie antworten konnte, kam ihr der Dritte zuvor. »Ihm wird nichts zustoßen, Snarl!« Ihr Blick versuchte das Dunkel zu durchdringen, in dem er stand, aber sie konnte nur seinen schemenhaften Schatten ausmachen. Sie nickte. »Findet ihn!« befahl sie und wandte sich zum Gehen. Voller Unbehagen spürte sie die blutgierigen Augen ihrer Hunde im Rücken. Sie waren die richtigen. »Also, du gehst nach Aescbourne, Snarl versucht es über die Bromford, ich werd‘ mich in Lios umhören. – Wo willst du anfangen, Dryw?« Der Angesprochene lächelte vielsagend. »Ich glaube, ich muß euch einen schwer einzuholenden Vorsprung lassen …« Die stechenden Augen Snarls musterten den breitschultrigen Kopfjäger. Sie versuchten etwas aus den markanten Zügen zu lesen, doch Dryw war wie sie undurchschaubar. »Hast wohl noch ein zweites Eisen im Feuer, wie?« »Vielleicht.« Dryws Zähne blitzten weiß im Mondlicht. »Na dann, viel Erfolg, mein Freund, und heul‘ nicht, wenn du nichts von meiner Belohnung abbekommst!« »Seh‘n uns, Dryw!« »Viel Glück!« Er sah ihnen nach. Sie werden keinen Erfolg haben, egal, wo sie suchen! Seine braunen Augen blitzten wie die eines Siegers. Verschlagen grinsend sah er zum Turm und warf den Goldbeutel in die Luft. »Vielen Dank, meine Königin, für die edle Spende! Und für Euer Vertrauen …« Dann zog er den zerfetzten Umhang enger um die Schultern und die weite Kapuze tiefer ins Gesicht. Huschend, wie alles Leben in Ruadhan, verschwand er in den unzähligen Schatten der Stadt.
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∞
Voller Abscheu sah sie der kommenden Nacht entgegen. Ihre grauen Augen starrte auf den roten Feuerball am Himmel, der sich unaufhaltsam dem Horizont näherte, fast, als könnten sie seinen Lauf damit aufhalten. Es klopfte, als die Sonne die ersten Gipfel berührte. »Ja?« Ein Diener huschte herein. »Es ist Zeit, Mylady«, tuschelte er verängstigt. »Das sehe ich selbst!« fuhr sie ihn grob an. »Ist alles vorbereitet?« Er nickte heftig. »Worauf wartest du?! Leuchte mir in die Gewölbe!« »Ja, Mylady!« Er zitterte am ganzen Körper. In seiner Angst sah er das Beben ihrer Schultern nicht. Eilig lief er die gewundenen Stufen voraus, tiefer und tiefer in das Herz des Turmfelsens hinab. Dorthin, wohin er nicht einmal seinen schlimmsten Feind wünschen würde. »Halt!« Er zuckte erschrocken zusammen. »Von hier gehe ich allein. Verschwinde!« Dankbar überließ er ihr den Leuchter und hastete keuchend die Stufen wieder hinauf. Wie sie ihn darum beneidete! Sie seufzte tief und ging weiter. Ihre Schritte hallten von den feuchten Wänden wider. Bald schien es ihr, als hörte sie ihn bereits nach ihr rufen. Ihr Herz schlug schneller. Er konnte mit jedem Mal leichter erscheinen. Schaudernd erinnerte sie sich an seine erste Beschwörung. Tagelang hatte sie in der beängstigenden Finsternis der Gewölbe verharrt und ihn gerufen. Sie dachte, sie müßte sterben, so erschöpft war sie gewesen. Doch dann hatte er ihr endlich gegenübergestanden. Welch ein Triumph! »Ihr kommt spät«, mahnte ein rotgewandter Priester, der ihr entgegenkam. Sie knurrte statt einer Antwort etwas Unverständliches und eilte an ihm vorbei. »Nein! Nein! Bitte nicht!« wimmerte eine schmutzige zusammengekauerte Gestalt, die von drei weiteren Priestern umstanden war. Gereizt fuhr sie den, der sie empfangen hatte, an: »Warum schneidet ihr ihnen nicht die Zunge heraus?! Ich kann
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ihr Flennen nicht ertragen!« »Nein!« kreischte das Häuflein Elend entsetzt und verstummte, als es dem Blick kalter Augen begegnete. »Warum jammerst du? Tote schweigen immer! Du brauchst sie nicht mehr!« Sie wandte sich von ihrem Opfer ab. Bald wird das nicht mehr nötig sein. Ach, wie sie diesen Tag herbeisehnte! Der Geruch des Blutes verursachte ihr Übelkeit. »Es ist alles bereit, meine Königin!« »Gut, beginnen wir!
∞ »Ich verstehe dein Zögern nicht«, er schüttelte den Kopf über ihre Entscheidung. »Ich denke, du willst deine Macht ausdehnen.« »Ja, das will ich. Die ganze Welt soll vor mir – vor uns kriechen! Sie soll erzittern vor unserer Macht!« »Warum willst du dann warten?« Sie wich seinem Blick aus, denn sie fürchtete, er könnte etwas ahnen. »Die Zeit ist nicht günstig«, versuchte sie sich herauszureden. »Die Zeit? Was hat die Zeit damit zu tun?« Sie fühlte sich in die Enge getrieben, was sie gefährlich machte. Er sah das warnende Funkeln in ihren grauen Augen und belächelte es heimlich. Er reizte sie so gern. »Für mich sehr viel!« Er spielte lächelnd mit einem Ring an seinem Finger. Das Stück war aus sehr seltenem Silber. Feine Ornamente waren dicht miteinander verwoben und faßten einen blutroten Rubin. »Ja, richtig«, stimmte er wissend zu. »Fuathas’ Erbe!« Zornig fuhr sie zu ihm herum. Er erhob sich und umarmte sie. Ehe sie protestieren konnte, küßte er sie versöhnlich. »Kannst du es nicht einsehen? Das Versprechen ist verloren. Es hat sich für einen anderen erfüllt …« Heftig machte sie sich von ihm los. »Für einen, der es nicht zu schätzen weiß! Für einen, der blind ist für seine Möglichkeiten!« Er folgte ihr beharrlich und legte seinen Arm um ihre Hüfte. »Bist du da so sicher?« fragte er stichelnd.
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Erschrocken sah sie ihn an. »Weißt du etwas von ihm?« Er schwieg. Sie drückte sich etwas fester an ihn, was er schmunzelnd bemerkte. »Wo ist er? Was tut er? – Vielleicht können wir ihn dazu überreden, daß er sich mit uns verbündet!« Seine Hand legte sich auf ihren Mund. »Ich glaube nicht, daß er uns unterstützen würde …« »Warum nicht? Wir haben ihm viel zu bieten. Macht, Gold, Land …« Er küßte sie sanft und murmelte: »Denkst du, er würde das mit uns teilen? Er kann es allein erringen …« Ohne ihm entgegenzukommen, ertrug sie seine Liebkosungen. Plötzlich hörte er auf und sah sie fragend an. Gedankenverloren starrten ihre grauen Augen durch ihn hindurch. »Seaghda!« »Ja …?« Ihr Blick war noch immer in ihr Inneres gerichtet. »Seaghda, ich bin hier! – Wo bist du?« Verwirrt schaute sie in seine weißen Augen. »Kann er uns gefährlich werden? Wie groß ist seine Armee?« Er schnaubte verächtlich. »Geht dir nichts anderes durch deinen schönen Kopf?« beschwerte er sich. »Nein, er wird uns nicht gefährlich, denn er hat keine Armee!« »Woher weißt du das?« Er ließ sie los und ging gereizt auf und ab. Sie hatte ihn verärgert! Eilig folgte sie ihm, um ihn wieder milde zu stimmen. »Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich in gut gespielter Zerknirschtheit. »Ich mache mir nur Sorgen um unser künftiges Reich .« »Das mußt du nicht. Wir werden unser Ziel erreichen. Er wird uns nicht stören. – Du hast Recht, er weiß die Gabe nicht zu schätzen, denn er verbirgt sie irgendwo …« »Wo?« Er zuckte die Schultern und zog sie zu sich aufs Bett. »Ich weiß nicht …«
∞ »Na, du bist noch da?« Dryw grinste dem fetten Wirt entgegen. »Dein Bier ist zu gut, um es diesen Säufern zu überlassen!« Der Wirt lachte dröhnend und wischte sich mit der Hand über das schmierige Gesicht. Dann beugte er sich tiefer zu seinem Gast hinunter. »Was ist los, Dryw? Die anderen sind vor einer Woche
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aufgebrochen. Wird es nicht bald Zeit?« Braune Augen sahen sich um und blickten dann verschwörerisch in die an Schweinsaugen erinnernden des Wirts. »Hab‘ noch ein anderes Geschäft, hier in der Stadt.« Er deutete auf einen betrunkenen Soldaten und schob dem Wirt etwas in die fleischige Hand. »Die Stadt ist sehr wohlhabend, mein Freund.« Flink huschte ein Blick der Schweinsaugen über die Münzen in seiner Hand. Der Wirt pfi ff anerkennend durch die Zähne. »Das Wappen der Königin! Hast du etwa den Schatzmeister bestochen?« Dryw grinste verschlagen. »Viel besser! – Ich habe eine Quelle, die nicht versiegt!« Sichernd sah er sich um und zog den Wirt näher zu sich. »Du kannst auch etwas haben …« »Was soll ich tun?« Dryw zuckte belanglos die Schultern. »Halte nur ein wenig die Augen und Ohren auf …« Lauernd starrte ihn der Wirt an. »Was willst du wissen?« Beleidigt lehnte Dryw sich zurück und steckte den Lederbeutel an seinen Gürtel zurück. »Ich bin doch kein Spion!« Der Wirt sah seine Chance, das Gold zu bekommen, verfl iegen. »Nein, natürlich nicht!« beteuerte er eilig. »Du willst nur gut informiert sein. Ist es nicht so, Dryw?« »Das wollen Spione auch!« »Pssst! Nicht so laut!« Der Wirt rückte näher. »Nur sehen und hören? – Das tue ich den ganzen Tag! – Für niemanden, Dryw, nur für mich.« Dryw grinste zufrieden und gab ihm weitere Münzen. »Nur für dich, mein Freund!«
∞ Es hatte viel Überwindung gekostet zu gehen, aber dann hatte er sich nicht noch einmal von seinem Weg abbringen lassen. Kein Alptraum und auch nicht der ständig wiederkehrende Schmerz in seinem Schädel hatte so viel Macht über Aodhan. Während er Paß um Paß durchschritt, Anhöhe um Anhöhe erklomm, um in immer höhere Täler zu gelangen, gingen ihm unzählige Fragen durch den Kopf. Fragen, die er sich zuvor auch gestellt hatte. Fragen, die neu entstanden waren, aus Situationen, Träumen.
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Er stand an einer Wegkreuzung. Er kannte sie, und er kannte die Turmspitze, die sich unverändert in kalter Brutalität in den gequälten Himmel bohrte. Unheimliche Wolkenfetzen wischten über ihn hinweg. Der Wind heulte. Es klang wie eine Warnung. Unschlüssig sah er in das letzte Tal. Während der vergangenen Tage war alles noch verwirrender gewesen als in all den anderen früheren Jahren. Er holte tief Luft. Er mußte gehen, sonst würde er sich selbst verlieren. Er wußte ja schon nicht mehr, wer oder was er überhaupt noch war! Es war nicht seine Art zu warten. Er hatte die andeutenden Träume satt. Er wollte direkt dem begegnen, was er noch zu lernen hatte, egal, was es war! Er hatte den Stein gestohlen! Er hatte ihn also gewählt! Er war für alles weitere selbst verantwortlich … Aodhan gab sich einen Ruck und ging auf die schmutzige Stadt zu, die sich um den Felsen gebildet hatte. Es grollte. Angriffslustig starrte er zu den fi nsteren Wolken. »Und ich werde lernen!« prophezeite er ihnen, obwohl er selbst das Gefühl hatte, falsch zu handeln. Die Anspannung in ihm wurde größer, mit jedem weiteren Schritt auf die fi nsteren kalten Mauern zu. In bedrohlicher Schwärze ragten sie trostlos in den unfreundlichen Himmel. Dämmriger Lichtschein strich über dampfende Schächte. Unheimliche Laute und das derbe Lachen von Soldaten schwangen in der übelriechenden Luft. Wenige Fackeln flackerten in den Wandhaltern, so daß mehr Schatten als Licht in den Gängen herrschte. Diese Schatten verbargen unangenehmes huschendes Leben. Flinke, hinterhältige Augen fi xierten ihn abschätzend. Aber man würde ihn nicht angreifen, nicht einmal hier. Niemand wagte, einen Waldläufer zu überfallen, dessen Kennzeichen der Langbogen war. Denn niemand wollte seinen Zorn auf sich laden, weil jeder wußte, daß Waldläufer die Kunst des Elfenzaubers beherrschten, was recht schmerzhaft werden
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konnte … Trotzdem legte sich seine Hand um den kalten Knauf des Schwertes an seiner Seite. Er zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht, obwohl er nicht damit rechnete, erkannt zu werden. Es ist zu lange her … Unbeachtet tauchte er in das Gewimmel der roten Stadt ein und ließ sich ziellos treiben. Plötzlich fand er sich vor den Stufen zum Turm wieder. Irgendetwas hatte ihn dorthin gezogen. Unrat, Schmutz und Bettler bedeckten die steinerne Treppe. Ein Schauer lief über seinen Rücken. Sein Bein schmerzte dort, wo die alte Narbe war. Die Spuren, die Duilliaths Klauen hinterlassen hatten, brannten erneut. Aber viel schlimmer war der Schmerz in seinem Innern. Er wußte nicht, wann und wie ihm diese Wunde zugefügt worden war … Erst jetzt wurde sie ihm richtig bewußt! Kraftlos sank er auf die schmutzigen Steine und vergrub den Kopf in seinen zitternden Händen. Wäre er nur nie hierher gegangen! Hätte er Fuathas mit dem Stein machen lassen, was er wollte! »Feochadan …« Er wäre jetzt bei ihr. Alles wäre wie früher. Keine Magie trennte ihn von allem Leben, dadurch, daß sie ihn vom Tode fernhielt! Seine Niedergeschlagenheit schlug um in Wut. Er haßte diesen Ort! Er haßte Fuathas! Er haßte sich selbst … Ja, er hatte den Stein gestohlen! Er war so dumm gewesen! Er hätte wissen müssen, daß selbst so ein Scharlatan wie Fuathas Mittel und Wege fi nden würde, ihn dafür zu bestrafen. Er hatte es gewußt … Er hatte den Nervenkitzel, die Herausforderung, ihm zu trotzen, genossen – selbst dann noch, als er unter seinem Bann in die Hölle gesehen hatte! Er schüttelte den Kopf über sich selbst. Er mußte wahnsinnig sein! Plötzlich legte sich eine schmutzige Hand auf seinen Arm. »Mußt nicht verzweifeln, Jungchen«, knarrte eine leise Stimme
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aus einem Lumpenbündel neben ihm. »Bald wird alles strahlen!« Der alte Bettler nickte und sah ihn aus irre glänzenden Augen an. »Bald ist alles voller Macht! Sie hat die Macht! Sie hat die Macht. Sie gibt sie an uns, denn wir sind ihre Kraft!« Verständnislos erwiderte Aodhan seinen Blick. Der Alte zog ihn dichter an sich heran. »Sie sind gekommen!« raunte er ihm mit verschwörerischer Stimme zu und kicherte. »Hab’ sie gesehen!« Sichernd sah er sich um. »Psst! Ist geheim! Hab’s nur dir gesagt, Jungchen!« Aodhan runzelte die Stirn über diese zweifelhafte Ehre. Die knochigen, spinnengleichen Hände strichen prüfend über Aodhans Arm. »Hast Kraft. – Bald auch Macht. Macht, Jungchen!« Er lachte. Aus seinem zahnlosen Mund wehte übler Gestank zu ihm. »M a c h t !« Gierig funkelten die Augen des Bettlers. Unvermittelt verschwand das verträumte Grinsen aus seinen ledrigen Zügen. Der irre Blick wandelte sich zu einem scheuen, ängstlichen Äugen. »Kennst sie?« Die dürre Hand deutete auf Aodhans Stirn. Ehe er antworten konnte, sagte der Bettler: »Schweig! Du weißt, ich seh’s!« Sein Kopf legte sich schief, während er Aodhan betrachtete und wie bestätigend nickte. »Deine Augen … so schwarz … du weißt, nicht wahr? So Schwarz. Ohne Spiegelbild von der Welt … Spiegel von der Seele, die weiß! Hast ihre Welt gesehen? Ja. Hast schon Macht?« Sein Blick war lauernd. Aodhan erhob sich. Der Alte war ihm unheimlich. Wortlos ließ er ihn in seinem Unrat zurück. Er hörte sein wahnsinniges Lachen. »Hat Macht! Hat sie schon!« Er bemerkte den Schatten nicht, der sich plötzlich von der Hauswand löste und zu dem alten Bettler huschte. »Wer war das, Twar?« Der Alte lachte immer noch. Er konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Erst als ihn kräftige Arme schüttelten, verstummte er. Aus großen Augen sah er in das von
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Schmutz dunkle Gesicht des großen Mannes. Dann erkannte er ihn. Seine dürren Hände fuhren zu den Pranken, die ihn festhielten. »Laß los!« keifte er. »Hat Macht! Ich auch bald! Da bist du nicht mehr so mutig, Bastard!« »Schon gut, Twar!« Doch der Bettler wollte sich nicht beruhigen lassen. »Seine Augen … Hat Macht!« Er ballte drohend seine Hand zur Faust und wedelte mit ihr vor der oft gebrochenen Nase des anderen. »Wirst sehen! Bald ist sie voller Kraft!« »Sicher, Twar. – Sag mir, wer war der Mann?« Der Alte runzelte die Stirn. »Mann? Welcher Mann?« »Der mit der Macht! Der, mit dem du eben gesprochen hast!” Twar sah in die Richtung, in die er verschwunden war. Sein Blick war undeutbar. »Ist kein Mann … Hat Macht!« Ängstlich sah er in braune fragende Augen. »Hat Macht! Ist kein Mann!« »Ich habe ihn doch deutlich gesehen …« »Ist kein Mann!« beharrte der Alte. Der andere schaute wieder in die Gasse. Er mußte ihm folgen. »Dryw!« Er blieb stehen und wandte sich noch einmal zu Twar um. Ein Schauer überlief seinen breiten Rücken beim Klang der Stimme des Bettlers. »Sei auf der Hut! Hat Macht!«
∞ Sein Atem ging keuchend, als er durch das Labyrinth der Stadt hetzte. War es möglich? Sollte er so viel Glück haben? Die anderen durchkämmten das Land, und er kam in die Stadt?! Endlich hörte er über seinen eigenen Atem dem Lärm der Taverne Zum Rot-Rund. Es war die einzige der Stadt. Er würde dort hingehen, früher oder später … Dryw nahm den Hintereingang und stieß mit dem Wirt zusammen. »Kannst du nicht aufpassen, Dryw?!« schnauzte er ihn an. »Wer ersetzt mir den Schaden?« Er wies auf einen zerbrochenen Krug. »Sei nicht so kleinlich, Fettsack!«
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Er klimperte mit ein paar Münzen. »Du bekommst schon reichlich!« Der Wirt maulte beleidigt und bückte sich, die Scherben aufzulesen. »Was willst du jetzt wieder?« ächzte er dabei. Dryw grinste. »Ein Bier!« Ein fleischiger Finger deutete zum Schankraum. »Hol‘s dir an der Theke!« Flink kam Dryw der Einladung nach. Seine braunen Augen durchmaßen schnell die überfüllte Stube. Soldaten, die mehr getrunken hatten, als ihnen guttat, sangen grölend ein derbes Kampfl ied zu den quietschenden Tönen eines gemarterten Dudelsacks. Einige zerlumpte Gestalten prügelten sich um den letzten Tropfen Wein in ihren schmutzigen Krügen. Ein schleimiger Kerl mit einer Augenklappe rutschte langsam von seinem Stuhl unter den mit Unrat übersäten Tisch und rülpste unüberhörbar. Kurz darauf vernahm man sein tiefes Schnarchen. In zwielichtigen Nischen spielten dunkle Gestalten Würfel oder trieben verschrobenen Handel. Ja, so kannte er die Taverne. Kein besonderer Ort für einen Bewahrer! Die Stadt war ohnehin sehr verrufen … Was er wohl in Dun na Ruadhan wollte? Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen. Eine neue Horde Söldner und Soldaten brach in den Schankraum. Brüllend verlangten sie nach Bier und Wein und machten sich brutal Platz. Dryw duckte sich tiefer in einen Schatten, als ihnen ein großer, hagerer Mann folgte und sich würdevoll an ihrem Tisch niederließ. Er lachte mit ihnen über ihre ungehobelten Witze. Mit seinen Gedanken schien er indes an einem anderen Ort zu weilen. Sein weißdurchzogenes blondes Haar war zu Kriegerzöpfen geflochten, die ihm über die zernarbten Schultern fielen. Seine Züge waren gezeichnet von Kampf, Grausamkeit, Schmerz … und von etwas, daß Dryw nicht erfassen konnte. Blaue, fast farblose Augen starrten in das dunkle, fast blutige Rot des Weines in seinem Becher. Die Königin war verrückt!
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Sie hat es wieder getan! Sie hatte wieder diesen Dämonen beschworen! Ein kaum merkliches Zittern durchlief den kampferprobten Körper bei der Erinnerung an das erste Mal. Er schüttelte den Kopf, um den schrecklichen Anblick zu vertreiben. Sein Blick strich über die anderen Gäste, als er versuchte, sich davon abzulenken. Plötzlich spürte er, daß ihn jemand ansah. Suchend schaute er sich um. Dryw bemerkte die Spannung, die auf einmal den General über Seaghdas Heer befiel. Er fürchtete schon, er hätte ihn entdeckt, aber die farblosen Augen sahen an ihm vorbei in eine Ecke. Er folgte seinem Blick und zischte leise. »Verdammt!« In dieser Ecke saß eine dunkle Gestalt. Er bemerkte sie erst jetzt und hatte Mühe sie überhaupt auszumachen, aber er war sicher, daß der Mann vom Turm den General betrachtete. Ein wildlederne Kapuze verbarg seine Züge, aber seine Blickrichtung war eindeutig. Warum starrt er den General so lange an? Der General dachte: Wahrscheinlich ein Söldner … Er hatte jetzt keine Lust zu verhandeln und ließ ihn nicht näher kommen. Wieder wandte er sich seinen Männern zu und lauschte ihren prahlerischen Geschichten. Sie glaubten, sie hätten Schreckliches gesehen … Die Narren! Er war bei Seaghdas Beschwörung anwesend gewesen! Er hatte die Opferung miterlebt! Er hatte in die furchtbaren weißen Augen des entsetzlichen Wesens geblickt! Die Erinnerung jagte ihm jetzt noch Schauer über den verunstalteten Körper. Er schüttelte gedankenverloren den Kopf. Er war nicht sicher, ob diese unheimlichen Dämonen vertrauenswürdig waren. Eher nicht … Warum sollten sie Seaghda Folge leisten? Warum sollten sie ihr Macht geben? Was werden sie als Gegenleistung von ihr fordern? Er sah zu dem Fremden, der ihn immer noch fi xierte.
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Dryw rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. »Hör auf, ihn so anzustarren!« murmelte er, aber der Mann vom Turm konnte ihn natürlich nicht hören. Er würde alles verderben! Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gebracht, schien er sich auch schon zu bewahrheiten. »Verdammt!« Dieser Kerl ist unverschämt aufdringlich … Heftig stellte der General seinen Becher zurück auf den überladenen Tisch. Seine Männer verstummten und folgten alarmiert seinem Blick. Man mußte dem Fremdling wohl erst Manieren beibringen! Ruckartig erhob sich der General und ging steifbeinig, wie ein kampfbereiter Wolf, auf ihn zu. Erst als er direkt vor ihm stand, bemerkte er den Langbogen, der hinter dem Fremden an der Wand lehnte. Ein Waldläufer! Aber nun war es zu spät. Er spürte die blutgierigen Blicke seiner Männer erwartungsvoll auf sich gerichtet. »Ich kann gar nicht hinsehen!« murmelte Dryw und beobachtete trotzdem das weitere Geschehen durch seine Finger. »Was gibt es?!« herrschte der General den Fremden an. Dieser besaß auch noch die Unverfrorenheit zu schweigen. »Du redest wohl nicht mit jedem, wie?« Er rührte sich noch immer nicht. Eine unheimliche Spannung stand zwischen ihm und dem General. »Alles vorbei …« Dryw schüttelte resigniert den Kopf. Plötzlich löste sich der General aus dem seltsamen Bann. Seine Hand schnellte vor, um den wildledernen Kragen zu packen, aber etwas hinderte ihn daran. Der Fremde erhob sich langsam. Schwerter klirrten, als die Soldaten nach ihren Waffen griffen, was ihn nicht zu beein-
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drucken schien. Ruhig nahm er seinen Bogen und ging an dem General vorbei. »He, warte, Freundchen!« Er blieb stehen. »Verschwinde!« raunte Dryw verzweifelnd. Verunsichert trat der General von einem aufs andere Bein. Dryw bemerkte es grinsend. »Da macht sich einer vor Elfenzauber in die Hosen!« Der Fremde sah den Soldaten aus der Dunkelheit der Kapuze an. Wutschnaubend riß sie ihm der General herunter und musterte forschend die scharf geschnittenen Züge eines höchsten zwanzigjährigen Mannes. Ein Knabe! Schwarze Augen hielten seinem Blick stand. Dunkles Haar fiel widerspenstig in sein Gesicht. Eine einzige weiße Strähne zeigte den Verlauf einer Narbe, die auf der Stirn begann. Verwirrt sah Aogail in das vertraut erscheinende Gesicht. Wo hatte er es schon einmal gesehen? »Kann ich nun gehen?« fragte der Fremde ruhig. Seine Stimme duldete keinen Widerspruch, so daß seine Frage eher eine Ankündigung war. Hat Macht! Ist kein Mann! warnten Twars Worte in Dryws Erinnerung. Ein Schauer lief über seinen Rücken, als er sah, wie der General nur nickte, unfähig, etwas anderes zu tun. Es gab jetzt für ihn keinen Zweifel: Der Fremde war der Bewahrer. Und der irre Twar hat ihn erkannt. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis ihn ein anderer als das sah, was er war. Dryw mußte sich beeilen, wenn ihn der General nicht vor ihm stellen sollte! Sein Herz klopfte schneller. Obwohl er es sich nicht gern zugestand, er hatte Angst. Hat Macht! Ist kein Mann! Der Bewahrer trug einen Waldläuferbogen …, wahrscheinlich konnte er mehr als nur Elfenzauber beherrschen! Er mußte vorsichtig sein.
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Nach dem Zwischenfall in der Taverne hörte der General den Ausführungen seiner Königin kaum zu. Sie sprach – wie immer – von ihrer zukünftigen Macht … und von ihren dämonischen Schlachten, die sie zu gewinnen trachtete. Abwesend betrachtete er sie. Sie war zu jung, um den giftigen Worten ihres Vaters hörig zu sein. Das Blut. Es war das Blut des Irren, das in ihren Adern floß und sie zu dem machte, was sie war. Sie war schön. Ihre großen grauen Augen hätten jeden Mann bezaubern können, wären der harte Glanz und der seltsame Schimmer des Wahnsinns nicht gewesen. Er hätte verschwinden sollen, anstatt sich ihr zu unterstellen. Warum war er nicht gegangen? Er hatte doch gesehen, wohin der Wahnsinn führte! Er war doch Zeuge geworden, von Fuathas’ Zusammenbruch, seinem Ende … Der Waldläufer … er kannte ihn aus dieser Zeit! Nein, das ist nicht möglich. Es liegt über zwanzig Jahre zurück. Damals wäre er höchstens ein Säugling, ein schreiendes Kind gewesen … Er hatte sich noch nie an ein Kind erinnern können. Sie sahen für ihn alle gleich aus, widerlich unschuldig. Er mußte sich irren und dem Fremden irgendwo anders begegnet sein. »… sie werden dafür sorgen, daß mein Name die Unendlichkeit überdauern wird!« schloß Seaghda ihre blutige Prophezeiung. Ihr General schüttelte kaum merklich den Kopf. Unendlichkeit! Sie war die gleiche Närrin wie ihr Vater seinerzeit … Ein fast vergessenes Bild flammte vor ihm auf: Die Stufen vor dem Turm. Viele Menschen starrten zu ihnen herauf. Fuathas stand vor dem hölzernen Pentagramm und stierte ungläubig auf den magischen Kristall. Der Rubin zerbarst in Millionen Splitter, die auf den zerschundenen Körper zujagten, der an dem Pentagramm in Ketten gefangen war. Das Lied fiel ihm ein.
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»Magische Macht war als Ende gedacht. Sie würde ihm bringen viel Schmerz und Pein! Stunden gezählt! Kristall hat gewählt! Aodhan soll der Bewahrer sein!« zitierte er halblaut. Angestrengt versuchte er sich Fuathas Opfer ins Gedächtnis zu rufen. Er war ein junger Tinker gewesen … Duilliath, ein Reitdrache, hatte ihn übel zugerichtet … Wieder sah er die Splitter des Kristalls auf den leblosen Körper zurasen. Mit unglaublicher Wucht schlugen sie tief in ihn ein. Das große Herzstück des Steins riß eine tiefe Furche in die Stirn des Tinkers, ehe es selbst ein Teil von ihm wurde … »Was faselt Ihr? Was soll das alte Lied?« fragte Seaghda ungeduldig zum wiederholten Mal. Er bemerkte den erschrockenen Klang ihrer Stimme nicht, so sehr beschäftigte ihn seine Entdeckung. »Die Narbe! Weiß und eben, geschlagen von Magie! Natürlich! Daß ich es nicht gleich gewußt habe!« Sie trat vor ihn. Ihre Augen blitzten drohend. »Aogail! Seid Ihr betrunken?!« Er schüttelte hastig den Kopf. Ein triumphierendes Grinsen legte sich auf seine entstellten Züge. »Mylady, ich kann Euch zu wahrer Unsterblichkeit verhelfen!« »Ihr redet wirr!« fuhr sie ihn an. Ob er von ihren Hunden wußte?! »Nein, ich bin Herr meiner Sinne! – Es ist wahr! Das Lied, die Legende! – Es muß wahr sein!« Forschend sah sie ihn an. Er hatte ihren Glauben an die Tatsächlichkeit der Geschichte immer belächelt, was hatte dieser Sinneswandel zu bedeuten. Ihr habt ihn nicht gesehen, Mylady! hörte sie seine überlegene Stimme in ihrer Erinnerung. Nicht einmal mit dem Stein konnte er seine Verletzungen überstehen! Er war tot! »Woher wollt Ihr das plötzlich wissen?« »Ich habe ihn gesehen.« Sie wurde ungeduldig, denn sie fühlte sich ertappt. »Wen, verdammt?!«
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»Den Bewahrer!« Er würde nicht wagen, mich zu belügen. Also hatten ihre Schergen Erfolg gehabt! Ein diabolischer Glanz legte sich in ihren Blick. »Wo habt Ihr sie gesehen?« Sie würde den Dämon übertrumpfen! Sie konnte unsterblich werden! »Sie?« echote Aogail verwirrt. »Er war allein, in der Taverne.« Allein? Was wollte er in ihrer Stadt? Sollte Zastro, der Dämon, sie belogen haben? Hatte der Bewahrer seine Macht erkannt? Wollte er sie nun stürzen? Oder … wollte er sich mit ihr verbünden? Ihr Blick fiel auf den General, der sie erwartungsvoll ansah. Sie konnte sich mit dem Bewahrer nicht verbünden … Denkst du, er würde das mit uns teilen? Er kann alles allein erringen … klang Zastros Stimme durch ihren Geist. Der Bewahrer war ihr Feind. Er nutzt mir nur als Gefangener. Gier stand in ihren Augen, als sie Aogail betrachtete. Der General wartete auf ihre Order. Sanft legte sie ihre schmale Hand auf seine Schulter. »Ich will ihn!« befahl sie mit rauher Stimme.
∞ Er war niedergeschlagener als je zuvor. Der Schock, der ihn getroffen hatte, als ihn die farblosen Augen Aogails’ anblickten, saß immer noch in seinen Knochen. Er hoffte – bei Lazzard! –, daß er sich nicht an ihn erinnerte. Außer Aogail war ihm niemand von damals begegnet … Es gab nichts in dieser Stadt, das seine Fragen beantworten konnte. Sie war verabscheuungswürdig und trostlos. Ein schlechtes Omen für seine Zukunft! Er hatte so gehofft, einen Hinweis auf seine Bestimmung zu fi nden, doch alles, was er hier sah, war Schmutz und Elend.
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Er hatte von Lazzard geträumt. Der weiße Drache hatte über dem Turm geschwebt … Es war nur ein Traum, denn niemals wird der Weise an einen solchen Ort kommen! Wieder stand er vor dem Turm und betrachtete die alten Stufen. Sie kannten sein Geheimnis, und er wußte um seine Geschichte. Irgendwann würden die Stufen verwittern und sein Schicksal vergessen, während er sich immer an sie erinnerte … Plötzlich hörte er huschende Schritte hinter sich und fuhr herum. In der Bewegung zog er sein Schwert. Eine in Lumpen gehüllte Gestalt verbarg sich eilig im Schatten. »Nicht!« raunte es aus der fi nsteren Ecke. »Steckt es zurück! Ich bin kein Feind!« Er dachte nicht daran, der Stimme zu glauben. »Verdammt! Nun kommt schon in Deckung! Die Soldaten werden sonst auf Euch aufmerksam!« Er blieb mißtrauisch. »Bei Lazzard! Kommt her! Ich bin kein Feind!« Er zögerte. Selbst den Namen des Weisen hatte er hier nicht vermutet. Diese kleine Unaufmerksamkeit nutzte der Vermummte aus. Eine Hand packte ihn am Arm und riß ihn in die dunkle Nische. Er wehrte sich heftig, aber er war der Kraft des Angreifers unterlegen. Hart wurde er von ihm, der viel schwerer war als er, zu Boden gedrückt. Er spürte die Klinge eines Dolchs an der Kehle. »Verdammt! Seid still! Hört mir jetzt endlich zu! Ich weiß, wer Ihr seid. Was immer Ihr in diesem Loch wollt, es ist besser, wenn Ihr jetzt verschwindet! – Seaghda ist ganz versessen darauf, das zu beenden, was ihr Vater begonnen hat. – Ihr versteht nicht? Mann, sie will Euer Blut! Sie will Unsterblichkeit! Sie hat Kopfjäger gekauft, die Euch im ganzen Land suchen. Keine Angst, es sind nur drei, aber wenn die Eure Spur haben, hetzen sie Euch bis ans Ende der Welt! Kann ich Euch jetzt loslassen? Es ist ziemlich unbequem für mich …« Aodhan setzte sich auf. Er versuchte, den Mann in der Dunkelheit zu erkennen. Er hätte ihm alle Knochen brechen können, bei seiner Statur! Der Mond schien in ein undurchdringliches Gesicht. Wie alles in der Stadt
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starrte es vor Schmutz. Braune Augen sahen ihn drängend an. Aodhan wußte nicht warum, aber er vertraute ihnen. Der Mann schien es zu bemerken und grinste. Er bot ihm seine prankengleiche Hand zum Aufstehen. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, erhob er sich. »Ihr habt mir keine Wahl gelassen«, entschuldigte sich der Riese. Aodhan glaubte, etwas wie Erleichterung in seiner Stimme zu hören. »Ihr wißt, wer ich bin …« »Oh, natürlich. Verzeiht! Mein Name ist Dryw.« Aodhans Herzschlag beschleunigte sich. »Der Seher?« Der Hüne zuckte die mächtigen Schultern. »Ein Name.« Schwarze Augen sagten etwas anderes. Dryw sah sich um. »Wir sollten besser gehen. – Hier haben die Wände Ohren!«
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Sechzehntes Kapitel Er atmete tief durch. Die klare Sauberkeit des kleinen, freundlich beleuchteten Raumes war eine Wohltat nach den Schrecken der Stadt. Er wartete auf Dryw. »Der Seher …« Er hat von dem Weisen gesprochen, am Turm … Ob Dryw die Antwort wußte? Aodhan hatte neue Hoffnung geschöpft. Endlich öffnete sich die Tür und Dryw trat – gewaschen und rasiert, wie ein neuer Mensch – ein. Aodhan betrachtete ihn. Das Gefühl der Sympathie für ihn wuchs. Um die klaren, braunen Augen hatten sich kleine Lachfältchen gebildet. Um Dryws Mund jedoch war ein harter Zug. Aodhan wußte, die Stadt hatte ihn verursacht, wie die steile Sorgenfalte auf der sonst glatten Stirn, in die braune Locken fielen. »So, jetzt bin ich auch fertig«, erklärte Dryw und rieb sich den Bauch. »Knurrt Euer Magen so laut wie meiner? – Ich glaube, ich habe seit Tagen nichts mehr gegessen!« Aodhan schüttelte den Kopf, obwohl ihm bei dem bloßen Gedanken an etwas zu essen schwindelig wurde. Dryw durchschritt den Raum und öffnete einen Schrank. Während er Käse und Brot auf einen Teller legte, sprach er. »Ihr habt Euch keine gute Zeit ausgesucht, hier zu erscheinen. – Hat Euch niemand von Seaghda erzählt?« »Sie kümmert mich nicht. Ich will nichts von ihr.« Dryw lachte und kam zu ihm an den Tisch. »Sie dagegen will etwas von Euch … Ihr solltet wirklich schnell von hier verschwinden. Wenn wir Euch erkannt haben, braucht der General auch nicht mehr lang.« Die Falte auf seiner Stirn wurde tiefer. »Was tut Ihr hier?« fragte Aodhan. Dryw sah auf. Ein seltsamer Ausdruck lag in den schwarzen Augen seines Gegenübers. Dryw zuckte die Schulter. »Sehen und hören für Glendaloch… Wir beobachten sie. Glaubt mir, uns gefällt nicht, was wir sehen. Sie steht mit der anderen Seite in Kontakt …«
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Aodhan runzelte die Stirn. »Dämonen«, erklärte Dryw. Er spürte den zweifelnden Blick der schwarzen Augen. »Twar, der Bettler am Turm, hat sie gesehen …« »Ist er Eure Hilfe?« Dryw nickte. »Er und ein paar andere. Ihr werdet sie kennenlernen. Sie begleiten Euch aus der Stadt …« »Wer hat gesagt, daß ich gehe?« Dryw sah in undurchdringbares Schwarz. Wollte er ihn nicht verstehen? »Euer Leben ist in Gefahr!« Der Bewahrer lachte auf. Ein Laut, der Dryw das Blut in den Adern stocken ließ. »Wenn ich gehe: Ja.«
∞ Sie schlich, dicht an eine Hauswand geduckt, in die dunkle Gasse. Ihr Herz schlug ihr bis zum Halse. Hoffentlich hat Dryw den Bewahrer gefunden. Twar sprach von nichts anderem mehr. Hat die Macht! rief er jedem nach, der am Turm vorüber kam. Sie fürchtete, Seaghda wußte bereits von seiner Anwesenheit. Die Wachen am Tor waren verdoppelt worden, und beinahe wäre sie einer Patrouille in die Arme gelaufen. Sie hatte kein gutes Gefühl, als sie ihre Boten auf den Weg schickte. Der Mann wußte, was auf dem Spiel stand. Er würde Glendaloch erreichen, und wenn es das letzte war, was er in seinem Leben tat. Erleichtert schlüpfte sie durch die Tür ihres geheimen Treffpunktes. Sie hörte Dryw auf jemanden einreden. Seine Stimme klang drängend. »Was hält Euch hier? Ihr müsst fort!« Ehe der andere antworten konnte, trat sie ein. Dryw stand hinter einem schlanken jungen Mann, der dem Hünen gerade bis zur Schulter reichte, … aber irgendwie erschien ihr Dryw neben ihm wie ein Zwerg. Nachtschwarze Augen richteten sich auf sie. Fragend sah sie zu Dryw, obwohl sie die Antwort schon erahnte, »Sheehan«, begrüßte er sie. »Was hast du erfahren?«
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Seaghda erwartete ihn bereits ungeduldig. »Nun, wo ist er?« »Es wird ihm nicht gelingen, die Stadt zu verlassen …« Ihre Hand lag auf seiner Schulter. Drohend gruben sich ihre langen Nägel durch sein Gewand. Ihre Augen blitzten warnend. »Er ist dir schon einmal entkommen!« »Nein!« Hart schlug sie ihm ins Gesicht. »Belüg mich nicht!« Voller Abscheu starrte sie ihn an. Sie hätte ihn töten sollen! Er war ein Nichts! Er gefährdet alles! Der Bewahrer durfte ihr nicht entrinnen, um keinen Preis. »Wer entkam ihm?« riß sie plötzlich eine Stimme aus ihren Gedanken. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Ein kurzer Blick in die entsetzt geweiteten Augen ihres Generals, und ihre Vermutung bestätigte sich. Sie fuhr herum und sah in Weiß. »Zastro! Aber ich …« Er lächelte. »Ich weiß, meine Schöne, du hast mich nicht gerufen. – Freu dich! Der Tag, den du so lang herbeigesehnt hast, er ist da! Ich kann kommen und gehen, wie es mir beliebt!« Sie schien nicht besonders begeistert zu sein. Aogail bemerkte ihre hastigen Blicke. Was wollte sie verbergen? Das schwarz geschuppte Wesen mit den pupillenlosen weißen Augen, das über und über mit Gold und Juwelen geschmückt war, trat plötzlich auf ihn zu. »Wer ist Euch entkommen?« Ehe Aogail ihm antworten konnte, zog Seaghda den Dämonen zu sich. »Ein Spion.« Der Dämon lachte. Gelbe scharfe Zähne blitzten bedrohlich. »Und warum machst du so viel Aufhebens?« »Er … er wird in Glendaloch berichten.« Aogail spürte schaudernd die entsetzlichen Augen des Wesens auf sich gerichtet. »Haltet ihn auf, General«, schlug er lächelnd vor. »Das versucht er. – Seit zwei Tagen bereits!« »Mylady …« Der Dämon hob die Hand und Aogail verstummte. »Ich werde Euch unterstützen«, kündigte er an. Ein widerliches Grinsen lag auf den abstoßenden Zügen, als er das Erschrecken in den Augen des Menschen gewahrte. In gefährlicher Geschmeidigkeit ging er zur Tür. »Worauf wartet Ihr, General?« »Zastro …«, versuchte Seaghda ihn zurückzu-
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halten, doch er lächelte nur. »Ich bringe dir deinen Spion! Mich dürstet nach etwas Abwechslung. Eine Jagd wäre jetzt genau das Richtige. – General?« Sie erwiderte sein Lächeln und versuchte, es verführerisch erscheinen zu lassen. Geifer troff aus dem lippenlosen Mund des Dämonen, den er mit der grotesk geschmückten Klaue abwischte. »Wir sind bald zurück«, versprach er. Aogail spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. »Gehen wir«, brachte er mühsam hervor, während er versuchte, das Bild der bevorstehenden Siegesfeier aus seinen Gedanken zu verbannen.
∞ Er fühlte nichts. Nicht einmal Enttäuschung. Kauernd hockte er hinter Sheehan in einer dunklen Nische. Dryw war voraus gegangen, die Lage zu erkunden. Er weiß nichts. Dryw war nichts als ein Spion Glendalochs. Er kannte nur das Lied … Und er und Sheehan hielten ihn für einen Magier, die Narren! Er betrachtete die blonde Frau, die vor ihm kniete. Sie war eine kampferprobte Kriegerin, die leicht mit ihm fertig werden konnte, aber in ihren grünen Augen flammte Angst auf, sobald er seine Hände bewegte! »Er kommt!« raunte sie ihm zu. Kurz darauf huschte Dryw um die Ecke und warf sich zu ihnen in den Schatten. »Das Tor. Sie haben es verschlossen. Sie kontrollieren jeden, der passieren will«, lautete seine schlechte Botschaft. »Verflucht seien sie!« stieß Sheehan wütend hervor. »Und die Mauer?« »Bogenschützen, die nur darauf warten, ihre Sehnen loszulassen«, zerschlug er ihre Hoffnung. »Welcher Weg bleibt uns?« Dryw überlegte fieberhaft. Auch Sheehan zermarterte sich das Hirn. »Keiner«, sprach Aodhan ihr Wissen aus. Er spürte ihre widersprechenden Blicke und fühlte nichts. »Wir können warten.« »Dryw! Wie lange, glaubst du, wird sie sich damit begnügen, die Stadt zu verriegeln? – Sie wird sie durchsuchen
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lassen!« Sie sah zu Aodhan. Seine Züge hatten einen abwesenden Ausdruck. Ob er weiß, was geschehen wird? Er ist so schrecklich gefaßt! Keine Gefühlsregung spiegelte sich in seinen Augen. »Er muß raus hier!« Dryw nickte zustimmend. Ein Plan! Sie brauchten einen Plan! Suchen … unendliches Suchen. Lag das vor ihm? Wo sollte er suchen? Hier gab es nichts zu fi nden … Sein Blick strich über die kleine schmutzige Gasse, sie war wie die Stadt. Ratten hockten an der Ecke und nagten an etwas, das erschreckend an eine Hand erinnerte. So würde es bald überall aussehen, wenn Fuathas’ Tochter ihre Schreckensherrschaft beginnen würde. Er betrachte Dryw und Sheehan, die gehetzt miteinander diskutierten. Er belächelte ihre Bemühungen. Sie versuchten, Seaghda aufzuhalten. Aber niemand würde sie je aufhalten, nur Lord Tod. Nicht, wenn sie mich bekommt! Er zuckte zusammen. War es möglich, daß sie auch unsterblich werden konnte? Schemenhaft erinnerte er sich an einen Traum. Du willst es mir nicht geben? hallte die Stimme einer Frau durch seinen Geist. Konnte er es ihr geben? Konnte sie es ihm nehmen? Die Ratten stritten um ein besonders großes Stück ihrer grausigen Beute. Das wird sie der Ewigkeit schenken! Blut, Tränen und Elend. Er sah die Welt, das Rad darin versinken und erschauerte. Es war falsch zurückzukehren! Entsetzlich falsch! Er gefährdete die Welt! Sein Blick fiel auf Dryw. Angst stand in den braunen Augen, die keinen Ausweg sahen. Sheehan und er wußten es, Sie hatten die ganze Zeit gewußt und suchten nun verzweifelt zu retten, was zu retten war. Die Ratten quiekten auf und ließen von ihrem Festmahl ab, um in ihren Löchern zu verschwinden. »Soldaten!« stieß Aodhan hervor. »Hier? Ich habe hier noch nie eine Patrouille gesehen …«, widersprach Sheehan verwirrt und wich ein Stück von dem Bewahrer zurück, als sie metallene Schritte und Rufen hörte. Dryw sah sich um. Sie saßen in einer Sackgasse! »Durchsucht alles! Jeden Dreckhaufen, ist das klar?!« brüllte eine zornige Stimme.
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Dryw blickte zu Aodhan. Lauernd starrte er auf die Ecke. Das Klappern von Rüstungen und Ketten wurde bedrohlich lauter. Was hat der Bewahrer vor? Legt er einen Bann auf die Soldaten? Eine ungeheure Spannung hatte seinen Körper erfaßt. Eine beschlagene Stiefelspitze erschien. Dann ging alles so schnell, daß Dryw es erst bewußt wurde, als er hinter Aodhan schreiend auf die verduzten Soldaten zurannte. »Haltet sie!« Blind folgte Dryw dem Bewahrer, Sheehan dicht hinter sich wissend. Ein Horn wurde geblasen. Bald würden die Straßen vor Soldaten wimmeln! Dryw hörte, wie die Meute hinter ihnen größer wurde. Wann würde der Magier zuschlagen? Er hatte Mühe, ihm zu folgen. Er schien immer schneller zu werden, so als wäre er seinem Ziel recht nahe. Keuchend erkannte Dryw die Straße, auf der sie liefen. »Nicht dorthin!« brüllte er Aodhan zu, aber er ließ sich nicht beirren und rannte direkt auf den Platz vor dem Turm. Abrupt blieb Dryw stehen. Sheehan stieß mit ihm zusammen. »Will er sich umbringen?!« ächzte sie. »Sie haben uns! Sieh! Dort, dort! Sie kommen von allen Seiten!« Langsam, denn sie wußten, daß sie nicht entkommen würden, rückten die Soldaten vor. Sheehan und Dryw erwarteten sie mit gezogenen Schwertern. Plötzlich verharrten ihre Verfolger. »Was ist mit denen los?« raunte Dryw seiner Waffengefährtin zu. »Sie wollen uns nicht. Sie wollen ihn«, erkannte sie und ließ ihr Schwert sinken. Keine Überraschungsattacke folgte. Ihre grünen Augen sahen zu Aodhan. Er stand vor den Stufen zum Turm. Söldner hatten ihn von ihnen abgeschnitten. Sie waren nur wenige Meter von ihm entfernt. Die Klingen ihrer Schwerter blitzten blutgierig, zuckten aber nicht zum Angriff vor. Sheehan grinste gehässig. »Sie hat ihnen sicher etwas Schönes versprochen, wenn ihm etwas Ernsthaftes geschieht!« Dryw glaubte, eine Ewigkeit
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sei vergangen, während der sich der Bewahrer und seine Jäger regungslos gegenüberstanden. Plötzlich – Dryw und Sheehan wollten ihren Augen nicht trauen – griff Aodhan willkürlich einen der Söldner an und lockte damit die anderen die Stufen hinauf. »Was hat er vor, zur Hölle?!« Zunächst parierten sie seine Attacken nur, die aber immer heftiger wurden. Als zwei ihrer Kumpane sterbend auf den Stufen zurückblieben, vergaßen sie Seaghdas Drohung und hieben wild auf ihn ein. Sheehan schüttelte den Kopf. Das kann er nicht durchhalten. Schon jetzt blutete er aus zahlreichen Wunden. Auf halber Höhe verdunkelten der Schatten des Turms die Stufen. Er tauchte in den Schatten ein. Kurz darauf liefen die Söldner verwirrt umher. »Wo ist er?« »Er ist verschwunden!« Dryw grinste erleichtert. »Also doch ein Magier!« »Hast du etwa daran gezweifelt?« Sheehan klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. Sie hatten es gerade noch geschafft! Triumphierend betrachtete sie ihre Verfolger. Ehe sie sie mit einer Flut von Herzen kommender Beleidigungen überschütten konnte, schrie plötzlich einer der schäumenden Söldner: »Da!« Er deutete zur Mauer. In der Schwärze des Schattens bewegte sich etwas. Während der allgemeinen Verwirrung mußte Aodhan im Schutz des Schattens am Turm hinaufgeklettert sein. Nun hielt er auf die Mauer zu. Pfeile zischten totbringend in seine Richtung. Gegen das Grau des Himmels sah Sheehan Soldaten auf ihn eindringen, als er die Zinnen erreichte. Er hatte keine Chance. Aus dem Turm eilten weitere Männer zu ihnen. »Spring! Spring, verdammt!« Einer der Männer, ein wahrer Gigant, drängte sich an seinen Kameraden vorbei und stürzte brüllend auf Aodhan zu. Mit brutaler Wucht zwang er ihn vom Rand der Mauer und hieb auf ihn ein. Aodhan würde diesem Kerl nicht lange standhalten können.
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Die mächtige Klinge des Angreifers schlug tiefe Scharten in das Schwert des Bewahrers, Funken stieben auf. Aodhan wich zurück und trat ins Leere. »Nein!« schrien Sheehan und Dryw wie aus einem Munde, als er fiel. Benommen von dem Aufprall kam Aodhan wieder auf die Füße. Er hielt sein arg mitgenommenes Schwert noch immer fest in der Hand, jedoch parierte er den Angriff eines weiteren Soldaten nur matt. »Was ist los?« Derart konnte ihn der Sturz nicht geschwächt haben. »Er muß verletzt sein …« Dryw spürte Sheehans Hand auf seinem Arm. »Nein«, ihre Stimme klang rauh vor Entsetzen. »Ein Dämon!« Er fuhr herum. Ein schwarzgeschupptes Wesen hatte beschwörend die Hände erhoben und murmelte irgendeinen Zauber. »Warum wehrt er sich nicht?!« Sheehan wußte keine Antwort auf seine Frage. Der Soldat hatte den geschwächten Bewahrer entwaffnet. Keuchend stand Aodhan mit dem Rücken zur Wand. Seine Knie knickten ein, und er sank kraftlos zu Boden. Der Dämon lachte und ließ seine Klauen sinken. Aodhan schüttelte den Kopf, als wollte er etwas aus ihm vertreiben, und versuchte aufzustehen. Unsicher machte er einen Schritt auf den Soldaten zu, der unschlüssig das Schwert erhoben hatte. Der Dämon lachte noch lauter und brüllte unvermittelt einen Befehl. Mit einem erstickten Aufschrei brach Aodhan zusammen. Betroffen senkte Dryw den Blick. Die Soldaten liefen an ihnen vorbei. »Er hatte verloren. – Es war ein ungleicher Kampf.« Sheehan schüttelte langsam den Kopf. Ihre Augen waren fest auf den am Boden liegenden Bewahrer gerichtet. »Er hat nicht gekämpft …« Dryw sah sie an. Was hatte das zu bedeuten?
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Aogail folgte dem Dämon zum Fuße der Mauer. »Höchst amüsant, diese kleine Hatz«, bemerkte Zastro lächelnd. Abschätzend betrachtete er das bewußtlose Opfer und schnaubte verächtlich. »Euer Spion ist fast noch ein Kind und bereitet Euch derartige Schwierigkeiten, Aogail?« Er beugte sich zu ihm hinunter und drehte ihn auf den Rücken. Seine geschmückte Klaue strich über das blutverschmierte Gesicht des jungen Mannes. »Sagt, was könnte er erfahren haben, daß er Eurer Königin ein Dorn im Auge ist? Was macht ihn für sie so gefährlich?« Aogail überlegte fieberhaft, was er erwidern sollte, als er erkannte, daß der Dämon nichts von der Identität des Tinkers wußte. Die schwarzgeschuppte Hand wischte das Blut von dessen Stirn. Der Blick der weißen Augen fiel auf die Narbe. Der Kopf des Dämons zuckte zu Aogail herum. »Antwortet!« zischte er drohend. Kennt er die Wahrheit?! »Mylord Zastro, ich erhalte nur Befehle und bekomme keine Erklärungen«, wand er sich geschickt aus der Situation. »Wir sollten ihn jetzt besser zu ihr bringen. – Hauptmann, legt ihn in Ketten!« Der Dämon machte eine ablehnende Handbewegung. Seine Augen blitzten gefährlich. »Narr! Das Eisen, das diesen Mann hält, ist noch nicht geschmiedet worden!« Lauernd starrte er den General an. »Ihr wißt wahrhaftig nicht, wer d a s ist!« »Er ist ein Gefangener der Königin, Mylord!« Zastro sah zum Turm und dann auf den bewußtlosen jungen Mann zu seinen Füßen. Er ahnte, was Seaghda vor hatte. Ein teufl isches Lächeln verzerrte sein Züge. Sie soll bekommen, was sie haben will … »Er ist ein gefangener Waldläufer, General«, belehrte er Aogail. »Wer weiß, welche Zauber er beherrscht. Ich werde ihn wohl besser mit einem langfristigen Bann belegen, dann kann er niemandem gefährlich werden.« Aogail mußte ihn gewähren lassen, was hätte er auch gegen den Vorschlag des Dämonen Lords sagen sollen, ohne ihn zu alarmieren?
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Unbehaglich beobachtete er Zastro, der neben dem Tinker niederkniete und sich dicht über ihn beugte. Der lippenlose Mund flüsterte eine Reihe unverständlicher Worte. Der General wich etwas zurück. Allein ihr Klang war furchteinflößend. Er war froh, ihre Bedeutung nicht zu kennen. Schwach bewegte sich ihr Gefangener. Es schien, als versuchte er den Worten zu entkommen. »Sieh mich an!« befahl Zastro leise. »Sieh mich an!« Kaum merklich begannen die Lider des Tinkers zu flattern, um sich dann halb zu öffnen. »Brav, mein Junge, so ist es gut.« Die schwarz geschuppte Hand strich sanft über seine bleiche Wange. »Und nun sieh in meine Augen.« Er gehorchte. Doch als sein Blick das Weiß traf, wandte er stöhnend den Kopf ab. »Sieh in meine Augen!« forderte Zastro etwas schärfer und zwang ihn, ruhig zu liegen. Seine juwelenglänzenden Hände preßten ihn zu Boden. Der Tinker wimmerte leise, als ihm bewußt wurde, daß er ihm nicht ausweichen konnte. »Sieh in meine Augen!« Der Gefangene zitterte am ganzen Körper. Sein Atem ging keuchend. Sein Blick war starr auf das Weiß gerichtet. Schweiß brach ihm aus. Aogail sah die Angst in seinen Augen. Zastro hielt seinen Kopf fest in den Händen. Weiß bohrte sich ins Schwarz. Die Augen des Bewahrers begannen zu tränen. Erst als die Tränen blutige Spuren nach sich zogen, ließ der Dämon von ihm ab. Lächelnd sah Zastro zu Aogail. »Nun ist er ganz brav.« Er strich mit einer Hand über die blicklosen schwarzen Augen, um sie zu schließen. »Er ist tot!« warf der General ihm tonlos vor. »Nein, mein Freund. Er steht unter meinem Bann. Ihr könnt ihn nun Eurer Herrin übergeben … nein, ich werde es selbst tun.« Ohne jede Anstrengung hob er den leblosen Körper auf und trug ihn zum Turm.
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Das Lächeln einer Siegerin spielte um ihre Lippen, als sie in die unteren Gewölbe ging. Zastro hatte ihn für sie gefangen, ohne auch nur zu ahnen, was er für sie alle bedeutete! Die Wachen traten zur Seite und ließen sie passieren. Die Tür zum Kerker war nicht verschlossen. Er wird nicht fliehen, hatte Zastro versprochen. Sie trat in die Zelle. Auf dem Boden lag moderndes Stroh. Es war dunkel. Sie hörte das eilige Hasten von nacktschwänzigen Nagern und schauderte. »Eine Fackel!« rief sie den Wachen zu und wartete auf das Licht. »Laßt mich allein!« Erst als die Tür ins Schloß fiel, ging sie langsam auf den am Boden liegenden jungen Mann zu. Sie versuchte sich zu erinnern. Es ist so lang her … Sie war zu jung gewesen und hatte nichts verstanden. Mit großen Kinderaugen hatte sie die Bestrafung des Diebes verfolgt … Sie beugte sich zu ihm herunter. Ein Schauern lief über ihren Rücken. Sie hatte den Dieb des Steins ihres Vaters nur kurz gesehen, aber sie war sicher, nun lag er vor ihr. Ihre weiße Hand strich über sein Gesicht. Zwanzig Jahre, älter konnte er kaum sein … Dabei liegt es bereits zwanzig Jahre zurück! »Du bist unsterblich«, flüsterte sie überwältigt. Er rührte sich nicht. Sie suchte nach seinem Puls. Er war kaum spürbar, aber sie fühlte das stetige Klopfen. »Und niemals wird es unterbrochen!« Wie sollte sie es erlangen? Wie konnte sie ihm die unglaubliche Gabe nehmen? Darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. Sie betrachtete ihn und ließ sich neben ihm nieder. Gedankenverloren glitt ihre Hand über seinen Körper und legte sich auf seinen flachen Bauch. Sie spürte seinen Atem. Ein. Aus. Ein … Ihre Finger berührten etwas Warmes und Feuchtes. Sie betrachtete sie. Blut. Er war verletzt. Im Schein der Fackel schien es ihr, als glitzerte das Rot wie gelöste Kristalle. Blut … In alten Zeiten glaubte man daran … Sie hatte es gelesen in den Büchern ihres Vaters. Der Narr! Warum hat er daran nicht gedacht? Er hätte ihn suchen sollen …
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»Er war tot«, erinnerte sie sich und starrte fasziniert auf ihre blutverschmierte Hand. »… und die Krieger nahmen die Leiber ihrer mächtigen Feinde, um zu trinken ihre Lebenskraft und ihren Mut …«
∞ Schweigend saßen sie einander gegenüber. Dryw starrte ins Leere. Er hatte versagt und konnte nur hoffen, daß ihr Bote bald in Glendaloch eintraf und der Weise besser wußte, als er, was zu tun war … Sheehan schüttelte immer wieder zweifelnd den Kopf. »Warum hat er sich nicht gewehrt?« »Er hat gekämpft wie ein Tier! Gegen diesen Kerl hätte selbst ich keine Chance gehabt…« »Er ist der Bewahrer, Dryw. Er hat Macht!« Verunsichert erhob er sich und ging auf und ab. »Du redest schon wie Twar …« »Er hat Macht. Du hast er auch gespürt, gib es zu!« Er nickte zögernd. »Warum hat er sie nicht genutzt?« Er sah sie an und zuckte die Schultern. Sie fuhr sich durchs Haar und runzelte die Stirn. »Was wissen wir von ihm?« »Offenbar nicht genug, sonst hätten wir es verhindern können. Ich dachte, er sei ein Magier. Ich dachte, er würde verschwinden, wenn er bemerkt, daß es keinen anderen Weg gibt …« Er sprach aus, was auch in ihren Gedanken entstanden war. »Ich weiß nicht, was wir tun sollen …« Beide fühlten die Gefahr, in der sie alle schwebten, und waren hilflos. »Wir können nicht auf eine Nachricht von Lazzard warten!« »Twar …«, sagte Sheehan unvermittelt. Verwirrt sah er sie an. »Natürlich! Twar! – Er muß es wissen!« »Was?« Sie sprang auf und lief zur Tür. »Er war schließlich hier! Er hat es miterlebt! Es hat ihn verrückt werden lassen! Komm!« Sie hatten die ganze Stadt nach dem Bettler abgesucht, ihn jedoch nirgends gefunden. »Er muß am Turm sein.« Sheehan
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verzog das Gesicht. Der Turm war der letzte Ort, an den sie sich wünschte, aber sie folgte Dryws riesenhaftem Schatten. »Hat sie! Hat sie! Hat Macht!« knarrte Twars Stimme zu den schwarzen Fenstern des Turms. »Twar!« »Freund!« begrüßte er ihn. Seine irren Augen leuchteten auf, als ihr Blick auf Sheehan fiel. »Und die Schöne! – Hast ihn gesehen? Hast gefühlt? – Oh, hat Macht.« Er senkte seine Stimme und kicherte. »Sie weiß. – Dämon auch. Fürchtet Macht, die sie begehrt. – Wird sie allen geben! Und weiß nicht! Ha!« Sie verstanden nichts von dem, was der alte Bettler sagte. Beruhigend klopfte Sheehan ihm auf die Schulter. »Twar, du kennst ihn doch. Du warst hier. Du hast es gesehen.« Er nickte heftig und berührte scheu ihre Hand. »Dämon fürchtet Macht. Spricht lächerlichen Bann. Wird ihn nicht halten! Macht ist größer. – Viel größer …« Sheehan schüttelte den Kopf. »Nein, nicht heute. Erinnere dich, Twar. Vor zwanzig Jahren. Siehst du Fuathas? Er beschwört die Macht.« Twar zuckte vor ihr zurück, als hätte sie ihn geschlagen. Er zitterte am ganzen Körper. Seine Augen schienen es tatsächlich wieder zu sehen. Entsetzten spiegelte sich in ihnen, als sie zum Turm blickten. »Was geschieht, Twar?« »Armer Junge … dummer Dieb! Wird sterben! Zerrissen vom Drachen! Gefoltert von ihm! – Ah!« Er hielt sich die Ohren zu. »Nein! – Oh, nein! Wie er schreit! Hört ihr seine Qual? Er sieht sie! Er weiß! Sie weiß! – Nein!« kreischte er voller Grauen und klammerte sich Hilfe suchend an Dryws Arm. »Schsch!« versuchte Sheehan ihn zu beruhigen. Sein Blick war plötzlich klar. »Sie sind eins.« Er erschauerte, als er sich an das Jetzt erinnerte. »Er wird es zeigen. Dämon tut gut daran, ihn zu fürchten. – Weiß, ohne zu verstehen!« Fragend sah Dryw zu Sheehan. Sie zuckte hilflos die Schultern. Twar schwieg und starrte ins Leere.
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»Wir können ihn unmöglich so hier lassen!« Dryw nickte unwillig. Als hätte ich keine anderen Sorgen! Mißmutig betrachtete er das in sich zusammengesunkene Häuflein verschmutzter alter Lumpen. Was hatten sie erfahren? Nichts! Es hatte sich nur bestätigt, was sie ohnehin schon wußten. Was immer am Turm vor langer Zeit geschehen ist, es hat den alten Twar den Verstand gekostet. Er warf Sheehan einen beschuldigenden Blick zu, den sie großzügig übersah. Ihre grünen Augen hatten einen seltsamen Glanz, den er nie zuvor in ihnen bemerkt hatte. Sheehan schob ihn in den angrenzenden Raum und schloß die Tür hinter sich. »Wir müssen ihn da rausholen«, sagte sie leise. In ihrer Stimme klang Angst mit. »Bist du jetzt auch wahnsinnig? Wie sollen wir das machen?« »Schnell. – Hast du nicht verstanden, was er gesagt hat?« »Du etwa?« Sie zögerte, nickte dann aber langsam. Auch, wenn er es sich schwer vorstellen konnte, glaubte er ihr. »Ich denke, ich weiß, warum er seine Magie nicht genutzt hat, um ihnen zu entkommen. Erinnerst du dich an das Lied? Warum hat er den Stein gestohlen? Beweisen die Macht, die in Liebe nur liegt. Er wollte seinen Mut beweisen, um jemanden zu beeindrucken: Feochadan. Die Zauberin Boadicea, Fuathas’ Gehilfi n, war nicht an ihm interessiert. Ihr verlangte nur nach dem Stein. Fuathas wollte ihn mit der Macht des Steins bestrafen …« »… und hat sich dabei in sein eigenes Fleisch geschnitten. Nun ist der Zauberer tot und sein Opfer unsterblich! Was willst du mehr?« Sie sah ihm tief in die Augen, und er erkannte es selbst. »Er ist nicht der strahlende, siegreiche Held? Er hat Fuathas’ Waffe nicht zum Guten gewendet?« Sie nickte. »Er ist sein Opfer. Twar sagte: Sie sind eins. Aber er sagte auch, daß er weiß, ohne zu verstehen. Er ist ein Mensch. Die Magie ist ihm nicht naturgegeben. Sie ist gewaltsam, gegen seinen Willen, als Strafe ein Teil von ihm geworden!« »Niemand hat ihn auf das vorbereitet, was ihm geschehen ist.«
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»Womöglich weiß er auch gar nichts von seiner Kraft!« fuhr Dryw mit Erschrecken fort. »Und Seaghda wird sie freisetzen!« In seinem Innern hallte drohend Twars Prophezeiung. Er wird es zeigen! Dämon tut gut daran, ihn zu fürchten. – Weiß, ohne zu verstehen!
∞ Unwillig ging Aogail in die unteren Gewölbe. Zastro verlangte eine Audienz bei der Königin. Er hatte es so dringend gemacht, daß er sie nun stören mußte. Die Türen zum Kerker standen offen. Seaghda hatte sogar die Wachen fortgeschickt. Er wird nicht entkommen! schnitt Zastros Belehrung durch seine Gedanken. Aogail trat in die Zelle und prallte entsetzt zurück, ob der Szene, die sich ihm bot. Der Bewahrer, gefangen im Fluch des Dämonen, lag hilflos am Boden. Seaghda kniete neben ihm. In ihrer Hand hielt sie ein blutiges Messer. Saugende Geräusche drangen zu Aogail, welche Übelkeit in ihm aufsteigen ließen. »Mylady?« brachte er mühsam hervor. Sie fuhr herum. Blut troff von ihren Lippen und rann über ihr weißes Kinn. Mit der anderen Hand hielt sie den Arm des Bewahrer umfaßt. Aus einer tiefen Schnittwunde an seinem Gelenk sprudelte pulsend Blut. »Was willst du?!« fauchte Seaghda gefährlich. »Lord Zastro ist hier. Er bittet um eine Audienz …« »Nicht jetzt! Später! Verschwinde!« Gierig wandte sie sich wieder ihrem grausigen Trank zu. Aogail würgte und beeilte sich, die Gewölbe zu verlassen. Auf der Treppe stieß er mit dem Dämon zusammen. »Mein Freund! – Fühlt Ihr Euch nicht wohl? Ihr seid ganz bleich!« »Ihr könnt nicht zu ihr. Sie … sie ist beschäftigt.« Zastro lachte. »Offenbar mit nichts Erfreulichem, wie? Schon gut, ich werde selbst mit ihr reden.« Aogail nahm allen Mut zusammen und stellte sich ihm in den Weg.
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Der Dämon würde sie alle töten, sollte er erfahren, wer dort unten gefangen war. »Ihr habt doch gehört: Sie ist beschäftigt!« Das Lächeln auf dem unheimlichen Gesicht verschwand. Der Blick der weißen Augen bohrte sich tief in Aogails Seele. Er w e i ß es! »Sie hat genug mit ihm gespielt!« zischte der Dämon leise. »Ihre Spiele sind nicht gut für ihn. Sie schwächen seine Kraft. Sie macht ihn unbrauchbar für uns!« brüllte er. Aogail wich zurück und verfehlte die Stufe. Mit einem kurzen Aufschrei stürzte er die steinerne Treppe hinunter und blieb reglos liegen. Den Dämon berührte es nicht, daß das Genick des Generals gebrochen war, und er ging an ihm vorbei. Schon von weitem hörte er ihr gieriges Schmatzen. Er schnaubte. Wie dumm sie doch ist! »Mylady«, dröhnte seine Stimme und hallte durch den Gang. Erschrocken sah sie zu ihm auf. »Verzeih die Störung, Liebes«, entschuldigte er sich höfl ich und kam langsam näher. »Ich fürchte, es ist vorbei – aber damit hast du wahrscheinlich schon gerechnet.« Aus angstvoll geweiteten Augen sah sie ihn an. »Dachtest du wirklich, du könntest auf diese Weise unsterblich werden?« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Tiefster Aberglaube, meine Schöne, leider. – Dabei wäre es so einfach gewesen, nicht wahr?« Er blieb stehen. Ihre Augen fi xierten ihn. Weiß sah auf die Blutlache neben ihr, die größer und größer wurde. »Es ist ungerecht. Warum sollte ein einfacher Mensch das Privileg der Unsterblichkeit allein für sich beanspruchen und nicht teilen müssen? Ich habe es gehört, Seaghda. All deine Anschuldigungen, dein Flehen. – Er liegt unter meinem Bann, hast du das vergessen?« »Du lügst!« fauchte sie, doch er lächelte nur milde. »Früher oder später werden alle fort sein, außer uns beiden … Ich will nicht verschwinden! Sehr dramatisch, wirklich!« Sie erbleichte. »Oder der Teil mit dem Schatz: Jugend ist wie ein Juwel, ein Schatz,
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ein Diamant! Ich war beeindruckt von deiner Sprachgewalt …« schmeichelte er. Sie wand sich förmlich unter seinem Blick. Er streckte die Hand nach ihr aus. »Komm her«, bat er sanft. Sie konnte ihm nicht widerstehen und erhob sich. Mit steifen Schritten ging sie auf ihn zu. Er umarmte sie tröstend. »Es war alles umsonst, auch dein Verrat an uns. Wie konntest du nur annehmen, ich würde ihn nicht als das erkennen, was er ist?« Seine klauenbewehrte Hand packte ihre Kehle. »Es gibt nur einen Bewahrer!« donnerte er und riß sie herum. »Du verschwendest seine Kraft, du Närrin! Und du verschwendest unsere Zeit!« Er drückte zu. Sie röchelte kurz und kämpfte schwach gegen ihn an. Dann wurde ihr Blick glasig. Er schleuderte sie von sich, wie einen schmutzigen Lumpen. Besorgt wandte er sich Aodhan zu. Seine Hand berührte die klaffende Wunde, die sich augenblicklich schloß. Mühelos hob Zastro ihn auf. »Es wird alles gut, mein Junge«, murmelt er und drückte ihn etwas fester an sich.
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Siebzehntes Kapitel Nachdenklich spielte er mit dem Ring an seinem Finger. Blutrot funkelte der Stein. Für einen kurzen Augenblick spürte er Panik in sich aufwallen … Er fühlte Aodhans Gefühle. Zastro erinnerte sich an seine Gegenwehr und seine Todesangst, als er ihm seinen Willen aufgezwungen hatte. Verwirrt schüttelte Zastro den Kopf. Noch nie hatte er derartiges erlebt. Noch nie hatte er solches Entsetzen in den Augen eines Menschen gesehen. Wovor fürchtete er sich? Was hat er wirklich gesehen? Sein Äußeres, Zastro lächelte arrogant, ließ manch tapferen Soldaten erschrecken … Der Dämon wußte, das war es nicht. Jemand räusperte sich. Zastro sah auf. Ein kleines schleimiges Wesen sah ihn aus hinterhältigen Augen an. »Ihr könnt hinein«, die Stimme der Kreatur klang seltsam glucksend. Zastro beachtete den Smorgh nicht länger und ging mit großen Schritten in die Hohe Halle. Ein drohendes Grollen begrüßte ihn. Er verneigte sich tief vor dem riesigen, geflügelten Dämon. »Kaiser, ich habe die Frau vernichtet und den Bewahrer in meiner Gewalt.« Der Dämon nickte zufrieden. »Wann setzt du seine Macht frei?« Erschrocken blickte Zastro auf. »Ich?! Ich glaubte, Ihr würdet es tun!« Die gewaltigen Schwingen des Kaisers zuckten gereizt. »W i e«, donnerte die dröhnende Stimme, »gedenkst du, daß ich das bewerkstelligen soll? Das Tor ist zu klein!« »Ich könnte ihn herbringen …« Der Kaiser knurrte warnend. »Hörst du nicht, was ich sage? Das Tor ist zu klein!« Zastro runzelte die Stirn. Er wußte, daß der Bewahrer Macht hatte, aber er hatte nicht geahnt, daß sie so groß war. Er erschauerte. »Was zögerst du?« Zastro senkte das Haupt noch tiefer. »Ich bin nicht würdig …« »Unsinn! – Du hast ihn bezwungen! Du kannst es.« Zastro war sich nicht sicher.
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Finstere Wolken mit bedrohlich leuchtenden Rändern zogen auf. Blitze zuckten vom ungesunden Himmel. Die Luft schien vor Spannung zu knistern. Dryw beobachtete das Unwetter mit wachsendem Unbehagen. Er wird es zeigen! Er zitterte. Es war kein natürlicher Sturm der über der Spitze des Turms entstand. »Lazzard! Komm endlich her!« flehte er inständig. Es grollte und Dryw glaubte, der Donner würde ihn verhöhnen. Er wandte sich um und ging zum Tisch zurück, auf dem Schwerter und Pfeile lagen. Er seufzte. Heute sollte es geschehen. Heute wollten sie ihn befreien … Der Wind riß brutal an den Läden und schlug sie gegen die Wand. Es wurde dunkler, fast wie Nacht, obwohl es erst Mittag war. Sie hatten am Abend zuschlagen wollen … Sheehan durchstreifte die Stadt auf der Suche nach Botschaftern aus Glendaloch. Plötzlich flog die Tür auf. Dryw fuhr herum. Sheehan stolperte stöhnend herein. Mit schmerzverzehrtem Gesicht hielt sie sich ihre blutende Schulter. »Sieh dir das an!« brachte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und wies nach draußen. Gebannt starrte er durch die offene Tür. Etwas wie Schnee wurde vom Sturm durch die Luft gewirbelt. Doch berührten die Kristalle die Haut, so ätzten sie sich brennend hinein. Menschen, die ihnen schutzlos ausgeliefert waren, schrien in Agonie. »Was ist das?« hauchte Dryw entsetzt. Sheehan keuchte vor Schmerz. Ihre Knie gaben nach. »Was es auch ist …, es hat mich getroffen!« Ihre Stimme erstarb.
∞ Weiß. Die grauenhafte Erinnerung! – Nein, es war Wirklichkeit. War es das? – Von allem war dies das Schlimmste gewesen. Weiß. Er hatte es zu oft gesehen. Er kannte es. Er wurde wahn-
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sinnig davon! Weiß. Es brachte Stille. – Nur das Ein und Aus seines Atems. Nur der Schlag seines Herzens. Kein Gedanke. Keine Erinnerung mehr. Kein Gefühl. Seit wann? Er hatte es vergessen. Er wußte nicht, wie lange er in diesem Zustand verharrte. Es war ihm gleichgültig. Seit kurzem drang etwas zu ihm. Er mochte es nicht. Es störte ihn in seiner Ruhe. Es machte die Stille beunruhigend. Zunächst interessierte ihn nicht, was es war. Doch dann begann sich etwas in ihm zu regen. Bilder erschienen im Weiß. Sie lockten verführerisch, obwohl er nicht erkennen konnte, was sie darstellten, und über allem hörte er nur seinen Atem und seinen Puls. Ein leises Flüstern jedoch ließ die Laute seines Lebens in Vergessenheit geraten, denn nur die Stimme war wichtig. Er vernahm ihren Klang, nicht aber die Worte, und trotzdem verstand er sie. Nicht nur das. Es war unmöglich, ihr Wahrheit abzusprechen. Sie war das einzige, was wahr sein würde. Er konnte ihr nicht widerstehen. Keine Faser in ihm wagte es zu rebellieren. Warum auch? Die Stimme war die Wirklichkeit. Das Ziel … Neue Bilder erschienen im Weiß, bis sie es völlig überdeckten. Stumm riefen sie nach ihm. Die Stimme hielt ihn zurück. Obwohl sein Verlangen nach ihnen ungeheuer groß war, gehorchte er. Die Stimme war die Wahrheit und besser als der Schein der Bilder, die er nicht verstand. »Willst du es noch einmal versuchen?« klang die Stimme irgendwann. Sie war so unendlich verständnisvoll und gütig. Sie wollte ihm helfen. Sie forderte nichts und doch sein »Ja«, wie sie es schon mal verlangte. Wieder mußte er nicht zögern. Die Stimme wußte, wann sie es ihm anbieten konnte, wann er bereit war. Wozu? Es gab keinen Grund, dies wissen zu wollen. Die Stimme wußte es. »Willst du es versuchen?« Der Klang war unverändert und drängte ihn nicht. »Vertraue mir. Dir wird nichts
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geschehen!« hallte sie dröhnend durch seinen ganzen Körper und war dabei so leise und behutsam, daß nur er sie hören konnte. Sie hatte ihn nicht beruhigen müssen. Sie war die Stimme, die Wahrheit. »Sieh mich an«, bat sie. Nach Ewigkeiten wandte er sich ihr zu, sah in das Antlitz, das zu der Stimme gehörte. Es erschreckte ihn nicht. Kein Schauer überlief ihn. Keine Angst verengte seine Kehle. Das Gesicht gehörte zu der Stimme. Er hatte nichts zu fürchten. Ein freundliches Lächeln lag auf den Zügen. »Versuch es! Komm!« Er sah, wie sich schützende Arme nach ihm ausstreckten. Er wollte ihnen entgegeneilen, aber er strauchelte. Seine Knie gaben nach. Er war noch schwach. Nein, mein Körper ist schwach! »Ich werde dir helfen.« Die Wut, die in ihm aufgeflammt war, verschwand augenblicklich, als er spürte, wie seine Kraft zurückkehrte, während ihn die Macht der Stimme stützte. Er lächelte dankbar und blickte in weiße Augen. Ein Schwindel erfaßte ihn. Alles begann sich zu drehen. Eine kühle Hand legte sich auf seine Stirn. »Ist gut. Ist gut. – Du siehst die Macht. Sieh nicht hinein, wenn ich es nicht sage.« Er nickte benommen. »Ja, … Meister.« Sein Blick wurde klarer. Es war nicht so hell in dem Raum, wie er zunächst angenommen hatte. Tatsächlich war es sehr dunkel. Dicker Samt verhüllte die Fenster und ließ kein Licht von außen hineingelangen. Er kannte dieses Zimmer … Woher? »Es ist nicht wichtig«, belehrte ihn sein Meister sanft, und er sprach wahr, denn er war die Stimme. »Was willst du tun?« Er hob den Kopf, um seinem Meister ins Gesicht zu sehen, doch die kühle Hand legte sich über seine Augen. »Nicht! – Denk an die Macht!« Die Hand strich leicht über seine Wange und glitt über seine Kehle. »Sag mir, was willst du tun?« »Tun?« Sein Meister lachte. Ein Klang voller Freude über seine Unbefangenheit. »Du hast viel bewirkt mit deiner Macht. Wir kommen gut voran. Nun ist es Zeit, daß du
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sie wirklich herausforderst, daß du ihre wahren Dimensionen erfährst.« Er runzelte die Stirn. Macht? Er wußte nichts von Macht. Die Hand legte sich beruhigend auf seine Schulter. »Deine Erinnerung wird wiederkehren«, versprach die Stimme. »Du hast Zeit. Es ist deine Entscheidung, die Macht zu prüfen.« Er wußte nicht, wovon sein Meister sprach. Mußte er es wissen? »Du wirst alles wissen.« Er war müde. Er fühlte sich, als träumte er, sich zu bewegen, zu denken, zu handeln. Auf irgendeine Art tat er dies alles nicht. Sein Kopf war leer. Seine Gefühle waren verschwunden … »Bist du erschöpft?« erkundigte sich sein Meister besorgt. Er nickte nur, was ein Chaos in ihm anrichtete. Farben verschwammen vor seinen Augen und mischten sich in einem rotierenden Strudel. Schneller und schneller drehte er sich, bis die Farben zum Weiß wurden. »Das soll nicht sein. Willst du dich stärken?« hörte er aus weiter Ferne seinen Meister. Wieder nickte er matt. Eine Bewegung, so schwach, daß sie fast unbemerkt geblieben wäre, aber heftig genug, um den Strudel zerfallen zu lassen. Das Weiß – zerstört! Es zerbarst in Farbensplitter. Wo ist es?! Er wollte es! »Sieh in meine Augen!« Die Panik in ihm verebbte. Erleichtert blickte er in die Augen seines Meisters. Weiß …
∞ Dryw wechselte den Verband um Sheehans Schulter. Das weiße Zeug, das vom Himmel gefallen war, hatte sie verletzt. Sie fieberte seit Tagen. Er hatte es nicht gewagt, sie allein zu lassen, um ihren Plan durchzuführen. Er fühlte, es war bereits zu spät. Die Nachrichten, die er erhielt, bestätigten seine Befürchtungen. Seit dem Tag, als das Weiß über sie hereingebrochen
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war, strömten die Heere aus Dun na Ruadhan. In endlosen Kolonnen zogen irre Zerlumpte hinter geifernden Dämonen in die Cobhans. Mit ihnen zog ein Teil des Weiß, das alles Leben unter sich begrub und vernichtete. Es gab keine Rettung mehr. Lazzard würde nicht kommen. Er hatte auf keine der Botschaften reagiert, die sie ihm zugesandt hatten. Warum nicht? Immer wieder stellte er sich diese eine quälende Frage. Währenddem rückten die Heere weiter vor. Die Haraleah war bereits gefallen. Dryw hieb mit der Faust gegen die Wand. »Worauf wartet diese verdammte Echse? Muß erst Lios untergehen, damit er seinen verfluchten Felsen verläßt? Dann wird es zu spät sein! Er wird nichts mehr zu retten haben!« »Dryw … ’dhan«, wimmerte Sheehan im Fieber und warf sich hin und her. Dryw biß die Zähne zusammen, daß sie knirschten. »Er kann uns nicht helfen …« An ihn mochte er nicht denken. Sein Schicksal war sicher schlimmer als das aller von hier bis zur Haraleah. Ich kann ihm nicht einmal die Erlösung durch Lord Tod wünschen, die uns allen geboten wird!
∞ »Es ist schön«, die grunzende Stimme des Kaisers klang versonnen, »es ist wahrlich schön, das Weiß. – Was zeigt er dir noch?« Zastro kauerte in der ihm gebotenen Demutshaltung und antwortete wahrheitsgemäß. »Außer dem Weiß wies er mir nur das Tor für die anderen, Kaiser.« Der geflügelte Dämon schnaubte unwillig. »Was ist das Weiß?« Zastro zuckte die Schultern. »Es ist in ihm. Es dominiert sein Inneres. Es ist alles, wonach er zu streben scheint …« »Warum?« Er hatte versucht, es zu erfahren, aber etwas hinderte ihn daran. Er konnte das Weiß nicht durchdringen, um zu sehen, welche Macht sich dahinter verbarg. Ein kurzer Blick zu den besorgten Zügen seines Kaisers,
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und er wußte, daß diese Kraft unendlich sein mußte, weil sogar der Kaiser sie fürchtete. »Bedränge ihn nicht. Sei sehr, sehr vorsichtig. Wenn er deinem Bann entkommt und er sich erinnert, wird uns sein Zorn treffen.« Zastro zitterte kaum merklich und senkte sein Haupt tiefer. Die Warnung des geflügelten Dämonen hatte eher nach einer Prophezeiung geklungen.
∞ Er war allein. Reglos saß er auf einem hochlehnigen Stuhl. Sein Meister hatte ihn wieder in das Weiß geführt. Er lächelte gedankenverloren. Nun aber war er zurück. Das Lächeln verschwand. Er mißtraute der Dunkelheit des Raumes, die so viele Geräusche barg. Etwas in der Finsternis lockte ihn. Sein Meister war nicht da. Er konnte ihn vor der Versuchung nicht bewahren. Es war ein sanftes Rascheln. Seine schwarzen Augen suchten es. Ihr Blick wurde von einem der Samtvorhänge gefangen. Lange betrachtete er das ruhige Vor und Zurück im Wind. Dann plötzlich erhob er sich. Er war immer so schwach nach dem Weiß. Er fürchtete, es nicht bis zum Fenster zu schaffen. Aber sein Wille war stärker als seine Mattigkeit. Keuchend lehnte er schwer an der steinernen Wand. Unendlich langsam umgriff seine Hand das weiche Tuch und zog es beiseite. Erstaunt blinzelte er. Weiß? Er sah nicht Weiß! Er schüttelte den Kopf. Das ist nicht möglich. Nur der Meister ist fähig, es mir zu offenbaren! Er starrte hinein. Es war anders, nicht alles in sich selbst. Es gab Formen, die er kannte – Häuser, verhüllte Gestalten, einen Himmel … »Schnee?« Seine Hand streckte sich zu den sauberen Schicht
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aus, die am Sims lauerte. »Nein!« dröhnte warnend die Stimme zu ihm. Verwirrt wandte er seinem Meister den Kopf zu. Seine Hand verharrte über der Fläche. »Berühre es nicht!« Warum nicht? Es war doch nur Schnee. Es konnte nicht das Weiß sein, nur Schnee. Ist so viel Zeit vergangen? Sein Herz setzte einen Schlag lang aus. Welcher Winter herrscht? Angstvoll sah er zu dem Meister. Er zögerte? Warum wollte er ihm nicht antworten? Sein Blick richtete sich wieder auf den Schnee. Er senkte seine Hand. »Tu es nicht!« Die Stimme klang fast drohend. Erstaunt stockte er. Die Stimme bedrohte ihn? Die Wahrheit? Das Ziel? »Es ist kein Schnee. Es ist das Weiß!« Aodhan schüttelte langsam den Kopf. Er hatte es gesehen – es war in ihm, er war es gewesen! Viele Jahre lang hatte es ihn in seinen Träumen verfolgt. Es war das Entsetzliche der fünf gewesen, aber auch voller Macht, die es behütete. Eine Macht, die ihm durch den Meister offenbart wurde, mit der er verschmelzen konnte. Er war eins mit dem Weiß gewesen, deshalb erschien ihm sein Körper so schwächlich, so verletzlich. Das Weiß ist körperlos, unendlich, frei! Es ist, wie seine Seele sein sollte. Seine aber wurde auf Weg in dem kraftlosen Gefängnis aus Knochen und Muskeln festgehalten! Sein Meister kam näher. Er spürte dessen Angst. Angst? Der Meister fürchtet sich? »E s i s t d a s W e i ß …« Die Stimme klang schrill. »Nein«, erwiderte Aodhan ruhig. Seine Fingerspitzen berührten die Schicht. Er schrie auf vor Schmerz und riß die Hand zurück. Schockwellen der Pein ließen seinen Körper erbeben. Sein Arm war taub. Die Fingerspitzen schimmerten blutig. »Ich habe es dir gesagt! Es ist das Weiß. Es zerstört, um neu erschaffen zu können.« Er starrte auf das tiefe Rot. Es gibt mehr als das Weiß. Hinter ihm lag noch etwas … Das Blut gerann in kristallgleicher Struktur. Plötzlich erkannte er den Raum. Hier hatte der Stein gelegen. Was mache ich hier? Seine Augen weiteten sich
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entsetzt, als die furchtbare schwarzgeschuppte Kreatur auf ihn zu kam. »Du kennst das Weiß. Du hast es hergebracht.« Aodhan wich voller Grauen zurück. »Du wirst noch mehr bringen, nicht wahr, mein Junge?« Er hörte die Schreie der sterbenden Menschen. »Sie werden erneuert durch das Weiß«, erklärte das Wesen, aber in ihrem Wimmern lag keine Freude, nur Schmerz. Sie erfuhren keine Erneuerung, sie wurden vom Weiß getötet! »Niemals«, ächzte Aodhan schaudernd. Die Haltung des Dämonen veränderte sich. Erst jetzt erkannte Zastro, daß er ihm entkommen war, daß der Mensch sah und hörte, was geschah, daß er nicht mehr im stillen Vakuum seines Fluchs alles erduldete und tat, was er von ihm verlangte. »Verdammt!« herrschte er und versuchte ihn zu packen. Aodhan konnte ihm gerade noch ausweichen. »Bleib stehen!« befahl der Dämon. Doch er hatte keine Macht mehr über ihn. Schneller, als er es ihm in seinem geschwächten Zustand zugetraut hatte, lief Aodhan um den großen Tisch. »Du kannst mir nicht entfl iehen!« fauchte Zastro und deutete mit der Hand auf die Tür. Sie flog krachend ins Schloß. Schwere Riegel schoben sich durch Geisterhand von außen davor. Gehetzt sah Aodhan sich um. Das Fenster! Er mußte diesem Monster entkommen. Er hatte schon genug angerichtet. Der Dämon folgte seinem Blick und erriet seine Gedanken. Die juwelenblitzende Klaue wies auf die schmale Öffnung; messerscharfe Klingen fuhren aus dem Nichts in den Fels und vergitterten sie. »Siehst du, ich sage die Wahrheit. Ich habe dich nie belogen, komm zu mir.« Die Stimme klang bittend, aber der Unterton, der in ihr schwang, war drohend. Aodhan rührte sich nicht. Aufmerksam beobachtete er jede Bewegung des Dämonen. Langsam umschritt der Geschuppte den spärlich schützenden Tisch. »Ich habe dir nie Schmerzen zugefügt. Du mußt mich nicht fürchten«, redete er auf Aodhan ein. Die weißen Augen
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fi xierten ihn. Sie hielten ihn an der Stelle fest. Der Dämon war nur wenige Schritte von ihm entfernt. »Komm zu mir!« Er streckte die klauenartige Hand nach ihm aus. »Komm!« Resigniert ließ er sie wieder sinken, als Aodhan nicht reagierte. Er nickte betroffen. »Du traust mir nicht mehr«, stellte er bitter fest und sah fast flehend in seine Augen. Aodhan riß schützend die Hand vor sein Gesicht. Der Dämon seufzte zu tiefst verletzt. »Ich verstehe …, doch deine Angst ist unbegründet. Ich kann den Bann nicht erneuern.« Aodhan glaubte ihm keine Silbe, trotzdem nahm er den Arm wieder herunter. Der Dämon hatte den Kopf gesenkt. Seine Schultern zuckten, als kostete es ihn ungeheure Beherrschung, nicht in Tränen auszubrechen. Aodhan zweifelte. Er war noch etwas benommen und sah die Geschehnisse nicht in sinnvollen Zusammenhängen. Er wußte nicht sicher zu sagen, was passiert war. Möglicherweise ist der Geschuppte kein Feind. Er erinnerte sich, ihn Meister genannt zu haben. »Das Weiß«, er scheute sich, es so zu nennen, denn es war nicht das Weiß. »Ich habe es hergebracht?« Voller Hoffnung sah der Dämon auf. »Ja! Und du wolltest mehr bringen!« »Warum?« Zastro trat einen Schritt auf ihn zu, doch er wich sofort zurück. Also verharrte der Dämon auf seiner Position. »Das fragst du? Du hast es erlebt! Die Macht ist wunderbar. Sollten nicht alle die Macht sehen?« Aodhan spürte, daß er von der gleichen Kraft sprach, die er erlebt hatte vor zwanzig Jahren. Er wußte, sie hätte ihn fast zerbrochen. Allein das Wissen um ihre Existenz nagte an seinem Verstand derart brutal, daß er nur noch den Tod herbeigesehnt und diese Dummheit am See begangen hatte. Die Hoffnung auf den häßlichen Zügen verblaßte. Der Dämon schüttelte traurig den Kopf und wandte sich von ihm ab. Das Weiß war so verlockend. Es verhieß die Macht, die es bewahrte. War sie zu verlockend? Er erinnerte sich an seine Unzu-
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friedenheit. Er kam sich schwach vor und wollte nur noch einssein mit dem Weiß, für immer, um jeden Preis. Darüber vergaß er jedoch die Macht, die durch das Weiß schwach schimmerte. Sein Puls beschleunigte sich. Zeichnete sich ein Weg vor ihm an? Jetzt? In dieser Situation? Ihm blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Er war zu abgelenkt gewesen, um die verstohlen forschenden Blicke des Dämonen zu bemerken. Als der Geschuppte auf ihn zusprang, war es beinahe zu spät. Erschrocken wich er zurück. Die Klaue packte seinen Arm. Heftig riß er ihn aus der Umklammerung. Tiefe Furchen malten rote Spuren auf seine bleiche Haut. Der Dämon drang weiter auf ihn ein. Verzweifelt versuchte er ihm zu entkommen. Die kräftigen Hände hielten ihn jedoch in einem stahlharten Griff. »Du wirst gehorchen!« brüllte der Geschuppte. Seine Stimme drang ihm durch Mark und Bein. Zastro schleuderte ihn wütend durch den Raum. Die Luft entwich pfeifend aus Aodhans Lungen, als er hart gegen die steinerne Mauer prallte. Benommen ging er zu Boden. Bevor er sich erholen konnte, erreichte ihn der Dämon. Drohend stand er über ihm. Zastro riß ihn brutal herum, so daß er ihn ansehen mußte. Von dem lippenlosen Mund des Geschuppten troff gelblicher Schaum. Die weißen Augen glühten vor Zorn. Aodhan rang nach Atem. Die Klaue drückte seine Kehle zu. »Du bist mein!« stieß der Dämon rauh hervor. »Du wirst meine Macht stärken! Du wirst dem Kaiser den Weg bereiten!« »Nein!« röchelte Aodhan halb erstickt. Er versuchte sich zu wehren. Seine Finger umfaßten etwas hartes, kaltes. Ein großes Medaillon an einer Kette, die um den Hals des Geschuppten baumelte. Aodhan legte alle Kraft in den Schlag gegen den bizarren Schädel seines Kontrahenten. Der Griff der Klauenhand lockerte sich, als das Wesen aufschrie. »Bastard!« brüllte der Dämon voller Wut und holte aus. Der Ring an seinem Finger hinterließ blutige Schrammen in Aodhans Gesicht. Seine Gegenwehr wurde schwächer mit je-
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dem Hieb. Keuchend hockte der Dämon auf ihm. »Du wirst gehorchen!« knurrte er. »Sieh in meine Augen!« »Nein!« kam es über die aufgeplatzten Lippen und wieder hagelten Schläge auf ihn herab. Voller Angst fühlte Aodhan, daß er jeden Moment die Besinnung verlieren würde. Die Klauenhände hielten seinen Kopf. Das Gesicht des Dämonen kam näher und näher. Er roch durch sein Blut bereits den aasigen Atem des Wesens. Dann sah er nur noch die Augen. Weiß! Etwas in ihm zerbrach. Er fühlte die Splitter. Unzählige, unendliche viele Kristalle. Sie sammelten sich an einem Punkt. Während ihn das Weiß tiefer und tiefer zu sich zog, wuchs ihre Kraft. Sie leuchtete. Heller und heller wurden ihre Strahlen. Rot schien es in das Weiß hinein, das sich erschrocken und ehrfürchtig zurückzog. Er sah wieder den Dämon. Ungläubig sah ihn das Wesen an. Das rote Glühen spiegelte sich tausendfach in seiner schwarzgeschuppten Haut. Plötzlich stießen die Kristalle vor. Der Dämon kreischte auf und brach über ihm zusammen.
∞ Sheehan fuhr plötzlich auf. »Sie kommen!« stieß sie hervor. Dryw war sofort bei ihr. »Ein Traum. Beruhige dich …« Heftig schüttelte sie den Kopf und warf die Decke zurück. »Bleib liegen! Deine Wunde!« Aber sie war schon aufgesprungen und zum Fenster geeilt. »Sieh nur! Das Weiß! Es verschwindet!« Dryw folgte ihrem Blick. Tatsächlich, sie hatte recht! Das Weiß verblaßte, wurde durchscheinend wie Glas und war nicht mehr da. Mit leuchtenden Augen sah sie ihn an. »Er hat es geschafft!« Dryw blickte skeptisch. Er fürchtete eher das Schlimmste. Was kann das für einen Unsterblichen sein? Ein ohrenbetäubendes Kreischen lenkte sie ab. Erschrocken liefen die beiden aus dem Haus nach draußen.
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∞ Das rote Leuchten war noch da. Es kam aus ihm und tröstete ihn. Mühsam kroch er unter der Last des toten Dämonen hervor und zog sich am Tisch hoch. Er verharrte einen Moment, um sich etwas zu erholen. Ein Laut ließ ihn aufsehen. Es war ein sirrendes Pfeifen. »Lazzard?« Er schüttelte den Kopf, um klar denken zu können. Das Leuchten wurde stärker. Seine schwarzen Augen richteten sich auf die durch den Dämonen verriegelte Tür. Wie sollte er sie öffnen? Mit unsicheren Schritten ging er auf sie zu. Er hörte das Kreischen unzähliger Dämonen. Es machte ihm Angst. Verzweifelt rüttelte er an dem schweren Hindernis, das sich um keinen Zoll bewegte. »Verdammt! Geh schon auf!« schrie er es an. Geräusche eines furchtbaren Kampfes drangen zu ihm. Lazzard brüllte vor Schmerz und Zorn. Aodhan erzitterte unter diesem Laut. Zu allem entschlossen starrte er auf die Tür. »Lemniskate! Du hast mir einmal geholfen! Dann tu es jetzt wieder!« Das Leuchten wurde strahlend. Es wurde von den metallenen Beschlägen reflektiert und blendete ihn. Schützend hob er den Arm vor die Augen. Sein Herz raste. Die Dämonen kreischten triumphierend. Im gleichen Augenblick verlosch das Licht, und Aodhan fühlte eine entsetzliche Schwäche in den Beinen. Strauchelnd suchte er nach einem Halt. Unter seiner Hand fühlte er den kalten Fels der Wand. Er wagte kaum, zur Tür zu sehen. »Nein …«, hauchte er am Ende seiner Kraft und sank neben dem Hindernis zu Boden. Er war kein Magier. Er konnte den Stein, der in ihm war, nicht lenken. Er hatte versagt. Er war Schuld daran, daß dieses Weiß erschienen war. Durch ihn waren die anderen Dämonen gekommen … Bittere Tränen der Verzweiflung suchten sich einen Weg durch sein mißhandeltes Gesicht. Ein kühler Luftzug trocknete sie.
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Er sah auf und blickte durch den Türspalt in den Gang. »Danke, Lemniskate!« Er kämpfte sich auf die Beine und eilte auf den Gang hinaus. Plötzlich stand er auf den Stufen vor dem Turm. Er wußte nicht, wie er dorthin gelangt war, es war unwichtig. Gebannt starrte er wie viele andere zum Himmel. Dort oben tobte die Schlacht, die er gehört hatte. Lazzard wurde von fünf geflügelten Dämonen angegriffen. Er kämpfte verbissen und tapfer. Über der Stadt erwehrte sich Rhyss unzähliger Angreifer. Er war bereits schwer verwundet, gab aber nicht auf. Bald sah man nichts mehr von ihm, so viele schwarze geschuppte Leiber drangen auf ihn ein. Mit einem klagenden Laut stürzte er in die Tiefe. Die Dämonen brüllten siegesgewiß und wandten sich Lazzard zu. »Das Tor!« rief der weiße Drache. Seine Stimme klang kraftvoll, aber Aodhan spürte, daß er schon verloren hatte. »Das Tor! Schließ das Tor! Es ist im Turm!« Er dachte nicht weiter nach und fuhr herum. Gleich mehrere Stufen auf einmal nehmend rannte er die Treppe hinauf. Er wußte, wo es war. Er hatte es erschaffen! Vor einer schlichten Tür blieb er plötzlich stehen. Etwas fauchte hinter ihm. Teufl isch grinsend kam ein bewaffneter Dämon auf ihn zu. Aodhan wich zurück. In dem Gang gab es nichts, was er als Waffe hätte benutzen können. Er stieß gegen die Tür. Er konnte nicht weiter zurück. Der Dämon lachte höhnisch über die Angst in seinen schwarzen Augen. Das Schwert blitzte, als es auf Aodhan zuschnellte. Aodhan schloß die Lider und erwartete den Schmerz. Statt dessen jedoch ächzte das geschuppte Wesen. Vorsichtig blinzelte er. Blutige Fetzen lagen überall im Gang verstreut, die Überreste seines Gegners. In dem blanken Stahl des Schwertes spiegelte sich ein rotes Glimmen. »Lemniskate«, hauchte Aodhan erleichtert. »Das Tor!« drang Lazzards Ruf zu ihm.
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Er stieß die Tür auf und prallte zurück. Aus dem Nichts waberte ein scheußliches Licht. Es leckte und schmatzte. Funken drangen durch die steinernen Wände, den Dämonen zu Hilfe. Ein unglaubliches Tosen ließ alle anderen Geräusche ersterben. In chaotischen Wirbeln spiegelten sich Dinge jenseits des Tores, die Aodhans Blut in den Adern gefrieren ließen. Er hörte das Brüllen des angreifenden Dämonen nicht, zu sehr war er von dem unbeschreiblichen Anblick des Strudels gefangen. So überraschte ihn der harte Schlag, den er plötzlich auf der Schulter spürte. Für wenige Augenblicke erkannte er die kalt blitzende Klinge eines Schwertes. Dann jedoch versank alles in rotem Feuer.
∞ »’dhan!« von weit her rief jemand diesen Namen. »’dhan!« Seinen Namen. Er blinzelte und fand sich auf der Türschwelle wieder. Der Wirbel war fort. Kein Laut war zu hören, außer dem matter werdenden Rufen. »’dhan!« Mühsam richtete er sich auf. Metallene Splitter lagen um ihn zerstreut. Er beachtete sie nicht und schleppte sich zu Treppe. Er stürzte die Stufen eher hinunter als daß er sie ging. Nach Ewigkeiten – so schien es ihm, war er endlich aus dem Turm heraus. Die Dämonen waren verschwunden, wie vor ihnen das Weiß. Nur Lazzard war noch da. Er lag auf dem freien Platz vor der Burg. Sein Haupt ruhte auf den Stufen zum Turm. »’dhan!« rief er wieder, während sein Blut haltlos aus grauenhaften Wunden strömte. »Ich bin da«, brachte Aodhan leise hervor. Die weisen Augen suchten ihn. Sie erstrahlten, als ihr Blick ihn traf. »Wenigstens du …«, er brach ab. »Rhyss ist tot?« Aodhan nickte. Der Drache seufzte schwer. »Dann bin ich der letzte.« »Nein! Was ist mit all den anderen?« Lazzard stöhnte.
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»Gefallen«, erwiderte nicht des Drachen Stimme. Aodhan fuhr herum. Eine dunkle Gestalt stand hinter ihm. Kalte Augen sahen ihn an. Er erschauerte. Lord Tod. Der Drache hustete schwach und rang nach Atem. Entschlossen stellte sich Aodhan vor ihn. »Nimm mich, wenn du ein Opfer brauchst!« schleuderte er Lord Tod entgegen. Die dunkle Gestalt schüttelte traurig lächelnd den Kopf. »Aber er ist der letzte seiner Art! Es darf keine Welt geben ohne Drachen!« Lazzard wechselte einen kurzen Blick mit dem Lord. »Es wird immer Drachen geben …« wieder wurde er von krampfhaftem Husten unterbrochen. Ein Schwall hellroten Blutes besudelte seine weißbepelzten Lefzen. »Nie! Wenn er dich mit sich nimmt!« »Nein, ’dhan, wenn du statt meiner mit ihm gehst, verschwinden wir.« Aodhan verstand nichts mehr. Lord Tod kam näher. Aodhan duckte sich, bereit, Lazzard bis zum letzten zu verteidigen. »Hör auf damit! Hast du immer noch nicht verstanden, worum es geht?« »Nein!« fauchte er feindseilig. »Und ich will es auch nicht verstehen!« »Hitzkopf!« schalt ihn Lazzard liebevoll. »Doch, du wirst verstehen. – Er ist der Letzte! – Wie hast du dir die Zukunft gedacht? Es gibt keine Weibchen mehr, die Eier legen könnten. Lazzard ist alt, sehr alt. – Er ist ein Drache und Drachen sind nicht unsterblich. Er wird mit mir gehen, irgendwann, auch, wenn du dich jetzt heldenmütig für ihn opfern willst!« »Dann gibt es keine Hoffnung mehr, ’dhan«, fuhr Lazzard leise fort. »Willst du das?« »Nein! – Nein …« stammelte er verwirrt. Hilfesuchend blickte er in die irisierenden Augen des Drachens. Er fühlte die kalte Hand des Lords auf seiner Schulter. »Es ist deine Entscheidung …« Lazzard wollte ihm widerspechen, aber der Lord machte eine verneinende Geste. Aodhan, der nichts davon bemerkte, weil zu viele Gefühle und Gedanken wild in ihm umherflogen,
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schluckte schwer. War das sein Schicksal? Hatte er die Aufgabe, alles in sich zu bewahren, damit nichts vergessen wurde? Die Wolken brachen auf und er sah, wie sich die Sonne über die Cobhans erhob. Das kalte Morgenlicht spiegelte sich in Rot. Gedankenverloren schaute er auf seinen Arm. Dort, wo ihn der Dämon verletzt hatte, glitzerten nun rote Kristalle. Er war Lemniskate … Wissen spiegelte sich in unendlichem Schwarz, als er in die kalten Augen des Todes blickte. Es war nicht seine Entscheidung. Er war schon erwählt worden, ohne darüber entscheiden zu können, so ließ ihm sein Schicksal auch nun keine Wahl. Lazzard wußte es und schloß gefaßt die wunderbaren Augen. Schweren Herzens kniete Aodhan neben dem sterbenden Drachen nieder und bettete das mächtige Haupt in seinen Schoß. »Ich werde dich nie vergessen«, es klang rauh vor Schmerz. »Und Glendaloch … Erinnere dich an unsere Felsen …« Die einst so machtvolle Stimme verebbte. Aodhan kämpfte um Beherrschung. Als er sich umsah, war der Lord verschwunden. Allein kauerte er auf den Stufen und streichelte sanft den weichen Pelz am Kopf des toten Drachens. Es dauerte lange, bis er sich von ihm losreißen konnte. Wie unter einer zentnerschweren Last erhob er sich endlich und ging, ohne sich nochmals umzuwenden, zu den Toren der Stadt. Es schien ihm, als käme er nicht voran. Statt dessen wuchs das Gewicht der Verantwortung mit jedem weiteren Schritt. Unvermittelt blieb er stehen. Er zitterte am ganzen Körper. Lazzard ist tot, durch meine Schuld! Lautlos brach er unter der Erkenntnis zusammen.
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Achtzehntes Kapitel Polternd suchte sich der kleine Wagen einen Weg über den felsigen Paß. Schmutzige Tücher flatterten in Fetzen im Wind. Im kraftvollen Holz der Flanken des Gefährts steckten Pfeile. Zum Teil waren sie abgebrochen. Diese Stacheln, die unzähligen Kerben und Spuren von Feuer erzählten die Geschichte des Wagens. Eine Geschichte von Krieg und Verwüstung, Angst, Verzweiflung und Tod. Ein Geschichte, die nicht lang zurücklag. Eine Geschichte, die sich bis hierher in die Haraleah ausgebreitet hatte. Es war furchtbar still, zu still, als daß es ein Mensch ertragen konnte. Dann trug der Wind eine traurig klingende Melodie mit sich fort, welche die Gestalt auf dem Bock des Wagens leise summte. Braune Augen strichen suchend über das leere Land. Kein Leben zeigte sich. Keine Rehe oder Hasen, nicht einmal ein Vogel. Ein zerschlissenes Tuch wurde beiseite geschoben und eine Frau kletterte zu der Gestalt. Sie seufzte und strich mit der Hand gedankenverloren über die Schulter. Ihre grünen Augen folgten abwesend der am Horizont verschwindenden Sonne. Das Summen verstummte. Die Frau sah ihren Begleiter an. »Was ist? Warum hörst du auf?« Er schien aufs Äußerste gespannt zu sein. Seine Hand fuhr zum Knauf seines mächtigen Schwertes. Alarmiert folgte sie seinem Blick. Auf der schmalen Straße stand ein größerer Wagen in wesentlich besserem Zustand. Die Farben der Tücher waren leuchtend, selbst im diffusen Licht des Abends. »Tinkers!« zischte Sheehan verächtlich und griff ebenfalls nach ihrer Waffe. Deshalb haben wir sie nicht früher bemerkt! »Sie schleichen hinterhältig wie Luchse!« murmelte sie. Schemenhaft sah sie, wie eine Gestalt von dem anderen Wagen sprang und auf sie zu kam. »Seid mir gegrüßt«, entbot die tiefe, weiche Stimme einer Frau ihren Gruß.
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Sie nickten nur steif und warteten ab, jederzeit bereit zu kämpfen. »Kommt Ihr aus den Cobhans?« Dryw warf Sheehan einen kurzen Blick zu. »Ja«, antwortete er kurz. »Dann wißt Ihr, wie die Kämpfe beendet wurden?« Die Tinkerin war bemüht, ihre Stimme fest klingen zu lassen und ihre Angst zu verbergen. »Ja …« »Nein …« antworteten die beiden gleichzeitig. Sheehan stieß ihn in die Seite und setzte hastig nach: »Die Drachen müssen gewonnen haben, denn die Dämonen sind nicht mehr da. – Wir brachen noch während der Schlacht auf.« »Ich verstehe …« Die Tinkerin wußte, daß sie logen, trotzdem sagte sie: »Es ist schon spät. Zu spät, um auf dieser Straße zu reisen. Darf ich Euch einladen, mit uns zu lagern?« Ehe Sheehan ablehnen konnte, stimmte Dryw zu. Ein anderer Tinker mußte noch im Wagen gewesen sein. Er lenkte ihn nun auf die Wiese neben der Straße und Dryw tat es ihm nach. »Bist du verrückt?« raunte Sheehan ihm zu. »Wer weiß, wie viele das sind!« Wie, um ihre Befürchtung zu bestätigen, flammte plötzlich ein kleines Lagerfeuer auf, das ein weiterer Zigeuner entfacht haben mußte. Sie bedachte Dryw mit einem vorwurfsvollen Blick und sah dann forschend zu ihren Gastgebern. Neben ihrem Wagen stand die hochgewachsene Frau, die sie angesprochen hatte. Ihr volles kupferfarbenes Haar war von grauen Strähnen durchwirkt und lag in einem kronengleichen Kranz um ihr würdevolles Haupt. Klare grüne Augen richteten sich auf Sheehan. Ein Bergkristall an einem ledernen Band um ihren Hals war der einzige Schmuck der Tinkerin. »Unser Mahl ist bescheiden, aber wir teilen es gern«, erklärte sie freundlich. Dryw kletterte vom Wagen. Sheehan zögerte. Was wollte diese Frau von Ihnen? Sie spürte, daß sie etwas begehrte, sonst hätte sie sich ihnen nie gezeigt. Eifrig huschte ein junges Mädchen umher und bereitete eine würzige Suppe. Ihre Augen
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blickten scheu zu ihr, und Sheehan schämte sich plötzlich. Sie hatte zu viele schlechte Dinge gesehen … Als Dryw in die Nähe des Mädchens kam, wich es verschreckt wie ein kleines Tier zurück. Wieviel Schlechtes mußte sie erlebt haben? Langsam verlor Sheehan ihre ablehnende Haltung und rutschte ebenfalls vom Wagen, um Dryw und der Tinkerin zum Feuer zu folgen. Nun traten auch die anderen Reisenden in den warmen Schein des Lichts. Es waren zwei junge Männer, sie konnten kaum älter als das Mädchen sein. Der eine sah ihr sehr ähnlich. Wahrscheinlich war er ihr Bruder. Auch er machte einen mißtrauischen Eindruck. Seine Augen folgten jeder ihrer Bewegungen. Der andere Mann hatte eine seltsam feindliche Ausstrahlung. Seine Augen waren dunkel, fast schwarz. Sheehan erschauerte unter ihrem Blick. Er fürchtete sie offenbar nicht. Selbstbewußt ließ er sich neben seiner Führerin nieder. Trotz seiner Jugend lag ein harter Zug in seinem Gesicht, das sie sich nicht lächelnd vorstellen konnte. Das Mädchen reichte ihr eine Schüssel Suppe. Sie schnupperte. Es roch köstlich und sie hatte seit Tagen nichts mehr gegessen. Schweigend löffelten sie den kräftigen Eintopf. Die Anführerin fragte nach ihren Erlebnissen. Dryw gab ihr ausweichend Auskunft. »Von wo aus den Cobhans kommt Ihr?« Über den Rand ihrer Schüssel bemerkte Sheehan, wie die anderen Tinkers Dryw aufmerksam betrachteten. »Ruadhan.« Die Tinkers wechselten geheimnisvolle Blicke. Der Mann mit den schwarzen Augen fi xierte Dryw forschend. Die Führerin nickte und schwieg. Sheehan fühlte ihre Spannung. Sie konnte die unausgesprochene Frage fast hören. »Wir brachen auf, als das Weiß verschwunden war und die Drachen kamen …« Die Züge der Führerin verhärteten sich. Sheehan konnte jedoch nichts in ihnen lesen. »Das … Weiß?« fragte das Mädchen leise. Dryw versuchte es zu beschreiben. Sheehan entging das Flackern in den Augen der Führerin nicht. Sie mußte es kennen und fürchtete es.
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»… es brannte sich in alles Leben«, erzählte Dryw von der unheimlichen Erscheinung. »Meine Gefährtin wurde davon verletzt …« Sheehan zuckte zusammen. Über all ihr Mißtrauen und dem merkwürdigen Verhalten der Tinkers hatten sie IHN ganz vergessen! Sie schaute flüchtig zum Wagen, dann auf die halbgeleerte Schüssel in ihrer Hand. Dryw stieß sie leicht an. Verwirrt sah sie ihn an. »Hörst du nicht zu? Ob du Schmerzen hast, hat sie gefragt.« Alle Augen waren auf sie gerichtet. Sheehan fühlte sich wie ertappt. Die Führerin lächelte hilfsbereit. »Ich bin heilkundig. Wenn Ihr es wünscht, sehe ich mir Eure Schulter einmal an …« Sheehan sprang auf. »Danke … nicht nötig! Ich – eh, bin nur etwas erschöpft. Alles in Ordnung, wirklich! – Gestattet, daß ich mich zurückziehe …« Krampfhaft umklammerte sie die Schüssel und ging rückwärts zum Wagen. Der Mann mit den dunklen Augen starrte ihr nach. Er schien alles zu wissen.
∞ Als Sheehan erwachte, machten die Tinkers bereits ihren Wagen zur Abfahrt bereit. Dryw sprach mit der Führerin. »Lios?« wiederholte sie so laut, daß auch die anderen hören konnten, nach welchem Weg er sich bei ihr erkundigt hatte. Das Mädchen sah auf. Ihr Bruder wechselte mit dem Dunkeläugigen einen alarmierten Blick, woraufhin dieser hinter seine Führerin trat. »Was führt Euch dorthin?« fragte er lauernd. »Geschäfte«, erwiderte Dryw ausweichend. »Wir waren nur noch nie dort …« »Was sind das für Geschäfte?« hakte der Tinker nach. »Nun … wir …« Sheehan mußte eingreifen. »Guten Morgen!« bemühte sie sich, fröhlich zu klingen. Dryw wandte sich erleichtert um. Der Tinker ließ ihn nicht aus den Augen. Er wollte auf einer
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Antwort bestehen, aber die Frau wies ihn mit einem kurzen Blick zurecht, und er schwieg. Die Führerin lächelte und ging auf sie zu. Bevor Sheehan aus dem Wagen springen konnte, hatte sie ihn schon erreicht. »Fühlt Ihr Euch gestärkt?« erkundigte sie sich freundlich. »Oh, ja! Viel besser …« Die Tinkerin nickte und reichte ihr einen kleinen Beutel. »Kocht es, und nehmt jeden Tag einen Schluck von dem Sud. Ihr werdet keinerlei Beschwerden mehr verspüren …« Der Blick der grünen Augen ging an Sheehan vorbei in den Wagen. Die Tinkerin erbleichte und suchte mit der Hand nach einem Halt. Die Knöchel traten weiß hervor, als sie den Kristall umklammerte. Das klare Grün verschwamm unter Tränen, die aber nicht über ihre Wangen liefen. »Was ist mit ihm?« Ihre Stimme versagte. Sheehan wußte nicht, was sie erwidern sollte. Der Tinker mit den dunklen Augen trat hinter die Frau und folgte ihrem Blick. Ein Chaos von Gefühlen schien in den beiden zu toben. Nur mühsam konnten sie es verbergen, Dryw erklärte: »Wir müssen wegen ihm nach Lios. Die Elfen werden sich um ihn kümmern können …« Die Frau nickte stumm. »Wir könnten sie führen!« schlug der Tinker ihr leise vor. Sie machte eine verneinende Handbewegung. »Aber …«, wandte er ein. Seine Stimme klang belegt. »Wir haben einen anderen Weg, Donn. – Sag ihnen, wie sie Liosliath fi nden, dann brechen wir auf«, ordnete sie an, und ihr Tonfall duldete keinen Widerspruch. Sie wandte sich ab. Der Tinker sah ihr nach und schüttelte verständnislos den Kopf, aber er tat, was sie von ihm verlangt hatte. Danach beeilte er sich, ihr zu folgen. Verstört blickten Sheehan und Dryw dem in die Cobhans fahrenden Wagen nach. »Was hast du ihr gesagt? Hast du sie abgewiesen?« fragte Dryw mißbilligend. »Ich?!« »Du magst keine Tinkers, aber hättest du sie nicht höfl icher behandeln können?« Er klang fast zornig.
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»Ich war höfl ich!« fuhr sie auf. »Woher soll ich wissen, was mit denen nicht stimmt, verdammt?!« »Vielleicht hätte sie sich Aodhan ansehen können, und wir müßten jetzt nicht zu den Elfen!« »Nun ist es aber genug, Dryw! Ich habe ihr nichts getan. Sie wurde so merkwürdig, als sie ihn gesehen hatte!« Dryw brummte etwas Unverständliches und kletterte auf den Kutschbock. Kurz darauf rollte der Wagen Richtung Lios.
∞ Das Mädchen sah Donn fragend an. Seine dunklen Augen suchten in der Haltung ihrer Führerin eine Antwort. »Was war denn?« fragte das Mädchen so leise, daß nur er es hören konnte. »Haben sie ihn doch gesehen?« Donn wandte sich ihr zu. »Ja.« Ein hoffnungsvolles Leuchten lag in ihren Augen. »Also ist er in Ruadhan?!« »Nein.« Verwirrt sah sie zu ihm auf. »Warum fahren wir dann hin? Wir wollten ihn doch nach Liosliath bringen …«, sie stockte, als sie bemerkte: »Die Fremden wollten nach Lios …« Donns fi nsterer Blick bestätigte ihre Vermutung. Beide schauten zu ihrer Führerin, die mit verschlossener Miene nach Norden starrte. Keiner von beiden verstand Feochadans Entscheidung, nicht einmal sie selbst verstand sie.
∞ Vorbei. Es war alles vorbei. Ihr Abenteuer war zu Ende … Sheehan blickte über das weite, hügelige Land. Sie sah über die blitzenden Oberflächen der Seen hinweg, ohne sie zu bemerken. Dryw bereitete mit dem Elfen Ap Cein ihre Abreise vor. Sie hatte das Gefühl, etwas zu verlieren … Nach allem, was geschehen ist, kann es doch nicht so enden! Bis zur Haraleah waren die Dämonen vorgedrungen. Sie hatten eine Spur der Verwüstung hinterlassen.
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Überall hatten sie von den furchtbaren Kämpfen gehört, die zwischen Drachen und Dämonen getobt hatten … »Einhörner kamen und wollten ihnen beistehen: – Und nun? Nun sind alle tot!« hörte sie hallend das tränenlose Schluchzen einer alten Frau in ihrer Erinnerung. »Mit ihnen ist das Schönste von der Welt verschwunden. Woher soll neue Hoffnung kommen?« Niemand wußte eine Antwort. Sheehan spürte die Leere wieder, die sie ergriffen hatte, als sie in Liosliath ankamen. Sie erinnerte sich an den resignierten Ausdruck in den jadefarbenen Augen des Elfenkriegers, der sie in die Stadt geführt hatte. Beinahe noch furchtbarer war der Blick Ap Ceins gewesen. Wenn nicht einmal die Elfen mehr hoffen konnten, wie sollte es dann den Menschen gelingen? Sheehan wandte sich um und betrachtete den Raum. Er war schlicht. Vor dem Fenster stand ein polierter Tisch, auf dem einige Kräuter herumlagen. Im hinteren Teil des Raumes befand sich nur ein einfacher Schrank und ein Bett. Sheehan trat an das Lager. Ihr Blick strich über die leblosen Züge des Bewahrers. Sie wußte, er konnte nicht sterben, aber sie fühlte sich, als sei er bereits tot … Sie ließ sich neben ihm nieder. Worauf hoffte sie? Was wollte sie von ihm? Wonach verlangte es den Menschen so dringend? Wie sollte er es ihnen je geben? »Ich würde dir beistehen, wüßte ich wie«, flüsterte sie und berührte ihn sanft. Er zitterte kaum merklich. »Was haben sie dir angetan, diese verfluchten Dämonen?! Sie sollen in der Hölle schmoren! Wenn ich je einem dieser Biester begegnen sollte, werde ich es rächen!« Doch das war nicht mehr nötig, und sie wußte es. Sie waren fort wie die Drachen, die Einhörner und unzählige Menschen. Fort, wie ein Teil von ihr. Sie spürte heiße Tränen in die Augen steigen. »Verdammt! Jetzt nicht das noch!« Wütend wischte sie mit der Faust über ihr Gesicht. »Sieh, was du anrichtest!« warf sie ihm leise vor. Er jedoch lag still und unbewegt, wie tot.
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»Ich kann dich verstehen. Ich wollte auch nicht wieder erwachen, wäre ich du. Aber, zum Teufel, das ist doch keine Lösung! Willst du die Ewigkeit verschlafen?!« Als er nicht reagierte schlug ihre Verzweiflung in Zorn um. Sie packte ihn an den Schultern und riß ihn hoch. Heftig schüttelte sie ihn. »Mach endlich die Augen auf, damit wir wissen, was los ist! Alle sagen, du bist unsere Hoffnung. Was sollen wir tun, wenn du tot bist?!« Er brachte ihr keinen Widerstand entgegen. Sie hielt den leblosen Körper im Arm und drückte ihn an sich. »Verdammt, es … es tut mir leid!« Vorsichtig legte sie ihn zurück und betrachtete ihn stumm. Sie wußte nicht, wie lange sie so gesessen hatte, als sie plötzlich eine Berührung an der Hand spürte. Seine Finger schoben sich unendlich langsam über ihre. Sie fühlte ihren Griff kaum, so schwach war er. Sprachlos starrte sie ihn an. Seine Augen waren immer noch geschlossen, aber seine Lippen formten tonlos einen Namen. Sheehan bemerkte den alten Elf nicht, der hinter ihr stand. Seine bernsteinfarbenen Augen waren dunkel vor Schmerz, denn er hatte den Namen erkannt …
∞ Er bot einen traurigen Anblick. Mit kraftlos herunterhängenden Armen verharrte er am großen Platz, obwohl niemand mehr zu sehen war. Was soll ich ihm sagen? Sart war es am schwersten gefallen zu gehen, und das, obgleich sein Schwur eine Strafe hatte sein sollen! Blyann mußte ihn fast zwingen, den Dhraghonyies und den Menschen zu folgen … Er sah immer noch in die Richtung, in die alle verschwunden waren. Zwiespältige Gefühle rangen in ihm um Herrschaft. Etwas sagte ihm, daß ihr Abschied richtig war. Sie hatten ihren Eid über das Maß erfüllt. Sie hatten nun ein Recht auf ihr eigenes freies Leben … Was hat Aodhan verbrochen, daß ihm dieses Recht
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verwehrt wird? Bitterkeit stieg in ihm auf, doch sie war nicht von Dauer. Angst löste sie ab. Wie würde Aodhan es auffassen, sich von allen verlassen zu fi nden? Er erinnerte sich an die Leere in dem tiefen Schwarz, als Feochadan gegangen war … Blyann hatte gefürchtet, es würde ihn zerbrechen. Langsam wandte er sich um. Mit schleppenden Schritten ging er zum Haus zurück. Er fühlte sich sehr alt. Ein Zittern durchlief den Elfen, als er die todesbleichen Züge seines Zöglings vor sich sah. Wie lange wird sein Schlaf dauern? Er hatte die Ewigkeit vor sich, was bedeuteten da Jahrhunderte oder gar Jahrtausende? Die Zeit zerrann zwischen Blyanns weißen Fingern wie unhaltbares Wasser. Was würde geschehen, wenn auch er nicht mehr da sein konnte …? Aus dem geöffneten Fenster drang eine leise Stimme zu ihm. »… und wieder zogen sie aus. Neun Schwärme herrlich singender Vögel …« Blyann sah hinein. Neben Aodhan saß ein junger Elf. Sein langes blondes Haar war in Zöpfen geflochten, wie es Krieger trugen. Jadefarbene Augen waren unbeirrt auf den Bewußtlosen gerichtet, während er die alte Legende, an die sie als Kinder geglaubt hatten, zum unzähligsten Mal zitierte. Aodhan wird nicht allein sein … Leise, um nicht zu stören, trat Blyann ein und setzte sich ans Fenster. Er lauschte dem jungen Elfen und hoffte, daß Aodhan ihn hörte und verstand. »… neun mal zwanzig Vögel. Sie flogen zu Paaren und trugen Ketten aus dem berühmten Brugh-Silber, das fester ist als Stahl und niemals mehr geschmiedet wurde seit die Stadt verschwunden war. Viele Blicke folgten ihnen, und einige machten sich auf, mit ihnen zu gehen. Unaufhörlich flogen die Schwärme und sangen. Sie zogen durch die Jahreszeiten und suchten nach Anhängern, doch niemand konnte Schritt mit ihnen halten – zu weit war der Weg und zu gefährlich. Dann, irgendwann, waren sie verschwunden. Man sagt, sie kehrten zurück in
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die Stadt, um einen anderen Weg zu fi nden, sie aus dem Bann zu befreien. Aus einen Bann, den sie sich selbst auferlegt hatte, weil sie das Wissen des Rades nicht verstand, es aber trotzdem genutzt hatte. Viele Tränen waren vergossen worden deshalb – und viel Blut. Kriege tobten zwischen den Rassen, denn ihre Augen sahen nichts. Die Elfen von Brugh na Boinne waren blind für den Sinn der Worte in dem Buch der Alten, das sie in den Silberminen gefunden hatten, das nun den Grund für den Zwist darstellte, mit dem sie sich selbst verfluchten, als sie unwissend seine Magie beschworen. Das Entsetzen war groß und stand in den Augen derer, welche die Stadt belagert hielten. Plötzlich waren die hellen Zinnen verschwunden. Nichts erinnerte an die leuchtenden Straßen, als die Sonne am Horizont erschien und über unberührte Hügel strich. Die Belagerer flohen, aus Angst vor der Magie. Nur wenige warteten, Tage, Wochen. Und dann erschienen sie: Neun Schwärme herrlich singender Vögel …« Blyann betrachtete den Erzähler. Alles war falsch. Sie hatten bis heute nichts gelernt. Sie wußten immer noch viel und verstanden nichts. Es war unsinnig die jungen Elfen auszuschicken die Stadt zu suchen. Sie würden sie nie fi nden – und nun, wo es keine Drachen mehr gab erst recht nicht. Wie sollen sie etwas verstehen, das sie nicht kennen? Blyann wußte, der junge Elf hatte sich bemüht, zu lernen. Er hatte geglaubt, ihm könnte es gelingen, er hatte selber darauf vertraut … Jetzt schien es, als hätte er alle Hoffnung verloren, nein, nicht alle … Die jadefarbenen Augen suchten nach einem Lebenszeichen in den verschlossenen Zügen Aodhans. Der junge Elf klammerte sich an den Bewahrer wie ein Ertrinkender an einen Grashalm. Blyann schüttelte bedauernd den Kopf. Aodhan würde ihm nicht helfen können.
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Dunkel. Wie lange ist es schon so dunkel? Er spürte Licht. Es war ganz nahe, aber er wollte noch nicht hineinsehen. Er war so schrecklich müde … Alles tat ihm weh. Alles ging nur so mühsam, das Atmen, das Denken, das Träumen … Die Träume … Manches, was er sah, war geschehen, bei manchem war er nicht sicher. Er erinnerte sich an das Tor. Es war wirklich gewesen, so wirklich wie der Dämon, der ihn angegriffen hatte. Warum war er nicht tot? Er hatte gefühlt, wie das Schwert in seine Schulter gefahren war … »Ein Traum. Das Metall wurde zerschmettert, ehe es dich treffen konnte.« Eine Stimme. Er erschauerte bei der Erinnerung an den Dämon. Es war nicht diese Stimme, deren Klang er kannte.Trotzdem verstand er nicht, weshalb er überlebt hatte. Der Strudel, aus dem die furchtbaren Wesen ihre Macht bezogen, war so unwiderstehlich gewesen. Er war sicher, seinem Locken nachgegeben zu haben … »Ein Traum. Du hast das Tor und den Strudel verschlossen, ohne einzutreten.« Er hatte sich zerstört gefühlt, als er Lazzard sterbend auf den Stufen fand, und unendlich schuldig. Er war am Ende gewesen. »Ein Traum. Es war dein Anfang.« Ein Anfang? Er war zu erschöpft, ihn zu beginnen. »Eure Energie kehrt wieder. Bald seid ihr erholt, habt neue Kraft – mehr als je zuvor! – Wie die Blumen nach dem Winter. – Dies ist euer Winter.« Er verstand nicht sofort. Unser Winter? fragte er in die friedliche Finsternis. »Ja, natürlich, verzeih! Ihr seid eins. Du bist Lemniskate.« – Der Kristall. Er erinnert sich an das rote Glühen. Es hatte ihn begleitet und geschützt vor den Dämonen. »Und vor mir!« Ja, auch vor Euch, Lord. Er spürte das schmerzliche Lächeln, das um die kalten Lippen spielte, in der Dunkelheit. Er wußte, er nahm es ihm nicht übel. Wie sollte er auch, schließlich mußte sich selbst der Lord dem Rad unterwerfen. Seine Gedanken schweiften zur Unendlichkeit des nächtlichen Himmels. Das Rad. Wie es wohl war?
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Er verlor sich in dem weiten Blau und vergaß seine Gedanken. Lord? »Ich bin da.« Warum? – Ist meine Zeit doch um? Gibt es sie nicht, die Unsterblichkeit? Er hörte ein leises Lachen. »Deine Hoffnung schwindet wohl nie? – Du schläfst.« Seid Ihr auch der Schlaf? »Nur für dich und auch nicht immer. Ich bin hier, über dich zu wachen.« Der Tod behütet die Unsterblichkeit? zweifelt er. »So will es das Rad: Gegensätze umschlungen im Gleichgewicht.« Gleichgewicht?! Die Unsterblichkeit ist ziemlich unterrepräsentiert, meint Ihr nicht? Der Lord schmunzelte belustigt. »So? Wieviele Tode kennst du?« Oh, da gäbe es einige! Verbrennen, Erfrieren, Ersticken, Ertrinken … »Halt, halt«, bremste er ihn. »Siehst du nicht? Es ist gleich, ob jemand durch Gewalt oder an Altersschwäche stirbt. Am Ende ist der Tod und zwar immer nur der eine.« Er hatte recht. Und all die Toten? Was geschieht mit ihnen? Sie folgten Euch in der Wilden Jagd. Ihr seid in der Überzahl! »Nein.« Warum nicht? Wohin gehen sie, kehren sie zurück? Der Lord blieb ihm die Antwort schuldig. Wenn sie wiederkommen wären sie unsterblich, und es gäbe kein Gleichgewicht. Was soll ich da noch? »Du weißt es.« Warum soll ich mich an sie erinnern, wenn sie doch wiederkommen? »Damit das Gleichgewicht bestehen bleibt. Sie erschienen nie mehr als das, was sie waren. Es wird keine Drachen geben, auch keine Einhörner, keine Madawc und auch keine Feochadan. Du solltest das Wissen um sie bewahren, wie du alles nicht vergißt, was ist und sein wird.« Der Lord sprach wahr. Er wußte es. Er versuchte auch nicht mehr, es zu leugnen, aber jetzt wollte er nicht darüber nachdenken. Er war so müde. Stumm lauschte er in die wohlige Dunkelheit. Er fürchtete sie nicht. Der Lord war bei ihm. Wieder hörte er von fern Stimmen und erwartete voller Vorfreude die Träume, die sie in ihm auslösen würden. Oh, diese Träume waren so schön, so unschuldig und glücklich. Caerdale im Sommer. Wie viele Feste hatten sie gefeiert! Feochadan lachte und wirbelte ausgelassen herum. Ich bin schneller bei der alten Buche als du! behauptete sie herausfordernd. Wie schön ihre grünen Augen in der Sonne blitzten. Wenn du reiten willst … neckte er sie liebevoll und folgte
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ihr, als sie leichtfüßig davonrannte. Wie immer, wenn sie spürte, daß sie ihm nicht entkommen konnte, stellte sie sich ihm lachend entgegen. Die Blumen auf den weichen Hügeln dufteten zu verlockend. Er riß sie mit sich zu Boden und sie kullerten den Hang hinunter. Wieso erinnert er sich an sie? Sprach sie zu ihm? War sie da? Ja. Er fühlte ihre Nähe. Sie klang so weise … wie Madawc. Er versuchte die Augen zu öffnen. Er wollte sie sehen. »Nein. Tu es nicht. Du bist zu erschöpft. Verschwende deine gerade gewonnene Kraft nicht.« Warum nicht? fragte er unwillig. Weshalb soll ich sie nicht sehen? Ist sie so alt geworden … oder gar so wie in dem Alptraum? Er erschauerte unter der Erinnerung. Sein Herz schlug einen Hauch heftiger. »Nein, aber du solltest sie so bewahren, wie du sie jetzt in dir trägst.« Ich verstehe das nicht. Warum darf ich nur an ihre Jugend denken? Sie ist ein Mensch. Sie muß altern. Der Lord wich ihm aus. »Das Rad hat seinen Grund.« Das Rad, brauste er auf. Das Rad! – Immer das Rad! Warum weiß ich nie, was das Rad will und was nicht?! »Du wirst lernen, es zu wissen.« Wie er diesen Satz verabscheute! Blyann hatte ihn schon als Kind mit ihm gequält, bis er ihn mit den Tinkers fortgeschickt hatte … Er spürte Bitterkeit seine Kehle aufsteigen und zwang sie beharrlich zurück. Für eine Weile gab er sich dem stillen Dunkel hin. Der Klang einer anderen Stimme beschert ihm neue Phantasien. Caer an Beag. Der See in der Höhle plätscherte leise gegen die felsigen Ufer. Neben ihm atmete jemand gleichmäßig und ruhig. Er war glücklich, diese vertraute Geräusch zu hören, das ihm sogar näher war als Feochadans Atem. Es lag länger zurück, viel länger … Ein zufriedenes Seufzen drang zu ihm. »Ja«, bestätigte eine verträumte Jungenstimme. »… und dann, wenn alle Abenteuer bestanden sind, dann werden sie sich uns zeigen. Du siehst sie bestimmt zuerst, aber ich werde sie zuerst hören!« Neun Schwärme! »Neun mal je zwanzig Vögel, die lieblich singen …« … und zu Paaren fliegen … »Jedes durch eine leise klingende, silberne Kette verbunden.« Er sah sie vor sich und war voller Sehnsucht, ihnen zu folgen. »Sie werden uns führen an den Ort!«
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Plötzlich war es bedrückend still neben ihm. Er wußte, Lannard war dort. Wie alle Elfen, war auch er aufgebrochen, Brugh na Boinne zu fi nden – die verlorene Stadt der Elfen. Die Sagen, welche die Menschen um sie ranken ließen, ahnten nichts von ihrer wahrhaften Bedeutung! Sie wußten nichts von dem Grund für die Kämpfe. Sie wußten nichts von dem Buch der Alten, in dem alles Wissen, alle Magie festgehalten war. Vielleicht war es ein Buch des Rades … Vielleicht war es gut, daß die Menschen nicht davon wußten. Er erschauerte bei der Erinnerung an Fuathas’ und Seaghdas Gier nach Macht. Die Sehnsucht in ihm, auch nach der Stadt zu suchen, wurde fast unerträglich. Wieder sah er Lannard allein aufbrechen. Wie hatte er seinen besten Freund darum beneidet … Ich habe ihn fast dafür gehaßt. Blyann hatte Aodhan erzogen wie einen Elf, aber er war kein magisches Wesen und durfte deshalb an der Suche nicht teilhaben … Blyann hat mir nicht vertraut. Er hatte befürchtet, er könnte der Versuchung nicht widerstehen … Die alte Bitterkeit stieg in ihm auf. Es hatte ihn tief verletzt. Das war der Grund für seine waghalsigen Abenteuer gewesen. Weil er die Sehnsucht, mit den anderen zu suchen, nicht stillen durfte, wandte er sich dem Tod zu und strebte ihm entgegen. Er hatte Blyann und die anderen für seinen Ausschluß mit seinem Tod bestrafen wollen. Aber der Lord hatte ihn nicht mit sich genommen, obwohl er seine Nähe oftmals gespürt hatte. Wußtet ihr von meinem Schicksal? fragte er leise. Nein, das war Unsinn. Der Diebstahl des Steins beruhte auf Zufällen. Oder? War er so berechenbar? Hatte er Lemniskate etwa deshalb genommen, um sich die Suche nach Brugh na Boinne zu erkaufen? Er war den Drachen immer sehr verbunden gewesen … Er liebte Feochadan über alles … Aber sie waren beide nicht der Grund für seine Tat gewesen, was er sich erst jetzt eingestand … Lord? Ist das wahr? »Du weißt es. – Es ist Zeit.« Ist es wahr? »Du mußt jetzt erwachen, Aodhan. Du hast wieder genügend Kraft.« Ich will nicht zurück, zumindest jetzt noch nicht. Ich beginne zu verstehen!
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»Jemand braucht dich jetzt, mein Junge. Ihm ist es gleich, ob du schon alles verstehst, er braucht dich.« Aodhan zuckte zusammen. Blyann?! Was ist mit ihm? »Beruhige dich, es ist nicht Blyann.« Aber … »Öffne die Augen und du wirst sehen!« Lord. Er bekam keine Antwort mehr. Statt dessen drang durch das Dunkel wieder das Geräusch des Atems. Es klang verändert und doch schmerzlich vertraut. Zögernd blinzelte er. Es war sehr hell. Die Sonne warf bunte Blätterschatten an die weißgetünchte Decke. Vögel trällerten und Bienen summten draußen. Durch das geöffnete Fenster strömte süße Frühlingsluft. Tief atmete er ein und wandte den Kopf zum Fenster. Dort stand ein hochgewachseneer junger Elf. Lange Kriegerzöpfe fielen über hagere Schultern. Unter dem schlichten, hellen Gewand steckte ein durch Entbehrungen ausgezehrter Körper. Seine Haltung war würdevoll. Aodhan erhob sich leise. Der Elf war zu vertieft, um es zu bemerken. Seine jadefarbenen Augen sahen aus dem Fenster, blickten aber in sich selbst. Langsam ging Aodhan auf ihn zu. Er fühlte sich noch etwas unsicher auf den Beinen, aber mit jedem weiteren Schritt strömte die Kraft in ihn zurück. Dicht hinter dem Krieger blieb er stehen. Er schaute in die Richtung, in die der Elf zu sehen schien. »Norden? Was ist dort?« fragte er leise. Der Elf fuhr herum und starrte ihn an. »Du siehst gut aus, Lann‘«, urteilte Aodhan. »Wie ein halb verhungerter Wolf.« Der Elf rang sichtbar um Fassung. Endlich fiel die Lähmung von ihm. Heftig umarmte er Aodhan, der seine Erleichterung spürte und dem der feuchte Glanz in den Augen seines Freundes nicht entging. Er schob ihn etwas von sich, ließ ihn jedoch nicht los. Ihre Blicke verschmolzen ineinander. Ohne etwas zu sagen, erfuhren beide, was der andere erlebt hatte, seit sie vor dreißig Jahren getrennt worden waren.
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Neunzehntes Kapitel Lannard saß neben dem Bett. Obwohl Aodhan mehrfach beteuert hatte, es ginge ihm gut, bestanden seine elfischen Freunde darauf, daß er bis zu seiner völligen Genesung liegenblieb. Lannard verkürzte ihm diese Zeit durch lustige Erzählungen von seinen Reisen. Sein Lachen aber war nicht bei der Sache. Dem Schwarz entging der schmerzliche Ausdruck in den dunkel gewordenen Elfenaugen nicht, als sie gedankenverloren ins Nichts sahen. »Woran denkst du jetzt?« fragte Aodhan leise. Lannard erwiderte seinen Blick und schüttelte den Kopf. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß die Geschichte wahr ist … Du bist nicht mehr wie früher, aber so sehr hast du dich nicht verändert.« Aodhan lächelte, denn Blyann war da ganz anderer Meinung. »Weißt du, ich habe das Lied gehört«, Lannard musterte ihn forschend. Er wollte nicht zu weit vorstoßen. Da ihm Aodhan offen begegnete, tastete er sich behutsam weiter. »Es klang sehr nach dir, trotzdem konnte ich es nicht glauben, nicht einmal, als Blyann es bestätigte.« Aodhan legte den Kopf schief. »Und? Was denkst du jetzt?« Der Elf zögerte. Seine jadefarbenen Augen suchten nach einer Antwort. Sprich nicht davon in seiner Gegenwart! hallte Blyanns Ermahnung durch seine Gedanken. Schließlich zuckte er die Schultern. »Für mich bleibst du, wie du bist«, stellte er fest und bemerkte den gequälten Zug um Aodhans Lippen nicht. Er hat ja so recht! Aodhans Blick senkte sich. »Du bist nicht mehr, wie du warst, Lann‘ …«, sagte er leise. Lannard wandte sich ab und erhob sich. »Nein«, bestätigte der Elf mit brüchiger Stimme und sah aus dem Fenster. Er räusperte sich. »Es ist schön heute. Morgen werden wir einen Spaziergang machen, ja?« Aodhan ließ sich nicht ablenken und blieb hartnäckig. »Was ist geschehen?« »Wir können zur Lichtung gehen, dort ist den ganzen Tag Sonne. Die frische Luft wird dir gut-
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tun.« Beinahe verzweifelt rang der Elf um Worte. Aodhan schlug die Decke zurück und trat hinter ihn. Mit sanfter Gewalt zwang er ihn, ihm ins Gesicht zu sehen. »W a s i s t g e s c h e h e n ?« Der Elf zitterte. Seine Kiefermuskeln spannten sich unter der hellen Haut. »Was ist so furchtbar, daß du es mir nicht sagen willst? » »Das fragst du? Hast du Blyann oder irgendjemand anderem erzählt, was in Dun na h-Eoin geschehen ist?« fuhr Lannard auf und machte sich aus seinem Griff frei. Sie starrten einander schweigend an. Aodhan schluckte schwer. »Nein, aber wenn es der Preis dafür ist, daß du mir sagst, was dich bedrückt, werde ich es tun.« Lannard betrachtete ihn sprachlos. Er ahnte, was es ihn kostete und daß es ihm ernst damit war. Er blickte in tiefes Schwarz und konnte bereits die Pein seiner Erinnerung fühlen. »Tu es nicht, dieser Preis ist zu hoch«, sagte er leise und ergriff seine Hand. Sie war eiskalt. Lannard senkte den Kopf. »Ich habe versagt«, stieß er mit rauher Stimme hervor. Aodhan lächelte mitfühlend. »Wie viele vor dir und viele nach dir …« »Du verstehst das nicht!« brauste der Elf auf. Ich habe das Vertrauen, das Blyann und die anderen in ihn gesetzt hatten, nicht verdient! »Warum nicht? Weil ich kein Elf bin?« Der bittere Ton in Aodhans Stimme erschreckte Lannard. »Ich bin kein Elf, du hast recht, aber ich weiß, wie es ist, zu versagen! Alles, was ich tat, ist, obwohl es mir augenscheinlich glückte, verloren gewesen. Verloren, wie mein Ziel!« »Du hast ein neues Ziel.« Aodhan lachte freudlos auf. »Welches denn?« Der Elf starrte ihn mit offenem Mund an. Der Bewahrer der Ewigkeit weiß nicht, was er tun soll?! »Bist du deshalb nach Dun na h-Eoin zurückgegangen, um dort ein neues Ziel zu fi nden?« fragte er ungläubig. Aodhans Nicken machte Lannard betroffen, seine Antwort jedoch erschütterte ihn. »In Brugh na Boinne d u r f t e ich nicht suchen.« Schuldbewußt senkte Lannard den Kopf. Ich bin ein Narr gewesen! So ein dummer Narr! Er hätte es wissen müssen!
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Unzählige Tage vor seinem Aufbruch hatten sie in ihrer Höhle vor der Stadt gesprochen. Für sie hatte es keinen Zweifel gegeben: Sie würden alle Abenteuer Seite an Seite bestehen. Sie hatten sich bereits als viel besungene Helden gesehen. Sie wußten, daß sie Brugh na Boinne gemeinsam fi nden würden … Es muß Aodhans Herz gebrochen haben! Blyann hatte ihm gesagt, daß er ihn nicht begleiten durfte, weil er ein Mensch war. Lannard erinnerte sich an den Abschied. Sein Freund hatte gelächelt und ihm alles Gute gewünscht … Er hatte die Sehnsucht in den schwarzen Augen nicht gesehen. Wie blind er gewesen war! Hilflos und voller Scham stand er nun Aodhan gegenüber. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Er konnte mit keinem Wort das ungeschehen machen, was er ihm angetan hatte. Niemals.
∞ Unruhig wälzte sich Lannard hin und her. Immer wieder sah er ihren Abschied im Traum. Lachend folgte er ihrem Lehrmeister, während Aodhan zurückblieb. Er wandte sich nicht um und ging. Nach wenigen Schritten verschwand der Weg vor ihm. Es war kurze Zeit dunkel. Dann hörte er Cein die traditionelle Verabschiedung sprechen, und sie brachen auf. Aodhan blieb zurück. Er wußte nicht, wieviele Male es sich wiederholte. Plötzlich, aus irgendeinem Grund, sah er sich auf halbem Wege doch um. Blyann und Cein hielten Aodhan fest, der sich heftig wehrte und verzweifelt etwas rief. Er konnte ihn nicht verstehen und ging einige Schritte zurück. »Lannard! Lann‘!« Der Klang seiner Stimme schnitt tief in sein Herz. Er wollte umkehren, aber mit jedem weiteren Zoll, den er sich ihm näherte, verblaßte er zusehends. Wogende Farben ließen vorbeihuschende Landschaften erahnen. Unvermittelt fand er sich auf einem schimmernden Berg
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und blickte zum Himmel. Der Wind wischte Wolken beiseite. Es wurde dunkler, dunkler, schwarz. Schwarz, wie Aodhans Augen, wie die Nacht … Da erregte etwas seine Aufmerksamkeit. Ein Stern? Es war kein Stern. Er hörte einen Gesang, den er nie zu vernehmen erwartet hatte. Die Schwärme! frohlockte er und blickte ihnen erwartungsvoll entgegen. Ja, sie sangen die Melodie der alten Sagen, aber die Worte … es waren nicht die überlieferten. Er verstand sie nicht. Das erste Paar des ersten Schwarmes erreichte ihn. Gebannt betrachtete er die Schönheit der Vögel. Er ließ sich von ihrem Anblick so sehr gefangen nehmen, daß er vergaß, ihnen zu folgen. Das letzte Paar des letzten Schwarmes löste sich plötzlich aus der in der Dunkelheit verschwindenden Formation und kam zu ihm zurück. Es kreiste über ihm und rief ihm etwas zu. »Vertrauen … Aodhan …«, war alles, was zu ihm drang, und er wertete es als Vorwurf. Ja, Aodhan hat mir vertraut, er hat uns allen vertraut, und wir haben ihn derart verstoßen! »’dhan!« Keuchend fuhr Lannard auf und fand sich in seinem Bett. Es war tiefste Nacht. Alles war ruhig. So ruhig, daß ihm sein beschleunigter Herzschlag übernatürlich laut vorkam. Er ging zum Fenster und sah zum Himmel. Er glaubte, in Aodhans Augen zu blicken. »Es tut mir leid …«
∞ Der Mond schien silbern und erleuchtete die schlafenden Hügel mit seinem Glanz. Die Seen blitzten ihm Grüße zu, während sich die Gräser ihrer Ufer in ihnen eitel spiegelten. Außer ihrem sich selbst bewundernden Wispern war es still. Aodhan konnte nicht schlafen. Er hatte es versucht, denn er wollte mit dem Lord sprechen. Er war kurz vor der Antwort
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gewesen, als er aus seiner Bewußtlosigkeit erwachen mußte! Sie liegt in der verlorenen Stadt. Aber er durfte sie nicht suchen. Verdammt! Er war ein Mensch, ohne Magie! Ein Stern fl immerte und schien für einen winzigen Augenblick rot zu sein. Ohne Magie? Seine Hand berührte die Narbe an seiner Stirn. Magie hatte ihn geschützt und ihn unterstützt. Lemniskate war immer gegenwärtig. Er fühlte die Anwesenheit des Kristalls in sich. Sie waren eins. »Wenn es so ist, habe ich die Macht und kann sie nutzen.« Er sah sich suchend um. Sein Blick blieb an einem kleinen Felsen haften. »Lemniskate? Habe ich recht? Zeig es mir!« forderte er leise und starrte auf den Stein, der sich jedoch nicht rührte. Das rötliche Leuchten, das sich in Ruadhan gezeigt hatte, blieb aus. »Aodhan?« Er fuhr wie ertappt herum und blickte in Blyanns besorgte Augen. Der Elf trat näher. »Findest du keine Ruhe?« erkundigte er sich. Aodhan schüttelte den Kopf. Die weiße Hand seines Ziehvaters legte sich scheu auf seinen Arm. Sie zitterte leicht. Große Angst klang in Blyanns Stimme mit, als er fragte: »Wirst du es wieder verschweigen?« Verwirrt sah Aodhan ihn an. Dann erkannte er den wahren Kern der Frage. Die Ereignisse am Airgiod beschäftigten Blyann noch heute. Er blickte in dunklen Bernstein und erahnte den Schmerz, den er Blyann zugefügt hätte, wäre ihm sein Versuch gelungen. Beschämt erinnerte er sich an seine für den Elfen ausgewählte Strafe … »Nein, Blyann«, antwortete er mit belegter Stimme und schloß ihn seit sehr langer Zeit wieder in die Arme. »Ich glaube, ich habe es endlich verstanden. Es gibt nichts mehr zu verschweigen.«
∞ Wild rufend trieb er sein Pferd an. Es lag weit vor dem des Elfen, der beachtliche Mühe hatte, ihm zu folgen. Aodhan lachte über die Verärgerung in Lannards Zügen.
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»Komm schon, großer Krieger!« lockte er. »Ich habe dich gleich!« schrie Lannard zurück. Blyann schaute ihnen kopfschüttelnd nach. Sie benahmen sich wie Kinder! Er lächelte, denn zum ersten Mal seit all den Jahren hatte er keine böse Vorahnung. Seufzend wandte er sich ab. Es war ein glücklicher Seufzer … Der Wind fuhr Aodhan warm ins Gesicht. Das Pferd schnaubte übermütig und wurde schneller und schneller. Bald erkannte er den Weg kaum noch. Lannards Stimme hörte er nicht mehr über das Sausen des Windes hinweg. Er duckte sich dichter an den Hals des Pferdes und ließ es laufen. Es war so schön, frei zu sein! Er fühlte sich fast wie die Schwalben, die sie in akrobatischer Flugkunst begleiteten. Das Pferd wurde langsamer, bis es schließlich schnaufend im Schritt ging. Aodhan rutschte gewandt von dem feuchten Rücken des Tieres und begann, es mit trockenem Gras abzureiben. Lannard näherte sich. Er fuchtelte mit den Armen in der Luft herum und brüllte protestierend: »Du bist im Vorteil! Antis ist das schnellste Pferd von Lios!« Aodhan schüttelte den Kopf. »Du kannst nicht reiten!« widersprach er. »Na hoffentlich kannst du laufen!« Damit sprang Lannard ab und rannte auf Aodhan zu. Der wartete, bis der Elf auf eine kürzere Distanz herangekommen war und floh erst dann vor ihm. Der Abstand der beiden verringerte sich, zu Lannards Ärger, um keinen Zoll. Unvermittelt blieb der Elf stehen, Aodhan bemerkte es und wartete. Ihn schien die Hatz überhaupt nicht anzustrengen. Mit vor der Brust überkreuzten Armen betrachtete er abschätzend seinen keuchenden Freund. »Oje, du bist mir ein lahmer Krieger!« Lannard sprang vor, doch Aodhan wich ihm lachend aus. »Versuchst du es jetzt mit Tricks?« »Nein, du hast gewonnen« gab sich der Elf geschlagen. Skeptisch legte Aodhan den Kopf schief. »Wirklich«, versicherte Lannard. »Du bist der Sieger! – Laß dir gratulieren!« Mit ausgebreiteten Armen kam er auf ihn
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zu. Aodhan zögerte – einen Augenblick zu lange, denn Lannard packte ihn und riß ihn zu Boden. Ächzend wälzten sie sich über den sommerlichen trockenen Boden. Aodhan wehrte sich, aber Lannard war stärker. Rittlings saß der Elf schließlich auf seiner Brust und zwang seine Arme neben seinen Kopf. »So, so, ich bin also ein lahmer Krieger, wie?« keuchte Lannard grinsend. »Klar!« »Aber ich habe gewonnen!« Aodhan lächelte großzügig. »Ich verzichte zu deinen Gunsten auf den Siegertitel!« »Mistkerl!« Lannard stand auf und zog ihn hoch. Nachdem sie sich ausgiebig den Staub aus den Kleidern geklopft hatten, stellte Aodhan fest: »Mir ist heiß!« Er wischte sich über die Stirn. »Laß uns baden gehen.« Der Elf warf ihm einen fragenden Blick zu und grinste wieder. »Du bist ganz schön verschlagen!« Unschuldig sah er ihn an. »Wieso?« »Das hättest du auch ohne diese Jagd haben können!« »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.« »Caer An Beag! Warum hast du nicht gleich gesagt, daß du zur Höhle willst?« »Hättest du mich begleitet?« Lannard zögerte und nickte dann bestimmt. Er durfte nicht den gleichen Fehler begehen wie sein Freund. Er mußte in die Zukunft blicken … Entspannt lag Aodhan auf dem warmen, feuchten Felsen. Das Wasser des Sees plätscherte hallend gegen die glänzenden Ufer. Lannard war nicht weit von ihm. Er hörte seinen Atem – ruhig und gleichmäßig. Ihr ausgelassenes, ungestümes Toben im Wasser hatte den Elf so erschöpft, daß er sofort eingeschlafen war. Er hatte schließlich nicht so lange geruht wie Aodhan und konnte seine Kraft nicht haben – niemand kann sie je haben … Es war so friedlich. Aodhan streckte sich und gähnte. Er lauschte verträumt der Komposition der Geräusche um ihn. Fließen. An. Ab. Tröpfeln. Kling, wenn ein vorwitziges Tröpflein auf Lannards abgelegten Dolch traf. Und alles hallte so wunderschön in den Gewölben der Höhle. Entfernt zwitscherten
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Vögel und manchmal summte Wind hauchzart zu ihm. Lannard seufzte im Schlaf. Auch Aodhan spürte, wie er zu den Träumen hinabglitt und erwartete sie freudig. Er sah vertraute Finsternis und begrüßte sie. Ceud failté, Dunkelheit! – Hast du den Lord gesehen? Die Schwärze umfi ng ihn und strich liebkosend über sein Gesicht. Er fühlte ihre Antwort, als sie sich bewegte. »Ich bin hier.« Aodhan wußte aber, daß er träumte. Der Lord war nicht da. Lannard hat versagt. Er nimmt es sehr schwer. Ich habe mit ihm gesprochen, aber ich glaube, er gibt sich immer noch die Schuld. Warum versteht er nicht, daß ihn das Rad lenkt? Warum versteht er nicht, daß das Rad bestimmt, wann Brugh na Boinne gefunden wird? Der Lord schüttelte den Kopf über ihn. »Weshalb bist du bei ihm so ungeduldig? – Du hast über zwanzig Jahre gebraucht, dich an veränderte Gegebenheiten zu gewöhnen. Von ihm erwartest du, daß er seine Niederlage sofort vergißt, nur, weil du es ihm sagst! Wie kannst du von ihm verlagen, die Gedanken des Rades zu verstehen, wenn du sie selbst nicht erfassen kannst?« Ehe er antworten konnte, glitt er in einen anderen Traum. Dumpf hörte er wieder die Geräusche, die ihn umgaben. Lannard murmelte etwas – seine Stimme klang wie damals, als sie Kinder waren. Es war ein Lied – ihr Lied. Die Sage von Brugh na Boinne. Leise summte er mit und sank tiefer in den Traum. Ein Weg lag vor ihm. Lockend und weit. Lannard war hinter ihm. Der Elf sang die Weise aus voller Brust. Mit weitausholenden Schritten gingen sie in das von der Morgensonne beschienene Tal. »Sieh! Da sind sie wieder!« rief Lannard begeistert aus. Aodhan wandte sich um und erblickte Lannard als Kind. Mit leuchtenden Augen wies er zum Himmel. Auch er sah auf. Doch außer bizarren Wolken konnte er nichts entdecken. »Sind sie nicht wunderschön, ’ dhan?« Was meinte er? »’ dhan?« Die Sonne blendete ihn schmerzhaft. Lannard schien sie nicht
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zu bemerken. »’dhan?!« Jemand schüttelte ihn an den Schultern. Unwillig öffnete er die Augen. »Langschläfer! Komm, sonst versäumen wir das Essen!« Noch halb im Traum gefangen, folgte er seinem Freund. Lannard plapperte auf ihrem Rückweg fröhlich auf ihn ein. Er bemerkte seine Veränderung nicht. An diesem Tag war die Prüfung der Schüler Wiells. Zu ihren Ehren wurde am Abend ein Fest gegeben, an dem sie ihr Können zeigen durften. Es war eine besondere Nacht im Leben der Elfen, neben der Verabschiedung zur Suche die bedeutendste überhaupt. Lannard stockte bei dem Gedanken daran kurz in seiner Rede, aber Aodhan fiel es scheinbar nicht auf, so fuhr der Elf fort. Er ahnte nicht, welche Gedanken sich hinter der Stirn bildeten, die durch eine weiße Narbe gezeichnet war. Das Fest war sehr feierlich. Trotz mancher etwas kecken Texte wurde doch der Ernst des Abends gewürdigt. Die Eltern der Vortragenden waren von Stolz erfüllt, und auch Wiells Augen leuchteten. Als die Spannung von seinen Schülern fiel, hüpften sie unbefangen zu den lustigen Melodien, die bis weit aus der Stadt zu hören waren. Nur zwei Gäste des Festes fühlten sich in diesem Rahmen nicht besonders wohl. Alte Erinnerungen und Ereignisse lasteten über Lannard und Aodhan. Unbemerkt zogen sie sich nacheinander zurück und verschwanden in der ruhigeren Dunkelheit. Jeder allein mit seiner Vergangenheit. Lannard hatte Aodhans Augen während der gesamten Ansprache durch Cein auf sich ruhen gefühlt. Er erschauerte, als ihm sein Traum einfiel. Sein Freund würde es ihm nie verzeihen! Nie! Wie sollte er auch?! Sie, die Elfen, hatten ihm eine Wunde zugefügt, die ihn hätte töten können, wäre Lemniskate nicht ge-
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wesen! Er zuckte zusammen, als ihm klar wurde, wie wahr seine Anschuldigung war. Wenn die Erzählungen stimmten, muß Aodhan dem Tod mit offenen Armen entgegengelaufen sein! Lannards jadefarbene Augen blickten hilfesuchend zu den Sternen. »Was kann ich für ihn tun?« Diese Frage stellte Schwarz, in dem sich sternensilbriges Licht spiegelte, zur gleichen Zeit. Aodhan hatte Lannards Unbehagen voller Sorge bemerkt. Sein Freund quälte sich mit Selbstvorwürfen, nur wegen der vergeblichen Suche! Er fühlte, daß er sie ihm nicht würde ausreden können. Es muß einen anderen Weg geben … Tief in seinem Innern wußte er die Antwort schon, aber wie viele Male vorher wollte er es nicht zugeben.
∞ Es war spät, und Aodhan ging zu Bett. Schon im Einschlafen wehrte er sich immer noch gegen sein Wissen. Plötzlich fand er sich auf dem Weg seines Traumes wieder. Lannard starrte noch immer verzückt zum Himmel. Er war älter. Aodhan konnte wieder nur Wolken sehen. Sie rissen auseinander, ehe er Lannard fragen konnte, was er dort sah. Ein weißes Licht schien zu ihnen. Der Mond … Oh, nein! Es war nicht der Mond! Es raste auf ihn zu. Entsetzt wich er zurück. Bald füllte es den ganzen Himmel aus. Formen bildeten sich aus ihm. Schrecklich vertraut und furchtbar verändert starrte Blyann mit sprühenden Augen und gebleckten Zähnen auf sie hinab. »Du!« donnerte seine Stimme zu ihm. Voller Schrecken spürte er, daß die grausigen, kreisenden Augen ihn ansahen und drohend über ihm schwebten. »Du!« Lannard trat eingeschüchtert von ihm zurück. »Du bist ein Mensch! Kein magisches Wesen! Du darfst nicht gehen!« Lannards entsetzter Blick brannte in seinem Rücken. Plötzlich starrten ihn unzählige Augenpaare an, und alle hatten es gehört!
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Er zitterte unter ihrem Blick. Lord! schrie er flehend und voller Scham. Lord! Warum kam er nicht, ihn zu erlösen? Warum ließ er ihn so leiden? Panik ergriff ihn. Wohin sollte er? Alle sahen ihn! Alle wußten es! »Nein!« widersprach Lannard dem schrecklichen Wesen. Erleichtert fuhr Aodhan zu ihm herum. Der Elfenkrieger dieser Zeit stellte sich voller Mut dem schaurigen Monster in Blyanns Gestalt entgegen. »Wenn einer die Stadt suchen darf, so ist es der Bewahrer. Denn er trägt die Magie des Rades in sich, mehr Magie, als alle Elfen zusammen haben. Er wird sie finden!« Mit zornigem Brüllen verblaßte das Wesen angesichts der reinen Wahrheit und verschwand. Lannard lächelte Aodhan aufmunternd zu und deutete nach oben. Zögernd sah er in die Richtung. Silberketten blitzten und Federn glänzten in der aufgehenden Sonne! Aodhan erwachte durch sein eigenes Schluchzen. Er spürte die Spuren seiner Tränen im Gesicht und fühlte sein Herz heftig gegen die Rippen hämmern. »Kann es sein …?«
∞ Schweigend schauten sie in das noch dunkle Tal. Früher waren sie oft hier gewesen. Man konnte fast ganz Lios von diesem Berg aus überblicken. Dunstige Schleier schwebten nun über Seen, Weiden, Wäldern, bereit, von der Sonne verscheucht zu werden. Am Horizont entstand ein gleißend heller Punkt, der rasch größer und wärmer wurde. In den Bäumen um sie begannen Vögel verschlafen, die Sonne zu begrüßen. »’dhan?« Er zuckte kaum merklich zusammen. Lannards Stimme klang wie in seinem Traum. »’dhan, erinnerst du dich an früher? Weißt du noch, wie wir Cein immer Streiche gespielt haben?
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Oder die Geschichte mit dem jungen Wolf! Du wolltest unbedingt einen Wolf zähmen! Wie Blyann geschimpft hat!« Tiefes Schwarz berührte ihn. »Caer An Beag … Und hier, unser Aussichtspunkt!« Lannard wich seinem Blick aus und sah über das Land. »Wir hatten alles genau geplant, weißt du noch? – Sogar, wer wann Wache halten sollte. Du konntest dich immer nicht entscheiden. Wir wollten uns abwechseln.« Er erhob sich von dem kleinen Felsvorsprung und sah weiter angestrengt in die Ferne. »Hier haben wir unsere Richtung festgelegt. –Wohin wollten wir zuerst? Norden?« Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie sein Freund zusammenzuckte. Mit enger Kehle fuhr er fort. »Ich war im Westen. Dort ist es auch nicht …« Seine jadefarbenen Augen suchten seinen Blick. Er konnte ihnen nicht ausweichen. »Wohin wollen wir?« Aodhan schüttelte den Kopf. »Du weißt, ich kann nicht …« »Doch, du kannst! Sieh dich an! Du bist der Bewahrer! Du bist die Erinnerung der Welt! Du m u ß t Brugh na Boinne fi nden und für immer bewahren!« Aodhan sprang auf. Bedenken und Sehnsucht stritten in ihm. »Ich bin ein Mensch!« »Du bist der Bewahrer! Lemniskate, Magie!« Er spürte die Hand des Elfen auf seiner bebenden Schulter. »Wir werden sie fi nden, ’dhan. Wir waren uns so sicher!« Zweifelnd blickte ihm Aodhan in die hoffenden Augen. »Ich hatte einen Traum, ’dhan. Ich verstand ihn zuerst nicht. Ich sah die Schwärme – in deinen Augen spiegelte sich ihr Bild! Aber sie verschwanden. Ein Paar jedoch kehrte zurück. Ich glaubte, sie verurteilten meine damalige Blindheit, dabei riefen sie uns zu. Uns, ’dhan! Wir werden sie sehen! Sie sind zu uns zurückgekommen!« Erwartungsvoll sah Lannard ihn an. Sollte Aodhan ihm sagen, daß er einen ähnlichen Traum gehabt hatte? Durfte er seinem Drängen nachgeben? Belog er sich selbst, wenn er Lannard zum Urheber seiner eigenen Idee erklärte? Nutzte er seinen Freund aus, wenn er ihn vorschob,
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nur um endlich gehen zu dürfen? Der Kampf in seinem Innern strebte einem Ende zu. Der Sieger stand fest. Seine dunklen Augen leuchteten in einem Glanz, der beinahe verloren gewesen wäre. Lannard grinste erleichtert und umarmte ihn freundschaftlich. »Also? Welche Richtung?« Aodhan blickte der aufgehenden Sonne entgegen. Das warme Morgenlicht spiegelte sich in tiefem Schwarz und machte seine Züge weicher, so daß er noch jünger aussah. »In diese!«
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Zwanzigstes Kapitel Lannard schlief. Er würde die zweite Wache übernehmen. Das kleine Feuer glomm nur schwach. Es war eine warme Nacht. Der Himmel war wolkenlos, und Aodhan konnte ungehindert die Sterne betrachten. Silbern glitzerten sie aus der Schwärze der Unendlichkeit. Er wußte nicht, ob sie den richtigen Weg gewählt hatten. Die Schwärme waren ihnen noch nicht erschienen. Das Funkeln eines besonders hellen Sterns lenkte ihn kurz ab … oder? Er kam sich verlassen vor, obwohl Lannard nur einen Steinwurf weit von ihm entfernt friedlich schlummerte. Es ist die Gewißheit, daß ich Blyann nie wieder sehen werde … Er erinnerte sich an ihren schmerzvollen Abschied. So dunkel wie vor zwei Monaten hatte er die Augen seines Ziehvaters noch nie gesehen. Er zweifelte, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Er war immer wieder zu Blyann zurückgegangen, egal, wohin es ihn gezogen hatte. Der Elf mußte oft um sein Leben bangen. »Ich habe dir viel Kummer beschert, nicht wahr? Du warst immer mein letzter Halt«, er schluckte schwer, denn die bernsteinfarbenden Augen glänzten feucht. Blyann wußte auch, bei diesem Abschied sprach er sein letztes und endgültiges Lebewohl. Er hatte die Tränen im Schwarz nie gesehen, aber er hatte von ihnen gewußt bei jedem neuen Aufbruch. Sie hatten sich beide gefühlt, als stürzte der Himmel über ihnen zusammen an solchen Tagen. »Ich werde deine Worte nie vergessen«, hatte Aodhan mühsam beherrscht versprochen. »Nie, wieviele Tage auch vergehen. Es werden unendlich viele sein, die Ewigkeit. Ich muß warten, bis es vorüber ist …« Blyann hatte ihn fest an sich gepreßt, so als wollte er ihn nie mehr loslassen. Der Elf rang um Worte, brachte aber nichts hervor. Stumm hatte er es zugelassen, daß Aodhan sich von ihm löste und gemeinsam mit Lannard Liosliath verließ …
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Aodhan fröstelte plötzlich. Aus der Nacht löste sich ein kalter Schatten. »Lord?« flüsterte Aodhan erschrocken. Er schlief nicht. Bisher hatte er den Lord nur im Traum oder vor Beginn der Wilden Jagd gesehen. »Beruhige dich! – Ich werde ihn nicht anrühren. Ich muß mit dir sprechen. Komm mit, sonst erwacht er. Es ist niemand hier, außer uns.« Unwillig folgte er dem fi nsteren Schatten, der lautlos vorausging. Der Lord führte ihn durch hohes weiches Gras zu einem See, der ihn an Airgiod er-innerte. Silbern glänzte die ruhige Oberfläche im hellen Licht des vollen Mondes. »Ihr seid auf dem richtigen Weg«, eröffnete ihm der Lord unerwartet. Aodhan lächelte. »Wirklich?« Der Lord nickte »Aber es gibt etwas, was du wissen mußt.« Die Stimme des Lords klang seltsam. »Der Weg wird gefährlich für Lannard«, warnte die dunkle Gestalt. »Warum nur für ihn?« »Er ist sterblich … Er kann die vier elementarischen Tore nicht durchschreiten, ohne getötet zu werden.« Verwirrt sah er ihn an. »Welche Tore? Wovon redet Ihr?« Der Lord warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Du weißt es nicht? Die Tore eurer Stadt! Die Tore, die sie verschwinden ließ.« »So nahe? Wir sind Brugh na Boinne so nahe?« Aodhan konnte es kaum fassen. »Aber die Schwärme. Wie sind ihnen nirgends begegnet!« Der Lord lachte. »Wofür hältst du das, Junge?« Er deutete zum sternenklaren Himmel. »Glaubtest du, wahre Vögel sehen zu müssen? Es sind Sternbilder, sie gehen auf am Ort der morgendlichen Sonne und führen so zur Stadt. Ihr lagert genau vor den magischen Toren. Spürst du ihre Kraft nicht?« Erschüttert erkannte Aodhan die neun Schwärme im Schwarz der Nacht. »Du wirst sie zuerst sehen – ich aber werde sie zuerst hören!« hallte Lannards Stimme durch seine aufgewühlten Gedanken. »Wir sind da?« Der Lord nickte. »Lannard muß umkehren, sonst wird er mich begleiten.«
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»Umkehren? Jetzt? Das wird er nie tun!« »Er wird es tun, wenn du ihm die Tore beschreibst.« »Ich?« Aodhans Augen weiten sich erstaunt. »Ich kenne sie nicht. Wie sollte ich sie beschreiben?« Der Lord berührte ihn kurz an der Stirn. Aodhan fühlte die alte Narbe. »Du kennst die Tore des Rades … Du hast sie schon durchschritten. Erinnere dich! – Hern, das Tor der Kälte und der Hitze, Lug, das Tor des Lichtes, Riah, das Tor der Luft, Atlan, das Tor des Wassers …« Aodhan zitterte unter der Erinnerung, denn es gab noch ein Tor, von dem der Lord offenbar nichts wußte. Das furchtbarer war als alle zusammen … »Warum haben sie mich damals nicht getötet? Ich war nicht unsterblich.« Der Lord nickte zustimmend. »Das warst du nicht. Erinnere dich an die Tode, die du aufzähltest, als ich dich darum bat. Warum wähltest du sie? Ausgerechnet diese vier? Du kanntest sie. Du hast sie durchlitten.« Aodhan senkte den Kopf. »Steht uns das bevor?« fragte er tonlos. »Nur du kannst ihnen entgegentreten. Der Kristall schützt dich – nur dich.« »Nein. Ich kann es nicht noch einmal ertragen. Wir werden nicht weiter gehen. Ich sage ihm nicht, wie nahe wir dem Ziel waren und wir suchen weiter, bis er müde wird.« »Wenn du das tust, werde ich eines Tages bei dir stehen und sagen: Laß mich Dir ein Gesicht zeigen, dessen Züge durch die Zeit verblaßten. Szenen um Szenen gingen an ihm vorüber, Leben um Leben … bis später der Nebel, der sich in der Zeit verbarg, über alles gebreitet hatte und sein Blick verschleiert war – wie der unsere. Tausend Zeiten, tausend Leben, tausend Wege, tausend Schritte. Doch die Räder der Zeit drehen sich in ihren Rädern. Flammend erleuchtend und erlöschend wie die Räder Taranis‘’. Tausend Male, tausend Runden, … zwei Runden, auf ewig umschlungen, … Lemniskate.«
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Aodhan zitterte unter seinen Worten und den Bildern, den hoffnungslosen, ziellosen Bildern, die sich in der silbrigen Oberfläche des Sees spiegelten. Seine Kehle war wie zugeschnürt, als er schließlich sagte: »Also gut, ich werde ihn zurückschicken.« Der Lord erschauerte unter seinem Blick, denn das Schwarz reflektierte das Wissen um die Wirkung der Tore. Entschlossen wandte ihm Aodhan den Rücken zu und ging zu Lannard, der erwacht und Zeuge ihres Gespräches geworden war. Auch in seinen Augen glomm Wissen von ihrem bevorstehenden Abschied.
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Aescbourne, altenglisch, Eschenbach Airgiod, keltisch, Silber Aodhan, keltisch, Schelm Aogail, keltisch Totenkopf Ap , walisisch, Sohn des Ban, keltisch, hell, schön Blian, Blyann, Blynn, altenglisch, schlank Bourne, altenglisch, Fluß Brad, altenglisch, breit Breandan, keltisch, Rabe Brom, altenglisch, Ginster Caer, walisisch, Festung Caerdale, altenglisch, Burgtal Cein, keltisch, alt Ceud (mil) failté!, keltisch, hundert-(tausend-)fach Willkommen Ciaran, keltisch, Dämmerung Cobhan, keltisch, Hügel Coille, keltisch, Waldrand Cuillean, keltisch, Junges Daoine Sidhe, das Volk des Friedens, der Feenwelt Donn, keltisch, braun Dryw, walisisch, sehen Duilliath, keltisch, Schattenblatt Dun na h-Eoin, keltisch, Turm der Vögel Feochadan, keltisch, Distel Flann, keltisch, rot Fuathas, keltisch, Haß, Boshaftigkeit Haraleah, altenglisch, Hasenwiese
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Lios, keltisch, Sidheburg Liosliath, keltisch, Sidhefestung Madawc, walisisch, gut Meara, keltisch, wildes Lachen Muirne, keltisch, Gastfreundschaft Niall, keltisch, Held Ollamh, Harfenmeister Rhys, walisisch, brennend, Ruhm Riagan, keltisch, kleiner König Ruadhan, keltisch, rot Seaghda, keltisch, königlich Skaga, weich Sobhrach, keltisch, Schlüsselblume Suileach, keltisch, dunkles Auge Wiell, altenglisch, Quelle Übersetzungen aus »Der Baum der Schwerter und Juwelen«, C.J. Cherryh, Heyne Verlag, ISBN 3-453-02769-8 Boadicea, keltische Königin um 62 n. Chr. CuChulainn, Held, Sohn der Dechtire und des Lugh cruit, Harfe Dhraghonyie, Nymphe Lugnasard, Feiertag zu Ehren Lugs, Vollmondnacht im August Sidhe, Reich des Jenseits, »die Hohlen Berge« Taliesin, altenglisch, »Strahlende Stirn«, Dichter Britanniens Tír mBeo, Land der Lebenden, des ewigen Lebens
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