Ingo Schulze

  • December 2019
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  • Words: 2,137
  • Pages: 1
60 | KULTUR

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Gucken, so weit das Auge reicht: Ingo Schulze (r.) zeigt Joachim Lottmann die herrliche Sicht von seinem Balkon. Die beiden Schriftsteller kennen sich seit 1995

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Vorneweg: Ingo Schulze, mit Thomas Brussig und dem Leipziger Clemens Meyer, einer der drei großen neueren Schriftsteller aus dem Osten, hat ein rührendes Buch geschrieben, nicht nostalgisch, nicht aktuell, nur erschütternd. Warum erschütternd? Weil dort Menschen vorkommen, die es nicht mehr gibt: naive Menschen. Die so sind wie Ingo Schulze selbst, der Menschenfreund, der liebe Junge, das arglose Großtalent. Wir treffen ihn in seiner schönen, dreistöckigen Rundumblick-Wohnung im malerischen Bötzowviertel in Berlin. Hier stehen sie, die vielen Preise, die er seit 1995 gewonnen hat. Er gewann schon hoch dotierte Literaturtrophäen, als ihn noch keiner kannte. Ich selbst lernte ihn im Sommer 1995 anlässlich seines Gewinns des renommierten AlfredDöblin-Preises kennen. Man reichte dem bescheidenen Mann den 20 000-Mark-Scheck mit dem größten Wohlwollen. Jeder freute sich für Ingo Schulze aus der ehemaligen DDR. Wenn es einer verdient hatte, dann er, der zaghafte, herzensvolle, liebe Typ, dem Gott aus unerfindlichen Gründen dieses große Talent mitgegeben hatte auf den leidensvollen Weg aller Ossis. Und die Fachleute irrten sich nicht. Nur zwei Jahre später kam sein Kurzgeschichtenband „Simple Stories“ heraus, der ihn in alle Feuilletons sowie Schulbücher katapultierte, ein Paukenschlag. Der Autor beschreibt da lakonisch wie Hemingway (und mit derselben Intellektferne) kleine, todtraurige oder in Maßen lustige Begebenheiten von leidenschaftslosen, weil niemals selbstbestimmten Ostmenschen. Diese faktischen Opfer haben natürlich immer die volle Sympathie des Westlesers, und zwar, weil sie sich nie beklagen, nie eine

Theorie entwickeln, eine Rechtfertigung oder Anklage. Sie leben so. So anständig und schicksalsergeben. Sie belästigen uns nicht mit Politik. Denn Politik darf in echter Literatur auf keinen Fall vorkommen! Sonst ist es nämlich vorbei mit den Döblin-Preisen. Eigentlich blöd, diese Beschränkung, jedenfalls bei Schulze, dessen Hemingwaysätze durch nichts zu zerstören wären. Ein bisschen Geist in den Unterhaltungen, ab und zu eine Idee in den Köpfen der Protagonisten, das wäre wohltuend. Also nicht immer nur Banales von morgens bis Mitternacht, diese ewigen Praktikabilitäten des behaupteten „Alltags“, dieses „Hast du die Tomaten schon ins Siedewasser getan“ von früh bis spät. Denn das ist einer der Grundpfeiler der schulzeschen Schreibphilosophie: Das „normale Leben“ zeigen, und das besteht nicht aus hochtrabenden Ideen, verlogenen Versprechungen, nicht einmal Büchern, Zeitungen oder der Tagesschau. Das wahre Leben besteht zu 100 Prozent aus Kommunikation über die Essenszubereitung und die Organisation des täglichen Bedarfs laut statistischem Warenkorb, sowie, natürlich, der Gefühle. So zu schreiben garantiert, schon bald „großer Realist“ genannt zu werden. Zu Recht? Wahrscheinlich. Aber will man das lesen? Ja. Kann man es lesen? Ja. Liest man es bis zur letzten Seite? Ja. Mag man es? Ja. Interessiert es einen? Nein. Diese Leute sind so rührend, so gar nicht abgewichst, so ohne Ahnung, dass das Wichtigste der globalen Kultur Coolness ist. Sie sitzen in ihrer Datsche und haben sich lieb. Der Protagonist Adam ist Maßschneider, passt den schönen Damen des Ortes die Kostüme an und schläft manchmal mit ihnen, aber nur, wenn das Wetter schwül ist. Die DDR war ja so unver-

Plötzlich war die Mauer weg In seinem neuen Roman „Adam und Evelyn“ erzählt Ingo Schulze von Menschen, wie es sie nicht mehr gibt: naiv, uncool und lieb. Wie macht er das? Ein Besuch bei dem Schriftsteller im malerischen Bötzowviertel in Berlin

PRIVAT, PA

Von Joachim Lottmann

Ein Wartburg Tourist, wie in Schulzes Roman beschrieben

klemmt damals, sexuell (um das fragwürdige Lied ein letztes Mal anzustimmen). Trotzdem verlässt ihn seine Frau Eva (Evelyn) deswegen kurzfristig und urlaubt ohne ihn in Ungarn. Die beiden lieben sich aber, und er reist ihr im Wartburg Tourist hinterher. Das Auto hat einen Namen, nämlich „Heinrich“, so war das früher, und die Liebe ist noch die echte, nicht die relative unserer heutigen Zweierbeziehungen. Deshalb müssen die beiden auch keine Beziehungsdiskussion führen, als sie sich wiedersehen. Sie ist sauer, er ist wortkarg, beide sind muffelig, aber die Zeit heilt alle Wunden. Wochen später schneiden sie wieder den Sellerie und die Spreegurke gemeinsam, lieben sich mehr denn je. Ach, war das schön damals! Unsere Eltern hatten so was auch noch gekannt. Sagen wir: unsere Großeltern. Aber, ganz ohne Ironie, natürlich ist es ein Wert, ein biblischer, wenn Menschen zusammenbleiben. In guten wie in schlechten Zeiten. Wenn sie den anderen nicht an einen Dritten verraten. Und als Leser spürt man, dass das hier so ist, dass ein anderer Verlauf der Geschichte gar nicht ginge, selbst wenn der Autor es wollte. Das sind treue Menschen da. Die sind so ganzheitlich, dass man als Rezensent am liebsten das leider zutreffende Klischee ins Bewusstsein rufen möchte: diese Möchteungern-Sozialisten sind noch nicht vom Konsumismus und Medienfaschischmus unserer Tage entfremdet, die sind noch sie selbst! Denn nun, schleichend, kommt der Westen angekrochen. Es spielt ja alles im Jahr der Wende, 1989, und der Klappentext und die üppige Verlagswerbung wird diese magische Zahl stets fett herausheben. Achtung, garantierter Wenderoman! Von wegen Gemüseklein und Einweckgläser – in Wirklichkeit

fällt die Mauer währenddessen! Wow! Aber unsere Helden? Die lässt auch das wieder eher kalt. Sie reagieren mit ein bisschen Freude, ein bisschen Rotkäppchen-Sekt, und dann mit Entsetzen: Das Haus wird von Hooligans verwüstet, der Mann verliert den Job, Handwerk ist nicht mehr gefragt, er muss sich als Flascheneinsammler bei Aldi verdingen, der Wartburg wird für den Preis eines McDonald’s Bigburgers verkauft, die Frau muss als table dancerin in einer westdeutschen Großstadt ... nein, ganz so schlimm kommt es nicht. Natürlich nicht. Das wäre ja dann nicht mehr harmlos. Nicht mehr Ingo Schulze. Nicht mehr gute, subtile, phrasenvermeidende Ostliteratur. Und das ist auch gut so. Der Schrecken ist in der Tat viel größer, wenn das völlige Zerbrechen der guten Menschen von Sezuan überhaupt nicht angesprochen wird. Man merkt es auch so. Auf der buchstäblich letzten Seite des Romans beobachtet Eva eher zufällig, wie Adam hinter dem Wohnblock im Freien ein mittleres Feuer entfacht hat, aus Holzkisten, Papier, Trockenmüll, und nun das Familienalbum Seite für Seite verbrennt. Er hält es wie eine Partitur hoch, reißt immer eine Seite raus, sieht sie ein letztes Mal an, lacht hysterisch, und wirft sie ins Feuer. Das geliebte Fotoalbum war das Einzige, was sie hinübergerettet hatten aus der untergegangenen Heimat. Der spinnt, der Adam, wird Evelyn kopfschüttelnd gedacht haben, und mit ihr der normale westdeutsche Rezensent. Ein Narr, wer aus der missglückten Szene Kritik ableiten wollte. Die Einheit ist ein Geschenk, darauf haben wir uns doch geeinigt! Die Mauer war furchtbar, ein Monstrum, nur das wollen wir wissen, von den betroffenen Zeitzeugen und sonst gar

nichts. Nichts davon, dass da ein ganzes Land zertreten, entvölkert wurde wie einst die Indianerkultur von den vorrückenden Yankees. Dass da heute nur noch die Wölfe heulen, wo einst Familien waren, Industrie, Arbeit, Schulen, Theater, sogar Schriftsteller (insgesamt eigentlich: blühende Landschaften im Vergleich zu heute). Daher: Auch den Friedenspreis des deutschen Buchhandels diesmal an Ingo Schulze! Oder etwa nicht …? Sollte unser ostdeutscher Lieblingsdichter auf den letzten Metern doch noch rebellisch geworden sein? Hat er uns allen eine Nase gedreht? Und überhaupt, was war das für eine fragwürdige These mit den loyalen Ost-Frauen – sprachen die Scheidungsstatistiken nicht eine ganz andere Sprache? Zum Glück können wir alle offenen Fragen zu „Adam und Evelyn“ nun bei einem guten Montepulciano in Ingo Schulzes Wohnungsparadies klären. Jetzt zeigt sich, dass der Basisdemokrat Schulze seinen Ruhm seit über zehn Jahren dazu nutzt, mit den Mächtigen und kreativ Erfolgreichen zu diskutieren, intensiv und nervtötend bis zum Rauswurf. Mit Kanzler und Kanzlerin, mit Außen- und Verteidigungsminister, mit Beteiligten des Balkankrieges, mit Schriftstellern von Grass bis Solschenizyn. Dabei kam Schulze fast durchweg zu Ansichten, die vom Konsens weit entfernt sind. Über Gerd Schröder zum Beispiel weiß er so enthüllend Scheußliches zu berichten, dass man versteht, dass vom Glauben an unser System nicht viel übrig bleiben konnte. Aber Schulze denkt nicht daran, das in seine Romane einfließen zu lassen. Er schreibt lieber mit dem Bauch, und der ist bekanntlich ziemlich dick. Ingo Schulze: „Adam und Evelyn“, Berlin Verlag, 208 S., 18 Euro

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„Dem einen wird die SPD nicht links genug sein. Anderen gehen die Reformen nicht weit genug“ Der Chef des Kulturforums der SPD, Wolfgang Thierse, hofft auf Unterstützung von Künstlern und Intellektuellen bei der Wahl. Sicher ist er sich nicht turelle Identität der SPD aus? Wolfgang Thierse: Als Teil der Arbeiterbewegung hat sich die SPD von ihren Anfängen immer auch als Kulturbewegung verstanden. Es ging ihr um Aneignung von Bildung, Aneignung der Werte der Kultur. Aber wo kämen wir hin, wenn die SPD, die eine politische Partei ist, eine ästhetische Identität entwickeln würde. Es wäre fatal, wenn wir uns auf eine festlegten. Dass es prägende Gestalten in der Geschichte gegeben hat, Grass und Staeck, ist das eine, aber dass es in dieser Volkspartei SPD ganz unterschiedliche Geschmäcker gibt, das ist naheliegend. Ist die einst gegebene großflächige Einheit oder Sympathie zwischen Kulturschaffenden und Sozialdemokraten ungebrochen? Thierse: Die Landschaft ist vielfältiger geworden, und das Verhältnis

zwischen – im weiten Sinne des Wortes – der kulturellen Szene und der politischen Szene ist widersprüchlicher, distanzierter geworden. Aber erinnern Sie sich vielleicht an die Wahlkämpfe 98/ 2002/ 2005, in welchem beträchtlichen Umfang prominente und weniger prominente Leute aus der Kultur sich für die SPD und für Rot-Grün ausgesprochen haben. Wer war das außer Grass? Thierse: Sie haben ein schlechtes Gedächtnis. Eine Menge Leute – Schauspieler, Literaten, Musiker, es waren wirklich viele. Selbst wenn das immer nur partielle Identifikation ist, wer wird sich 100 Prozent mit einer Partei identifizieren? Das tue ja noch nicht mal ich. Das gilt erst recht für Künstler In der Auseinandersetzung um Wolfgang Clement vermisst man eine intellektuelle Debatte.

Thierse: Warum soll man darüber

eine intellektuelle Debatte führen? Es ist eine ganz einfache Frage, die alle Parteien gleichermaßen interessiert. Wo ist die Grenze der Solidarität? Parteien leben davon, dass sie Solidargemeinschaften sind. Und wer ihr Mitglied ist, sollte vernünftigerweise nicht dazu auffordern, die eigene Partei nicht zu wählen. Es geht nur um diese Frage. Punkt.

ternehmer, hat in dieser Zeitung den Zustand der SPD scharf kritisiert. Thierse: Das war kein Diskussionsbeitrag, sondern eine Polemik gegen eine Person.

turprogramm der SPD angestaubt. Thierse: Ich halte das für ein Vorur-

teil. Die SPD ist, gerade weil sie eine solche Partei im Streite, in der Debatte ist, doch keine tote und angestaubte Partei. Man wird der SPD vieles vorwerfen können, aber

nicht, dass in ihr Friedhofsruhe herrscht. Zwischen Friedhof und Museum ist ein großer Unterschied. Thierse: Nein, auch in einem Museum fliegen die Fetzen nicht, da ist man in andächtiger Anbetung von Kunstwerken versunken.

Thierse: Weil das sozusagen eine

So lassen sich natürlich alle Stellungnahmen, die nicht ... Thierse: Ich sage nur, das ist noch nicht eine Diskussion über das Land bewegende Fragen: Zukunft des Sozialstaats, Europa etc. Das sind schon Fragen, an denen sich viele diskutierend beteiligen.

elementare Regel von Solidargemeinschaften ist, auch von Unternehmen. Wenn einer von Mercedes, ein führender Mensch, öffentlich erklärt, ich fordere auf, die eigenen Autos nicht zu kaufen, sie sind zu schlecht, na, was denken Sie, was mit dem passiert?

Verstehe ich Sie richtig: Die SPD gibt Themen vor, und die Beantwortung wird an Intellektuelle delegiert? Thierse: Nein, die Fragen werden von der Realität diktiert.

Paul van Dyk, ein außerordentlich erfolgreicher DJ, Musiker und Un-

Selbst sympathisierende Kul- Im Büro des Vize-Bundestagspräsidenten Thierturschaffende finden das Kul- se hängt ein Brandt-Porträt von Warhol

Warum soll man nicht streiten?

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BERLINER_ZEITUNG/PONIZAK

Welt am Sonntag: Wie sieht die kul-

Ist der Konflikt um Clement nicht im Kern ein kultureller Konflikt: zwischen der SPD der Ortsverbände und des Stallgeruchs und einer durch die globalisierte Ökonomie etwas unromantischer und kühler gewordenen Sozialdemokratie? Thierse: Das mag sein. Ich bin vielleicht auch der Falsche, der das gar nicht richtig beurteilen kann. Ich bin 1990 in die SPD eingetreten, im Osten Deutschlands, die einzige Neugründung einer Partei. Stallgeruch habe ich nie erlebt.

Sie gehen davon aus, dass Sie 2009 genug Unterstützer bei den Kulturschaffenden haben, egal ob der Kanzlerkandidat Beck oder Steinmeier heißt? Thierse: Das ist eine Aufgabe, wieder einzuladen zur Unterstützung. Natürlich gibt es auch Enttäuschungen von Leuten aus der Kultur, von Intellektuellen gegenüber der SPD. Dem einen wird die SPD nicht links genug, nicht sozial genug sein. Die anderen werden sagen, die Reformen gehen nicht weit genug. Die Konstellation für die SPD ist ohnehin nicht komfortabel. Bei einer Kanzlerin, die sich moderat sozialdemokratisch gibt, und einer Linkspartei, die alle Enttäuschungen und Sehnsüchte des sozialdemokratisch gestimmten Teils der Bevölkerung ausbeutet und für sich zu nutzen versucht, das ist keine ganz leichte Situation. Das Gespräch führte Ulf Poschardt

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