Die Sage Von Leteus Und Xenophone

  • August 2019
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Die Sage von

Leteus und

Xenophone ©2006 Dirk Schulte am Hülse (www.dirksgeschichten.de)

Dieses Werk ist unter einem Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziellKeineBearbeitung Lizenzvertrag lizenziert. Um die Lizenz anzusehen, gehen Sie bitte zu http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/de/ oder schicken Sie einen Brief an: Creative Commons, 559 Nathan Abbott Way, Stanford, California 94305, USA.

»Großvater! Großvater! Erzähl uns eine Geschichte! Bitte! Du kennst doch so viele.« »Was für eine möchtet ihr denn hören, Kinder?« »Eine Heldengeschichte! Oder eine Liebesgeschichte! Von früher!« »Eine Geschichte aus alter Zeit? Die von der letzten Schlacht auf Scheria? Die vom Helden Leteus und der holden Xenophone?« »Oh, ja! Erzähl sie uns!« »Dann höret, liebe Kinder. Einst, vor langer, langer Zeit, lang bevor die Kunde des Eisens uns erreichte, waren die Menschen Scherias noch nicht unter einem König vereint. Vielmehr gab es derer drei, je einer in den alten Städten Ibrossos, Bunthos und Mithrossos; oft stritten diese um die Vorherrschaft auf unserer Insel, keiner von ihnen konnte diese mit Gewalt erringen. Vor vielen Jahren, als mein Ururgroßvater noch ein Knabe war, hob sich unter ihnen ein Herrscher hervor, weit über Scheria hinaus geachtet seiner Frömmigkeit und Weisheit. Hypolytos, so sein Name, schwor dem Kriege ab, auch wenn ihm die Verteidigung seiner Stadt Ibrossos nie erspart blieb. Lang währte seine Herrschaft, länger als so manchen Mannes Leben; sie war den Göttern gefällig, deren Gnade sein Volk mit Überfluss segnete. Den Menschen ging es gut, besser als denen in den anderen Städten; es gab keinen Hunger, keine Not, die Speicher waren voll und die geringen Abgaben für jeden leicht zu erbringen. Das Volk achtete seinen Herrscher, liebte und verehrte ihn, Hypolytos regierte weise und gütig, noch lies er es an der gebotenen Bescheidenheit je missen. Aber immer wieder wurden die anderen Könige von Neid erfüllt und suchten unsere Stadt zu erobern, zu plündern und zu brandschatzen, die Bewohner zu versklaven. Ihnen traten unter der Führung eines königlichen Heeresmeisters die Männer Ibrossos’ entgegen, stolze Krieger, treu und kraftvoll; ihrer Streitmacht konnte kein Angreifer stand halten, sie verteidigten ihre Familien, ihre Stadt -2-

und ihren König. So schenkten die Götter ihnen immer wieder den Sieg, wie groß die Übermacht der Feinde auch gewesen sein mag. Doch nichts unter dem Himmel währt für ewig, auch der greise Hypolytos starb. Seine Untertanen hofften, dass die Götter ihm die Gnade gewährten, zu ihnen aufzusteigen und Hermes ihn nicht in das dunkle Reich des Hades führte. Opfer brachten die Menschen dar und beteten in den Tempeln, auf dass ihre Bitten bei den Göttern Gehör fänden und ihnen dieser Wunsch erfüllet würde. Dem alten, weisen König folge sein einziger Sohn Polyethos nach, noch ein junger Mann, dem trotz der ererbten Weisheit seines Vaters die Unerfahrenheit der Jugend innewohnte. Bereits wenige Tage nachdem er den Thron bestiegen hatte, erreichte ihn ein Bote seines Oheims Danaos, der viele Jahre zuvor die Herrschaft in Bunthos an sich gerissen hatte; sein Oheim bat um Hilfe, da er von König Iason angegriffen und belagert würde. Sein Volk habe große Opfer gebracht und doch erschien die Lage aussichtslos, nur die Hilfe des Sohnes seines Bruders könne die Lage noch wenden. König Polyethos befahl den Krieger unserer Stadt, sich unter der Führung seines Heeresmeisters Leteus, der seinem Vater Nestor nachfolgte, auf den Weg zu machen und seinem Oheim zu Hilfe kommen.« Leteus stand am Fenster seines Gemaches und blickte nachdenklich in den nächtlichen Sternenhimmel, während in der Stadt unter ihm die Männer ein rauschendes Abschiedsfest feierten. »Woran denkst du?« fragte Xenophone, während sie ihn von hinten umarmte. Er spürte ihre Brüste auf seiner Haut, wie sie ihren Kopf auf seinen Rücken legte. »Ich denke an morgen und die nächsten Tage.« »Und das bereitet dir Sorge? Sonst bist du doch so kampfeslüstern.«

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Leteus drehte sich vorsichtig um und schloss Xenophone in seine Arme. Er spürte Ihre Haut auf seiner, selten war es, dass sie so zu ihm kam. »Xenophone, bitte. Es ist anders diesmal. Alle die Kämpfe, die wir führen, waren nur zum Schutze unserer Stadt, um die Menschen, die wir lieben, vor Unheil zu bewahren. Heldenmut ist eines Mannes Zierde, doch soll er nicht verschwendet sein. Warum siegten unsere Krieger in all den Jahren? Warum schenkten uns die Götter immer wieder den Sieg? Nicht weil wir kämpften, um zu unterjochen; nein, wir stritten um zu schützen. Das ist der Unterschied.« »Fürwahr, so mag es den Göttern gefallen,« stimmte Xenophone zu und presste ihren Körper an den seinen. »Doch frage ich mich, ist das alles?« »Nein. Es gibt vieles, was mich diesem Feldzug stört. Ich kenne die anderen Städte aus der Zeit, als ich noch ein Knabe war. Und es ist mir unverständlich, wie ein Bote aus Bunthos entkommen konnte, wenn die Stadt belagert wird. Sie liegt nicht wie die unsere auf einer Klippe, mit einer Seite zum Meer; sie liegt offen in einem Tal, nur durch einen Mauerring befestigt. Es kann dort kein Entkommen geben.« »Fürchtest du eine Falle?« fragte Xenophone erschrocken. »Was sagt König dazu?« »Er vertraut vollends den Blutbanden seines Oheims, einzig dass die älteren Männer hier verbleiben, konnte ich erreichen.« Leteus küsste Xenophone auf die Stirn; schwer fiel es ihm, ihr das zu sagen, was ihn in Wahrheit bewegte. »Doch ist alles nicht das, was mein Herz beschwert.« »Was denn?« »Es sind so viele Jahre, in denen wir gemeinsam die Nächte verbringen, ihrer fast fünfzehn. Wir beide sind miteinander groß geworden; ich habe gesehen, wie das kleine, verängstigte Mädchen, das mein Vater damals mit in dieses Haus brachte, zu einer wunderschönen jungen Frau erblühte.« Leteus drückte Xenophone fest an sich und flüsterte: »Du wirst mir fehlen.« -4-

»Du mir auch,« hauchte Xenophone. »Ich fürchte die Zeit, allein hier zu sein. Könnte ich doch nur mit dir kommen.« »Es geht nicht. Ein Kriegszug ist nichts für Frauen; es ist zu gefährlich.« »Gefährlich? Nichts für Frauen? Das hast du schon so oft gesagt. Wie damals, als du mich mit auf den Übungsplatz genommen hattest. Auch da sagtest du, es sei gefährlich.« »Das ist wohl kaum zu vergleichen.« »Ich erinnere mich noch sehr gut. Du wolltest mich beeindrucken; mir zeigen, welch ein Held du bist.« »Wie kommst du darauf?« »Alle deine hast du Gegner besiegt. Und danach ganz großspurig gefragt, wer noch gegen dich antreten wolle.« »Außer dir wollt es niemand.« »Ja, niemand sonst. Ausgerechnet ein ach so schwaches Mädchen, das dich als einzige besiegte.« »Ja, das hattest du.« Xenophone sah Leteus tief in die Augen und lächelte freudig ob ihrer Erinnerung. »Ich weis, du hattest mich gewinnen lassen. Ein Sieg gegen mich hätte dir nicht zum Ruhme gereicht; so hast du mir für alle sichtbar den Sieg geschenkt.« »Ich hätte dir nie weh tun können.« »Ja, das hättest du nie gekonnt. Schon allein deshalb nahm ich die Herausforderung an.« »Und hast mir einfach die Beine weggeschlagen.« »Dein Sturz war bestimmt nicht schmerzhaft; hast du doch selbst nachgegeben.« »Ich gestehe. Ja, es war so. Und schließlich konnte ich deine Lanze nach unten ziehen, so dass du auf mich gefallen bist.« »Was ich durchaus als ganz angenehm empfand. Staubig, aber kuschelig nahe. Du hast wohl das erreicht, was du wolltest, nicht wahr?« »Na, ja. Irgendwie schon. Das Bad danach war doch ganz angenehm.« -5-

»Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du mehr als einen Kuss erhaschen konntest.« »Was erwartest du?« fragte Leteus irritiert, während Xenophone kicherte. »Ich war ein Jüngling, gerade dem Knabenalter entwachsen. Das war für mich schon sehr viel, damals.« »Komm mit mir.« Xenophone zog Leteus zu ihrem Lager und sah ihn mit sanften Augen an. »Es gibt die Tradition, dass die Frauen ihre Männer am Abend vor dem Aufbruch noch einmal verwöhnen. Weist du warum?« »Damit sie wissen, wofür sie kämpfen?« »Nein. Damit sie wissen, was sie verlieren, wenn sie sterben.« Xenophone umklammerte Leteus und drückte ihren Kopf an seine Brust. »Lass dich von mir verwöhnen. Vergiss nie, was du in dieser Nacht erlebt haben wirst.« Eos erhob ihr Antlitz über den Horizont, das erste Licht des neuen Tages weckte Leteus. An ihn geklammert lag Xenophone, er spürte die Wärme ihres Körpers auf seiner Haut. Erinnerungen kamen in ihm auf, Erinnerungen an eine Zeit, als er noch ein siebenjähriger Knabe war und zusammen mit seinem Vater Xenophone weinend und verängstigt neben einer ermordeten Edelfrau am Wegesrand entdeckte. Allenfalls fünf Jahre war sie alt gewesen; schon damals hatte er sie am Abend zu sich genommen, ihr Schutz und Trost zu geben; selbst eine Puppe hatte er für sie auf dem Markt erstanden, damit sie ihr Lächeln wiederfände. Doch lang dauerte es, bis die Last der Vergangenheit von ihren Schultern fiel, Lachen und Frohsinn in ihr Herz zurückkehrten. Später kamen die Tage, an denen sie die Kindheit verließen und begannen, einander zu entdecken. Langsam und vorsichtig befreite Leteus sich aus Xenophones Armen, erfüllt des Wunsches bei ihr zu bleiben; weiter ihre Wärme zu spüren; ihre Berührungen, die zärtlich und doch wie der Hauch eines Windes; ihre Küsse, die sanft und doch voller -6-

Leidenschaft waren; ihre Liebe wollt er nie mehr missen. Doch die Mannespflicht rief; immer lauter, je näher die Zeit des Aufbruchs bevorstand. »Es ist an der Zeit,« flüstere Leteus und küsste Xenophone. »Willst du mich einfach so verlassen? Ohne ein Wort des Abschieds?« »Verzeih mir, nein.« Zärtlich strich er ihr die Haare aus dem Gesicht, blickte in ihre großen Augen, die vor Zärtlichkeit und Liebe leuchteten und doch erfüllt waren vom Schmerz des Abschieds. »Ich glaubte, du schläfst noch.« »Nein, ich konnte diese Nacht nicht schlafen. Ich fürchte, es könne das letzte mal sein, dass ich dich so nahe bei mir habe.« »Es wird nicht das letzte mal sein. Weder ich noch ein anderer der Männer wird für einen König sterben, der nicht der unsere ist. Denke daran, dass ich bald zu dir zurück kehre.« Leteus legte sich Rüstung und Beinschienen an, warf sich Schwert, Helm und Schild über die Schulter. »Wir werden den Weg die Küste entlang nehmen, der ist sicher, nirgendwo lässt sich in einem Hinterhalt lauern. So Ares auf unserer Seite steht, werden wir erfolgreich sein.« Xenophone folgte Leteus zur Tür, gab ihm seine Lanze und umarmte ihn ein letztes Mal. »Pass auf dich auf. Nur lebende Helden können es genießen, sich ihrer Taten rühmen zu lassen.« »Xenophone?« erschall eine Stimme hinter der Tür und schreckte Xenophone auf. »Willst du nicht zusammen mit den anderen Leteus und die Krieger der Stadt verabschieden? Den Heeresauszug miterleben?« »Ja, Herr Nestor. Wartet, ich komme gleich.« »Du siehst müde aus,« sagte Nestor, als Xenophone mit einem hastig angelegten Kleide durch die Türe trat. »Schlecht geschlafen? Oder nicht dazu gekommen?« »Wann verlassen die Männer die Stadt?«

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»Jetzt, in dieser Stunde. Von den Türmen aus wirst du gute Sicht auf den Heereszug haben.« Lang war der Heereszug, der sich durch das enge Tor quälte. Männer auf Streitwagen, gezogen von herrlichen Pferden; Männer in Rüstungen, mit großen Schilden, Helmen und Lanzen, die rotgolden in der Sonne glänzten. »Ich wünschte, ich könnte dabei sein!« rief Nestor begeistert. »Solch ein Heereszug lässt das Herz eines jeden Kriegers höher schlagen.« »Leteus,« flüsterte Xenophone, während eine Träne des Schmerzes und des Abschieds über ihr Antlitz rollte. »Erinnere dich an unsere Nacht.« Mit Blick gen Himmel fügte sie hinzu: »Helios, du allsehender Gott des Lichtes, halte deine schützende Hand über meinen Geliebten, erleuchte seinen Weg, auf dass er nicht in Dunkelheit falle. Ich bitte dich.« Leteus lag auf dem Boden seines Zeltes, nur spärlich erleuchtet durch das flackernde Licht einer Öllampe. Seine Gedanken aber waren weder bei dem Ziel ihres Heerzuges, noch bei dem bevorstehenden Kampf. Einzig und allein die Nacht drei Tagen zuvor, die Nacht vor dem Aufbruch des Heeres, erfüllte seine Gedanken. Er dachte an Xenophone und erkannte, wie stark doch seine Liebe zu ihr war. Unerwartet vernahm er ein verdächtiges Geräusch vor seinem Zelt. »Wer da?« rief er, sprang auf und griff nach seinem Schwert. »Wir sind es, Heeresmeister Leteus.« »Kommt herein!« Die Decke am Eingang wurde beiseite geschlagen und zwei Wächter betraten das Zelt. Zwischen ihnen führten sie eine junge Frau, deren Hände auf den Rücken gefesselt waren. »Wir haben sie aufgegriffen, als sie um das Lager herumschlich. Sie sagte, sie habe den Eingang gesucht und wolle zu deinem Vater, Heeresmeister Leteus. Da Herr Nestor nicht mit uns ist, haben wir sie zu dir gebracht.« -8-

Obwohl ihre Kleidung verschmutzt und zerrissen war, so trug die Gefangene doch die Kleidung einer Edelfrau, nicht die einer Dienerin oder Bäuerin, die ihre Dienste oder nutzlose Informationen anbieten wollte. Wohl ging es ihr um mehr, da sie solche Strapazen auf sich nahm; doch konnte es auch nur eine gute Falle sein. Leteus durchschnitt der Gefangenen die Fesseln und wandte sich an die Wächter. »Ihr könnt gehen.« »Heeresmeister?« »Ich werde sie allein verhören.« »Allein?« »Glaubt ihr, ich werde nicht allein mit einem Weib fertig?« »Doch, Heeresmeister.« »Also, dann geht.« Erneut betrachtete er die Gefangene und wünschte sich das Licht des Tages herbei, um mehr erkennen zu können. Seltsam bekannt kam sie ihm vor, als wenn er sie bereits gesehen hätte, vor langer Zeit. »Wer bist du?« »Themis. Erkennt Ihr mich?« »Und was willst du, Themis?« »Euch warnen.« »Wovor?« »König Danaos, der Oheim Eures Herrn, hat sich mit König Iason verbündet, Eure Stadt zu vernichten. Schon lang war dies sein Ziel, er glaubt es jetzt zu erreichen. Euer Volk ist in Gefahr!« »Warum sollte ich dir glauben?« »Weil ich die Wahrheit sage, Herr.« »Woher soll ich das wissen? Viele lügen sehr gut, so dass es schwer sein kann, Wahrheit von Lüge zu trennen.« »Mein Herr, König Danaos sandte einen Boten, um Bestand zu ersuchen. Doch nur damit die Krieger Ibrossos verlassen und die Stadt schutzlos ist. Gemeinsam wollen die Könige angreifen und Eure Heimat schleifen, dass nur noch Ruinen bleiben. Ich habe lang gesucht, um Euch zu warnen.« -9-

Leteus lachte. »Genauso gut könnte dich auch Iason geschickt haben, damit wir wieder abziehen und er ungestört sein Werk vollenden kann. Er muss nur von unserem Zug erfahren haben und schon liegt alles andere auf der Hand. Also erkläre mir, warum ich dir glauben sollte? In wessen Auftrag verrätst du Danaos?« »In niemandes!« rief Themis verzweifelt. »Niemand hat mich beauftragt. Ich bin Themis, Tochter des Aietos. Vor vielen Jahren wurde ich im Zuge des Friedensschlusses als Geisel in den Palast des Danaos verbracht. Dort lebte ich, doch war Danaos nicht mein Herr. Ich verrate niemanden, ich erfülle meine Pflicht meinem König gegenüber.« »Themis, Tochter des Aietos. Eine der Geiseln für den Frieden, vor vier Jahren. Ja, ich erinnere mich; du warst fast noch ein Kind. Entkleide dich.« »Wie?« »Du sollst dich entkleiden. Ist das so schwer zu verstehen?« »Warum?« Themis drehte sich verschämt von Leteus weg und zog die Träger ihres Kleides über ihre Schultern. Das Kleid fiel zu Boden, sie hob es auf und bedeckte sich damit, als sie sich wieder zu ihm drehte. »Kleide dich wieder an. Ich habe genug gesehen.« »Warum?« fragte Themis erneut, vor Scham errötet. »Ich glaube dir. Ja, du bist die, die du vorgibst zu sein. Die Narbe auf deinem Rücken ist der Beweis, den ich suchte.« »Die, die ich von einem Sturz vor zwölf Jahren zurückbehalten habe? War das der Beweis den Ihr suchtet? Sollte ich mich deswegen entkleiden?« Leteus nickte. »Danaos will uns demnach von unserer Heimat weglocken; was ihm wohl auch gelungen ist. Wo steht seine Streitmacht?« »Ich weis es nicht, Herr. Ich habe ihn und König Iason belauscht, wie sie ihr Vorgehen planten; König Danaos war sich sicher, dass König Polyethos dem Hilferuf seines Oheims Folge - 10 -

leisten würde. Ich entschwand des nachts aus dem Palast und suchte nach Ibrossos’ Heer.« »So was habe ich schon erwartet,« murmelte Leteus und öffnete sein Zelt. »Ruft die Krieger zusammen!« befahl er den Wächtern, die vor dem Eingang Posten bezogen hatten, und wies Themis an: »Wiederhole deine Worte vor meinen Kriegern!« Der Platz, um dem die Zelte standen, war erfüllt von den Männern Ibrossos’, die erfahren wollten, warum man sie in der Nacht weckte. Leteus stieg auf einen der Streitwagen, um besser gesehen und gehört zu werden. »Krieger!« rief er den Männern zu. »Eine unserer schlimmsten Befürchtungen hat sich bewahrheitet! Wie mancher von euch schon ahnte; ein hinterlistig Spiel ward mit uns getrieben! « Leteus schob Themis auf den Wagen, damit sie vor allen das wiederhole, was sie bereits ihm berichtet hatte. »König Danaos hat Euch hintergangen!« rief Themis den Männern zu. »Er und König Iason haben ein Bündnis geschmiedet, um Ibrossos zu vernichten! Geht zurück in Eure Heimat, zu Euren Frauen und Kindern! Kehrt zurück, sie zu schützen! Verliert keine Zeit! Beeilt Euch, bevor es zu spät ist!« Ein Raunen ging durch die Versammelten ob dieser Nachricht; sie diskutierten, ob sie sich dem Befehl ihres Königs widersetzen und zurückkehren sollten. »Was macht uns sicher, dass sie die Wahrheit sagt?« rief einer der Männer. »Was ist, wenn das Weib lügt? Was ist, wenn wir den Befehl des Königs missachten?« »Dann wirst du einen Kopf kürzer gemacht,« sagte der Mann neben ihm und viele lachten ob der Antwort. »Ich sage die Wahrheit!« rief Themis. »Ihr müsst mir glauben! Ich kann es an diesem Orte nicht beweisen! Doch werdet Ihr vor Eurer Heimat die Feinde sehen! Es ist die

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Wahrheit, ich schwöre es bei Helios, dem alles sehen Gott des Lichtes!« »Ich glaube ihr,« versicherte Leteus den Anwesenden. »Sie ist Themis, die Tochter des Aietos; eine Geisel für den Frieden, die auch in der Fremde nicht die Treue zu ihrer Heimat verloren hat. Ich werde zurückgehen, um unsere Stadt zu verteidigen; ich kann euch nur bitten, mit mir zu kommen. Ich will und kann es niemanden befehlen, da ich gegen den Befehl des Königs handle.« »Heeresmeister Leteus, Sohn des Nestor,« sagte Kortos, ein von allen hochangesehener Kämpfer, »mein Vater folgte dem deinen in den Kampf, so wie sein Vater dem Vater des deinen folgte. Immer waren sie siegreich, die Zahl derer, die zu beklagen waren, war stets gering. Ares selbst hat deinen Vätern die richtigen Entscheidungen fällen lassen, die das Kriegsglück auf uns lenkten. Meine Väter vertrauten stets den deinen, so wie ich dir vertraue.« Es wurde still; viele der Männer nickten zustimmend, während sie den weiteren Worten ihres Kameraden lauschten. »Wenn du sagst, sie spricht die Wahrheit, so spricht sie die Wahrheit. Wenn du zurückgehst, so gehen wir alle zurück, um die Unseren zu verteidigen.« »Sind das die Worte aller Männer?« fragte Leteus und blickte in die Runde. »Sie sind es,« bestätigte Phemios, der Führer der Wagenlenker, ein kraftvoller, narbenübersäter Krieger. »Kortos hat ausgesprochen, was wir alle in unseren Herzen fühlen. Wie lautet dein Befehl? Wann brechen wir auf?« »Sofort!« befahl Leteus. »Alle Männer, die zu Fuß kämpfen, sollen sich rüsten! Die Zelte lassen wir hier! Ein langer Marsch durch die Dunkelheit steht uns bevor!« Nur für die Streitwagenlenker hatte er andere Befehle: »Ihr brecht erst morgen bei dem ersten Licht des Tages auf, sobald Eos ihr Antlitz über den Himmel erhebt. In der Nacht kommt ihr schlecht voran und wir können uns keinen Aufendhalt wegen - 12 -

der Wagen leisten. Nehmt den Weg durch die Felsen, auf der Straße seid ihr schneller und werdet bald zu uns stoßen.« »So soll es sein, Heeresmeister,« bestätigte Phemios. »Xenophone!« Der zum Kampf gerüstete Nestor riss die Tür zu Xeneophones und Leteus’ Gemach auf. »Komm mit!« »Was gibt es, Herr Nestor?« fragte Xenophone schlaftrunken. »Das wirst du gleich erfahren. Bekleide dich schnell und komm!« Während Xeneophone eilig in ein Kleid schlüpfte, ließ Nestor seinen Blick durch den Raum gleiten. Auf dem Lager entdeckte er das Prunkgewandt, welches er voller Vaterstolz seinem Sohn zur Amtseinführung als Heeresmeister schenke. »Du hast ein Gewandt von Leteus auf deinem Lager?« »Ja, Herr Nestor. Er fehlt mir sehr, es ist nur ein kleiner Trost. Aber so habe ich wenigstens etwas von ihm bei mir.« Nestor grinste und schüttelte den Kopf. »Da hat wohl Eros ganze Köcher seiner goldenen Pfeile auf die beiden geschossen,« murmelte er und fragte: »Bist du bald fertig, Xenophone? Bei Zeus, ihr Frauen braucht ja länger ein Kleid anzulegen, als ein Krieger seine Rüstung!« Xenophone folge Nestor auf den Palastplatz, auf dem sich die alten Männer gemeinsam mit den Jünglingen versammelt hatten, zum Kriege gerüstet. »Was ist geschehen? Warum sind alle zum Kampf gerüstet?« »Das wird uns gleich König Polyethos verraten; ich habe nur den Ruf zum Sammeln vernommen,« antwortete Nestor und deutete auf die Stufen des Palastes. »Lass uns dorthin gehen, dort ist mein Platz.« »Männer Ibrossos’!« erschall die Stimme des Königs über den Platz. »Verrat ist an uns begangen worden! Der Ruf meines Oheims nach Hilfe war eine hinterhältige List, um unsere Krieger aus der Stadt zu locken und unsere Verteidigung zu - 13 -

schwächen! Er und sein Verbündeter, König Iason, lagern jetzt vor unseren Toren, bereit die Mauern zu erstürmen. Wir können jeder Belagerung, solange sie auch dauern mag, stand halten; aber ich weis nicht um die Pläne, die unsere Feinde hegen. Daher habe ich beschlossen, zunächst einen Boten auszusenden, die Männer draußen im Felde zurückzubefehlen. Wer will dieser Bote sein? »Ich!« rief Xenophone über alle Anwesenden hinweg. Ihr Herz schlug schneller, ob der Aussicht, bald wieder mit ihrem Geliebten vereint zu sein. »König Polyethos, lasst mich als Bote gehen! Ich weis, wie ich die Krieger finde!« »Wer bist du?« fragte Polyethos, als Xenophone vor ihm auf die Knie ging. »Ich bin Xenophone, mein König.« Polyethos sah zuerst Xenophone und dann Nestor fragend an. »Sozusagen die Frau meines Sohnes Leteus,« sagte der Alte, dem nichts besseres einfiel. »Mir ist nicht bekannt, dass Euer Sohn sie im Tempel der Göttermutter geehelicht hat,« entgegnete die Hohepriesterin der Hera, die hinter dem König stand. »Stimmt schon. Es ist nicht leicht in Worte zu fassen. Xenophone lebt schon lange in meinem Hause; auch wenn sie nicht von meinem Fleische ist, so ist sie doch eine Tochter für mich,« erklärte Nestor. »Für meinen Sohn ist sie mehr, weit mehr als eine Schwester. Sie haben die meiste Zeit ihres Lebens zusammen verbracht; Xenophone wird Leteus auch in dunkelster Nacht und verbundenen Augen so sicher finden, wie eine Mutter ihr Neugeborenes. Deshalb habe ich sie auch mitgebracht.« »Niemand kennt Leteus besser als ich, mein König. Lasst mich gehen; ich weis, welchen Weg er genommen hat. Ich fühle es.« »Es widerstrebt mir, eine Jungfrau in Gefahr zu schicken,« erwiderte Polyethos auf Xenophones Bitte. - 14 -

»Wenn sie das noch ist, kann sie aber verdammt gut laufen,« brummte Nestor; einige der Anwesenden lachten, Polyethos hingegen deutete dem Alten, dass er seine Äußerung überhaupt nicht lustig fand. »Mein König, lasst mich gehen. Es gibt einen Weg aus der Stadt, der ohne Gefahr ist.« »Welchen?« »Über das Meer. Lasst mich an den Klippen herunter, ich schwimme um das Lager der Feinde herum und werde erst in ihrem Rücken, weit hinter ihren Linien, an Land gehen. Kein Mann in Rüstung kann diesen Weg nehmen.« Polyethos sah Xenophone und dann Nestor an. »Nestor, was sagt Ihr? Mein Vater schätzte den Rat seines Heeresmeisters, ich will es ihm gleich tun.« »Die Idee ist gut; wenn die See ruhig ist, ist ein Abstieg leicht möglich. Sollte sie weit genug entfernt an Land geht, so sehe ich wenig Gefahr. Ja, ich glaube, wir sollten es so machen.« »Dann sei es so. Xenophone, Ihr werdet die Krieger zurückholen. Eilet, wir haben nur wenig Zeit.« »Ja, mein Herr. Ich werde sofort aufbrechen. Herr Nestor, könntet Ihr mir bitte Euren Dolch leihen?« »Was willst du denn damit?« fragte Nestor, gab ihr aber gleich die Waffe. Xenophone schnitt ihr Kleid kurz über den Knien ab, teilte den Stoffstreifen nochmals und wickelte sich je einen davon um Hüfte und Brust. »So kann ich besser laufen,« erklärte sie den ungläubig dreinschauenden Männern. Poseidon selbst schützte ihren Weg und befahl der See Stille; keine Welle regte sich, als Xenophone an einem Seil gesichert die Klippen herabstieg. Leise glitt sie ins Wasser und schwamm um die Stadt und das Lager der Feinde herum. Erst weit außer Sichtweite der Belagerer nährte sie sich dem Ufer, um das Meer zu verlassen.

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Schallendes Gelächter zerriss die Stille am Strand. Ein Spähtrupp der Belagerer hatte Xenophone entdeckt, wie das Meer verließ und ihr am Strand aufgelauert. »Sie an, welch hübsche Nymphe kommt da aus dem Meere gekrochen,« lachte der Anführer der vier Männer und packte Xenophone am Arm, um sie auf die Knie zu zwingen. »Oder stammst du aus Ibrossos?« »Lass mich los, du Bastard!« schrie Xenophone und versuchte sich durch schütteln und treten zu befreien. »Sonst wirst du es bereuen!« »Vielleicht, mag sein,« höhnte der Anführer des Trupps. »Doch zuvor werden wir uns an dir vergnügen; dein nasses Kleid zeigt mehr, als es verbirgt.« Lüstern traten auch die anderen Späher Xenophone näher, während diese verzweifelt versuchte, sich zu befreien. »Autsch!« schrie der Anführer vor Schmerz auf, als Xenophone ihm in die Hand biss. »Das wirst du noch bereuen! Bis jetzt habe ich noch jedes Wild zur Strecke bebracht, auch dich werde ich schon zu zähmen wissen!« Die Männer lachten erneut laut auf; doch nur solang, bis jemand ihren Anführer von hinten an der Schulter packte, herumriss und die Faust mitten ins Gesicht schlug. »Sie hat gesagt, du sollst sie loslassen, du Hundesohn« zischte Leteus und stieß dem am Boden Liegenden seine Lanze in die Seite. Der Getroffene wimmerte um Gnade und erntete einen Fußtritt als Lohn ob seiner Feigheit; nicht einmal der Tod eines Kriegers sollte ihm vergönnt sein. Als die anderen Männer des Spähtrupps sich umdrehten und zu ihren Waffen griffen, starrten sie in hunderte von Lanzen, deren Anblick allein jeden Widerstandswillen bei ihnen brach. »Leteus!« rief Xenophone erleichtert und fiel in Leteus Arme. »Leteus!«

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»Xenophone,« rief auch Leteus, der es kaum erwarten konnte, sie wieder in seinen Armen zu halten. »Ist dir etwas passiert? Hat dir der Bastard etwas angetan?« »Nein, du kamst zur rechten Zeit. Es geht mir gut.« »Was machst du hier?« »Dich suchen; dir den neuen Befehl des Königs überbringen: Du sollst mit deinen Kriegern sofort zurückkehren. Ibrossos wird belagert und es sind nicht genügend Kämpfer da, um sie zu verteidigen.« Leteus drückte Xenophone fest an sich. »Große Gefahr hast du auf dich genommen und bestanden; großen Mut bewiesen, meine Liebste.« »Danke, mein Geliebter,« flüsterte Xenophone und legte ihren Kopf an Leteus’ Schulter. »In höchster Not kamst du zu mir, mich zu retten, so wie es eines Helden würdig ist. Doch, wieso seid ihr jetzt schon der Heimat so nahe?« »Ich ahnte die Hinterhältigkeit des Danaos; wir zogen nur langsam in Richtung Bunthos. In der Nacht bekamen wir von Themis, der Tochter des alten Aietos, die Bestätigung des Verrates; auch in der Ferne hat sie ihre Herkunft nicht vergessen. Wir sind die ganze Nacht marschiert, um zeitig in der Heimat zu sein.« »Seid ihr nicht müde?« »Nein, Müdigkeit kennen wir heut nicht, da Kampfesmut uns erfüllt,« antwortete Leteus und rief den Kriegern zu: »Männer, so lasset uns dem Befehl des Königs Folge leisten!« »Männer von Ibrossos!« rief derweil Polyethos den Kämpfern vor seinem Palast zu. »Feinde stehen vor der Stadt, bald werden sie versuchen, unsere Tore zu durchbrechen. Ich muss schweres von Euch fordern. Wir wissen nicht, wie lange es noch dauert, bis die Unsern im Felde eintreffen. Doch können wir uns nicht lang eines Angriffs auf unsere Mauern wehren. Wir müssen die Entscheidung suchen, vor den Toren - 17 -

der Stadt und hoffen, dass die Götter den Schritt derer, die zu uns eilen, schnell machen.« »Einen Ausfall?« fragte Nestor leise den König. »Einer Belagerung können wir lange standhalten, doch einen Sturmangriff kaum abwehren,« flüsterte der König zurück. »Das wisst Ihr so gut wie ich. Warten können wir nicht mehr lang. Habt Ihr einen anderen Vorschlag?« »Nein. Welch eine Idee! Bei Ares, das erwartet wahrhaft niemand!« »Also überraschen wir sie, das ist der einzige Vorteil den wir haben. So lang es geht müssen wir sie von unseren Mauern fern halten.« Nestor nickte. »Ihr habt recht. Wer wird uns führen?« »Ich!« rief der König laut aus. »Ich werde an der Spitze der Krieger in die Schlacht ziehen. Wie könnte ich mich hinter den Mauern meines Palastes verstecken, wenn auch ich kämpfen kann!« Während die Kämpfer begeistert jubelten, sah Polyethos gen Himmel und flüsterte: »Das ist das mindeste, was ich jetzt tun kann.« »Sieh an, sieh an,« murmelte Leteus, als er mit seinen Männern von einem Hügel aus, die Ebene vor der Stadt überblickte. »Sie haben schon ohne uns angefangen.« Die Kämpfer sahen, wie sich wenige Stadien vor den Mauern Ibrossos’ die feindlichen Heere gegenüberstanden; auf der einen Seite die Truppen der Könige Danaos und Iason, und, von ihnen halb umringt, die verbliebenden Krieger Ibrossos’. »Unsere Söhne und Väter haben tapfer gekämpft, doch sind viele von ihnen gefallen,« sagte Kortos, der neben seinem Heeresmeister stand, verbittert. »Viel Blut ist geflossen.« »Schrecklich,« flüsterte Xenophone und vergrub ihr Gesicht so gut sie konnte in Leteus Schulter. »Xenophone,« sagte Leteus sanft zu ihr, »könntest du noch mal Botin sein? Für mich?« - 18 -

»Ja,« hauchte sie ohne zu zögern. »Bitte lauf zu König Polyethos und sage ihm, er soll eine Gruppe der jungen Männer an die, von hier aus andere, Seite der Ebene senden; sie sollen verhindern, dass jemand dort entkommen kann, nicht mehr; der Rest soll nur den Weg zur Stadt versperren. Schaffst du das?« »Ja, ich werde es dem König ausrichten. Aber was ist mit der Straße durch die Felsen? Wollt ihr die nicht versperren? Dort könnten die Feinde doch auch entkommen.« »Sie würden nicht weit kommen,« grinste Kortos. »Phemios und die Streitwagen werden in Bälde eintreffen. So wie ich ihn kenne, hatte Helios noch nicht einmal seinen Wagen bestiegen, da sind sie bereits losgezogen.« »Nimm den Weg hinter uns an Strand und Fels entlang,« flüsterte Leteus Xenophone ins Ohr. »Niemand wird auf dich achten, dafür sorge ich.« »Das mache ich. Wenn ich hinten herum laufe, erreiche ich König Polyethos von der Stadt her.« Leteus nickte. »Xenophone?« »Ja?« »Pass auf dich auf.« Leteus nahm sich in die Arme, drückte sie an sich, küsste sie und flüsterte: »Ich liebe dich.« »Ich liebe dich auch«, flüsterte Xenophone zurück. »Doch jetzt ist es an der Zeit, schnell und mit wenig weiterem Blutvergießen zu siegen.« Während die Krieger Xenophone durch ihre Reihen ließen, schleuderte Leteus seine Lanze mit aller Kraft über das Schlachtfeld, um aller Aufmerksamkeit auf sich und seine Kämpfer zu ziehen. Der Wurf war weiter als ein Mann eine Lanze werfen kann; doch die Göttin Aphrodite verlieh Leteus’ Arm übermenschliche Kraft. Zitternd blieb die Waffe im Boden stecken, genau zwischen den Königen, die auf ihren Streitwagen an den Spitzen ihrer Heere standen. Alle drehten sich zu dem Hügel um, auf dessen Anhöhe die Helme und - 19 -

Lanzen von Leteus’ Kämpfern im hellen Lichte Helios’ glänzten. »Männer!« rief Leteus den Seinen zu und zog sein Schwert. »Unsere Väter und Söhne haben in unserer Abwesendheit all das verteidigt, was Wert für uns hat! Jeder Gefallende erfüllt unserer Herzen mit Stolz; ich beneide jeden Mann, dessen Sohn mit Mut für unsere Heimat kämpft! Zeigen wir ihnen, wie groß unser Stolz auf sie ist!« Leise fügte er hinzu: »Hera, Himmelsmutter, wenn diese Schlacht geschlagen ist, werde ich Xenophone vor deinen Altar führen. Selbst wenn ich den Feind allein niederringen muss.« Unter lautem Jubelschrei nahmen die Krieger ihre Aufstellung ein; Leteus selbst schritt an die Spitze seiner Kämpfer, die in dichter Reihe unaufhaltsam, einem reißenden Strome gleich, dem Feind entgegen traten. »Verdammt!« fluchte Iason, als er die Neuankömmlinge auf dem Felsenhügel über der Ebene des Schlachtfeldes sah. »Danaos, Ihr sagtet, die Männer wären weit von hier entfernt.« »Waren Sie zumindest,« antwortete Danaos, erschrocken ob der Wendung. »Polyethos schien auf meine List hineingefallen zu sein; meine Späher haben gesehen, wie sein Heer die Stadt verließ. Wie konnten die Männer einen Dreitagesmarsch nur so schnell schaffen?« »Sein Heeresmeister scheint nicht so arglos zu sein, wie Euer Neffe. Aber egal, wir sind dennoch in der Übermacht. Meine Streitwagen werden sie in den Hades jagen; ich selbst werde den Angriff führen.« »Tut das,« stimmte Danaos zu, wohlwissend, dass die Krieger Ibrossos’ schon so manchen Streitwagen in den Staub gezwungen haben. Iason wendete seinen königlichen Streitwagen und führte seine Wagenkämpfer, zwanzig an der Zahl, gegen die Reihen

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des Leteus. Die scharfen Sicheln ihrer Räder lechzten sirrend nach dem Blut ihrer mutigen Gegner. »Vernichtet sie!« wies Iason seine Männer an. »So wird der Sieg unser sein!« »Streitwagen!« rief Leteus seinen Kämpfern zu, als er Iason heranbrausen sah. »Klytaimos, Iphegeneios, die Pferde!« Die Bogenschützen spannten ihre Bögen; ein Pfeilhagel ergoss sich über die Angreifer; treffsicher wie die Pfeile Apollons wurde keines der Ziele verfehlt; getroffen sanken Tieren und Lenker zu Boden. Iason, sich hinter seinen Streitern haltend, stürmte allein, wie vom Wahn besessen, mit seinem Wagen auf die Krieger Ibrossos’ zu. Bedrohlich nahe kam er; Leteus’ Kämpfer bildeten einen Schildwall, um ihn abzuwehren. Doch Kortos schleuderte seine Lanze dem feindlichen König entgegen; getroffen brach eines der Pferde in vollem Lauf zusammen und riss in seinem Sturz die Deichsel in den Boden. Der Streitwagen überschlug sich, kam nur wenige handbreit vor dem Schildwall zu liegen. Der schwer verletzte Iason wurde von den jubelnden Kriegern gefangen gesetzt; sicher der göttlichen Unterstützung für ihren Kampf formierten sich die Männer neu und stürmten erfüllt von unbändigem Kampfesmut in breiter Linie ihren Feinden entgegen. Die Nachricht war überbracht, die jungen Kämpfer Ibrossos’ neu aufgestellt und der Weg zu Stadt und Küste versperrt. Abseits des Schlachtfeldes hoffte Xenophone auf ein baldiges Ende der erbitterten Kämpfe. Als sie mit Furcht und auch mit Stolz sah, wie die Wagenkämpfer des Königs Iason geschlagen und dieser gefangen gesetzt wurde, trat ihr unerwartet ein prachtvoll gerüsteter Mann entgegen. »Du hast also die Krieger Ibrossos’ geholt!« schrie der Gerüstete. »Du elendes Weib hast mich meinen Sieg gekostet.

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Ich, Danaos, König von Bunthos, werde dich dafür in Stücke schlagen!« Erschrocken wich Xenophone vor den Schwerthieben des Danaos’ zurück; dabei stieß sie gegen die Lanze, die Leteus zwischen die Heere geschleudert hatte, um der Schlacht die Wende zu geben. Schnell zog sie die Waffe aus dem Boden und hielt sie Danaos entgegen. »Das ist eine Lanze und kein Besen!« höhnte Danaos. »Wie sollte ein Weib damit umgehen können? Ergib dich in dein Schicksal! Knie nieder vor mir! Dann werde ich dir die Gnade eines schnellen Todes gewähren! Dieser Tag wird dein letzter sein!« »Vielleicht kann ich wahrhaft besser mit einem Besen umgehen, als mit einer Lanze,« entgegnete Xenophone vollen Mutes. »Aber habt Ihr schon mal gegen einen Besen gekämpft?« Sie wich Danaos’ Schwert aus und zog ihm mit dem Lanzenschaft die Beine weg; Danaos stürze auf den Rücken, verlor dabei Schwert und Schild. Xenophone setze einen Fuß auf Danaos Brust und hielt ihm die Lanzenspitze an den Hals. »Anscheinend ist der Besen dem Schwerte überlegen,« lachte sie siegesfroh. »Und wenn Ihr mir unter mein Kleid schaut, steche ich Euch die Augen aus!« »Xenophone!« brüllte Leteus durch den Schlachtenlärm, als er sah, wie sie von dem feigen Danaos angegriffen wurde. Furchtlos stürmte er durch die Reihen der Feinde auf Danaos zu; alle, die ihm im Wege standen, schlug er mit Schild und Schwert nieder und hätte nicht Ares, auf bitten der Aphrodite, seine schützende Hand über ihn gehalten, so mache Lanze hätte ihn durchbohrt. Angespornt ob des Sturmes ihres Heeresmeisters, folgten ihm seine Kämpfer in die Bresche; mit zerschlagenem Schild und schartigen Schwert durchstieß Leteus die gegnerischen Reihen, just in dem Augenblick, in dem - 22 -

Xenophone den letzten der angreifenden Könige zu Fall brachte. »Xenophone!« rief er erleichtert ob ihres Sieges, lies Schwert und Schild fallen, um sie in seine Arme zu schließen. »Xenophone.« Auch Xenophone ließ die Lanze fallen, um ihrem Geliebten in die Arme zu fallen. »Leteus!« Danaos wollte die Gunst der Stunde nutzen, seine Flucht wurde von den Kämpfern vereitelt, die Leteus folgten; auch ihn setze man gefangen. Die Männer aus Bunthos und Mithrossos erkannten die Niederlage, warfen ihre Schilde fort und wandten sich zur Flucht. Doch auch der einzige noch offene Weg durch die Felsen war bald versperrt; Phemios nahte mit den Streitwagen und jagte die Fliehenden auf das Schachtfeld zurück. »Danaos, befehlt Euren Männern sich zu ergeben,« forderte Leteus den gefangenen König auf. »Ihr könnt den Sieg nicht mehr erringen. Beendet das Blutvergießen.« »So soll es sein,« antwortete der König und erteilte den Befehl, der von seiner vernichtenden Niederlage kündete. Jubel brandete über das Schlachtfeld und aus der Stadt; ganz Ibrossos hieß seine Helden willkommen; Opfer brachte man den Göttern dar, als Dank für den gewährten Sieg. Leteus und Xenophone aber zogen, noch in blutbespritzter Rüstung und zerrissenen Kleid, in den Tempel der Hera, um sich nach all den Jahren des Zusammenseins zu ehelichen. König Polyethos selbst richtete die Feierlichkeiten zum Siege und zur Hochzeit seines Heeresmeisters aus, zu denen das Paar in prächtigen Gewändern erschien. Xenophones Liebreiz bezauberte alle Anwesenden so sehr, dass zunächst Wut und Hass den Feinden gegenüber vergessen war.

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Aber auch diese Feierlichkeiten sollten von den Ereignissen des Tages überschattet bleiben, während des Festes kam die Diskussion auf, wie mit den Gefangenen zu verfahren sei. »Erschlagen wir sie wie Vieh,« forderte Phemios. »Lassen wir sie erleiden, was sie den unseren anzutun gedachten.« »Nein!« rief Xenophone, ob der Grausamkeit des Phemios’ erschüttert. »Nein, lasst sie ziehen. Schafft nicht noch mehr Leid, als nicht schon erlitten wurde. « »Mein König,« wandte sich Phemios an Polyethos. »Nur so können wir für viele Jahre Frieden haben. Es wird lange dauern, bis sich Bunthos und Mithrossos davon erholt haben.« »Doch dann werden sie auf Rache sinnen,« warf Xenophone ein. »Mein König Polyethos, lasst die Hochzeit Eures Heeresmeisters nicht von einem Blutbad überschattet sein. Ich bitte Euch! Der Krieg hat viel Leid über alle gebracht; Ibrossos hat viele Gefallende zu beklagen, aber auch die Frauen und Kinder von Bunthos und Mithrossos beklagen den Verlust ihrer Gatten, Söhne und Väter. Neid und Machtgelüste der Könige Danaos und Iason haben diesen Krieg verschuldet und viel zu viele Opfer gefordert. Doch all das rechtfertigt nicht den tausendfachen Mord an Gefangenen, der nur neuen Hass säht. In vielen Jahren würden die Söhne der Erschlagenen Rache fordern und wieder würden Männer sterben, Frauen zu Witwen und Kinder zu Waisen. Mein König, durchbrecht diesen Kreis des Hasses; schwöret Krieg und Mord ab, so wie Euer Vater es einst tat. Zeigt die wahre Größe eines Herrschers, ich bitte Euch.« »Ein schlechtes Thema für eine Hochzeit,« sagte Polyethos leise und nachdenklich, da er die Bitte der mutigen Braut an diesem Tage schlecht zurückweisen konnte. »Sosehr die Forderung des Phemios die Wut vieler befriedigen wird, sosehr erscheinen mir Eure Worte weise, Xenophone. Was meint Ihr, Leteus? Ihr habt Euren Vater verloren. Wie ist der Rat meines Heeresmeisters?« - 24 -

»Ich wäre ein schlechter Gatte, wenn ich den weisen Worten meiner Gemahlin widersprechen würde. Mein Vater Nestor starb den Tod, den er sich herbeisehnte, als Krieger in der Schlacht. Nun sind er und Mutter im Hades wieder vereint; diesen Wunsch hegte er schon viele Jahre; nur die Pflicht hielt ihn am Leben. Fürwahr, das Erschlagen der Gefangenen würde uns nur wenige Jahre bis zum nächsten Kriege bringen. Es sind vor allem Bauern, nur wenige wahre Krieger haben Danaos und Iason in die Schlacht geführt. Mein König, ich schließe mich der Bitte Xenophones an; lasst die Gefangenen in Frieden ziehen und als Männer zu ihren Familien zurückkehren. Es sind bereits genug gestorben.« »Phemios?« fragte Polyethos den Führer der Wagenlenker. »Was sagt Ihr dazu?« »Mein König, Xenophone hat viel Mut bewiesen und den König Danaos besiegt; sie hat sich Ansehen und das Recht erkämpft, so gehört zu werden wie jeder unserer Krieger. Wenn Ihr, mein König, zu dem Schluss kommen solltet, dies sei der rechte Weg, so wird niemand daran zweifeln.« »Ich werde den Rat der Götter erbitten,« erklärte Polyethos, von Zweifeln an seinen Rachegelüsten erfasst. »Wartet hier auf mich.« Polyethos ging in den Tempel des Zeus, brachte Opfer da und erbat vom Höchsten einen Rat; lange Zeit verbrachte er im Tempel, doch der Göttervater gab ihm scheinbar keine Hilfe ob der bevorstehenden Entscheidung. Nachdenklich und voll innerer Zerrissenheit verließ Polyethos den Tempel, um sich im Palast erneut mit seinen Vertrauten zu beraten. Sein Weg führte ihn am Tempel der Hera vorbei, vor dem er eine Schwangere erblickte. »Was macht Ihr hier? Solltet Ihr nicht daheim bei Eurem Gatten sein?« »Mein Herr,« antwortet die Frau unter Tränen, »mein Gemahl Kortos fiel heute in der Schlacht, so wie mein Vater - 25 -

und mein einziger Sohn. Ich bin hier, um zur Göttermutter zu beten, dass ich das Kind, das ich unter meinem Herzen trage, nicht auch noch verliere.« »Was meint Ihr damit? Sprecht!« »Bald wird die Zeit meiner Niederkunft kommen; noch vor kurzem fühlte ich das Leben meines Ungeborenen in mir; doch heut Abend war es, als wenn alles Leben von ihm gewichen sei. Ich habe Angst, dass es schon vor seiner Geburt seinem Vater in den Hades folgt; nur die Göttermutter hat die Macht, dieses Schicksal abzuwenden.« »Bete und sorge dich nicht,« sprach Polyethos, der nun die göttliche Weisung erhalten hatte, die er suchte: Das Leben des Ungeborenen als Lohn für das Leben der Gefangenen. »Dein Kind wird bald wieder Lebenszeichen von sich geben.« Noch am selben Abend erfüllte Polyethos den Götterwillen und verfügte die Freilassung aller gefangenen Kämpfer, nur die Könige Danaos und Iason verblieben in Gefangenschaft. »Was geschah dann, Großvater?« »Die Menschen unserer Insel schlossen Frieden und bestimmten König Polyethos zu ihrem alleinigen Herrscher. König Iason verstarb recht bald an seinen Verletzungen; König Danaos fürchtete Vergeltung für seine Taten und stürzte sich in das tosende Meer; dort empfing er durch Poseidon seine gerechte Strafe. König Polyethos aber erhob die treue Themis zu seiner Königin und erbaute eine neue Stadt, als Zeichen, dass die Menschen Scherias nun zu einem Volke geeint seien und nannte diese Kerkyra, nach der Mutter unseres Ahnherren Phaiakas; das Volk nannte sich nun nach ihm Phaiakoi. Lange währte Polyethos’ Herrschaft und wie sein Vater ließ es Polyethos nie an Frömmigkeit, Weisheit und Bescheidenheit mangeln, so wie es sich für einen guten Herrscher ziemt. Es brach ein goldenes Zeitalter auf unserer Insel an, Frieden und

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Wohlstand mehrten sich. Auch Polyethos herrsche bis ins hohe Greisenalter, bevor die Götter ihn zu sich riefen.« »Und was war mit Leteus und Xenophone? Was geschah mit ihnen?« »Über ihren Verbleib ist nur wenig bekannt; einzig, dass sie, von den Göttern mit vielen Nachkommen gesegnet, in Liebe ein hohes Alter erreichten und gemeinsam zur selben Stunde starben. Noch im Reich des Hades, so wird vermutet, blieben sie unzertrennlich, denn auch der Gott der Unterwelt ist gegen die Liebe machtlos. Doch dies, liebe Kinder, ist eine andere Geschichte.«

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