Sprache Evolution

  • May 2020
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Der Beginn der Sprache Beim folgenden Text handelt es sich um eine Abschrift der Seiten 240 bis 244 und 263 bis 269 des Buches Warum der Mensch spricht von Ruth Berger∗.

Indizien 1.

Dicke Nervenkanäle zur Atemkontrolle sind ein anatomisches Indiz für Sprache. Sie finden sich seit den frühesten echten Urmenschen (Homo ergaster vor 1,8 Millionen Jahren.

2. Ein 1952 gefundener, 600 000 Jahre alter Heidelbergensis-Schädel ist der früheste direkte Beleg für die typisch menschliche Zungenbeinform. Ein kürzlich entdecktes, 3,3 Millionen Jahre altes Australopithecus–Baby besass dagegen ein schimpansenartiges Zungenbein. Anatomische Modellrechnungen zeigen: Der Übergang zur menschlichen Zungenbeinform geschah wahrscheinlich schon bei der Entstehung der Art Homo ergaster vor über 1,8 Millionen Jahren. Ein Hinweis mehr, dass dieser frühe Urmensch seines Stimmapparates anders verwendete als seine Ahnen. 3.

Über die Hörfähigkeiten noch älterer Menschenformen weiss man nichts. Der Homo heidelbergensis zeigt vor 600 000 Jahren eine sprachtypische Hörspezialisierung im knöchernen Ohr: Bei diesem Ureuropäer und Vorfahre der Neandertaler war die Form des Gehörgangs auf die optimale Verstärkung jener Frequenzen eingestellt, anhand derer sich die Konsonanten menschlicher Sprachen unterscheiden lassen.

4. Eine wichtige Rolle für das Sprechen spielen Schaltkreise im Gehirn, die unser sogenanntes «Sprachzentrum», das Broca-Areal, mit tieferen Hirnstrukturen, den Basalganglien, verbinden. Heute weiss man: Das Broca-Zentrum dient nicht ausschliesslich der Sprache. Vielmehr dient es allgemein dem Planen und Verstehen von Handlungen, insbesondere von feinmotorischen Bewegungen der Hand. Vor etwa 1,5 Millionen Jahren waren diese sprachwichtigen Hirnstrukturen bereits über das Menschenaffenniveau hinaus entwickelt. Darauf deutet die Werkzeugkultur der damaligen Menschen hin. 5.

Sprechen fordert viele verschiedene geistige Fähigkeiten, einschliesslich dessen, was man landläufig Intelligenz nennt. Fast jede Struktur des Gehirns ist in irgendeiner Weise an der Sprachverarbeitung beteiligt. Die allgemeine Verbesserung der Intelligenz und Lernfähigkeit, wie wir sie von den frühesten Urmenschen an beobachten können, optimierte also zugleich die Sprachbegabung unserer Vorfahren.

6. Wörter sind Lautkombinationen, die nur aufgrund einer kulturellen Konvention etwas bedeuten. Sie stehen symbolisch für das, was sie bezeichnen, auch wenn es nicht da ist. Sie können sich aufeinander beziehen, bedeuten im Zusammenhang etwas anderes als jedes Wort einzeln. All dies sind Eigenschaften menschlicher Sprachen, die in der Tierkommunikation selten oder gar nicht vorkommen. Dennoch können Menschenaffen diese speziellen Eigenheiten unserer Sprachen im Grundsatz erlernen. Die wichtigsten Intelligenz-Voraussetzungen für eine sehr einfache Sprache waren demnach in der menschlichen Evolution früh gegeben, nämlich schon bei den Vorfahren der frühesten Menschen. 7. Grammatik und Wörter sind von ihrer Funktion her verwandt, von ihrer Form her nicht scharf trennbar und ergänzen sich. Mehr noch: Die sprachgestörte Familie Brown und Schlaganfallpatienten zeigen, dass die Artikulation von Wörtern und die Grammatik neurologisch die gleiche Basis haben. Daher ist es nicht sinnvoll zu glauben, Urmenschen wären zwar zu Wörtern, nicht aber zu Grammatik fähig gewesen.



Berger, R. Warum der Mensch spricht. Eichborn Verlag AG, 2008.

1

8. Immer wenn wir sprechen, sind all jene uralten Hirnstrukturen aktiv, mit denen Affen und andere Säugetiere ihre soziale Kommunikation regeln. Viele im Alltag hochwichtige Funktionen der Sprache sind denn auch mit den Aufgaben von Tierkommunikation engstens verwandt. Dazu gehören: − − −



Stimmungssignale: Wir signalisieren beim Sprechen über den Klang unserer Stimmen, ob wir gerade traurig oder fröhlich, böse oder freundlich gestimmt sind. Bindungs- und Rangsignale: Unsere Grussrituale bestätigen beispielsweise die soziale Verpflichtung zwischen den sich Grüssenden, und sie verweisen darüber hinaus auf die Enge der Bindung und die Hierarchieverhältnisse. Fitnesssignale: Die Qualität unserer Sprache (gute Artikulation, guter Wortschatz, korrekte Grammatik ...) ist ein Zeichen für geistige Gesundheit und Begabung («Fitness» im darwinschen Sinne), das wir Menschen an potenzielle Kooperationspartner oder Sexualpartner senden. Nicht viel anders, als es Kanarienvögel beim Trällern tun. Signale der Gruppenzugehörigkeit: So wie die gelernten «Passwörter» mancher Fledermausarten oder der regionale Dialekt von Dompfaffen signalisiert die kulturell geprägte sprachliche Form unserer Äusserungen den andern, ob wir «Insider» sind oder «Outsider», waschechte Schwaben oder Zugereiste, Mediziner oder Laien. Unsere Sprache stellt in diesen Bereichen natürlich ein leistungsfähigeres, nuancenreicheres Medium dar als Tierkommunikation. Doch die Funktionen sind im Grundsatz die gleichen, und sie wären schon mit einfacheren sprachlichen Mitteln erfüllbar, als wir heute dafür verwenden. Das deutet auf eine Kontinuität in der Entwicklung von der «Sprache» der Tiere zur Sprache der modernen Menschen hin.

9. Es gibt Anzeichen aus Neurologie (Spindelneuronen), Körperanatomie (das Weisse in unseren Augen) und Verhalten, die zeigen: Auch unabhängig von Sprache sind wir Menschen mehr noch als Menschenaffen auf soziale Kooperation und Kommunikation aus. Diese Eigenart kann ein Selektionsdruck für die Entstehung von Sprache gewesen sein. 10. Bei Affen ist es so: Je komplexer das Sozialleben einer Art, desto grösser ihr Gehirn. Da unsere Vorfahren Menschenaffen waren (und wir nach der biologischen Klassifizierung immer noch welche sind), können wir davon ausgehen: Als vor 2,6 bis 2 Millionen Jahren in unserer Linie das Gehirn zu wachsen begann, wurde das Sozialleben intensiver und komplizierter. Dies und die vorherigen beiden Punkte legen nahe. Sprache ist als Teil einer sozialen Spezialisierung des Menschen in genau dieser Zeit entstanden – und nicht Jahrmillionen später durch Zufallsmutation. Fazit: (Fast) alle Indizien weisen in die gleiche Richtung. Der sprachliche Weg der Menschheit hatte bei den ersten echten Urmenschen (Homo ergaster) vor 1,8 Millionen Jahren bereits begonnen.

2

Vom Menschenaffen zur Schrift in 30 Schritten Bei den Daten für die letzten 50 000 Jahre wurden die RadiokarbonRohdatierungsergebnisse in Kalenderjahre umgerechnet, zudem sind viele Funde in den letzten Jahren neu und besser datiert worden. Daher rühren etwaige Abweichungen mit anderer Literatur. 20 Millionen Jahre

Menschenaffen∗ (Hominiden) entstehen.

5–8 Millionen Jahre

Zeit der letzten gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Schimpansen.

5,5 Millionen Jahre

Ardipithecus kaddaba, ein schimpansenähnlicher Waldbewohner mit Neigung zu aufrechtem Gang (nichts Ungewöhnliches bei fossilen Menschenaffen).

4,4 Millionen Jahre

Ardipithecus ramidus, ähnlich wie kaddaba, aber mit kleineren Eckzähnen.

4–2,5 Millionen Jahre

Australopithecus (entstanden wohl aus Ardipithecus ramidus), ein Menschenaffe mit menschenähnlichem Gebiss, lebt in verschiedenen eng verwandten Arten zumeist an bewaldeten See- und Flussufern und ist spezialisiert auf (langsamen) aufrechten Gang. Die Australopithecinen haben ein schimpansenartiges Zungenbein und keine willkürliche Atemkontrolle.

2,6 Millionen Jahre

Die Polkappen vereisen, die Erde rutscht ins Eiszeitalter, das durch stark schwankendes Klima und Phasen von Trockenheit gekennzeichnet ist.

2,6 Millionen Jahre

Erste behauene Steine (Urheber ein Australopithecus mit Gehirngrösse wie Schimpanse).

2,6–2 Millionen Jahre

Die typischen Australopithecinen verschwinden. Wahrscheinlich Aufspaltung in zwei Linien: die Gattungen Homo (grösseres Gehirn bei nur leicht vergrösserten Zähnen) und Paranthropus (grössere Zähne bei nur leicht vergrössertem Gehirn). Homo ist in dieser Zeit nur durch wenige Fragmente nachgewiesen. Einen Unterkiefer rechnet man zu der nicht von allen anerkannten Art Homo rudolfensis. Ein anderer Fund zeigt einen Hirnschädel von 600 Millilitern Volumen, ein knappes Drittel mehr als bei Schimpansen üblich.

1,9 Millionen Jahre

Beginn der Blüte der Gattung Homo. Die Artzuteilung aller sicher in dieser Zeit datierten Fossilien ist fraglich. Wahrscheinlich Auswanderung nach Asien während einer feuchten Phase mit guten Lebensbedingungen in der Sahara.



Der Fettdruck zeigt an, dass ein wichtiger Vorfahre hier zum ersten Mal vorkommt.

3

1,8 Millionen Jahre

Homo ergaster, ein perfekt angepasster Geher und Läufer, ist erstmals sicher nachgewiesen. Seine erweiterten Nervenkanäle im Brust-Zwerchfellbereich deuten auf volle menschliche Feinkontrolle der Atemmuskeln hin. Schädelvolumina zu dieser Zeit 600 bis 800 Milliliter. Eine andere Homo-Art, Homo habilis, ist kleiner und sieht Australopithecus noch etwas ähnlicher. Home ergaster wird von vielen zu Homo erectus gerechnet, ein Begriff, der sehr unterschiedlich verwendet wird. Im weitesten Sinne können damit Home ergaster und all dessen archaische Nachkommen mit Ausnahme der Neandertaler gemeint sein. Im engeren Sinne steht Homo erectus aber für Urmenschen mit stärkeren Brauenwülsten, lang gezogeneren Schädeln und um circa 200 Milliliter grösseren Gehirnen als der ganz frühe Homo. Besonders in Ostasien war dieser Typ verbreitet («Javamensch»). Waren die verschiedenen Homo-Varianten tatsächlich verschiedene Arten? Darüber streiten sich die Geister, und es kommt auch auf die Definition von «Art» an. Dass alle diese Menschentypen untereinander fruchtbare Nachkommen hätten zeugen können (wenn sie denn gewollt hätten), ist sehr wahrscheinlich. Denn sie waren genetisch nicht weiter voneinander entfernt als heutige Pavianarten. Diese sind aber untereinander fortpflanzungsfähig und in den Grenzbebieten kommen Mischlinge vor.

1,5 Millionen Jahre

Beginn neuer Techniken in der Steinbearbeitung. Das Gehirn von Homo ergaster ist weiter gewachsen, liegt jetzt bei circa 700 bis 900 Millilitern.

1,4 Millionen Jahre

Letzter Nachweis von Homo habilis (dessen Gehirn bis zu seinem wahrscheinlichen Aussterben schrumpfte).

1,2 Millionen Jahre

Letzter Nachweis von Paranthropus, dem anderen Abkömmling der Australopithecinen.

800 000 Jahre

Erstmals einzelne Schädel mit über 1 200 Millilitern Volumen, dicht am heutigen Durchschnitt von circa 1 350 Millilitern. Erstmals Besiedelung Westeuropas nachgewiesen.

700 000–200 000 Jahre

Homo heidelbergensis: Menschen, die ein wenig wie eine Mischung aus uns heutigen Menschen und Homo erectus aussehen, deren Schädelvolumen jedoch jetzt bei allen Individuen im heutigen Normbereich liegt. Gehör angepasst an Konsonanten; heutige Zungenbeinkonfiguration (erster direkter Nachweis). Andere Bezeichnung für Homo heidelbergensis: Manche ordnen ihn Homo erectus zu, andere sehen ihn als «archaischen Sapiens». In Asien scheint der Heidelbergensis-Typus etwas jünger zu sein als in Afrika und Europa.

300 000–100 000 Jahre

Homo heidelbergensis entwickelt sich in Afrika zu Homo sapiens; in Europa und Westasien zu Homo neanderthalensis. Diese Schwesterspezies unterscheiden sich in Gesicht- und Schädelform stärker als Schimpansen und Bonobos, sind jedoch genetisch enger verwandt als diese. Bei beiden erreicht die durchschnittliche Grösse der Hirnschädel Spitzenwerte, die in der nacheiszeitlichen Phase wieder abfallen.

100 000 Jahre

Erste Nachweise von Schmuck (Muschelperlen, Homo sapiens, Afrika).

100 000 Jahre

Erste nachgewiesene Bestattung bei Homo sapiens (Israel). 4

70 000–65 000 Jahre

Auswanderbewegung von Homo sapiens aus Afrika nach Südasien. Vielleicht in der gleichen Zeit Auswanderbewegung von Neandertalern nach Zentralasien und Sibirien, wo sie wenig später erstmals nachweisbar sind. Im Nahen Osten finden sie sich schon seit etwa 120 000 Jahren.

70 000–40 000 Jahre

Neandertaler im Nahen Osten, Frankreich dem Balkan und Zentralasien bestatten ihre Toten.

50 000? Jahre

Neandertaler gewinnen Birkenpech, einen Kunststoff, durch Destillation.

50 000? Jahre

In Südasien finden sich noch immer erectusähnliche Menschen. Möglicherweise gab es Kontakt mit afrikanischen Einwanderern. Deren Technologie bleibt in Südostasien und Australien noch lange altertümlich.

43 000 Jahre

Warmes Intervall in Europa, dort erster nachgewiesener Schmuck: Neandertaler tragen Kettenanhänger aus Tierzähnen und Knochen.

42 000 Jahre

Homo sapiens erstmals in Europa nachgewiesen, wandert während der Warmphase von Westasien aus ein. Anatomische Hinweise auf gelegentliche Vermischung mit der Neandertaler-Urbevölkerung.

39 000 Jahre

Kältemaximum und ein katastrophischer Vulkanausbruch in Europa. Die besiedelbare Fläche schrumpft auf ein Drittel. Danach erste Skulpturen und Wandmalereien, Urheber vermutlich Homo sapiens (zweite Einwanderungswelle?). Wahrscheinlich kaum noch Neandertaler diesseits des Ebru.

32 000 Jahre

Letzte verlässlich datierte NeandertalerHinterlassenschaften in Gibraltar. Etwas weniger verlässliche Daten gehen auf der Iberischen Halbinsel bis zu 28 000 Jahren.

28 000 Jahre

Sapiens-Kind mit klaren anatomischen NeandertalerMerkmalen in Portugal.

18 000 Jahre

Sehr kleine Menschen («Hobbits») mit einigen archaischen Merkmalen leben auf der indonesischen Insel Flores. Der einzige bislang gefundenen Hirnschädel ist nur so gross wie bei Schimpansen. Litt das Individuum unter der Krankheit Mikrozephalie oder war dieses kleine Gehirn typisch für die Spezies? Handelte es sich um moderne Pygmäen mit archaischen Merkmalen oder waren diese Wesen Nachkömmlinge von Homo ergaster, erectus oder gar habilis, die sich hier knapp zwei Millionen Jahre lang vom Rest der Menschheit isoliert entwickelten? Niemand kann das derzeit mit Sicherheit sagen.

12 000 Jahre

Ende der letzten Eiszeit, Landwirtschaft auf der nördlichen Halbkugel, erste Städte.

6 000 Jahre

Erste eindeutige Schrift. Damit erster direkter Beleg für die Sprache.

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