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  • Words: 60,054
  • Pages: 196
Pablo Quintero & Sebastian Garbe (Hg.)

Kolonialität der Macht

Herausgeber: Pablo Quintero, geboren in Venezuela, hat an den Universitäten Central de Venezuela und FLACSO Anthropologie und lateinamerikanische Geschichte studiert und gründete im Jahr 2008 die Forschungsgruppe GESCO (Grupo de Estudios sobre Colonialidad). Im Moment schließt er seine Doktorarbeit an der Universität von Buenos Aires ab. Sebastian Garbe, geboren in Deutschland, hat an den Universitäten von Wien und Buenos Aires Kultur- und Sozialanthropologie studiert und ist seit 2009 Mitglied der Forschungsgruppe GESCO an der Universität von Buenos Aires.

Pablo Quintero & Sebastian Garbe (Hg.)

Kolonialität der Macht De/Koloniale Konflikte: zwischen Theorie und Praxis

UNRAST

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Pablo Quintero & Sebastian Garbe (Hg.): Kolonialität der Macht 1. Auflage, März 2013 ISBN: 978-3-89771-650-6 © UNRAST-Verlag, Münster Postfach 8020 | 48043 Münster | Tel. (0251) 66 62 93 [email protected] | www.unrast-verlag.de Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe) Umschlag: Dieter Kaufmann, www.dk-kunst.de Satz: Andreas Hollender, Köln Druck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Inhalt Pablo Quintero/Sebastian Garbe Einleitung Hinführung zum Konzept der Kolonialität der Macht Beschreibung des Inhalts Anmerkungen zur Übersetzung der Texte und den sprachlichen Feinheiten Danksagung Literatur

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Glossar Literatur

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Sebastian Garbe Das Projekt Modernität/Kolonialität – Zum theoretischen/ akademischen Umfeld des Konzepts der Kolonialität der Macht Einleitung Zur Entstehung Zu den Fremd- und Eigenbezeichnungen Zu den Werken Einflüsse und Abgrenzungen Konzepte und Forschungsschwerpunkte Schlussbemerkungen Anhang Literatur

21 21 22 24 26 30 34 45 46 47

Pablo Quintero Macht und Kolonialität der Macht in Lateinamerika Einleitung Macht und Gesellschaft Kolonialität der Macht und die soziale Strukturierung der Moderne Kolonialität der Macht, Modernität und Lateinamerika Literatur

53 53 56 59 65 68

César Germaná Eine Epistemologie der anderen Art. Der Beitrag von Aníbal Quijano in der Neustrukturierung der Sozialwissenschaften in Lateinamerika Kolonialität des Wissens und die »Epistemologie einer anderen Art« im Werk von Aníbal Quijano Eine Epistemologie der anderen Art und die Neustrukturierung der Sozialwissenschaften Literatur

7 8 11

71 73 84 89

Pablo Quintero Entwicklung und Kolonialität Einleitung Entwicklung und eurozentrische Modernität/Kolonialität Entwicklung und kolonialer/moderner Kapitalismus Entwicklung und Reorganisation des Kapitalismus und der Modernität/Kolonialität Einige Schlussbemerkungen Literatur Boris Marañon In Richtung eines alternativen Horizontes von Diskursen und Praktiken deskolonialer Widerstände. Anmerkungen über ökonomische Solidarität und Buen Vivir Deskolonialität der Macht und ein neuer deskolonialer historischer Ideenhorizont: Das Buen Vivir Die Spannungen zwischen Extraktivismus/Entwicklungspolitiken und der Ökonomie des Buen Vivir Einige zentrale Elemente der ökonomischen Diskussion Abschlussbemerkungen Literatur

93 93 95 102 107 110 112

115 117 120 127 140 142

Martin E. Díaz Biopolitik und Kolonialität in der Entstehung des modernen Argentinien Einleitung Die geplante Nation: Vom ›lebensleeren Raum‹ zur Medikalisierung des sozialen corpus Die Stadt vom Verfall und dem ›schlechten Leben‹ heilen Die Möglichkeit einer ›raza argentina‹ Literatur

150 156 164 167

Zulma Palermo Die lateinamerikanische Universität auf dem dekolonialen Scheideweg Die Kolonialität nimmt Orte ein In Richtung einer Loslösung Die Universität für/mit wem? Übermittlung Literatur

171 172 175 184 191 193

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Einleitung Pablo Quintero/Sebastian Garbe Mitte der 1990er Jahre bildeten sich in Lateinamerika eine Reihe kritischer Überlegungen heraus, die versuchten, eine Theorie über die eigene historisch-kulturelle Erfahrung aus einer neuen Perspektive zu produzieren. Die darin erklärten Phänomene sollten jedoch nicht nur analysiert, sondern vor allem überwunden werden. Diese Überlegungen haben sich um ein Projekt angeordnet, das mit dem Namen Modernität/Kolonialität (Modernidad/ Colonialidad i.O.) bezeichnet wurde. Diese Perspektive stellt vielleicht die vielversprechendste Strömung des gegenwärtigen lateinamerikanischen kritischen Denkens dar, das sich um die analytische Kategorie der Kolonialität (Colonialidad i.O.) gesammelt hat. Diese Kategorie stellt einen epistemischen Knotenpunkt dar, der von dem peruanischen Soziologen Aníbal Quijano Anfang der 1990er Jahre vorgeschlagen wurde und von dem aus die Macht- und Wissensverhältnisse in der modernen Welt betrachtet werden können – vor allem aus lateinamerikanischer Perspektive und aus der historischen Herausbildung der Sozialwissenschaften. Die Konzeptualisierung der Kolonialität impliziert daher notwendigerweise, wie wir zeigen zu hoffen, auch eine kritische Revision der Moderne, wie sie bereits ausgehend von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule unternommen wurde, diesmal jedoch aus einer anderen Verortung heraus. So wird aufgrund der historisch-kulturellen Erfahrung der Region Lateinamerika eine weitere ›dunkle Seite‹ der Moderne sichtbar, die in anderen kritischen Perspektiven nur eine geringe Betrachtung erhält. Ein zweiter Schritt, den wir hier mit der Einführung in die Idee der Kolonialität machen möchten, bezieht sich auf die Reflexion über soziokulturelle Machtasymmetrien in globaler Ausbreitung und historischer Ausdehnung. Die Kolonialität der Macht unternimmt den Versuch eben darüber Auskunft zu geben und stellt einen lateinamerikanischen Beitrag über diese weltweit geführt Debatte dar. Seien es kritische Analysen anhand des Imperiums von Antonio Negri oder Michael Hardt, der Netzwerkgesellschaft von Manuel Castells, des neuen Imperialismus von David Harvey, die dem deutschsprachigen Publikum vielleicht am bekanntesten sind. Die Gemeinsamkeit dieser Vorschläge ist es, eine radikale Kritik an der globalen Ausbreitung des Kapitalismus sowie dessen symbolischer Ordnung zu formulieren und | 7

einen Aspekt des Werkes des späten Karl Marx sowie von Lenin und Rosa Luxemburg fortzusetzen. Dabei ist es uns wichtig, das Konzept der Kolonialität, so wie es ursprünglich von Aníbal Quijano herausgearbeitet wurde, und, damit inbegriffen, diese einzigartige systematische Reflexion über dieses Konzept vorzustellen. Die Idee von Kolonialität wird zwar bereits in globalen Strömen kritischen Denkens verwendet (z.B. in Stam/Shohat 2012 oder Hardt/Negri 2009), ein Rückbezug auf das Werk von Quijano ist jedoch nicht vorhanden. Drittens möchten wir einen Aspekt innerhalb der Perspektive von Aníbal Quijano und des Konzepts der Kolonialität der Macht betonen, der für eine kritische Wissensproduktion unumgänglich ist, eine ethische Komponente beinhaltet und wo es, in den Worten von Karl Marx, nicht nur darauf ankommt, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Dies besteht nach Aníbal Quijano im ›Loslösen‹ (desprenderse i.O.) von den Implikationen der Kolonialität der Macht und seinen Dimensionen, wovon sich das Präfix ›des-‹ für die Bezeichnung dieser deskolonialen Perspektive ableitet. All diese Schnittstellen zwischen Kolonialität der Macht und der Loslösung davon, als politische Praxis oder kritische Theorie, bezeichnen wir hier als de/koloniale Konflikte zwischen Theorie und Praxis. Dieser Sammelband stellt daher den Versuch dar, einen Ausschnitt der lateinamerikanischen Debatte rund um das Konzept der Kolonialität der Macht einem deutschsprachigen Publikum vorzustellen und einen systematischen Zugang zum Verständnis dieser Idee zu ermöglichen. Wenn man sich aus europäischer Perspektive, spezifischer aus deutschsprachiger Sicht, mit politischen Transformationsprozessen in Lateinamerika beschäftigen möchte, sei es als interpretatives Unterfangen oder aus Solidarität, halten wir es für unumgänglich das Vokabular dieser Prozesse zu kennen. Wie jedes Vokabular sind auch die Konzepte, Kategorien und Ideen der hier vorgestellten Perspektive sprachliche Werkzeuge, um gewissen Situationen einen Sinn und eine Erklärung zu geben, aber auch – beginnend mit der Kolonialität der Macht – mögliche gesellschaftliche Veränderungen zu denken und anzutreiben.

Hinführung zum Konzept der Kolonialität der Macht Eines der wichtigsten Charakteristika des Projektes Modernität/Kolonialität ist sein gemeinsames systematisches Feld von theoretischen (Heraus-)Forderungen, die zum einen auf einige Aspekte der westlichen Sozialtheorie gerich8 |

tet sind und zum anderen versuchen, die Grenzen der lateinamerikanischen Sozialwissenschaften aufzubrechen, die sich an den hegemonialen Theorien orientiert. Diese theoretischen (Heraus-)Forderungen und konzeptionellen Schwerpunkte sind: 1) Der Versuch, die Ursprünge der Moderne in der Eroberung Amerikas und in der europäischen Hegemonie über den Atlantik ab Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts zu verorten. Dies im Gegensatz zur herkömmlichen Perspektive über die Moderne als Phänomen der Aufklärung, industriellen Revolution oder Reformation. 2) Ausgehend davon werden die durch den Kolonialismus entstehende Machtstruktur und die Gründungsdynamiken des modernen/kapitalistischen Weltsystems mit seinen spezifischen Akkumulations- und Ausbeutungsregimes auf globaler Ebene betont. 3) Dadurch wird die Moderne als ein weltweites Phänomen betrachtet, das durch asymmetrische Machtverhältnisse begründet wurde statt durch symmetrische Phänomene innerhalb Europas, die später auf den Rest der Welt übertragen wurden. 4) Diese asymmetrischen Machtbeziehungen zwischen Europa und den anderen Weltregionen und -bevölkerungen stellt eine konstitutive Dimension der Moderne dar und impliziert notwendigerweise die Subalternisierung der Wissens- und Seinsformen der kolonisierten Bevölkerungen. 5) Die Subalternisierung des Großteils der Weltbevölkerung geschah durch eine spezielle und bisher nicht bekannte Form von sozialer Klassifikation (clasificación social i.O.) anhand von, heute würde man sagen, phänotypischen Unterschieden zwischen Menschen sowie von Geschlechts- und Sexualitätskonstruktionen. 6) Schließlich wird der Eurozentrismus als eine spezifische Wissensform und Produktionsweise von Subjektivitäten innerhalb dieses globalen Machtmusters identifiziert, auf den notwendigerweise und auf unterschiedliche Art alle institutionalisierten Wissensformen reagieren müssen – natürlich auch die Sozialwissenschaften. Aus diesen (Heraus-)Forderungen leiten sich nun einige alternative Ideen ab, um die historische Entstehung und gemeinsame Konstitution von Modernität und Kolonialität (der Macht) zu verstehen: 1) Das Hinterfragen der traditionellen unilinearen Geschichtsschreibung der Moderne, der ihr einen ausschließlich europäischen Ursprung zuschreibt (Dussel 2000). 2) Ein neues räumliches und zeitliches Verständnis der Moderne (Escobar 2005), das die Zentralität des spanischen und portugiesischen Kolonialismus in der Entstehung der modernen Welt, des Kapitalismus und der globalen Zusammenhänge (Globalisierung) betont (Mignolo 2000). 3) Der Kontinent Amerika hat nun eine Hauptrolle in der Moderne als das erste in ihr ›entdeckte‹ Territorium. Es wird behauptet, dass sich mit der | 9

Eroberung Amerikas und in diesem historischen Wendepunkt ein neues System von Beherrschung (dominación i.O.) und von sozialer Ausbeutung (explotación social i.O.) herausbildet und damit ein neues Konfliktmuster (patrón de conflicto i.O.) (Quijano 2007). 4)  Die historisch-strukturelle Abhängigkeit Lateinamerikas und anderer Peripherien im Weltmarkt ist keine vormoderne Etappe, sondern ganz im Gegenteil die versteckte Seite des modernen Projektes und ihrer Beherrschungs- und Ausbeutungslogiken. 5)  Die Moderne besitzt somit eine dunkle Seite, die durch ein bisher so nicht bekanntes Machtmuster (patrón de poder i.O.), in diesem Falle durch die Kolonialität, gebildet wird. Somit repräsentiert die Moderne nicht nur das befreiende Potenzial für die Menschheit, sondern die Moderne selbst ist voll von Widersprüchen und Gewalt (Horkheimer/Adorno 2005). Aber nicht nur nach innen, auf Europa selbst gerichtet, sondern auch nach außen, auf die nicht-europäischen Bevölkerungen. 6) Die Kolonialität ist als Machtmuster der Moderne nicht nur eine Form der Beherrschung oder die Ausübung von direkter Gewalt, sondern enthält auch andere Formen von Gewalt gegenüber Wissensformen und der Herstellung von Subjektivitäten (epistemische Gewalt). Das heißt, die Kolonialität festigt die asymmetrischen geopolitischen Wissens- und Machtverhältnisse (Lander 2000). Die Kategorie Kolonialität oder Kolonialität der Macht, so wie wir sie hier im Sinne von Aníbal Quijano verstehen, benennt ein spezifisches strukturelles Machtmuster der Moderne, das ausgehend von der Eroberung Amerikas und in der darauffolgenden weltweiten Hegemonie Europas entstand. Sie setzt sich historisch hauptsächlich aus der Verknüpfung von zwei Elementen zusammen: erstens einem Beherrschungsmuster, das auf einem Geflecht von intersubjektiven gesellschaftlichen Beziehungen und der hierarchischen Sozialklassifikation der Weltbevölkerung beruht. Zweitens einem Ausbeutungssystem, das in der Verbindung von allen bekannten Formen der Ausbeutung von menschlicher Arbeitskraft besteht und diese in einer einzigen Struktur unter der Hegemonie des Kapitalismus anordnet. Die Kolonialität ist in diesem Sinn eines der konstitutiven Elemente des globalen kapitalistischen Machtmusters. Es setzt die Eroberung Amerikas voraus, mit der sich das entstehende Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit globalisiert und die hegemonialen Zentren sich an den Gebieten des Nordatlantik festschreiben, die sich später als Europa und Nordamerika identifizieren (lassen). Eine der zentralen Achsen der weltweiten kapitalistischen Verhältnisse ist also die Kolonialität.

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Beschreibung des Inhalts Der erste Teil dieses Sammelbandes möchte der deutschsprachigen Leserschaft eben dieses Konzept der Kolonialität der Macht vorstellen, an das wir uns bereits knapp angenähert haben. Der Text »Das Projekt Modernität/Kolonialität« von Sebastian Garbe, Kultur- und Sozialanthropologe der Universität Wien und Mitglied der Forschungsgruppe GESCO (Grupo de Estudios sobre Colonialidad – Forschungsgruppe über Kolonialität) in Argentinien, stellt das ebenfalls bereits erwähnte intellektuelle Umfeld des Forschungsprojektes oder Kollektivs Modernität/Kolonialität in seinen unterschiedlichen Dimensionen dar, das sich ausgehend von der Kategorie der Kolonialität der Macht von Aníbal Quijano entwickelt und dessen grundlegenden Postulate weiter präzisiert hat. Der Beitrag von Pablo Quintero, Anthropologe der Universidad Central de Venezuela, nähert sich der Kategorie der Kolonialität der Macht zum einen in seiner analytischen und zum anderen in seiner historisch-deskriptiven Dimension an. Der Autor möchte dabei die Reflexion von Aníbal Quijano über das soziale Phänomen der Macht hervorheben, die sich von eurozentrischen Machttheorien unterscheidet und somit für die Erklärung der soziohistorischen Erfahrung Lateinamerikas besser geeignet ist. Darauf stellt César Germaná, Soziologieprofessor an der Universidad Nacional Mayor de San Marcos in Lima/Peru, das Denken zwei der wichtigsten lateinamerikanischen Intellektuellen des letzten Jahrhunderts, José Carlos Mariátegui und Aníbal Quijano, als eine Epistemologie »der anderen Art« vor. Das intellektuelle und politische Werk von Mariátegui und Quijano wird gemeinsam vorgestellt und anhand der Perspektive der Kolonialität der Macht und der Eurozentrismuskritik von Quijano präzisiert. Im zweiten Abschnitt dieses Buches beschäftigen sich zwei Arbeiten mit der Analyse anhand der Kolonialität der Macht von einer konkreten de/ kolonialen Praxis- und Theorieform, der Idee von Entwicklung(-spolitiken) und einem alternativen Vorschlag dazu aus Lateinamerika. Pablo Quintero wendet die explikative Weite der Kategorie der Kolonialität der Macht in einer Dekonstruktion des Entwicklungsgedanken und seiner spezifischen Verortung innerhalb der Moderne und ihrer hegemonialer Wissensform, dem Eurozentrismus, an. Diese Arbeit leitet somit zu der notwendigen Frage nach Alternativen nicht nur im Entwicklungsdiskurs, sondern allgemein als historischem Erwartungshorizont (horizonte de sentido i.O.) für lateinamerikanische Gesellschaften über. | 11

Darauf antwortet nun Boris Marañon, Ökonom der Universidad Nacional Agraria la Molina in Lima/Peru und Doktor in Lateinamerikastudien der Universidad Nacional Autónoma de México in Mexiko Stadt, mit der Idee des Buen oder Bien Vivir als eine an der Schnittstelle zwischen Kolonialität und Modernität entstandene und nun zur Debatte stehende Kategorie als Ausrucksform sozio-ökonomischer Alternativen in Lateinamerika. Die praktischen Konsequenzen aus der theoretischen Diskussion um Kolonialität werden im letzten Teil des Buches behandelt und tragen zu einem Verständnis der Kolonialität der Macht in lokalen, in diesem Falle argentinischen, Kontexten bei. Wir halten diese regionale Komponente für einen wichtigen Beitrag, um die lokale Wirkungsmacht der Kolonialität zu verdeutlichen und zwar in dem Raum, wo wir uns als Intellektuelle innerhalb des wissenschaftlichen Betriebes verorten und dessen spezifische Geschichte von Kolonialität heute noch zu sehr vernachlässigt wird. Martín E. Díaz, Philosoph und Historiker der Universidad Nacional del Comahue in Neuquén/Argentinien, zeigt in seinem Beitrag, wie um die 1900er Jahrhundertwende in Argentinien spezifische gesellschaftliche Mechanismen in der Produktion von gewünschtem und unerwünschtem Leben wirkten. Ein Verständnis dieser Biopolitiken wäre in einem nichteuropäischen Land und nur anhand eurozentrischer Introspektionswerkzeuge kaum zu erreichen, weswegen auf die Kolonialität als Analyseinstrument zurückgegriffen wird. Zum anderen möchte Zulma Palermo, Literaturprofessorin an der Universidad Nacional de Salta in Argentinien darauf aufmerksam machen, wie in peripheren Gebieten die Problematik der Wissensproduktion und -reproduktion, vor allem an den Universitäten, aber auch darüber hinausgehend, gedacht wird und wie die Kolonialität des Wissens überwunden werden kann. Als eine der Mitbegründerin des Projekts Modernität/Kolonialität schließt Zulma Palermo diesen Sammelband ab und überlässt uns die Übermittlung von Kolonialität in de/koloniale Theorie und Praxis.

Anmerkungen zur Übersetzung der Texte und den sprachlichen Feinheiten Da all diese Texte (bis auf den Beitrag von Sebastian Garbe) das erste Mal in deutscher Sprache übersetzt werden und auch die Perspektive der Kolonialität der Macht von Aníbal Quijano sowie des Kollektivs Modernität/ Kolonialität bisher kaum ins Deutsche übertragen wurden, stellen diese 12 |

Arbeiten einen ersten, vorläufigen Übersetzungsversuch und -vorschlag dar.1 Da eine Übersetzung aber immer auch eine Transformation des Originals ist, möchten wir einige sprachliche Besonderheiten klären. In diesem Sinne haben sich die Übersetzerinnen und Übersetzer nah an den Originaltexten orientiert, um einen möglichst unvermittelten Eindruck der spanischsprachigen Arbeiten zu belassen. Bereits in dieser Einleitung haben wir spezifische Ausdrücke der Perspektive von Aníbal Quijano als elementare Bestandteile des Konzepts der Kolonialität der Macht, die in fast allen weiteren Texten auftauchen, im Original hinzugefügt. Ausdrücke, deren deutsche Übersetzung wir nicht für sinngemäß erachteten, werden in diesem Sammelband im Original gelassen und in einem Glossar erklärt. Dieses Glossar erklärt vor allem einige der zentralen Begriffe des in Lateinamerika geläufigen rassistischen Vokabulars, das leider benannt werden muss, um die dadurch legitimierten historischen Prozesse aufzudecken und zu kritisieren. Diejenigen, die sich dadurch diskriminiert fühlen sollten, möchten wir daher um Verständnis und Entschuldigung bitten. Wegen folgender Motive möchten wir dieses Vokabular im Original belassen: Ein elementarer Bestandteil der Kolonialität der Macht ist die Diskussion von und die Kritik an hierarchisierenden Sozialklassifikationen, vor allem anhand der Idee von biologischen, phänotypischen oder vererbten Unterschieden der Menschheit. Die These, dass es zentrale Unterschiede zwischen identifizierbaren menschlichen Gruppen gibt und diese zu verschiedenen körperlichen, intellektuellen oder moralischen Fähigkeiten führen, ist ein Element des sogenannten wissenschaftlichen Rassismus oder in den Worten von Aníbal Quijano, einer »Idee von Rasse« (idea de raza i.O.), die bereits mit der Eroberung Amerikas und somit vor den systematisierten rassistischen Vorstellung entstand. Wir haben uns dazu entschieden, raza im Spanischen zu übernehmen, um erstens auf diesen historischen Unterschied aufmerksam zu machen. Zweitens, um eine nach wie vor übliche Sozialkategorie im spanischsprachigen Lateinamerika sichtbar zu machen (und damit zu denunzieren), die den lokalen Rassismus und die darauf aufbauenden Machtverhältnisse legitimiert. Drittens, um das Phänomen des Rassismus zwar als ein globales Phänomen der Moderne zu erkennen, ohne aber seine spezifischen und unterschiedlichen lokalen/regionalen Ausprägungen zu 1

Allerdings wurden kürzlich zwei neuere Werke von Enrique Dussel (2012) und Walter Mignolo (2012) bei dem Verlag Turia+Kant herausgegeben. Ein weiterer Übersetzungsvorschlag ist die Diplomarbeit eines der Herausgeber, Sebastian Garbe, an der Universität Wien (2012). | 13

verwischen, da sonst unterschiedliche historische Erfahrungen, die zwar alle auf eine Form des Rassismus aufbauen, nicht zu verstehen wären. Denn es sind unterschiedliche rassistische Ausprägungen, die z.B. auf der einen Seite in Europa die Shoah ermöglichten und auf der anderen Seite in Amerika die sklavenartige Ausbeutung der indigenen Bevölkerung. Viertens, um dem deutschsprachigen Äquivalent keinen Raum zu geben, der rassistische Sozialkonstruktionen als etwas anderes als eben Konstruktionen erkennen ließe. Eine weitere Problematik dieser Übersetzungen ist, dass wir die genderspezifischen Sprachformen wie im Original übernommen haben, sodass in einem Großteil der Texte keine gendersensibele Sprache verwendet wird. Dies soll kein Ausdruck der Ignoranz der Herausgeber und Übersetzer_innen gegenüber den Verknüpfungen von Sprache und Macht in Bezug auf Geschlechts- und Sexualitätskonstruktionen sein, sondern sichtbar machen, dass die Praxis des gendersensibelen Schreibens so gut wie kaum bei lateinamerikanischen Intellektuellen verbreitet ist.2 Demnach ist es uns ein Anliegen, diesen androzentrischen Schreibstil bewusst offenzulegen.

Danksagung Die Herausgeber möchten sich bei allen an diesem Projekt beteiligten Personen herzlich bedanken: Allen voran den Autorinnen und Autoren dieses Sammelbands für die Möglichkeit, ihre Texte übersetzen und für diesen Band verwenden zu dürfen. Dies gilt auch für die Autorinnen und Autoren, deren Texte letztendlich nicht zwischen diesen Seiten auftauchen, aber deren Lektüre und Übersetzung dieses Projekt ebenfalls unterstützt haben. Besonderer Dank gilt selbstverständlich den Übersetzerinnen und Übersetzern der Artikel, die allesamt viel Zeit und Mühe aufgebracht haben und ohne die dieser Sammelband über die Kolonialität der Macht nicht möglich gewesen wäre: Caroline Garbe, Julia Stranner, Tobias Boos, Sebastian Kratzer und Verena Melgarejo Weinandt. Abschließend bedanken wir uns herzlich beim Unrast-Verlag für die Unterstützung und Ermutigung in dieser Idee und für die unkomplizierte und geduldige Kommunikation zwischen Deutschland und Argentinien. 2

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Eine gendersensibele Schreibweise wäre im Spanischen z.B. anstatt amigo oder amiga, amigx oder amig@. Im Glossar verwenden wir den Trennstrich (amigo/a), da diese rassistische Sozialklassifikation auch nur über Heteronormativität funktioniert.

Literatur Dussel, Enrique. 2000. Europa, Modernidad y eurocentrismo. In: Lander, Edgardo [ed]. La Colonialidad del Saber. Buenos Aires. CLACSO. 39-51 —. 2012. Der Gegendiskurs der Moderne. Frankfurter Vorlesungen. Wien. Turia+Kant. Escobar, Arturo 2005. Mas allá del Tercer Mundo, Globalización y Diferencia. Universidad del Cauca Hardt/Negri. 2009. Common Wealth. Das Ende des Eigentums. Frankfurt/Main. Campus Verlag Horkheimer, Max/Adorno, Theodor. 2005. Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/Main. Fischer Lander, Edgardo [ed]. 2000. La Colonialidad del Saber. Buenos Aires. CLACSO. Mignolo, Walter. 2000. Local Histories/Global Designs. New Jersey. Princeton University Press —. 2012. Epistemischer Ungehorsam. Wien. Turia+Kant. Quijano, Aníbal. 2007. Colonialidad del poder y clasificación social. In: Castro-Gómez, Santiago/Grosfoguel, Ramón [ed]. El giro decolonial. Bogotá. Siglo del Hombre Editores. 93-126 Stam/Shohat. 2012. Race in Translation. Cultural Wars Around the Postcolonial Atlantic. New York. New York University Press.

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Glossar Anderssein – Damit haben wir alle Ausdrücke übersetzt, die auf Spanisch als alteridad und/oder otredad sowie auf Englisch als Other benannt werden. Gemeint ist die ontologische Verneinung von Individuen oder Kollektiven aufgrund rassistischer Markierungen und der Annahme einer fundamentalen Abweichung des Seins, das außerhalb der bestehenden Norm steht (siehe auch Díaz, Fußnote 13). Blanco/a – Scheinbar europäischstämmiges Individuum weißer Hautfarbe (siehe auch criollo/a). Blanqueamiento – Dies bezeichnet das Dispositiv, nach dem sich alle lateinamerikanischen Bevölkerungsgruppen einem rassistisch konstruierten ›weißem‹ Ideal annähern sollen, wörtlich ›weiß machen/werden‹, sowohl für das eigene als auch das gesellschaftliche Wohl. Dies ist je nach Kontext durch kulturelle Assimilation, blanqueamiento cultural (›weißes‹ Verhalten), oder biologische Reproduktion mit ›weißen‹ Individuen, blanqueamiento racial (›weiße‹ Nachkommen), möglich. Eine Loslösung von Machtbeziehungen wird paradoxerweise also nur möglich, indem deren rassistische Basis akzeptiert wird. Cono Sur – Die Länder und Regionen des südlichsten Lateinamerikas mit einer europäischstämmigen Bevölkerungsmehrheit, wörtlich der ›Südkegel‹. Dazu gehören Argentinien, Chile, Uruguay und in einem weiteren Sinne die Region Río Grande do Sul in Brasilien. Conquista – Der Eroberungs- und Kolonisierungsprozess des amerikanischen Kontinents ab 1492. Criollo/a (und Gaucho) – Die Bevölkerungsgruppen oder Individuen die in Lateinamerika geboren sind, aber ausschließlich europäischen Vorfahren haben. Die Vorstellung über die eigene Nation wird im Cono Sur mit der Figur des Gauchos (in Chile Huaso) personifiziert, eine Projektionsfläche der eigenen Nation in einer lateinamerikanischen Cowboy-Figur. Democracia racial – Mit diesem Ausdruck wird der Begriff für ein politisches System der gleichberechtigten Teilhabe auf die rassistisch gedachte Zusammensetzung der Bevölkerung angewandt: Sowohl die ›Farbenvielfalt‹ der Bevölkerung als auch die gleichen Rechte inner| 17

halb eines Staates unabhängig von der Hautfarbe werden damit als Mythos, vor allem in Venezuela, Kolumbien und Brasilien, behauptet. Entwicklung – Der Begriff der Entwicklung ist an manchen Stellen kursiv gesetzt, um die Wirkungsmacht der Idee von Entwicklung hervorzuheben. Diese bezieht sich auf einen allgemeinen sozialen Veränderungsprozess, der in einem positiven und natürlichen Sinne formuliert wurde und zeitlich kumulativ und progressiv ist. Er ist nicht vom Zufall abhängig, sondern folgt ganz im Gegenteil als universell postulierten spezifischen und kontinuierlichen Etappen. Extraktivismus – Ein im Deutschen noch nicht gebräuchlicher Ausdruck, um das derzeitig hegemoniale Akkumulationsmodell in vielen lateinamerikanischen Ländern zu bezeichnen, das die massive Ausbeutung von natürlichen Ressourcen privilegiert (siehe auch FDCL/RL-Stiftung 2012). Historische Erinnerung – Wenn in Lateinamerika von memoria histórica die Rede ist, dann meistens um den Gegensatz zur offiziellen Geschichtsschreibung und die Erinnerung an systematisch verschwiegene historische Prozesse/Ereignisse zu betonen. Ideen- oder Zukunftshorizont – Ein horizonte de ideas oder de futuro meint die Vorstellung einer zukünftigen oder zu erwartenden Verbesserung der gesellschaftlichen Lebensumstände, einer zu erreichenden Utopie. Indio/a und Indígena – Im Gegensatz zu linguistischen oder kulturalistischen Versuchen, diese Kategorie zu bestimmen, halten wir indio/a oder indígena für eine koloniale und rassistische Kategorie, da sie eine generelle Unterschiedlichkeit der amerikanischen ›entdeckten‹ und kolonisierten ›Urbevölkerung‹ annimmt (siehe auch raza). Limpieza/pureza de sangre – Nach Walter Mignolo und Santiago CastroGómez ist dies der erste universalistische Diskurs der Moderne, der im 16. Jahrhundert als Klassifikationsschema der Weltbevölkerung funktionierte. »Weiß zu sein war weniger eine Frage der Hautfarbe, als vielmehr der Inszenierung einer kulturellen Vorstellungswelt, in der religiöse Bekenntnisse, Insignien sozialer Distinktion, Verhaltensweisen und [...] Formen der Wissensproduktion miteinander verwoben waren.« (Castro-Gómez 2005: 8) »Obwohl er nicht erst im 16. Jahrhundert aufkam, sondern im christlichen Mittelalter entstand, gewann der Diskurs über die ›Reinheit des Blutes‹ dank der spanischen Han18 |

delsexpansion in Richtung Atlantik und des Beginns der europäischen Kolonisierung weltweiten Einfluss.« (ebd.: 39) Mestizo/a und mestizaje – Neben india/o und criollo/a ist hier der Ausgangspunkt für eine rassistische Taxonomie der Bevölkerung in Lateinamerika, da ein/e mestizo/a ein ›Mischling‹ zwischen indio/a und blanca/o sei. Darauf baut sich die restliche spontane Soziologie für die Bevölkerung in Lateinamerika auf, immer konstruiert durch den ›Reinheitsgrad‹ des Blutes und gemessen am Abstand zum letzten nicht-europäischen Nachfahren: mulata/o (Nachfahren von einem Spanier und einer ›Schwarzen‹), tercerón/a (drei Generationen ohne ›schlechtes Blut), quinterón/a (vier Generationen ›Abstand‹), quinterón/a (fünf Generationen, wodurch die ›Reinheit des Blutes‹ wiederhergestellt wurde). Amarillos/as (›Gelbe‹) steht dem europäischen Rassismus in nichts nach und bezeichnet scheinbar asiatischstämmige Individuen und zambo/a ist ein Nachfahre von negro/a und indio/a. Mito de blancura – Aufbauend auf der limpieza de sangre ist der ›Mythos der Weißheit‹ eine nationalistisch geprägte Selbstkonstruktion über die rassistisch konzipierte Zusammensetzung der Bevölkerung. Der mito de blancura bestreitet daher vor allem im Cono Sur die Existenz von nicht europäischen Bevölkerungsgruppen und Individuen (siehe v.a. den Beitrag von Martin E. Díaz in diesem Band). Negro/a – scheinbar afrikanischstämmiges Individuum dunkler Hautfarbe Rassiologisch/rassialisieren – Wenn etwas einer rassistischen Logik folgt, ist es rassiologisch. Damit übersetzen wir den spanischen Ausdruck racial und weisen auf die Unhaltbarkeit der These von ›Menschenrassen‹ hin. Außerdem kann damit neben dem ideologischen Charakter die spezifische Logik (siehe z.B. mestizo/a) des Rassismus betont werden. Nach rassistischen Konstruktionen z.B. eine Bevölkerungsgruppe zu benennen, wäre demnach, diese zu rassialisieren. raza – Dieser Ausdruck bleibt auf Spanisch bestehen, um auf den historischen Unterschied des Rassismus aufmerksam zu machen, seine lokalen/regionalen Ausprägungen in Lateinamerika, den Gebrauch dieser Kategorie zu denunzieren, und viertens, um dem deutschsprachigen Äquivalent keinen Raum zu geben (auch wenn es selbstverständlich Überschneidungen gibt). In den Worten von Quijano wird diese unterschiedliche Bedeutung erkennbar: »Mit der Entstehung Amerikas | 19

bildet sich eine neue gedankliche Kategorie, die Idee von raza, heraus. Seit dem Beginn der Conquista, starteten die Eroberer eine historisch fundamentale Diskussion für die späteren Beziehungen der Menschen auf dieser Welt, speziell zwischen Europäern und Nicht-Europäern: ob die Eingeborenen von Amerika eine Seele besitzen oder nicht.« (Quijano 1993: 167) Soziale Vorstellungen – Unter dem Einfluss von Aníbal Quijano hat sich Cornelius Castoriadis‘ Konzept eines ›gesellschaftlich Imaginären‹, eines imaginario social, durchgesetzt. Wir bevorzugen jedoch diese Übersetzung für gesellschaftliche, kollektive Projektionsflächen. Reoriginalización – Das Konzept von Quijano steht in einem innigen Verhältnis zur Idee der Subversion in kolonialen Kontexten. Es meint eine (Wieder-)Aneignung und gleichzeitige Transformation des soziokulturellen Erbes eines Kollektivs, das nun auf die neuen Umstände reagiert und sich diesen gegenüber subversiv positioniert.

Literatur Castro-Gómez, Santiago. 2005. Aufklärung als kolonialer Diskurs. Inauguraldissertation, Johann Wolfgang Goethe-Universität. Frankfurt a. Main Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika/Rosa Luxemburg Stiftung. 2012. Der neue Extraktivismus. Berlin. FDCLVerlag. Quijano, Aníbal. 1993. Raza, etnia y nación en Mariátegui: cuestiones abiertas. In: Forgues, Roland [ed]. José Carlos Mariátegui y Europa. El otro aspecto del descubrimiento. Lima. Editorial Amauta

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Das Projekt Modernität/Kolonialität – Zum theoretischen/akademischen Umfeld des Konzepts der Kolonialität der Macht Sebastian Garbe

Einleitung Eine Einführung in das Konzept der Kolonialität der Macht wäre ohne eine kurze Darstellung des theoretischen/akademischen, aber auch politischen Umfeldes unvollständig, das sich rund um dieses Konzept Ende der 1990er Jahre in Lateinamerika zu formieren begann. Die lateinamerikanischen Intellektuellen, die sich im Zuge der Reflexion über die Aktualität und Dauerhaftigkeit von kolonialen Strukturen in Lateinamerika gemeinsam als das Forschungsprojekt Modernität/Kolonialität artikulierten, antworteten somit mehr oder weniger direkt auf das Konzept der Kolonialität der Macht und die damit implizierten Fragestellungen, die Anfang der 1990er Jahre zum ersten Mal von Aníbal Quijano aufgeworfen wurden. In den darauffolgenden Jahren bildete dieses Kollektiv somit die vielleicht produktivste Diskussionsplattform zu den Fragen von Modernität und Kolonialität in Lateinamerika, nachdem ein großer Teil kritischer Intellektueller in den Jahren der lateinamerikanischen Militärdiktaturen ›verschwunden wurde‹ und somit viele kritische Denkrichtungen ohne Wortführer_innen blieben. Daher ist es die Absicht dieser Zeilen, das Forschungskollektiv Modernität/ Kolonialität vorzustellen, dessen theoretische Produktion nachvollziehbar zu machen und einem deutschsprachigen Publikum einen Einstieg in die deskoloniale Diskussionsgemeinschaft in Lateinamerika zu ermöglichen. Diese Arbeit beruht zum größten Teil auf meinen Forschungen und meiner langjährigen Mitarbeit innerhalb der Forschungsgruppe über Kolonialität (Grupo de Estudios sobre Colonialidad – GESCO) an der Universität von Buenos Aires. Während die theoretischen, akademischen und politischen Diskussionen aus anderen postkolonialen geopolitischen Räumen wie im deutschsprachigen Raum bereits breit diskutiert wurden und werden, möchte ich im Folgenden eine kurze übersichtsartige Einführung in die Diskussionen über Auswirkungen des Kolonialismus und der Kolonialität in Lateinamerika liefern und eine Möglichkeit bieten, gegenwärtigen kritischen Diskussionen | 21

der lateinamerikanischen Sozial- und Geisteswissenschaften ohne spanische Sprachbarriere folgen zu können. Zwar möchte ich in dieser Einführung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, bin aber trotzdem davon überzeugt, dem/r Leser_in einen möglichst umfassenden Einstieg in die Werke und konzeptuellen Werkzeuge dieser Diskussionsgemeinschaft zu gewähren. Auch wenn diese hier nur erwähnt oder aufgelistet werden können, sollte es dem/r Interessierten dadurch ermöglicht werden eine eigene Lektüre zu unternehmen. Um den inhaltlichen Weg vorzuzeichnen, der von dem Kollektiv Modernität/Kolonialität (im Folgenden M/K) begangen wird, möchte ich bereits vorab die wichtigsten theoretischen Formulierungen zusammenfassen (nach Escobar 2003; GESCO 2010; 2012; siehe auch die Einleitung in diesem Band): a) Die Ko-Konstituierung von Moderne und Kolonialität in und seit der Eroberung Amerikas 1492 b) Die Überschneidung von Kolonialismus, kapitalistischem Weltsystem und Moderne als weltweites machtasymmetrisches Modell und kapitalistischer Akkumulationsform c) Die Betrachtung der Moderne als weltweites Phänomen d) Die Fokussierung auf weltweit soziale Ungleichheiten, Subalternisierungsprozesse, ungleiche soziale Klassifizierungen und Fremdbestimmungen e) Der Eurozentrismus als moderne/koloniale Wissens-, Repräsentationsund Reproduktionsform

Zur Entstehung Der formale Entstehungsweg des Projektes M/K lässt sich anhand einer Reihe von verschiedenen akademischen Veranstaltungen, vor allem in Lateinamerika und den USA, sowie an den gemeinsamen Publikationen in Sammelbändern und Zeitschriften zurückverfolgen. Keine Einführung zu M/K würde ohne die Betonung der drei wichtigsten Figuren dieses Projektes und allgemein des lateinamerikanischen kritischen Denkens auskommen. Diese sind zum einen der peruanische Soziologe Aníbal Quijano, der die für das Projekt namensgebende Kategorie, die Kolonialität (Quijano 1992a)1, entwickelte. Zum zweiten 1 22 |

Ursprünglich 1991.

der in Argentinien geborene und in Mexiko lebende Philosoph Enrique Dussel, dessen intellektuelle Arbeit vor allem seit den 1990er Jahren die Grundsteine für M/K legte und der an der Mitentwicklung der lateinamerikanischen Befreiungsphilosophie seit den 1970er Jahren von zentraler Bedeutung ist. Zum dritten Walter Mignolo, ein in den USA lebender argentinischer Semiologe, der durch seine intellektuelle Kreativität und Vernetzungsarbeit die heutige Sichtbarkeit der generellen Postulate von M/K entscheidend mitprägte. Neben diesen drei Figuren besteht das Projekt vor allem aus: Edgardo Lander (Venezuela; Soziologe); Fernando Coronil (Venezuela; Anthropologe); Arturo Escobar (aus Kolumbien, in den USA lebend; Anthropologe); Catherine Walsh (aus den USA, in Ecuador lebend; Linguistin/Aktivistin); Javier Sanjinés (Bolivien; Literatur- und Kulturwissenschaftler); Nelson Maldonado-Torres (aus Puerto Rico, in den USA lebend; Philosoph); Zulma Palermo (Argentinien; Semiologin); Santiago Castro-Gómez (Kolumbien; Philosoph), Ramón Grosfoguel (aus Puerto Rico, in den USA lebend; Philosoph); Adolfo Albán-Achinte (Kolumbien; Künstler/Aktivist/Dozent) und noch mehr ohne weniger assoziierte Intellektuelle aus und in Lateinamerika (Escobar 2003: 11; Quintero/Petz 2009), sowie eine sogenannte zweite Generation des Projektes (Castro-Gómez/Grosfoguel 2007: 12/13). Grundlegend für die gemeinsame Auseinandersetzung dieser Intellektuellen war zum einen der Weltsoziologiekongress 1998 in Montreal, auf welchem von Edgardo Lander ein Symposium über alternatives lateinamerikanisches Denken organisiert wurde und Dussel, Quijano, Coronil, Escobar und Castro-Gómez teilnahmen und auf grundlegende Gemeinsamkeiten trafen. Ein weiteres Treffen fand in Binghampton an der New York State University statt, was von Grosfoguel und Lao-Montes organisiert wurde und zum ersten Mal Quijano, Dussel und Mignolo in einen Dialog brachte (Restrepo/Rojas 2010: 31/32). Eine Vertiefung der Diskussionen und weitere gemeinsame Treffen wurden im Folgejahr ermöglicht durch ein universitäres Abkommen des Romance Studies Centre der Duke University von North Carolina unter der Leitung von Mignolo und dem Instituto Pensar der Universidad Javariana de Bogotá unter Castro-Gómez. Diese institutionelle Einschreibung führte auch zu einer Öffnung der Debatte und der Einladung von weiteren Intellektuellen (Quintero/Petz 2009) . Nach weiteren Treffen wurde im Jahr 2001 die Universidad Andina de Simón Bolívar (UASB) in das Abkommen aufgenommen, was somit als die Konsolidierung des Projektes und die vielleicht bisher produktivste Phase | 23

gelten kann.2 Nach weiteren Kongressen (Quito in 2002, 2006, 2011; Berkeley in 2003, 2004, 2005; North Carolina in 2004) fand das letzte Treffen des Kollektivs im Oktober 2012 in Neuquén/Argentinien statt und wurde von CEAPEDI und GESCO, zwei der Forschungsgruppen aus der deskolonialen Perspektive in Argentinien, organisiert. An diesem Treffen wurde allerdings deutlich kritisiert, dass sich die Debatte um Kolonialität und deren Überwindung zunehmend intellektualisiert habe. Der ursprüngliche politische Anspruch dieses Projekts solle nicht vernachlässigt werden, die intellektuelle/akademische Praxis sei nur eine Form von politischer Praxis und der Austausch mit politischen Bewegungen müsse vertieft werden.

Zu den Fremd- und Eigenbezeichnungen Seit dem Beginn der gemeinsamen Diskussionen der oben genannten Persönlichkeiten des kritischen lateinamerikanischen Denkens tauchten eine Fülle von verschiedenen Fremd- und Eigenbezeichnungen auf, um dieses Projekt und die damit implizierte Perspektive zu bezeichnen. So findet sich beispielsweise die Bezeichnung der »postokzidentalen Kritik« (Schlosberg 2004), was sich auf die Kategorie des Okzidentalismus bezieht, die von Mignolo (1998) und Coronil (1998) vorgeschlagen wurde und in Anlehnung an den Orientalismus von Said »the overarching geopolitical imaginary of the modern/colonial world-system« (Mignolo 2000: 59), hier aber mit Fokus auf die ›neue Welt‹ im Gegensatz zum ›Orient‹, bedeutet. Eine weitere Fremdbezeichnung beschreibt das Projekt M/K als »inflexión decolonial« (Restrepo/Rojas 2010), was als dekoloniale Biegung oder Wendepunkt übersetzt werden kann. Allerdings hängt dieser Formulierung im Spanischen die Konnotation von etwas nicht Biegsamen (in-flexión) an und verkennt dadurch die Heterogenität der Diskussionen in und um das Kollektiv M/K. Wenn ich hier also von dem Projekt M/K oder der deskolonialen Perspektive schreibe, gilt es eine zentrale Unterscheidung zu treffen: Auf der einen Seite die gemeinsamen Projekte, Veröffentlichungen und Treffen von den oben erwähnten Personen sowie deren Schüler_innen und Student_innen. Auf der anderen Seite das komplexe und heterogene theoretische und 2

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Eine ausführlichere Beschreibung des Entstehungsprozesses von M/K findet sich zudem in verschiedenen Werken und Artikeln (Escobar 2003; Castro-Gómez/ Grosfoguel 2007: 9-13; Walsh 2005: 17-21; Quintero/Petz 2009; Restrepo/Rojas 2010: 30-36)

konzeptionelle Feld, das vor allem durch diese Personen aufgebaut wurde, die dadurch inspirierten Forschungen sowie die politischen Bewegungen in Lateinamerika, welche aus diesem intellektuellen Feld symbolisches Kapital schöpfen. In Bezug auf die Personen beziehungsweise das Kollektiv stammt die bisher gebrauchte Bezeichnung Modernität/Kolonialität von Arturo Escobar (2003), um auf die gemeinsame Diskussionsbasis aufmerksam zu machen: Zum einen das Konzept der Kolonialität der Macht (Quijano 1992a) und zum anderen die bereits heiß geführte Debatte über Modernität in Lateinamerika (unter anderem Quijano 1988; Dussel 1994; Mignolo 1995). Daneben wird oftmals das Konzept der De- oder Deskolonialität als epistemischer und politischer Horizont im Gegensatz zur formal-politischen Dekolonisierung von Staatsgebilden hinzugefügt, wodurch man zur Bezeichnung Modernität/Kolonialität/Deskolonialität kommen würde (GESCO 2010). Da aber weder innerhalb des Kollektivs noch in der dadurch geprägten Perspektive Einigkeit über eben diesen Horizont herrscht, bleibe ich hier bei der Bezeichnung M/K (GESCO 2012).3 Somit kann man hier von einer Argumentationsgemeinschaft sprechen, welche transdisziplinär, gemeinsam und aus einer lateinamerikanischen Perspektive heraus an politischen und epistemologischen Konzepten und Strategien arbeitet (Escobar 2003: 69ff ), die in Bezug auf die Modernität und Kolonialität »(größtenteils akademisch) die Betonung auf das Epistemische und die Frage des Rassismus gelegt haben« (Lao-Montes 2006: 181). Um den Fokus nun auf die von diesem Kollektiv angestoßenen Diskussionen, konzeptionellen Vorschläge oder davon beeinflussten Forschungen zu legen, wurden Begriffe wie Perspektive, Vorschlag, Option, Theorie, Studien oder turn vorgeschlagen. All dies kann als ein gemeinsames Feld von Diskussionen und Konzepten bezeichnet werden, wo bestimmte epistemische Schlüsselmomente sowie das Ziel geteilt werden, »ein analytisches umfassenderes Schema aus einer Geopolitik des Wissens, situiert in Lateinamerika, zu produzieren« (GESCO 2010), welches vor allem unter dem Einfluss 3

In der deutschen Übersetzung schlage ich die Verwendung von »deskolonial« vor und verweise dabei auf die Idee einer »Loslösung« von Aníbal Quijano (1992a). Außerdem ist es dadurch immerhin möglich, sich begrifflich von den politischstaatlichen Dekolonisierungsprozessen im 19. Jahrhundert in Lateinamerika oder im 20.  Jahrhundert in Asien und Afrika sowie von der postkolonialen Theorie abzugrenzen und den Fokus auf den Moment der Überwindung von kolonialen Verhältnissen zu legen. | 25

der Ideen aus dem Kollektiv M/K entsteht, das heißt einer gemeinsamen Betrachtung von Kolonialität und Modernität in Lateinamerika.

Zu den Werken Die Idee dieses Abschnittes ist es, einen angemessenen Überblick über die akademisch/intellektuelle Produktion in der deskolonialen Perspektive möglichen Interessierten in deutscher Sprache vorzuschlagen. Zwar ist eine Vielzahl von Artikeln oder Büchern auf Englisch erhältlich, aber auf Deutsch wurden wenige Versuche übernommen, die Diskussionen um M/K nachvollziehbar zu machen und deren wichtigsten Bausteine zu erklären.4 Gerade aber die Abwesenheit von Übersetzungen von Quijano ist hier auffällig, wo dessen Konzeptionen doch namensgebend für dieses intellektuelle und politische Projekt sind. In einer bibliographischen Annäherung an M/K kommt man nicht an der ›deskolonialen Dreifaltigkeit‹, Dussel, Quijano und Mignolo, vorbei, wie man diese drei Autoren in Anlehnung an die Holy Trinity der postkolonialen Theorie (Castro-Varela/Dhawan 2005) nennen könnte, wobei aber nur die für M/K wichtigsten Werke genannt werden sollen. Bei Dussel muss hier auf zahlreiche Werke verzichtet werden, wie zum Beispiel auf die ersten zur Befreiungsphilosophie in Lateinamerika5, die Trilogien über die Philosophie der monotheistischen Religionen oder die theoretische Produktion von Karl Marx. Relevant für M/K sind vor allem das Werk über die Eroberung Amerikas und die »Vertuschung des Anderen« (Dussel 1994), die philosophischen Dialoge mit postmodernen und der kritischen Theorie affinen europäischen Philosophen (1996) und die Befreiungsethik im Kontext der Globalisierung (1998). Bei Walter Mignolo sind die Werke über die sogenannte erste Moderne in Lateinamerika (1995), die Fragen der Transformation von epistemischen und territorialen Grenzen in der 4

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Nur ein geringer Teil des Werkes von Dussel, der hauptsächlich in Bezug zur Befreiungsphilosophie und allgemein der lateinamerikanischer Philosophie steht, ist auf Deutsch verfügbar. Kürzlich wurden Werke von Mignolo (2012) und Dussel (2012) auf Deutsch übersetzt, Escobar ist aufgrund seiner Ansätze in der kritischen Entwicklungsforschung bekannt, Castro-Gómez‘ Dissertation wurde auf Deutsch an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität in Frankfurt eingereicht und sonst finden sich nur vereinzelt übersetzte Artikel. Daher kann ich die Auffassung von Aram Ziai nicht teilen, der die deskoloniale Perspektive als »hinlänglich bekannte[n] lateinamerikanische[n] Arbeiten aus dem Umfeld der Gruppe Modernidad/Colonialidad« (Ziai 2010: 408) bezeichnet. Als Einführung ist allerdings Dussel (2011) zu empfehlen.

heutigen globalisierten Welt (2000a) und eine Kritik an dem Konstrukt von Lateinamerika (2005a) zu nennen. Ein Zugang zu Aníbal Quijanos Werk ist hingegen deutlich schwieriger6, da kaum veröffentlichte Monographien von ihm erschienen sind, wobei die Produktionen über die Fragen von Macht und Kultur in der peruanischen Gesellschaft (1980) sowie über Moderne, Modernisierung, Rationalität und Utopien in Lateinamerika (1988) hervorzuheben sind. Empfehlen kann man allerdings die Arbeit von Pablo Quintero in diesem Band, um das Schaffen von Quijano rund um das Konzept der Kolonialität nachzuvollziehen.7 Das Feld der gemeinsamen Publikationen aus der deskolonialen Perspektive und des Kollektivs M/K ist zu groß, um hier einzeln genannt zu werden, da quantitativ und geographisch betrachtet »während etwas mehr als einem Jahrzehnt mindestens 15 gemeinsame Bücher herausgegeben [wurden], die insgesamt mehr als 160 Artikel beinhalten, veröffentlicht in den Städten Mexiko-Stadt, Havanna, Bogotá, Caracas, Quito, La Paz, Buenos Aires, Berkeley und Durham.« (GESCO 2010). Darüber hinaus gibt es in einem rezenteren Werk von Mignolo und Escobar (2009) den Versuch, die relevantesten Artikel von M/K für ein englischsprachiges Publikum zu übersetzen und vorzustellen.8 Die bibliographische Verknüpfung einzelner Autor_innen als Konsolidierung des Kollektivs M/K versuche ich nun im Folgenden kurz nachzuzeichnen: International Journal Of Social Sciences, 1992: Zwar lediglich ein gemeinsamer Artikel von Aníbal Quijano und Immanuel Wallerstein, der aber 6 7

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Eine passende Einführung ist beispielsweise der Beitrag von César Germaná in diesem Band. Weitere wichtige individuelle Beiträge zur Konsolidierung eines theoretischen Ansatzes von M/K stammen von Arturo Escobar (1999; 2005; 2010), Fernando Coronil (1997), Edgardo Lander (1992), Ramón Grosfoguel (2003), Santiago Castro-Gómez (1996; 2005c; 2009), Maldonado-Torres (2006a) und Zulma Palermo (2005). Eine Sammlung aller gemeinsam publizierten Werke findet sich bei Quintero/Petz (2009) und Sonderausgaben wissenschaftlicher Zeitschriften gibt es bei Comentario Internacional (Nummer 2 und 7) der UASB und Cultural Studies (Nummer 21), sowie in den folgenden Zeitschriften, die eine besondere Affinität zu deskolonialen Perspektive auszeichnet: Tabula Rasa aus Kolumbien (2003 bis heute); Nómadas (seit 1994, vor allem Nummer 26, April, 2007), Neplanta (2000 bis 2003), die Reihe der Hefte Pensamiento Crítico y Opción Decolonial aus Buenos Aires, koordiniert von Mignolo sowie eine Sonderausgabe der Anthropologiezeitschrift Kula aus Buenos Aires. | 27

einen der wichtigsten Grundsätze von M/K, die gemeinsame Konstitution der geopolitischen Kategorie Amerika und des modernen kapitalistischen Weltsystems, begründet.9 Anuario Mariateguiano, 1997: Quijano (als Direktor dieser Zeitschrift), Wallerstein und Lander diskutieren folgende Themenkomplexe aus lateinamerikanischer Sicht: Globalisierung, Kapitalismus, Neoliberalismus (vor allem der Fujimorismo in Peru) sowie die Frage des Eurozentrismus. Lander nimmt in seinem Beitrag bereits Quijanos Kategorie der Kolonialität auf und diskutiert die koloniale Dimension des modernen und postmodernen Wissens, was die spätere Kategorie der Kolonialität des Wissens (Lander 2000) bilden wird. Teorías sin Disciplinas10, 1998: Castro-Gómez und Mendieta versammeln in diesem frei zugänglichem Werk Autor_innen des späteren Kollektivs, die beginnen, Theorien aus dem lateinamerikanischen Raum und über die geopolitische Kategorie ›Lateinamerika‹ zu diskutieren, die im Grunde alle disziplinär heimatlos sind. Mit gegenwärtigen Debatten der Sozial- und Geisteswissenschaften aus dem englischsprachigen Raum wird hier das erste Mal ein Dialog begonnen und diskutiert, was Globalisierung und Postkolonialismus ist oder sein kann und für Lateinamerika bedeutet.11 Pensar (en) los Intersticios12, 1999: Dussel, Quijano, Mignolo, Wallerstein und Lander schreiben das erste Mal gemeinsam in diesem Sammelband (Castro-Gómez/Guardiola-Rivera/de Benavides 1999) und es kommt zu Überlappungen der verschiedenen Einflüsse und der theoretischen Arbeiten dieser Autoren (Befreiungsphilosophie, Kolonialität, Postokzidentalismus, Weltsystemtheorie und lateinamerikanische Sozialwissenschaften). La Colonialidad del Saber, 2000: Diese Veröffentlichung bildet den ersten gemeinsamen Sammelbandes des Kollektivs M/K (Lander 2000) als Ergebnis der vorausgegangenen Diskussionen auf der Konferenz in Montreal 1998 und das bis heute vielleicht wichtigste Buch des Kollektivs. Hier wird das 9

»The modern world-system was born in the long sixteenth century. The Americas as a geosocial construct were born in the long sixteenth century. The creation of this geosocial entity, the Americas, was the constitutive act of the modern worldsystem. The Americas were not incorporated into an already existing capitalist world-economy. There could not have been a capitalst world-economy without the Americas.« (Quijano/Wallerstein 1992: 549) 10 Theorien ohne Disziplinen. 11 Wichtige Beiträge sind zudem die ersten Konzeptualisierungen des Okzidentalismus sowie das Manifest der lateinamerikanischen Grupo de Estudios Subalternos (1998). 12 In den/die Zwischenräume/n denken 28 |

erste Mal, neben der Kategorie der Kolonialität der Macht, die Kolonialität des Wissens und der Eurozentrismus in den Sozial- und Geisteswissenschaften explizit und als eigenes Thema kritisiert. Capitalismo y Geopolítica del Conocimiento, 2001: Hier treffen Beiträge von Mignolo, Dussel und Quijano mit lateinamerikanischem Fokus auf Arbeiten aus indischer, europäischer und afrikanischer Perspektive, die gemeinsam aus globaler Perspektive versuchen, »das Problem der Geopolitik des Wissens zu umreißen« (Mignolo 2001: 48). Indisciplinar las ciencias sociales13, 2002: Diese nächste gemeinsame Produktion des Kollektivs begleitet die institutionelle Einschreibung der UASB durch die Beteiligung von Catherine Walsh in das Netzwerk von M/K. Estudios Culturales Latinoamericanos, 2003: In diesem Jahr beginnt mit der Veröffentlichung dieses Sammelbandes das Doktoratsstudium an der UASB mit dem gleichen Namen, was die erste Reproduktionsfläche der sich abzeichnenden Denkrichtung bildet.14 Pensamiento Crítico y matriz (de)colonial15, 2005: Hier sind neben Walsh und Mignolo die ersten Absolvent_innen des Doktoratstudiengangs in Quito versammelt und es wird das erste Mal das Konzept der Dekolonialität als Handlungshorizont von Catherine Walsh und Walter Mignolo diskutiert (Mignolo 2005b: 8; Walsh 2005: 25/26). El giro decolonial16, 2007: Das bisher letzte Gemeinschaftswerk setzt einen vorläufigen Rahmen über die bisherigen Publikationen und die vielleicht produktivste Phase von M/K seit der Erscheinung der Kolonialität des Wissens. So wird in der Einleitung (Castro-Gómez/Grosfoguel 2007: 9-23) der bisherige Verlauf des Kollektivs nachgezeichnet und weitere, bis dahin eventuell noch nicht klare Abgrenzungen gegenüber anderen kritischen Theorien wie der Weltsystem- und Dependenztheorie und den postkolonialen Studien diskutiert. 13 Die Sozialwissenschaften ent-disziplinieren. 14 Es wird weder in diesem Buch noch in dem Studiengang versucht, die Cultural Studies der britischen Tradition und nach dem CCCS zu kopieren, vielmehr besteht die Absicht, eine lateinamerikanische und kritische Rekonfiguration dieser Denkschule vorzuschlagen, dadurch Brücken zu anderen intellektuellen Projekten zu bauen und die eigene geopolitische Einschreibung des lokalen Wissens zu erkennen: »Die Absicht dieses Buches [...] ist es, einen Ort des Dialoges von Lateinamerika und speziell der Andenregion heraus über die Möglichkeit die ›Cultural Studies‹ als politischen und kritischen Treffpunkt diverser Denkmöglichkeiten (neu) zu denken und (neu) zu erbauen.« (Walsh 2003: 12) 15 Kritisches Denken und (de)koloniale Matrix 16 Der dekoloniale turn. | 29

Um diese bibliographische Annäherung an das Projekt M/K abzuschließen, sind die Texte zu erwähnen, die sich ausschließlich mit dieser Perspektive beschäftigen und diese diskutieren: Aus einer kritischen, aber gleichzeitig affinen Perspektive sind vor allem die Bücher La crítica posoccidental y la modernidad von Jed Schlosberg (2004) und das Buch Inflexión decolonial von Eduardo Restrepo und Axel Rojas (2010) zu erwähnen. Sehr zu empfehlende Einführungen sind Desde la otra orilla17 von Zulma Palermo (2005) sowie von Santiago Castro-Gómez (2005a) La poscolonialidad explicada a los niños18.

Einflüsse und Abgrenzungen Aus dem Vorausgegangenen zeigt sich, dass in der Perspektive von M/K auf eine Genealogie von kritischen deskolonialen Denken zurückgegriffen wird, die sich abseits von euro-amerikanischen Wissenschaftstraditionen und in der Wechselwirkung von politischer Praxis und kritischem Denken verortet (Mignolo 2007). In dieser Arbeite soll allerdings der Fokus auf jene Wissenstraditionen gerichtet werden, die sich in der wissenschaftlichen Akademie als solche etabliert haben und zu denen M/K ein »gutes nachbarschaftliches Verhältnis pflegt« (Mignolo in Borsani 2011: 9). Die folgende Übersicht kann jedoch nur sehr reduktionistisch ausfallen. Diese Verhältnisse, möchte ich vorgreifen, sind hier als Einflüsse und gleichzeitig als Abgrenzungen zu verstehen und stellen trotz einer Vielzahl von kritischen Stimmen aus der deskolonialen Perspektive nie eine Zurückweisung in toto dar (GESCO 2010): Das theoretische Erbe von Marx: Wahrscheinlich stellen die theoretischen Arbeiten von Karl Marx den größten Einfluss europäischen Denkens auf die Arbeiten von M/K dar, was sich in einer Vielzahl von kritischen Auseinandersetzung in Artikeln und Bücher von M/K sowie in einzelnen Arbeiten von, vor allem, Enrique Dussel19, Aníbal Quijano und Edgardo Lander widerspiegelt. Das Verhältnis von M/K zu dem gesamten und in sich auch selbst widersprüchlichen Werk von Karl Marx sehe ich als eine kritische Le17 Vom anderen Ufer. Allerdings hat dieser Ausdruck nicht dieselbe Bedeutung wie im Deutschen. 18 Die Postkolonialität den Kindern erklärt. 19 Bei Dussel sind eine Reihe kritischer Auseinandersetzungen mit der theoretischen Produktion von Marx (1985, 1988, 1990), vor allem in der Ausarbeitung einer materialistischen Ethik bei der Befreiungsphilosophie, hervorzuheben. 30 |

seart und Aneignung von Ideen, Konzepten und Theorien, welche teilweise mit der wissenschaftlichen Strömung des historischen Materialismus als positive Wissenschaft nicht zu vereinbaren wären (GESCO 2010; Lander 2006). Verkürzt und generell gesagt, betreibt M/K über die Arbeiten von Marx eine sehr heterodoxe Leseart. Gerade in dem Schaffen von Aníbal Quijano ist stets eine kritische Auseinandersetzung mit Marx zum Verständnis der peruanischen Realität (Quijano 1980; 1988) präsent und auch in den späteren Arbeiten wird die Unangemessenheit von marxistischen Theorien diskutiert, um die spezifische lateinamerikanische »soziale Klassifikation« (Quijano 2007b) zu verstehen oder um Machtverhältnisse abseits eines ökonomischen Reduktionismus zu analysieren (Quijano 2000b). Liberalismus: Der theoretische und politische Liberalismus wird stark kritisiert und auch deutlich weniger aufgenommen. Der Liberalismus und dessen epistemische Dimension ist eher Thema innerhalb einer generellen Kritik der Kolonialität des Wissens (Lander 2000: 12-25). Eine Kritik des Liberalismus als politische Theorie findet sich bei Quijano (2000b) und Dussel (2006). Lateinamerikanisches kritisches Denken/lateinamerikanische Philosophie: Die sogenannte lateinamerikanische Philosophie stellt einen weiteren zentralen Einfluss dar. Sowohl Dussel, als auch Quijano sind aufgrund ihrer jahrzehntelangen Arbeit an der Befreiungsphilosophie beziehungsweise Dependenztheorie in dieser Tradition zu verorten.20 Allerdings wurde das in Lateinamerika generierte Denken einer kritischen Revision unterzogen, dessen wahrscheinlich wichtigster Ausdruck Castro-Gómez’ »Kritik der lateinamerikanischen Vernunft« (Castro-Gómez 1996) bildet, da »die prinzipiellen Themen, Register und Motive [dieser] Philosophie zugunsten einer lateinamerikanischen ›Exteriorität‹ in Bezug auf die westliche Moderne eigentlich den Diskursen einer typisch modernen Ordnung des Wissens zugehörig sind« (ebd.: 12). Daher ist die lateinamerikanische Philosophie, der Lateinamerikanismus und das sogenannte postokzidentale Denken zwar eine moderne Gegenerzählung und greift etwa zentralen Positionen der postkolonialen Theorie oder der Subaltern Studies aus Südasien vor, stellt aber keinen epistemischen Bruch mit der Moderne selbst dar und ist Teil eines »inner-lateinamerikanischen und essenziell westlichen Kampfes um die Kontrolle der Bedeutungen« (Castro-Gómez 1998: 143). 20 Unter anderem die Werke von José Carlos Mariátegui, José Martí, Edmundo O‘Gormann, Fernando Ortiz, Leopoldo Zea, Rodolfo Kusch, Enrique Dussel, Raúl Prebisch, Darcy Ribeiro und Roberto Fernández Retamar. | 31

Lateinamerikanische Sozialwissenschaften: Des Weiteren ist das Projekt M/K eine Konsequenz und kritische Erweiterung der lateinamerikanischen Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts, die sich vor allem seit Ende des 2. Weltkrieges etabliert haben und deren wichtigsten und bekanntesten theoretischen Projekte die Dependenztheorie sowie die Arbeiten über den internen Kolonialismus21 sind. So wurden auch weitere Konzepte und Kategorien in den Sozialwissenschaften in Lateinamerika erarbeitet, welche versuchen, auf die historische, politische, soziale und kulturelle Faktoren in globaler Abhängigkeit und lokaler Ausformung einzugehen. Diese stellen in Anlehnung an das lateinamerikanische kritische Denken sozialwissenschaftliche postokzidentale Reflexionen dar, deren wichtigste Stichworte folgende sind: »Dependenz, interner Kolonialismus, strukturelle Heterogenität, Befreiungspädagogik, Marginalität, Ausbeutung, Aktionsforschung, intellektueller Kolonialismus, Imperialismus, Befreiung« (Lander 1999: 46). Weltsystemtheorie: Gerade bei Quijano, der selbst die Dependenztheorie aktiv mitgestaltet hat, wird das Erbe dieser Schule in M/K deutlich, und aufgrund seiner Zusammenarbeit mit Wallerstein besteht außerdem die Affinität zu der Weltsystemtheorie, da die Eroberung Amerikas nun einen fundamentalen Stellenwert in dieser Theorie erhält. Das Konzept des modernen kapitalistischen Weltsystem wird von dem immer mehr global denkenden, zweiten, Dussel in weiten Aspekten aufgenommen (1994, 1998, 1999), aber »er ›liest‹ Wallerstein von der Befreiungsphilosophie aus, was wichtige Konsequenzen für die lateinamerikanische Debatte über die Kolonialität hat«. (Castro-Gómez 2005a: 48) Diese Reflexionen von Dussel werden in weiterem Verlauf von Mignolo aufgenommen, der das moderne Weltsystem von Wallerstein als »modernes/koloniales Weltsystem« (Mignolo 2000a: 3-45) resemantisiert. So ist es sicherlich richtig zu behaupten, dass die Weltsystemtheorie dem Projekt M/K näher ist, als andere gegenwärtige globale Analysemodelle wie die Netzwerkgesellschaft von Castells, der clash of civilizations von Huntington oder das Empire von Hardt und Negri. Estudios Subalternos Latinoamericanos: Dieses Kollektiv hat sich in Anlehnung an die Subaltern Studies Group aus Indien herausgebildet und erreichte einen kleinen Grad an Sichtbarkeit innerhalb der postkolonialen Studien, existiert aber bereits seit 2001 nicht mehr. Der wichtigste Beitrag 21 Diese Theorie beschreibt die ökonomischen Abhängigkeits- und Machtverhältnisse innerhalb der bereits unabhängigen Nationalstaaten in Lateinamerika im 20. Jahrhundert als Form einer kolonialen Ausbeutung von natürlichen und menschlichen Ressourcen (Casanova 2006; Stavenhagen 1972) 32 |

dieser Gruppe kann nach Castro-Gómez als »postkoloniale Erneuerung« (Castro-Gómez 1998: 127ff ) des Lateinamerikanismus und der Lateinamerikastudien, vor allem in der nordamerikanischen Akademie, verstanden werden, da sie die Homogenisierung der »sozialen, ökonomischen, politischen und geschlechtlichen Differenzen der lateinamerikanischen Gesellschaften« (ebd.: 127) innerhalb dieser Studien/Schulen kritisieren. Cultural Studies: Die Nähe zeigt sich vor allem durch das Doktoratsstudium der lateinamerikanischen Estudios Culturales an der UASB in Quito, was aber eine lokale Reflexion über die Geopolitik des Wissens, eine institutionelle und akademische Rechtfertigung eines transdisziplinären Ansatzes und keine ausschließliche Identifikation mit den Cultural Studies britischer Prägung darstellt. Auch wenn aus der Perspektive von M/K einige Kritiken gegenüber den Cultural Studies geteilt werden, wird gleichzeitig deren kritisches Potenzial, die Redefinitionen über Kultur und deren Artikulationspotenzial zwischen verschiedenen Disziplinen als positive Aspekte hervorgehoben (Castro-Gómez 2003). Postkoloniale Theorie: Da die deskoloniale Perspektive vor allem aus der Reflexion über den Fortbestand von kolonialen Beziehungen in den lateinamerikanischen Gesellschaften besteht, ist die Nähe zum Anspruch der sogenannten postkolonialen Theorie oder postkolonialen Studien sehr deutlich. An anderer Stelle habe ich (2012: 122-127) eine genaue Gegenüberstellung zwischen diesen beiden Denkrichtungen unternommen und die wichtigsten Unterschiede22 herausgearbeitet. Postmoderne: Die Abgrenzung von M/K zur sogenannten Postmoderne sowie Autoren wie Michel Foucault oder Gilles Deleuze wäre eine größere Aufgabe, da die einzelnen Autor_innen von M/K verschiedene Positionen dem gegenüber einnehmen. Zusammenfassend werden bestimmte Reflexionen aus postmodernen Diskursen positiv aufgenommen23, aber auch viele Kritiken an der Postmoderne formuliert: der Rückzug aus politökonomischen Diskussionen, die Konzeption von Geschichtlichkeit, der Eurozentrismus sowie die Abwendung von Fragen zu sozialen, politischen und ökonomischen Machtbeziehungen (Lander 1997). Die Postmoderne 22 a) Sprechort und Verortung in der Geopolitik des Wissens; b) Periodisierung der kolonialen Erfahrung; c) Verhältnis zu und Verortung innerhalb der Moderne; d) Gewichtung von kulturalistischen und materialistischen Ansätzen 23 Einige dieser geteilten Operationen sind: Anti-Essenzialisierung, Diskursanalyse, der Aspekt der Produktivität von Macht, Kritik an Technologien der Disziplinierung und Bio-Macht, Dezentralisierung von Metaerzählungen, etc. (Lander 1997: 129) | 33

stellt aus deskolonialer Perspektive vor allem eine interne Kritik an der Moderne dar, die aber aus ihrer eurozentrischen Verortung nicht deren koloniale Dimension erkennen kann. Daher stellt die Postmoderne, neben postkolonialer, postorientaler und postokzidentaler Kritik, nur eine von mehreren Krisen der Moderne dar (Mignolo 1998: 35), die von der deskolonialen Perspektive komplementiert werden. Politische Bewegungen: Im Gegensatz zu anderen intellektuellen Denkrichtungen sucht und artikuliert M/K als Kollektiv die Allianzen mit politischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen ›Befreiungsbewegungen‹, welche somit in dieser Auflistung nicht fehlen dürfen. Es wird behauptet, dass eine deskoloniale Perspektive nicht nur aus akademischen, universitären oder epistemologischen Diskussionen und Genealogien besteht, sondern der Kolonialität konstitutiv und daher anhand von Individuen und Kollektiven in der sozialen Realität verortet und in verschiedenen Reflexionsniveaus registriert ist . Daher ist die Zusammenarbeit auf gleichberechtigter Ebene mit politischen oder sozialen Bewegung für M/K essenziell, da zum einen diese Bewegungen ohne die Umwege einer akademischen Abstraktion den kolonialen Charakter sozialer Beziehungen erkennen (Lao-Montes 2006: 173) und epistemologische Grundlagen infrage stellen (Walsh 2002: 179) kann und da man zum anderen trotz geteilter politischer Ziele in einen intellektuellen Elitismus verfallen und trotz guter Absichten politischen oder sozialen Schaden anrichten kann (ebd.: 188; Palermo 2003: 136). Abschließend kann man also das Projekt M/K in der gegenwärtigen lateinamerikanischen sozial- und geisteswissenschaftlichen Landschaft als ein eigenständiges intellektuelles und politisches Projekt ansehen, das aus dem Fundus der oben dargestellten theoretischen Strömungen Anregungen geschöpft hat und gute nachbarschaftliche Beziehungen zu diesen pflegt. Indem M/K diese Theorien als offene Universalismen betrachtet, wird es möglich, eine kreative Aneignung, Weiterverarbeitung und Vertiefung eben dieser zu betreiben. Trotz der wichtigen Einflüsse und geteilter Positionen grenze ich das Kollektiv M/K von diesen Strömungen ab und sehe es keiner davon zugehörig oder untergeordnet.

Konzepte und Forschungsschwerpunkte Dieser Abschnitt soll als eine Einführung in die dem Kollektiv M/K gemeinsamen Konzeptualisierungen und epistemologischen Operationen dienen sowie das gemeinsame Terrain dieser Argumentationsgemeinschaft 34 |

abstecken und deren epistemische Schlüsselmomente verständlich machen. Ich erhebe damit keinen Anspruch auf eine vollständige und erschöpfende Einführung in diese inhaltlichen Debatten, hoffe aber trotzdem, die wichtigsten Momente nachzuzeichnen und dieses doch sehr eigene deskoloniale Vokabular durchschaubar zu machen (siehe Anhang auf S. 36). Modernität: Der gemeinsame Ausgangspunkt dieser Argumentationsgemeinschaft ist die Rekonzeptualisierung dessen, was in der Geistesgeschichte und in M/K als die Moderne bezeichnet wird. Wie bereits vorgegriffen, werden der europäische Kolonialismus der iberischen Expansion, die Eroberung Amerikas und das moderne und kapitalistische Weltsystem von Wallerstein mit dem Beginn eines modernen philosophischen Diskurses verknüpft und als sich gegenseitig konstituierende Elemente gesehen. Aus dieser Verknüpfung ergibt sich das Argument der Ko-Konstituierung von Moderne und Kolonialität in und seit der Eroberung Amerikas im Jahr 1492, auf der sich ein weltweites, machtasymmetrisches Modell errichtet. Die explizit modernen Elementen, die zu diesem Zeitpunkt, in der sogenannten ›ersten Moderne‹ entstehen, sind: eine moderne Subjektivität durch das europäische Selbstbild des Eroberers und Kolonisierenden, die Verneinung des Andersseins der Eroberten und die Vertuschung dieses Andersseins als europäische Selbstprojektion darauf (Dussel 1994)24; die Entstehung eines modernen philosophischen, juristischen und politischen Diskurses (vor allem Las Casas, Sepúlveda, Vitoria und Suárez) der bereits elementare Fragen der modernen Philosophie enthält (Dussel 1999; Dussel 2007: 1744); die materielle Grundlage, Boden und Arbeitskraft, für die Entstehung eines modernen kapitalistischen Weltsystems (Quijano/Wallerstein 1992); allgemein, eine moderne Rationalität und Weltanschauung (Quijano 1988; 1992a). Eurozentrismus: All diese sowie weitere moderne Aspekte konnten aber nur durch die Eroberung Amerikas und den Beginn des europäischen Kolonialismus entstehen, was allerdings in der traditionellen Beschreibung der Moderne und aufgrund dem der Moderne zugrunde liegenden Eurozentrismus nicht erkannt werden kann. Die Bedeutung dieses Konzeptes ist innerhalb von M/K folgende:

24 Daher spricht Dussel von einem ego conquiro, welches dem ego cogito von René Descartes vorgreift und somit die moderne Subjektivität begründet (Dussel 2000: 46). | 35

»Der Eurozentrismus ist also nicht nur ausschließlich die kognitive Perspektive der Europäer oder nur der Dominanten im globalen Kapitalismus, sondern auch die der Gesamtheit derer, die unter dessen Hegemonie gebildet werden. Und obwohl er eine ethnozentrische Komponente beinhaltet, erklärt es ihn nicht und ist auch nicht dessen Hauptquelle. Es handelt sich um eine kognitive Perspektive, welche in dem langen Zeitraum der Gesamtheit der eurozentrierten Welt des kolonialen/modernen Kapitalismus produziert wurde und welche die Erfahrung der Menschen unter diesem Machtmodell naturalisiert.« (Quijano 2007b: 94)

Die Moderne wird hier nicht als innereuropäisches Phänomen gesehen, entstanden durch die spezifischen sozialen, politischen und kulturellen Kapazitäten der europäischen Bevölkerung, sondern dieser eurozentrischen, provinziellen und regionalen Version der Moderne wird in der deskolonialen Perspektive eine globale und empirisch überprüfbare Moderne gegenübergestellt (Dussel 2000; 2001). Mythos der Moderne: Der Eurozentrismus, welcher hier kritisiert wird, greift vor allem den universalisierten, zivilisatorischen, irrationalen und kolonisierenden Mythos der Moderne an, der das emanzipatorische und aufklärerische Potenzial der Moderne allgemein beeinträchtigt, spezifisch das Anderssein negiert und dessen gewaltsame Eroberung legitimiert (Dussel 1994: 175f ; Dussel 2000: 46f ).25 Dieser Mythos besteht aus folgenden Punkten: 1) Die moderne Zivilisation versteht sich selbst als die am meisten entwickelte und überlegene (was bedeutet, unbewusst eine ideologisch eurozentrische Position einzunehmen). 2) Diese Überlegenheit verpflichtet moralisch zur Entwicklung der Primitivsten, Ungebildetsten, Wildesten. 3) Der Lauf dieses erzieherischen Entwicklungsprozesses muss der von Europa vorgegebene sein (welcher tatsächlich ein unilinearer und europäischer ist, was nochmals, ohne dem bewusst zu sein, einen ›Entwicklungsschwindel‹ bedeutet). 4) Wenn der Wilde sich dem zivilisatorischen Prozess entgegenstellt, muss die moderne Praxis im letzten Fall und wenn es nötig ist Gewalt anwenden, um die Hindernisse dieser Modernisierung zu zerstören (der gerechtfertigte Kolonialkrieg).

25 Im Gegensatz zu vielen Vorwürfen wird das emanzipatorische und aufklärerische Potenzial der Moderne in dieser Argumentationsgemeinschaft aber nicht negiert! 36 |

5) Diese Beherrschung produziert Opfer (auf verschiedene Weise), Gewalt, die als ein unausweichliche Tatsache interpretiert wird und einen fast rituellen Sinn der Opferung beinhaltet: Der zivilisatorische Held zeigt seine eigenen Opfer im Sinne eines Holocausts mit heiliger Opfergabe (der kolonisierte Indio, der afrikanische Sklave, die Frau, die ökologische Zerstörung der Erde, etc.). 6) Für den Modernen hat der Wilde die ›Schuld‹ (indem er sich dem zivilisatorischen Prozess entgegenstellt), was der ›Moderne‹ erlaubt, sich selbst nicht nur als unschuldig, sondern auch als ›emanzipatorisch‹ gegenüber dieser ›Schuld‹ ihrer Opfer zu präsentieren. 7) Zuletzt interpretiert man das Leid oder die Opfer (die Kosten) der ›Modernisierung‹ der ›zurückgebliebenen‹ (unmündigen) anderen Völker, der versklavbaren ›Rassen‹, des anderen Geschlechts aufgrund ihrer Schwäche, etc. aufgrund des ›zivilisatorischen‹ Charakters der ›Moderne‹ als unausweichlich.« (Dussel 2000: 49)

Kolonialität: Wenn dieser Mythos und der Eurozentrismus der Moderne erkannt wird, so ist auch »die dunkle Seite der Moderne« (Mignolo 2000a: 53) – die Kolonialität – sichtbar, welche den »epistemischen Knotenpunkt« (GESCO 2010) der deskolonialen Perspektive darstellt. Zunächst bedeutet das Konzept der Kolonialität ein Beziehungsverhältnis, das sich in einer Kolonisierungssituation, spezifisch in den Amerikas nach 1492, generiert, die Art und Weise des Verhältnisses zwischen Eroberern und Eroberten festlegt, über den Kolonialismus als politische Ordnung hinausreicht und vor allem kognitiver und kultureller Art ist (Quijano 1992a; Castro-Gómez/Grosfoguel 2007: 19). Wie sich kulturelle Beziehungen mit sozio-ökonomischen Machtverhältnissen verweben, findet sich bereits in den früheren Werken von Quijano in Bezug auf die peruanische Gesellschaft (1980). Diese Verhältnisse erkennt er später als Auswirkungen der modernen Rationalität und der kolonialen Durchsetzung eines kulturellen und kognitiven Wahrnehmungsmusters (Quijano 1988) und formuliert dies zunächst als »kulturelle Kolonialität« (Quijano 1992a: 439). Innerhalb des Kollektivs M/K wird diese Kategorie nun aufgenommen und vor allem auf drei Ebenen angewandt: die Kolonialität der Macht (Quijano 1997; 2000a; 2007a), des Wissens (Lander 2000) und des Seins (Maldonado-Torres 2007). Daher kann man also nicht von einer Kolonialität an sich sprechen, weil sie im Grunde nur anhand dieser drei Ebenen konzeptualisiert wurde. Trotzdem scheint es mir passend eine der wenigen sinnvollen und umfassenden Definitionen von Kolonialität vorzuschlagen: | 37

»[D]ie Kolonialität bezieht sich auf ein Machtmodell, das als Resultat des modernen Kolonialismus entstand, aber nicht auf ein formales Machtverhältnis zwischen zwei Bevölkerungen oder Nationen beschränkt ist, sondern die Art und Weise meint, wie Arbeit, Wissen, Autorität und intersubjektive Verhältnisse untereinander, im kapitalistischen Weltmarkt und anhand der Idee der ›Rasse‹ artikuliert sind.« (Maldonado-Torres 2007: 131)

modernes/koloniales Weltsystem: Zunächst muss jedoch die Konzeptualisierung des Verhältnisses von globalem Kapitalismus zu Moderne (Dussel 1999) und Kolonialität (Quijano 2000a) als eine der zentralen Prämissen von M/K geklärt werden. Als Basis dafür diente dem Kollektiv das analytische Modell des globalen Kapitalismus als Weltsystem nach Immanuel Wallerstein, der wiederum von der lateinamerikanischen Dependenztheorie deren Konzepte von Zentrum und Peripherie übernommen hat: »Das moderne Weltsystem begann mit der gleichzeitigen Konstituierung Spaniens als ›Zentrum‹ gegenüber der kolonialen spanisch-amerikanischen ›Peripherie‹. Die Moderne und der Kolonialismus waren also gegenseitig abhängige Phänomene. Es gibt keine Moderne ohne Kolonialismus und es gibt keinen Kolonialismus ohne Moderne, weil Europa erst ›Zentrum‹ des Weltsystems wird, als es seine Kolonien in Übersee als ›Peripherien‹ konstituiert.« (Castro-Gómez 2005a: 47/48)

Im Gegensatz zu Wallerstein argumentiert das Kollektiv M/K nun, dass dem modernen Weltsystem seit dessen Entstehung im 16. Jahrhundert bereits eine moderne und koloniale Geokultur (Dussel 1999) beziehungsweise eine spezifische moderne und koloniale Gedankenwelt (Mignolo 2000a: 3-45) zu eigen war, welche nicht die eurozentrische und provinzielle Version der Moderne seit dem 18. Jahrhundert als Aufklärung und Liberalismus ist, wie es Wallerstein sieht, sondern die globale und koloniale seit 1492. Wallerstein erkennt zwar die Wichtigkeit der Kolonisierung für das Weltsystem, aber nicht dessen modernen und gleichzeitig kolonialen Charakter in materieller und ideologischer Ausprägung, weswegen Mignolo die Metapher des modernen/kolonialen Weltsystems vorschlägt, die sich folgendermaßen generiert: »ausgehend vom Merkantilismus, basierend auf Sklaverei und verbunden mit der christlichen Mission, bis hin zur Konsolidierung [des modernen/kolonialen Weltsystems] durch die industrielle Revolution und den Kapitalismus, verbunden mit einer zivilisatorischen Mission und der Idee von Entwicklung.« (ebd.: 75) 38 |

Dieses moderne/koloniale Weltsystem zeichnet sich durch eine »umfassende geopolitische Vorstellung« (ebd.: 59), den Okzidentalismus, aus, der eine Ideologie beschreibt, mit der die Kolonisierung Amerikas als eine natürliche europäische Expansion legitimiert und dieses Projekt als die Erfüllung des eigenen zivilisatorischen Prozesses gesehen wurde (ebd.: 328). Eine andere Definition des Okzidentalismus stammt von Fernando Coronil und verdeutlicht das Verhältnis zwischen Ideologie und modernem/kolonialem Weltsystem : »Der Okzidentalismus ist der Ausdruck eines konstitutiven Verhältnisses zwischen westlichen Repräsentationen kultureller Unterschiede und der globalen Macht des Westens.« (Coronil in Schlosberg 2004: 24)

Mignolos Reformulierung des modernen/kolonialen Weltsystems ist daher eine ideengeschichtliche Präzisierung einer Reihe von entwicklungspolitischen Diskussionen über globale Abhängigkeitsverhältnisse und Asymmetrien seit den Modernisierungstheorien (und über die Dependenz- bis hin zur Weltsystemtheorie) sowie eine periodische und geographische Rekontextualisierung von Konzepten wie Entwicklung/Unterentwicklung, Zentrum/ Peripherie oder Herrschende/Subalterne: »Der globale Kapitalismus war, seit Beginn, kolonial/modern und eurozentriert. Ohne ein klares Verhältnis zwischen diesen spezifischen historischen Charakteristika des Kapitalismus könnte man sich das Konzept des ›modernen Weltsystems‹, prinzipiell entwickelt von Wallerstein und auf Prebisch und dem marxschen Konzept des globalen Kapitalismus aufbauend, nicht aneignen oder in Gänze verstehen.« (Quijano 2000a: 200)

globale Kolonialität: Die globale Wirkungsmacht der Kolonialität in der gegenwärtigen Phase der Globalisierung wird im Gegensatz zum Empire und als historische Konsequenz der gegenseitigen Konstitution von Moderne und Kolonialität als »globale Kolonialität« (Mignolo 2002a; CastroGómez/Grosfoguel 2007: 13/14; Grosfoguel 2008) bezeichnet. Eine andere interessante Diskussionen bezüglich des Konzeptes der Kolonialität der Macht ist z.B. die Gegenüberstellung von Kolonialität und der Machttheorie von Michel Foucault (Castro-Gómez 2007). Kolonialität der Macht: Nun möchte ich die drei Dimensionen der Kolonialität präzisieren, von denen die Kolonialität der Macht von Aníbal Quijano die komplexeste Formulierung ist, da sich um diese Kategorie fast die gesamte intellektuelle Produktion von Quijano dreht und daher Teil | 39

einer umfassenden soziologischen Perspektive ist. Aus diesem Grund ist es auch möglich, der Kolonialität der Macht den Status einer Theorie zuzusprechen, um auf die systematische Dimension der prinzipiellen Postulate hinzuweisen. Die Kolonialität der Macht ist nach Quijano: »eines der konstitutiven und spezifischen Elemente des weltweiten Modells kapitalistischer Macht. Sie basiert auf der Durchsetzung einer rassiologischen/ ethnischen Klassifikation der Weltbevölkerung als Dreh- und Angelpunkt eben dieses Machtmodells und wirkt in jeden materiellen und subjektiven Ebenen, Bereichen und Dimensionen der alltäglichen Existenz und auf jeder sozialen Skala. Diese entsteht und verbreitet sich weltweit von Amerika ausgehend. Mit der Konstituierung von (Latein)Amerika, in demselben historischen Moment und in derselben historischen Bewegung, wird die entstehende kapitalistische Macht weltweit wirksam. Deren hegemoniale Zentren verorten sich in an den Zonen des Atlantiks – die sich später als Europa identifizieren lassen – und als zentrale Achsen ihres neuen Beherrschungsmodells begründen sich auch die Kolonialität und die Modernität. Mit anderen Worten: mit (Latein)Amerika wird der Kapitalismus global, eurozentriert und die Kolonialität und die Modernität setzen sich, bis heute, als die konstitutiven Achsen dieses spezifischen Machtmodells durch.« (Quijano 2007b: 93)

Die Kolonialität der Macht benennt nach Quijano eine Machtmatrix als eine historisch seit 1492 und geographisch global existierende historisch-soziale Totalität. Sie ist »ein Beziehungsgeflecht, strukturiert durch die heterogene und diskontinuierliche Artikulation von verschiedenen Bereichen der sozialen Existenz, von welchen jeder gleichzeitig durch historisch heterogene, zeitlich diskontinuierliche und konfliktive Elemente strukturiert ist.« (ebd.: 104)

Diese Totalität versteht Quijano allerdings im Sinne einer historischstrukturellen Heterogenität, mit der er in einer Gesellschaft die Gegenwart von einer »Kombination und Gegenüberstellung von strukturellen Mustern [beschreibt], deren Ursprünge und Natur in sich sehr unterschiedlich waren« (Quijano 1989: 29). Die erste Achse der Kolonialität der Macht ist eine global wirksame und eurozentrierte soziale Klassifikation von Bevölkerungen nach rassistischen26 Merkmalen. Darauf aufbauend ist die zweite 26 Nach Quijano ist raza ein Konstrukt und eine Erfindung und wird hier ebenso verwendet (Quijano 2000a: 195). Zur weiteren Diskussion dieses für die Kolonialität zentralen Themas: Quijano (1992b; 2000c) 40 |

Achse eine globale Arbeitsteilung anhand dieser Klassifikation sowie eine Integration aller bisher bekannten Produktionsweisen27 in den globalen kapitalistischen Markt (GESCO 2010; Quijano 2000a; Quijano 2007b). Die soziale Machttheorie Quijanos grenzt sich also von Theoretisierungen über das Phänomen Macht aus historisch-materialistischer und liberaler Perspektive ab (Quijano 2000b) und lässt stets das Bemühen erkennen, die sozialen Verhältnisse und Machtdispositionen in Lateinamerika aus der lokalen Realität heraus zu analysieren und nicht nur anhand von theoretischen Importen (Quijano 1980). Kolonialität des Wissens: Die zweite Dimension der Kolonialität betrifft den Bereich des Wissens und dessen eurozentrierte und universalisierende Variante. Der gemeinsame Anspruch der Kritik daran ist, dass: »es möglich ist, zwei konstitutive Dimensionen der modernen Wissensformen zu identifizieren, um ihre naturalisierende Effizienz zu erklären. Es handelt sich um zwei Dimensionen, die verschiedene historische Ursprünge haben und die ihr aktuelles naturalisierendes Potenzial nur durch ihre enge Verbindung erlangen. Die erste Dimension bezieht sich auf sukzessive Trennungen oder Teilungen der ›realen‹ Welt, die sich historisch gesehen in der westlichen Gesellschaft ergeben und in den Formen, wie man, auf diesem Prozess der sukzessiven Teilungen aufbauend, Wissen konstruiert. Die zweite Dimension ist die Art, wie sich die modernen Wissensformen mit der Organisation der Macht artikulieren, speziell den kolonialen/imperialen Machtverhältnissen, die der modernen Welt konstitutiv sind. Diese zwei Dimensionen dienen als eine solide Basis für die diskursive naturalisierende Konstruktion der modernen Sozialwissenschaften oder sozialen Wissensformen.« (Lander 2000: 13f )

Was bei der Kolonialität der Macht die ethnischen/rassiologischen Superiorität europäischer Gesellschaften legitimieren soll, ist für die Kolonialität des Wissens das, was Castro-Gómez (2005b) als die Hybris des Null-Punktes beschreibt. Gemeint ist damit, dass aus der Kombination von einer dominanten Machtdisposition und der Durchsetzung einer spezifischen Wissensform der eigene Standpunkt und Sprechort unsichtbar gemacht werden kann:

27 Dass mehrere Produktionsweisen nebeneinander, gleichzeitig und miteinander artikuliert existieren können, ist die These einer historisch-strukturellen Heterogenität. Die hier gemeinten Produktionsweisen sind: Lohnarbeit, Sklaverei, Knechtschaft, kleine Handelsproduktion, Reziprozität (Quijano 2007b: 98). | 41

»Die moderne Wissenschaft gibt vor, sich auf den Nullpunkt der Beobachtung zu stellen, um zu sein wie Gott, aber es nicht schafft zu beobachten wie Gott. Daher sprechen wir von der hybris, der Sünde der Maßlosigkeit.« (ebd.: 8)

Neben dieser Hybris, wird im Kollektiv M/K das Konzept der Geopolitik des Wissens (Mignolo 2001) verwendet, das eigene und andere Standpunkte, Verortungen und Sprechorte in einer globalen Perspektive und innerhalb des modernen/kolonialen Weltsystems und der Kolonialität des Wissens sowie den Eurozentrismus und Okzidentalismus sichtbar machen kann. Oder kurz gesagt: »Die Geopolitik des Wissens zeigt die Grenzen jedes abstrakten Universalismus auf.« (Mignolo 2002b: 90) Kolonialität des Seins: Neben der Kolonialität des Wissens und jener der Macht, hat die Kolonialität des Seins Eingang in die Diskussionen von M/K gefunden und wurde von Maldonado-Torres anhand einer kritischen Aneignung von Frantz Fanon und Enrique Dussel als die sub-ontologische Differenz der Subalternen und Dominierten in kolonialen Beziehungen bezeichnet (Maldonado-Torres 2007). Koloniale Differenz: Diese o.g. drei Dimensionen beschreiben in gemeinsamer Artikulation eine spezifische Unterschiedlichkeit als hierarchisches Beziehungsgeflecht anhand der Differenz in Machtdispositionen, epistemologischer Differenz und ontologischer Differenz, was in der Argumentationsgemeinschaft von M/K als die koloniale Differenz bezeichnet wird. Dort entstehen die Dimensionen der Kolonialität, treten in Kraft und werden als unterscheidbare/unterscheidbar-gemachte Elemente in hierarchisierende Werte übersetzt. Die koloniale Differenz ist daher: »der Raum, wo lokale Geschichten, die globale Designs erfinden und durchsetzen, auf andere lokale Geschichten treffen; der Raum, wo globale Designs angepasst, angenommen, widerlegt, integriert oder ignoriert werden müssen. Die koloniale Differenz ist schließlich die physische als auch die imaginäre Verortung, in der die Kolonialität der Macht am Werk ist und zwei Arten von lokalen Geschichten, die in verschiedenen Räumen und Zeiten über den ganzen Globus hinweg dargestellt werden, aufeinander treffen.« (Mignolo 2000a: IX)

Die Zentralität des Konzeptes liegt darin, dass die Vektoren der Kolonialität darauf gerichtet sind und von dort aus alle möglichen deskolonisierenden Vektoren, die von M/K aufgezeigt werden, hervortreten und auf eine Deskolonisierung der sozialen Beziehungen zielen.

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Deskolonialität: Wie in dem Konzept der Kolonialität der Macht klar wird, überdauern die in einer kolonialen Beziehung generierten Machtverhältnisse bis heute und somit unterscheidet sich das Projekt der Deskolonialität von den politisch-formalen Dekolonisierungsprozessen im 19. und 20. Jahrhundert, da in diesen nur ein Bereich der sozialen Existenz, die ›kollektive Autorität‹ deskolonisiert wurde. Das Projekt einer Deskolonisierung wurde 1991 von Aníbal Quijano in folgendem Sinne vorgeschlagen: »[E]s ist zuerst notwendig sich von den Verknüpfungen der RationalitätModernität mit der Kolonialität loszulösen und letzten Endes von jeder Form von Macht, welche nicht durch die freie Entscheidung von freien Menschen konstituiert ist.« (Quijano 1992a: 447)

Wie bereits erwähnt ist dieser Überwindungsprozess bei den einzelnen Autor_innen von M/K unterschiedlich: Die Des/kolonialität der Macht (Quijano 2007a; 2009) als Loslösung von der eurozentrierten und modernen/ kolonialen Strukturierung der verschiedenen Bereiche der sozialen Existenz, als Basis jeder tieferen sozialen Transformation und als Demokratisierung der Kontrolle über die Bereiche der sozialen Existenz (Quijano 2001) oder formuliert als eine »radikale Sozialisierung der Macht« (Quijano 2007b). Als Philosophie der Befreiung und als Politik der Befreiung (Dussel 2007; 2011) und als »Loslösung und Öffnung« (Mignolo 2007: 27) von der modernen/kolonialen Macht- und Wissensmatrix. Zwei Optionen28, um sich diesem Prozess der Deskolonisierung zu nähern, sind das border-thinking (Mignolo 2000a) und die Interkulturalität (Walsh 2007). Border-thinking: Dies ist nach Mignolo (2000a) eine Antwort auf die koloniale Differenz von einem frakturierten, dichotomen und daher grenzartigen Artikulationsort aus subalterner Perspektive, historisch an den Grenzen des modernen/kolonialen Weltsystems gelegen, und eine Form des Wissens oder eine Wissbarmachung29, die anhand der Fragmentierung 28 Hier muss ich auf die Darstellung eine Reihe von weiteren deskolonisierenden Wegen, die von dem Projekt vorgeschlagen wurden, verzichten, wie zum Beispiel die reoriginalización (Quijano 1997: 119f ), die Konstruktion eines Paradigmas oder einer Denkart »der anderen Art« (Walsh 2005: 20/21) oder die re-existencia bei Albán-Achinte (2012). 29 Dies ist eine eigene Übersetzung des Konzeptes gnosis, das sich gegenüber Epistemologie, Hermeneutik, nomothetischen und ideographischen Wissenschaften, episteme und doxa, sowie der Trennung zwischen akademischen und nicht-akademischen Wissen abgrenzt (Mignolo 2000a: 9). | 43

und der Deplatzierung von Universalismen und durch die Multiplikation verschiedener epistemischer, sozialer, kultureller und sprachlicher Energien in diversen lokalen Kontexten funktioniert. Dies geschieht durch die Reartikulation und Aneignung von globalen Designs, aber nimmt stets Rücksicht auf die lokalen Verortung und die partikularen Machtbeziehungen, mit welchen diese verwoben sind. Interkulturalität: Diese Idee beschreibt ein politisches, ideologisches und epistemologisches Projekt von der kolonialen Differenz aus, wo kulturelle Unterschiedlichkeit parallel zur Ethnizität als Merkmal von fast jeder menschlichen Gruppe gesehen wird und als Umgang mit diesen als Hierarchien transformierten Differenzen (Walsh 2007). Die Interkulturalität, die hier gemeint ist, hat ihren Ursprung in der Kolonialität der Macht und der darin implizierten rassistischen/ethnischen Hierarchisierung der Menschheit und resemantisiert die kulturelle Unterschiedlichkeit als Potenzial gesamtgesellschaftlicher Transformation in einer respektvollen Auseinandersetzung mit beispielsweise westlichem oder indigenem Wissen. Daher grenzt sich die Interkulturalität von essenzialisierenden, multikulturalistischen und neoliberalen Konnotation der kulturellen Diversität ab und bezeichnet ein transformatives und deskolonisierendes Projekt, inspiriert von der konkreten Erfahrung des politischen Kampfes der ecuadorianischen Indigenenorganisation CONAIE. Transmoderne: Nun möchte ich die Frage behandeln, auf was das Kollektiv M/K abzielt, wenn das Projekt der Deskolonialität erfüllt werden kann. und was für diese Intellektuellen ein neuer »Zukunftshorizont, im Sinne einer neuen Zeit für die soziale Existenz und auf diese Weise Träger eines neuen Sinnes der Geschichte« (Quijano 2002: 48) sein könnte. Die deskoloniale Perspektive stellt eine der vier Krisen der Moderne (neben der Postmoderne, Postorientalismus und Postkolonialismus) dar (Mignolo 1998: 35) und versucht einen kritischen, komplementären Polylog30 mit diesen einzugehen. Daher kann man die deskoloniale Perspektive als eine Fortsetzung der kritischen Theorie aus der Alterität der Moderne heraus sehen (Dussel 2007: 335-355), die sich zunehmend mit einer »multitopischen Kritik der globalen Moderne« (Kozlarek 2007: 14) auseinandersetzt. Dies, sowie das Projekt der Deskolonialität nach M/K, zielt zuletzt auf das ab, was Enrique Dussel mit dem Projekt der Transmoderne bezeichnet hat: 30 Polylog meint im Gegensatz zu Dialog einen Kommunikationsakt mit mehreren Gesprächspartner_innen. Aus dem griechischen Wortstamm poly für ›mehrere‹. 44 |

»Das transmoderne Projekt ist eine Ko-Realisierung des dem der Moderne alleine Unmöglichen; das heißt, es ist eine Ko-Realisierung der Solidarität, die wir analektisch (oder analogisch, synkretisch, hybrid oder ›mestiz‹) genannt haben, zwischen Zentrum/Peripherie, Frau/Mann, verschiedenen ›Rassen‹, verschiedenen Ethnien, verschiedenen Klassen, Menschheit/Erde, westliche Kultur/Kulturen der Dritten Welt, etc; nicht als bloße Verneinung, sondern als Aufhebung von der Alterität aus [...]. Die Moderne entsteht tatsächlich 1492: das ist unsere These. Ihre tatsächliche Überwindung (als Subsumtion und nicht bloß als hegelianische Aufhebung) ist die Subsumtion ihres rational europäischen emanzipatorischen Charakters transzendiert als globales Projekt der Befreiung ihrer verneinten Alterität: die ›Trans-Moderne‹ (als neues Projekt der politischen, ökonomischen, ökologischen, erotischen, pädagogischen, religiösen etc. Befreiung).« (Dussel 1994: 177/178)

Schlussbemerkungen Die Absicht dieser Absätze soll es sein, das theoretische und akademische Umfeld des Konzepts der Kolonialität der Macht vorzustellen. Allerdings würde ich hinzufügen, dass die Reflexionen und Diskussionen der deskolonialen Perspektive ein diskursives Feld in den lateinamerikanischen Zivilgesellschaften produziert haben, von dem ausgehend es heute möglich ist, die kolonialen Implikationen der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht nur zu erkennen, sondern auch zu transformieren. Somit ist neben diesen theoretischen und akademischen Diskussionen ein politisches Vokabular entstanden, mit dem die unterschiedlichsten politischen Akteure in Lateinamerika heute ihre Strategien legitimieren: sei es, wenn sich Hugo Chavez in seinen Reden auf die Befreiungspolitik von Enrique Dussel bezieht oder wenn in Regionen von peripherer Staatlichkeit indigene Organisationen ihre politischen Forderungen mit dem Konzept der Interkulturalität legitimieren.

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Anhang Begriffslandschaft der deskolonialen Perspektive

Modernität Entwicklung Zentrum

Eurozentrismus und Okzidentalismus

modernes/koloniales Weltsystem Peripherie Unterentwicklung

Kolonialität globale Kolonialität

des Wissens

der Macht • 5 Bereiche der sozialen Existenz • historisch-strukturelle Heterogenität

soziale/kulturelle Dimension

des Seins

• Geopolitik des Wissens • Hybris des Nullpunktes

epistemologische Dimension

ontologische Dimension

koloniale Differenz border-thinking Interkulturalität

Deskolonialität

Transmoderne

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Postmoderne Postkolonialität

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Macht und Kolonialität der Macht in Lateinamerika Pablo Quintero

Einleitung Im 20. Jahrhundert waren die theoretischen Debatten über die Frage der Macht von zwei der wichtigsten Strömungen der westlichen Sozialtheorie und deren hegemonialen Zentren beherrscht. Auf der einen Seite der Liberalismus, mit seinem größten gegenwärtigen Stellvertreter Talcott Parsons und seinen Anhängern in der Schule von Chicago in den USA. Auf der anderen Seite ein Fragment des umfassenden theoretischen Werkes von Karl Marx, das als historischer Materialismus bezeichnet wurde und von einer ganzen Bandbreite von Intellektuellen repräsentiert wird, die sich dem sogenannten Marxismus-Leninismus zuordnen und sich in den wichtigsten Universitäten der ehemaligen Sowjetunion versammeln. Beide theoretischen Strömungen, die in Lateinamerika eins zu eins übernommen wurden, begründen ihre Konzeption von Macht ontologisch auf der bevorzugten – und politisch nützlichen – Auswahl eines einzigen zentralen Bereiches der sozialen Existenz. Einerseits hat die Tradition des Liberalismus, zumindest seit Thomas Hobbes, die Strukturierung der Gesellschaft als eine durch den Sozialvertrag kausal bestimmte Bedingung aufgefasst, der als generelle und zwischen den Individuen konsensuierte Übereinkunft den »Naturzustand« von Unordnung und Gewalt innerhalb der sozialen Gruppierungen auflöst. Diese Konzeption privilegiert das Zustandekommen eines Konsenses der Regierbarkeit, wird in der Konstituierung von kollektiver Autorität repräsentiert und in den gegenwärtigen Gesellschaften durch den Staat reproduziert. Aus diesem Blickwinkel sind Macht und ihre Begleiterscheinungen durch die Theorie des Konsenses unsichtbar gemacht, und letztendlich wird die Idee von Macht als eine Fähigkeit oder als eine Positionierung individuellen Charakters innerhalb der institutionellen Autorität des Staates definiert. Trotz seiner Heterogenitäten ist Macht im Liberalismus auf die künstliche ontologische Sphäre des ›Politischen‹ beschränkt. Auf der anderen Seite, und indem er die liberalen Vorstellungen denaturalisiert, historisiert der historische Materialismus das Zustandekommen von verschiedenen Formen kollektiver Autorität und zeigt die Wichtigkeit von Machtbeziehungen innerhalb dieser | 53

Dispositionen. Trotzdem hat der historische Materialismus, indem er sich auf die durch die Produktionsverhältnisse charakterisierte infrastrukturelle Analyse beschränkt, die übrigen zentralen Bereiche der sozialen Existenz auf die künstliche ontologische Ebene des ›Ökonomischen‹ reduziert, da sie von der Kontrolle der Arbeitskraft und der natürlichen Ressourcen determinierte und abgeleitete Phänomene seien. Auf diese Weise ist Macht im historischen Materialismus – auch wenn sie eine zentrale Stellung einnimmt – ausdrücklich auf die Dimension der Produktion bezogen und begrenzt. In diesem eingegrenzten Szenario von Diskussionen wurde die Frage der Macht entweder aus der Sozialtheorie verbannt oder unausweichlich an die beschränkte Reduktion der modernen/eurozentrischen Ontologie gebunden. Nach dem 2. Weltkrieg und genauer seit dem Niedergang des real existierenden Sozialismus und dessen Zukunftshorizontes wurde der Alltagsverstand, global betrachtet, allmählich von der liberalen Theorie durchdrungen. Die Macht wurde so als ein grundlegend diskursives und repräsentatives Phänomen untersucht. Die Debatten waren Ende der 80er Jahre nicht einmal mehr von einer utopistischen Auseinandersetzung geprägt, in der unterschiedliche soziale Modelle des ›Politischen‹ oder des ›Ökonomischen‹ zur Diskussion standen, eben weil diese Auseinandersetzungen mit der Durchsetzung der hegemonialen Vorstellungen des totalen Marktes und dem Ende der Geschichte keinen Sinn mehr machten. Die Diskussionen in der Sozialtheorie begannen sich somit um den spezifischen Charakter dieser aktuellen Weltgeschichte zu sammeln, angeordnet um die Debatte zwischen Moderne und Postmoderne. In diesen Debatten wurde die Frage der Macht sukzessiv unsichtbar gemacht, da sie durch die Beschreibung der generellen Aspekte des gegenwärtigen sozialen Lebens und seiner Charakteristika ausgehöhlt wurde. In Lateinamerika, peripheres Territorium des modernen Weltsystems, hingegen war die Frage der Macht immer ausdrücklich sichtbar und evident. Das kritische lateinamerikanische Denken hat sich seit seinen Anfängen für die Konstitution und Charakteristika von Macht interessiert, speziell für die Machtausübung auf unserem Kontinent. Die bekanntesten Debatten der lateinamerikanischen Intelligenzija rund um zentrale Themen wie die Eroberung Amerikas, die Nationalitäten und lateinamerikanischen Identitäten, die Frage der Entwicklung, die Frage der Abhängigkeit und des Imperialismus, haben eben genau auf die Frage der Macht abgezielt. Während in den globalen Artikulationsszentren die Diskussionen zwischen Moderne und Postmoderne geführt wurden, bildete sich in Lateinamerika 54 |

eine kritische Richtung heraus, welche diese Debatte mit dem Blick auf die Frage der Macht, genauer der kolonialen Macht, beleuchtete. Während zu Beginn der 1990er Jahre divergente Positionen in Europa und den USA die erwähnte Auseinandersetzung charakterisierten, orientierte das Werk von Aníbal Quijano (und anderen lateinamerikanischen Intellektuellen, die ihn begleiten würden) – angesichts der kolonialen Erfahrung als partikulare historisch-strukturelle Abhängigkeit – die bisher produzierten Diskussionsbedingungen neu, indem er in das Zentrum seiner Argumentation eine neue Hinterfragung der Macht und ihrer Beziehungen stellte. Die Ideen des peruanischen Soziologen erschufen so einen neuen Interpretationsrahmen der Moderne unter Berücksichtigung der historischen und kulturellen Erfahrung Lateinamerikas, wobei sich die Kategorie der »Kolonialität« (Quijano 1992) als der epistemische Knotenpunkt des Vorschlags über die Machtstrukturierung in der Moderne herausstellte. Die Idee der Kolonialität der Macht war der von Quijano zur Verfügung gestellte Terminus, um ein globales Beherrschungsmodell des modernen/ kapitalistischen Weltsystems, entstanden im europäischen Kolonialismus Anfang des 16. Jahrhunderts, zu charakterisieren. Auf den folgenden Seiten konzentrieren wir uns nun auf die theoretischen Ausführungen von Aníbal Quijano zu dieser Kategorie und ihren Implikationen. Um dies zu ermöglichen, erlauben wir uns an mehreren Stellen den Autor ausführlich zu zitieren, um die Frage der Kolonialität epistemisch auszuloten. Die im Text folgenden Fußnoten sollen eine Art Richtschnur sein, um den Gedankenschritten Quijanos folgen zu können und gleichzeitig anhand seiner wichtigsten Texte einigen zentralen konzeptionellen Kategorien seines Denkens nachzugehen. Diese Kartographie stellt nur den Anspruch, dem Leser die zentralen Postulate der Theorie der Kolonialität der Macht näherzubringen, aber unter keinen Umständen versucht sie, eine Einleitung und noch viel weniger ein Handbuch für das Verständnis dieser Theorie und ihrer Möglichkeiten zur Neuinterpretation Lateinamerikas zu sein. Die Ansätze von Quijano werden hier als ›Theorie‹ bezeichnet und aufgefasst, auch wenn die Bezeichnung auf diese Auszüge nur teilweise zutrifft. Denn in Wirklichkeit repräsentiert die Gesamtheit der Reflexionen, die sich um die Idee der Kolonialität der Macht artikulieren, eine tiefgreifende epistemische und politische Perspektive, die zusammen genommen nicht auf den Ausdruck ›Theorie‹ reduziert werden kann, da sie viel mehr als Letzteres ist. Trotzdem, und obwohl es adäquater wäre dieses politische und epistemische Konglomerat als ›Perspektive‹ zu bezeichnen, bevorzugen wir es, in diesem | 55

Text auf subtile Weise von einer ›Theorie‹ zu sprechen, da wir uns hier auf die erklärende und systematischeDimension der wichtigsten Postulate von Aníbal Quijano in Bezug auf die Kolonialität der Macht beziehen.1

Macht und Gesellschaft Bei Aníbal Quijano ist jede Form von sozialer Existenz, die sich langfristig reproduziert, in ihren fünf grundlegenden Bereichen impliziert, ohne die sie nicht möglich wäre: Arbeit, Sex, Subjektivität, kollektive Autorität und Natur. Die kontinuierliche Auseinandersetzung über die Kontrolle dieser Bereiche begründet die (Re-)Produktion von Machtverhältnissen. Aus dieser Perspektive charakterisiert sich das Phänomen der Macht als eine Art von sozialer Beziehung, die durch die gemeinsame Präsenz und ständige Interaktivität von drei Elementen konstituiert ist: Beherrschung, Ausbeutung und Konflikt. Diese drei Elemente betreffen die fünf grundlegenden Bereiche der sozialen Existenz und sind gleichzeitig das Ergebnis und Ausdruck der Auseinandersetzung über die Kontrolle dieser, also: 1) die Arbeit, ihre Ressourcen und Produkte; 2) der Sex, seine Ressourcen und Produkte; 3) die Subjektivität, ihre Ressourcen und Produkte; 4) die kollektive (oder öffentliche) Autorität, ihre Ressourcen und Produkte; 5) die Verhältnisse zu den restlichen Lebensformen und dem Rest des Universums (Natur): »Man könnte in diesem Sinne behaupten, dass Macht eine soziale Beziehung von Beherrschung, Ausbeutung und Konflikt um die Kontrolle über jeden einzelnen Bereich der menschlichen/sozialen Existenz ist.« (Quijano 2001b: 15) In diesem vorgeschlagenen Rahmen begründet sich Beherrschung als die umfassendste Machtbeziehung und daher als dessen grundlegende Bedingung. Sie basiert auf einer asymmetrischen Beziehung, in der bestimmte soziale Gruppierungen die Kontrolle über das Verhalten von Anderen ausüben. Obwohl die Beherrschung auf alle Bereiche der sozialen Existenz zurückzuführen ist und sich als die wesentliche Bedingung ihrer Kontrolle festsetzt, sind die kollektive Autorität und die Subjektivität ihre zentralen Handlungsfelder. So organisiert die Durchsetzung von Herrschaft aufgrund von Gewalt eine Struktur (kollektiver) Autorität, während sie sich im Bereich der Subjektivität legitimiert. 1

56 |

Eine umfassendere Sicht auf das Werk von Aníbal Quijano bekommt man in Coronado (2001), Germaná (2009; siehe auch dessen Beitrag in diesem Band) und Pajuelo (2002).

Die Beherrschung von Arbeitskraft, die Ausbeutung also, wurzelt eben genau in der Aufrechterhaltung dieses dauerhaften ungleichen Verhältnisses und wird durch die erzwungene Aneignung – durch eine Gruppe oder ein Individuum – der Arbeitskraft der Anderen aufrechterhalten, ohne entsprechende Vergütung oder gemeinsame Aufteilung. Die Langfristigkeit der Ausbeutung bedingt als Beherrschung der Arbeitskraft die Besitz- und Produktionsverhältnisse. Auf diese Weise begründet sich die Beherrschung als die Grundbedingung der Ausbeutung, aber nicht anders herum.2 Beherrschung und Ausbeutung – als permanente Elemente des Phänomens Macht – führen notwendigerweise zum Konflikt als drittem Bestandteil dieser Triade. Das Ziel des Konfliktes ist die Veränderung oder Zerstörung der durch die Beherrschung konfigurierten und reproduzierten Ressourcen und Institutionen von Macht, wenn auch mit der Tendenz, die grundlegenden Bereiche der sozialen Existenz ebenso zu kontrollieren.3 Mit dieser noch in voller Entwicklung befindlichen Idee bezieht sich Quijano auf die Kontrolle der Arbeit, welche die Handhabung und Manipulation der Umwelt und der Überlebenstechnologien impliziert. Hingegen wäre die Kontrolle des Sexes und der biologischen Reproduktion mit der Schaffung von (Un-)Lust und mit der Reproduktion der Menschheit artikuliert. Auf der anderen Seite bezieht sich die Kontrolle der Subjektivität auf die Produktion von sozialen Bedeutungen, inklusive der Vorstellungen, historischen Erinnerungen und zentralen Wissensperspektiven. Die Kontrolle der kollektiven Autorität bezieht sich wiederum auf die soziale Organisation und die Aufrechterhaltung der sozialen Institutionen. Schließlich 2

3

Der konzeptionelle Vorschlag von Quijano über die Ausbeutung als Element der sozialen Macht bezieht sich auf eine ungleiche Beziehung aus einem ökonomischen und ethischen Blickwinkel. Bei beiden kann man einen Gedanken aus dem Spätwerk von Karl Marx (1867) erkennen. Trotzdem ist für Quijano im Gegensatz zum historischen Materialismus die Ausbeutung nicht die einzig existierende Beherrschungsform. Um diese Konzeption weiter zu verfolgen, siehe Quijano (2004: 75ff; 2001a: 35ff; 2001b: 8; 2000a: 204ff und 2000b: 74ff ). Die Konzeptualisierung des Konfliktes bei Quijano entfernt sich von der Version der traditionellen liberalen soziologischen Theorie, die nur den Sozialvertrag, den Konsens oder die Integration als elementare Bedingungen der sozialen Existenz berücksichtigt und den Konflikt als eine generell schädliche oder atypische soziale Beschaffenheit sichtbar macht. Hier ist die Wahrnehmung des sozialen Konfliktes nicht die einer Fehlleitung oder Unordnung, sondern eher die eines die Gesellschaft begleitenden Elementes. Um die Spur der Fragestellungen über den Konflikt zu folgen, siehe Quijano (2007b: 96; 2001a: 25ff; 2001b: 10; 1998: 27ff und 1975: 99ff ). | 57

ermöglicht die Kontrolle der Natur die Beschaffung von Ressourcen sowie die Reproduktion von Leben. Wie man sieht, ist jeder einzelne dieser fünf grundlegenden Bereiche der sozialen Existenz von der Triade, welche die Macht konstituiert, betroffen. Daher können die Formen der sozialen Existenz nicht unabhängig voneinander oder getrennt existieren oder wirken. Auf dieselbe Art und Weise können die Machtbeziehungen, welche sich in der Auseinandersetzung um die Kontrolle der genannten Bereiche der sozialen Existenz konstituieren, auch nicht ohne die anderen existieren oder wirken, eben weil sie einen strukturellen Komplex und eine historische Totalität bilden.4 Aber gleichzeitig verhalten sich die Machtbeziehungen zwar immer in derselben gemeinsamen Struktur, aber in jedem Bereich mit unterschiedlichen Rhythmen und Eigenschaften. Diese unterschiedliche Rhythmen und Eigenschaften, welche sich in jedem Bereich und auch in der gemeinsamen Struktur artikulieren, hängen direkt von dem konkreten Verhalten von menschlichen Gruppen ab, was dem strukturellen Komplex notwendigerweise einen historischen, heterogenen und diskontinuierlichen Charakter verleiht. Aus dieser Perspektive sind die sozialen Beziehungen Formationen, die von den Aktionen der Subjekte und sozialen Gruppen im Laufe ihrer Auseinandersetzungen und Konflikte konfiguriert werden. Wenn sich diese Aktionen in Richtung eines dauerhaften Zustandes reproduzieren, produzieren sie Verhaltensnormen und -modelle. Solche langfristig aufrecht erhaltenen Verhaltensmodelle führen zur Bildung von sozialen Institutionen, die darauf wiederum den Aktionen und dem Verhalten von Subjekten eine Form geben. Nach Quijano können wir diese Verhaltensmuster und ihre entsprechenden Institutionen als Strukturen bezeichnen, das heißt, zentrale Richtlinien für die Reproduktion der Verhaltensformen von Subjekten und sozialen Gruppen, die sich wiederum innerhalb bestimmten, durch die sozialen Institutionen konfigurierten, generellen Modellen abspielen (Quijano 2001b: 15).

4

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Die Idee von Totalität, so wie sie bei Quijano ausgedrückt wird, repräsentiert keine Theoretisierung einer homogenen, geschlossenen oder systemisch-organischen Struktur im Sinne des Strukturfunktionalismus. Ganz im Gegenteil repräsentiert die Idee von Totalität hier eine offene, heterogene und historische Struktur, sowohl in ihrem Verhalten als auch in ihren Determinationen. Auf was Quijano mit der Idee von Totalität hinweisen möchte, ist die Artikulation von spezifischen, heterogenen und diskontinuierlichen Geschichten (lokale Geschichten) innerhalb einer neuen globalen Struktur der sozialen Macht, die sich mit der Modernität/ Kolonialität begründet. Dazu siehe Quijano (2007b: 98ff; 2001b: 7ff und 1989).

»Das Interessante ist hier, dass das, was wir von der Geschichte kennen, die Auseinandersetzung über die Kontrolle von jedem einzelnen dieser Bereiche der sozialen Existenz ist und die daraus resultierende Macht – Beziehungen von Beherrschung/Ausbeutung/Konflikt – dem sozialen Verhalten der Menschen ihre Konfiguration, soll heißen ihre Struktur, gibt. Und innerhalb dieser Strukturen erneuern sich die strukturierten Verhaltensweisen der Menschen, soll heißen die ›Prozesse‹, bis sie wegen der Spannungen, Widersprüche und Konflikte auseinanderbrechen und der alte Zyklus von Auseinandersetzungen, Siegen, Niederlagen und Reproduktionen der durchgesetzten Verhaltensformen neu beginnt und damit auch die Konfliktformen. Mit anderen Worten – und angesichts der Tatsache, dass in allen Gesellschaften, von denen wir Informationen besitzen, Macht immer präsent war –: es ist nicht willkürlich zu behaupten, dass es genau das – die Macht – ist, was verschiedene und zerstreute soziale Erfahrungen in einer gemeinsamen Struktur artikuliert. Genau dies haben wir ›Gesellschaft‹ benannt.« (Quijano 2001b: 16)

Daher sind soziale Beziehungen auf keinen Fall das notwendige Produkt einer außerzeitlichen und daher natürlichen Übereinkunft zwischen Individuen einer Gesellschaft, so wie es der Liberalismus vertritt. Auf die gleiche Art und Weise sind die sozialen Beziehungen auch nicht das Resultat von universellen, externen und der Gesellschaft äußerlichen Faktoren, so wie es der historische Materialismus vorschlägt. Also sind die sozialen Beziehungen und die sie konfigurierenden Machtmuster notwendigerweise spezifisch und historisch, denn sie äußern sich in partikularen Chronotopi.5

Kolonialität der Macht und die soziale Strukturierung der Moderne Das aktuelle spezifische und historische Machtmuster, von Aníbal Quijano mit dem Beiwort Kolonialität präzisiert, setzt sich aus der strukturellen Assoziation zweier zentraler Elemente zusammen, die sich seit der Eroberung Amerikas zwischen Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts herausbildeten: »Die Kolonialität ist eines der konstitutiven und spezifischen Elemente des weltweiten Modells kapitalistischer Macht. Sie basiert auf der Durchsetzung 5

Damit ist der historische Zusammenhang zwischen einem bestimmten Ort und Zeitraum gemeint (Anm. d. Übers.). | 59

einer rassiologischen/ethnischen Klassifikation der Weltbevölkerung als Drehund Angelpunkt eben dieses Machmodells und wirkt auf allen materiellen und subjektiven Ebenen, Bereichen und Dimensionen der alltäglichen Existenz und auf jeder sozialen Skala. Diese entsteht und verbreitet sich weltweit von Amerika ausgehend. Mit der Konstituierung von (Latein)Amerika, in demselben historischen Moment und in derselben historischen Bewegung, wird die entstehende kapitalistische Macht weltweit wirksam. Deren hegemoniale Zentren verorten sich in an den Zonen des Atlantiks – die sich später als Europa identifizieren lassen –, und als zentrale Achsen ihres neuen Beherrschungsmodells begründen sich auch die Kolonialität und die Modernität. Mit anderen Worten: mit (Latein) Amerika wird der Kapitalismus global, eurozentriert und die Kolonialität und die Modernität setzen sich, bis heute, als die konstitutiven Achsen dieses spezifischen Machtmodells durch.« (Quijano 2007b: 93-94)

Die erste Achse besteht aus einem Beherrschungssystem, das sich aus einem Geflecht von intersubjektiven Sozialbeziehungen zusammensetzt, auf einer hierarchischen Sozialklassifikation beruht und mit der Konfiguration und Naturalisierung der Idee von raza aufrecht erhalten wird. Die Idee von raza als die erste Sozialkategorie der Moderne (Quijano 1992) nimmt innerhalb der neuen geokulturellen Identitäten eine zentrale Rolle ein, die sich mit dem spanischen Kolonialismus Anfang des 16. Jahrhunderts herausbildeten und sich später mit anderen Formen von sozialen Klassifikationen, basierend auf Ideen von Klasse und ›Geschlecht‹/Sexualität6, artikulierten. »Mit der Entstehung Amerikas bildet sich eine neue gedankliche Kategorie, die Idee von raza, heraus. Seit dem Beginn der Conquista, starteten die Eroberer eine historisch fundamentale Diskussion für die späteren Beziehungen der Menschen auf dieser Welt, speziell zwischen Europäern und Nicht-Europäern: ob die Eingeborenen von Amerika eine Seele besitzen oder nicht; im Grunde genommen ob sie eine menschliche Natur haben oder nicht. Die baldige Schlussfolgerung 6

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Quijano betont, dass die soziale Klassifikation anhand der Idee von Geschlecht die älteste der Menschheitsgeschichte ist (Quijano 2000c: 39), obwohl er gleichzeitig anerkennt, dass sie von der Idee raza reartikuliert und als zentrale Kategorie der sozialen Differenzierung der Kolonialität ersetzt wird (2007a: 132). Auf gleiche Weise weist Quijano auf die gegenwärtige Bedeutung der Idee von Klasse hin, aber erinnert, dass dieser Ausdruck erst im 18. Jahrhundert in der Naturforschung auftauchte und wahrscheinlich das erste Mal von Karl von Linné vorgeschlagen wurde (Quijano 2007b: 111ff ). Als gegenwärtiger Versuch, um sowohl die Rolle von Geschlecht als auch von Sexualität in der Kolonialität der Macht, ausgehend von Quijanos Ansatz zu redimensionieren, siehe den Beitrag von Rita Segato (2012).

des Papsttums war, dass sie Menschen seien. Aber seitdem setzte sich auf der einen Seite in den intersubjektiven Beziehungen und den sozialen Praktiken der Macht die Idee fest, dass die Nicht-Europäer nicht nur eine biologisch andere Struktur als die Europäer hätten, sondern vor allem minderwertig seien. Auf der anderen Seite wurden die unterschiedlichen Kulturen mit eben diesen biologischen Ungleichheiten assoziiert, die daher nicht als das historische Produkt der Beziehungen zwischen den Menschen untereinander und mit dem Rest des Universums betrachtet wurden. Diese Ideen haben auf tiefgreifende und dauerhafte Weise einen gesamten kulturellen Komplex, eine Matrix aus Ideen, Bildern, Werten, Attitüden und sozialen Praktiken konfiguriert, die weiterhin in den zwischenmenschlichen Beziehungen impliziert ist, sogar wenn politisch koloniale Beziehungen bereits aufgehoben sind. Dieser Komplex ist das, was wir unter Rassismus verstehen.« (Quijano 1993: 167)7

Im Machtmuster der Kolonialität durchdringen die Idee von raza und der ideologische Komplex des Rassismus jeden einzelnen Bereich der sozialen Existenz und stellen die tiefgreifendste und effizienteste Form der sozialen Beherrschung, materiell und intersubjektiv, dar (Quijano 2000b). Daher wird die subalterne Position der von diesem spezifischen und historischen Beherrschungsmodell unterworfenen Bevölkerungen nicht als das Resultat eines Machtkonfliktes angesehen, sondern als die logische Ableitung einer essenziellen Inferiorität in deren Natur. Die zweite Achse der Kolonialität als aktuelles Machtmuster setzt sich aus einem System von materiellen Sozialbeziehungen zusammen, das sich in der gleichen historischen Bewegung bildete, in welcher auch die Produktion und Kontrolle von Subjektivitäten stattfand, die den Ursprung der klassifikatorischen Anstrengungen der ersten Achse darstellen. In diesem Sinn begann sich parallel mit der Eroberung Amerikas ein neues Kontrollsystem von Arbeitskraft herauszubilden, das in der Artikulation von jeder bekannten Form von Ausbeutung in einer einzigen Struktur von Warenproduktion für den Weltmarkt unter der Hegemonie des Kapitals besteht. Kapitalismus, als analytische Kategorie, bezieht sich genau auf die durch diese strukturelle Artikulation geformte Gesamtheit. In der Tat hat sich der Kapitalismus als Desintegration aller älteren Kontrollmuster von Arbeitskraft entwickelt und alle vorherigen strukturellen Fragmente, die ihm nützlich sind, neude7

Eine ausführlichere Abhandlung über die historische Herausbildung der Idee von raza findet sich bei Quijano (2007a: 130ff; 2000a: 202ff; 2000c: 37ff und 1993: 168ff ). | 61

finiert. Auch wenn diese Achse des aktuellen Machtmusters von Anfang an global wirkmächtig war, hat sie nie auf historisch homogene Art und Weise existiert. Ganz im Gegenteil artikuliert der Kapitalismus aufgrund seines Charakters (neben unterschiedlichen Formen der Ausbeutung) multiple historisch und strukturell heterogene Kontexte und konfiguriert sie gemeinsam als eine einzige Weltordnung, ausgedrückt in dem aktuellen globalen Kontrollmuster von Arbeitskraft.8 »Auf der anderen Seite wurden während des Prozesses der historischen Konstituierung Amerikas alle Formen der Arbeitskontrolle und -ausbeutung und der Kontrolle von Produktion-Aneignung-Distribution von Produkten rund um die Beziehung Kapital-Lohnarbeit und den Weltmarkt artikuliert. Darin impliziert: die Sklaverei, die Leibeigenschaft, die kleine Handelsproduktion, die Reziprozität und die Lohnarbeit. In dieser Zusammensetzung stellte jede der genannten Formen der Arbeitskontrolle nicht nur eine reine Fortsetzung ihrer historischen Vorform dar. Alle waren im historischen und soziologischen Sinne neu. Erstens wurden diese Formen gezielt weiterentwickelt und -organisiert, um Waren für den Weltmarkt herzustellen. Zweitens gab es zwischen den verschiedenen Arten nicht nur eine Koexistenz im selben Zeit/Raum, sondern jede einzelne war für sich und in ihrem Bezug zu den anderen über das Kapital und den Markt artikuliert. Sie bildeten so ein neues globales Modell der Arbeitskontrolle als ein fundamentales Kennzeichen des neuen Machtmusters, von dem sie wiederum zusammen und einzeln historisch-strukturell abhängig waren. Ihre historische Bewegung hing von da an von ihrer Zugehörigkeit zum weltweiten Machtmodell ab, aber nicht lediglich als untergeordnete räumliche und funktionale Teile einer Totalität, sondern sogar ohne ihre entsprechenden speziellen Charakteristika zu verlieren und ohne etwas von ihrem diskontinuierlichen Verhältnis zum Ganzen und untereinander einzubüßen. Drittens, und als Konsequenz davon, entwickelte jedes dieser neuen Arbeitsmodelle neue Merkmale und neue historisch-

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Innerhalb der außerordentlich breiten kritischen Literatur über die kapitalistische Produktionsweise sind die Ideen von Aníbal Quijano über dieses Thema vor allem von José Carlos Mariátegui (1928) und seiner heterodoxen und offenen Leseart des Werkes von Karl Marx beeinflusst, sowie von dem Modell historischer Systeme, vorgeschlagen von Immanuel Wallerstein (1979), der wiederum vom Werk von André Gunder Frank (1970) inspiriert wurde. Die Modalität unter der sich die verschiedenen Formen der Arbeitskontrolle bei Quijano artikulieren, unterscheidet sich sehr von dem Vorschlag der Artikulation von Produktionsweisen im Stile des marxistischen Strukturalismus althusserianischer Prägung. Um diese Ideen weiter zu verfolgen, siehe Quijano (2011: 374ff; 2008: 195ff; 1998: 63ff und 1989: 38ff ).

strukturelle Konfigurationen, um die neuen Funktionen zu erfüllen.« (Quijano 2000a: 204)9

Aufbauend auf der Konfiguration dieser zwei Achsen, auf der einen Seite die Produktion neuer geokultureller Identitäten (indios, negros, blancos und in einem anderen Sinn Amerika, Europa, Westen, Orient, etc.) und auf der anderen die Kontrolle von Arbeitskraft durch die Entstehung neuer sozial-materieller Produktionsverhältnisse, gestaltet sich die Kolonialität als globales Machtmuster. Obwohl sie diesen globalen Charakter besitzt, ist es selbstverständlich, dass sich die Kolonialität der Macht in unterschiedlichen weltweiten Räumen und Zeiten auf spezifische und heterogene Weise geformt und daneben kontinuierliche historische Transformationen durchlaufen hat, aber trotzdem weiterhin die Basis der Beziehungen von Beherrschung, Ausbeutung und Konflikt war und ist.10 Auf dieselbe Weise erlangen innerhalb der Achsen der Kolonialität der Macht die Produktionsweisen und die Kontrolle über die Subjektivität einen, diesem Machtmuster untergeordneten spezifischen Charakter. Wie wir bereits darlegten, ist Subjektivität bei Quijano in drei fundamentale Elemente gegliedert: soziale Vorstellung, historische Erinnerung und Wissensperspektiven (2001c). Innerhalb des Machtmusters der Kolonialität drücken sich diese drei Elemente im Eurozentrismus aus. So benennt Quijano die Kontroll- und Produktionsweise der intersubjektiven Beziehungen, die Mitte des 17. Jahrhunderts in Europa als Teil der Eurozentriertheit des modernen/kolonialen Machtmusters ausgearbeitet und systematisiert wurde. Auf diese Weise ist der Eurozentrismus anhand einer sozialen Vorstellung, historischer Erinnerung und Wissensperspektive gekennzeichnet, in Abhängigkeit sowohl von den Anforderungen des Kapitalismus als auch der Not9

Für eine Historisierung der wichtigsten Transformationen des Kapitalismus in Bezug auf die Kolonialität der Macht, siehe Quijano (2009: 5ff; 2004: 76ff; 2001a: 29ff und 2000a: 204ff ). 10 Hier muss man betonen, dass sich das Konzept der Kolonialität von der Idee des Kolonialismus unterscheidet. Kolonialismus meint ein politisches und ökonomisches Verhältnis, bei der die Souveränität einer Bevölkerung bei einer anderen Nation oder Bevölkerung liegt. Im Gegensatz dazu bezieht sich Kolonialität auf ein Machtmuster, das als Resultat des modernen Kolonialismus auftauchte, aber statt nur auf eine Machtbeziehung zwischen zwei Bevölkerungen oder Nationen beschränkt zu sein, bezieht sie sich auf die Art und Weise, wie Arbeit, Wissen, Autorität und intersubjektive Verhältnisse miteinander und anhand des kapitalistischen Weltmarktes artikuliert sind. Also obwohl der Kolonialismus zeitlich gesehen der Kolonialität vorausgehend ist, besteht die Kolonialität als Machtmuster über den Kolonialismus hinaus. | 63

wendigkeit der Kolonisierenden ihre Beherrschung aufrecht zu erhalten und zu naturalisieren. Damit sind natürlich die Aneignung der intellektuellen und sogar technologischen Errungenschaften der Kolonisierten historisch mit eingeschlossen. Trotzdem ist das deutlichste Kennzeichen des Eurozentrismus die Art und Weise, den Kolonisierten einen verzerrenden Spiegel aufzuerlegen, der sie von da an zwingt, sich mit den Augen der Dominanten zu sehen und so die historisch und kulturell autonome Perspektive der unter dem aktuellen Machtmuster Beherrschten zu blockieren und zu verdecken. »Der Eurozentrismus ist also nicht nur ausschließlich die kognitive Perspektive der Europäer oder nur der Dominanten im globalen Kapitalismus, sondern auch die der Gesamtheit derer, die unter dessen Hegemonie gebildet und erzogen werden. [...] Es handelt sich um eine kognitive Perspektive, welche in dem langen Zeitraum der Gesamtheit der eurozentrierten Welt des kolonialen/modernen Kapitalismus produziert wurde und welche die Erfahrung der Menschen unter diesem Machtmodell naturalisiert. [...] Seit dem 18. Jahrhundert und vor allem mit der Aufklärung wurde im Eurozentrismus die mythologische Idee bestätigt, dass Europa in diesem Machtmodell pre-existent ist; dass es schon vorher ein weltweites Zentrum des Kapitalismus war, das den Rest der Welt kolonisierte und auf eigene Rechnung und von innen heraus die Modernität und Rationalität hervorbrachte. In dieser Ideenordnung bildeten Europa und die Europäer das am weitesten vorgeschrittene Moment und Niveau auf einem linearen, einseitigen und kontinuierlichen Weg der Spezies. So konsolidierte sich gemeinsam mit dieser Idee ein weiteres Herzstück der eurozentrischen Kolonialität/Modernität: eine Konzeption der Menschheit, nach welcher sich die Weltbevölkerung anhand von Minderwertigem und Überlegenem, Irrationalem und Rationalem, Primitivem und Zivilisiertem, Traditionellem und Modernem differenziert.« (Quijano 2007b: 94-95)

Auf diese Weise bezeichnet die Kolonialität das globale Machtmuster des modernen/kapitalistischen Weltsystems, entstanden mit der Eroberung Amerikas durch den europäischen (vor allem spanischen und portugiesischen) Kolonialismus des 16. Jahrhunderts, fortgesetzt unter der französischen und niederländischen Hegemonie des 18. Jahrhunderts, verbreitet durch den englischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts und erweitert mit der Vorherrschaft des nordamerikanischen Imperialismus seit Anfang des 20. Jahrhunderts bis heute. All dies entlang einer langen Kette von Transformationen und Transmutationen der subjektiven (kulturellen Beherrschung) und materiellen (Ausbeutung von Arbeitskraft) Dimensionen 64 |

dieses Modells. Daher ist es möglich, in der Geschichte Lateinamerikas von einer kolonialen Machtmatrix als ordnendem und akkumulativem System von Sozialbeziehungen zu sprechen. Selbstverständlich beginnt mit der lateinamerikanischen Unabhängigkeit Anfang des 19. Jahrhunderts ein Prozess der Dekolonisierung, aber nicht der Deskolonialität. Das heißt, dass die neuen lateinamerikanischen Nationalstaaten ihre Unabhängigkeit von den Hegemonialmächten erreichen, aber die Kolonialität und ihre fundamentalen Effekte weiterhin innerhalb der unterschiedlichen Länder wirken und mit der Zeit unterschiedliche soziale Strukturierungen produzieren, die trotzdem alle unter der Kolonialität der Macht artikuliert sind. Ohne Zweifel ist dieses Machtmuster das zentrale Element der Gesellschaftsstruktur in Lateinamerika.

Kolonialität der Macht, Modernität und Lateinamerika Der Gestaltungsprozess der Nationalstaaten und der nationalen Identitäten, der in Europa stattfand, wurde von der Entwicklung des Kapitals als soziales Beziehungsverhältnis begleitet und dies hat zu dem Prozess einer sozialen Klassifikation, basierend auf der Idee von Klasse (Bourgeoisie, Mittelklasse, städtische Lohnarbeiter, etc.) innerhalb einer Bevölkerung geführt, der eine ethnische und rassiologische Homogenität zugesprochen wurde. Diese Voraussetzung führte so zur Merkantilisierung der sozialen Beziehungen und zur Säkularisierung der Subjektivität (Quijano 2000a). Somit war der Verlauf der Beziehungen von Beherrschung, Ausbeutung und Konflikt mit den Dynamiken zwischen den Klassen verbunden, vor allem der entstandenen Konfliktivität zwischen Ausbeutenden und Ausgebeuteten. Auf diese Weise erlaubten die Errungenschaften der subalternisierten Klassen bei der Kontrolle der Arbeit die partielle Demokratisierung der sozialen Beziehungen anhand der Auseinandersetzung um die Kontrolle der kollektiven Autorität, vor allem in jenen Gebieten, wo es revolutionäre Bewegungen geschafft haben, die Machtbeziehungen um die Kontrolle der Produktionsmittel zu ebnen. Das sichtbarste Ergebnis dieser Prozesse war die Gestaltung der intersubjektiven Beziehungen eines speziellen Einschlags, wo sich Zugehörigkeitsgefühle entwickelten, die sich auf spezifische territoriale Einheiten bezogen und mit der Idee eines ›Vaterlandes‹ verknüpft waren. Nach diesem Prozess war die Herausbildung von Nationalstaaten und nationalen Identitäten in Lateinamerika von essenziell kolonialem Charakter. Im Falle Lateinamerikas entwickelte sich mit der durchgesetzten und unter | 65

dem Kapitalismus subsumierten Reproduktion von anderen Ausbeutungsformen von Arbeitskraft ein Modell rassiologischer Klassifikation zwischen blancos und anderen als minderwertig angesehenen Typologien. Indem sich der Kolonialismus über die sozialen Beziehungen stülpte, wurden die beherrschten Bevölkerungsgruppen auch dazu gezwungen, ihre eigene Produktion von Subjektivitäten an die kulturellen Modelle eurozentrischer Prägung anzupassen und Letztere zu imitieren (Quijano 1998). Auf dieselbe Weise waren die Beziehungen von Beherrschung, Ausbeutung und Konflikt mit den rassiologischen Differenzierungen der Kolonialität der Macht historisch verbunden. Deswegen haben die in diesem Feld stattfindenden Auseinandersetzungen auf keine Weise dazu geführt, dass die Eliten der blancos die Gleichwertigkeit der restlichen Bevölkerungssektoren anerkennen. Mit anderen Worten: die Kolonialität der Macht hat eine tatsächliche Demokratisierung der sozialen Beziehungen in diesen Nationen historisch unmöglich gemacht. Daher ist die Geschichte Lateinamerikas eben genau durch diese Fragmentierung und Prekarität der Nationalstaaten charakterisiert sowie durch die ihren Gesellschaften innewohnenden Konflikte. Eigentlich ordnete die lateinamerikanische Unabhängigkeitsbewegung die Kontrolle über die Machtbeziehungen in den ehemaligen spanischen politisch-administrativen Einheiten neu. Trotzdem hat diese neue Anordnung die Kolonialität der Macht aufrecht erhalten und bestätigt, dieses Mal unter der Führung der aufgeklärten Sektoren der blancos in der Gesellschaft. Obwohl sie in jeder einzelnen dieser Gesellschaften eine kleine Minderheit der Gesamtbevölkerung darstellten, waren es die Schichten der blancos, welche die indio-, negro- und mestizo-Mehrheiten der jungen Republiken beherrschten und ausbeuteten. Diese Mehrheiten hatten keinen Zugang zur Kontrolle der Produktionsmittel, wurden daran gehindert, ihre (religiösen, linguistischen, künstlerischen, etc.) Subjektivitäten zu repräsentieren, und gleichzeitig wurde es ihnen unmöglich gemacht, an der Gestaltung der kollektiven Autorität teilzunehmen. Wie es Aníbal Quijano mit aller Deutlichkeit ausgedrückt hat, besteht Lateinamerika historisch aus unabhängigen Staaten mit kolonialen Gesellschaften.11 11 So wie wir es in einer vorausgegangene Fußnote für das Konzept des Kolonialismus gemacht haben, ist es hier nötig, den Unterschied zwischen der Idee der Kolonialität und dem Konzept des internen Kolonialismus aufzuzeigen. Zwischen Ende der 1960er und Anfang der 70er Jahre haben vor allem Pablo González Casanova (1969) und Rodolfo Stavenhagen (1969) die analytische Kategorie des internen Kolonialismus eingeführt, um die Strukturierung der sozialen Beziehungen in den Ländern der Dritten Welt zu charakterisieren. Ausgehend vom analytischen 66 |

Wenn die Kolonialität der Macht die Basis der Gesellschaftsstruktur in Lateinamerika ist, dann erschwert die Prekarität und Fragmentierung bei der Herausbildung von Nationalstaaten gleichzeitig das Festhalten an nationalen Identitäten. In diesem Rahmen und in derselben historischen Bewegung strukturierte die politische, administrative und militärische Ordnung der lateinamerikanischen Republiken, geführt von den Eliten der blancos, die Konfiguration der sozialen Vorstellungen und historischen Erinnerungen, welche die nationalen Identitäten begründeten, während die internen und durch die Kolonialität der Macht konfigurierten Hierarchien verdeckt wurden (Quintero 2009). Als Konsequenz brachte diese Eigenheit der lateinamerikanischen Gesellschaften vier verschiedene historische Wege und ideologische Ablagerungen innerhalb der Entstehung der lateinamerikanischen Nationen hervor (Quijano 2000a). Erstens fand in Nationen wie Mexiko, Bolivien und Kuba aufgrund radikaler Revolutionen ein tatsächlicher, aber unvollendeter Prozess von Demokratisierung und Deskolonisierung durch eine assimilatorische Identitätspolitik für die ethnischen Mehrheiten statt. Zweitens entstand in der Mehrheit der Länder des Cono Sur wie Chile, Uruguay und Argentinien ein effektiver, aber nicht vollendeter Prozess einer rassiologischen und kulturellen Homogenisierung der Bevölkerung durch massive Vernichtungspolitiken gegenüber den Gruppen der indios und negros, begleitet von einer energischen politischen Förderung der europäischen Einwanderung.12 Drittens entwickelte sich in Peru, Ecuador, Guatemala und Nicaragua, ebenfalls durch Vernichtungspolitiken, ein absolut fehlgeschlagener Prozess der Homogenisierung der indigenen und afrikanischstämmigen Bevölkerung, was zu gewalttätigen politischen und identitären Konflikten, vor allem zwischen criollos und indígenas, Rahmen des Kapitalismus und dem damit verbundenen Begriffspaar Entwicklung/ Unterentwicklung, fokussiert die Idee des internen Kolonialismus auf das Beherrschungsverhältnisse, ausgeübt von der Bourgeoisie und dem Großgrundbesitz der criollos über die peripheren oder unterentwickelten Bevölkerungen innerhalb desselben Nationalstaates. Auch wenn die Kategorie des internen Kolonialismus der Idee der Kolonialität der Macht vorgreift und diese sogar beeinflusst, ist Letztere auf einem breiteren und komplexeren analytischen Rahmen aufgebaut. Vor wenigen Jahren unternahm González Casanova (2006) den Versuch einer Rekonzeptualisierung des internen Kolonialismus und verteidigte die Gültigkeit dieser Kategorie, während vor kurzem Stavenhagen (2009) die veraltete und irreguläre Seite seines eigenen Konzeptes hinterfragte und sich für die Kategorie der Kolonialität der Macht aussprach. 12 Siehe dazu den Beitrag von Martin E. Díaz in diesem Band (Anm. d. Hrsg.). | 67

führte. Schließlich vollzog sich in Ländern, wo die nicht-weiße Bevölkerung die beachtliche Mehrheit stellt, wie in Brasilien, Kolumbien, Panama und Venezuela, ein Prozess der Verschleierung von rassiologischen Hierarchien anhand des Mythos der democracia racial, der es schaffte die ethnisch/rassiologischen Konfliktlinien unsichtbar zu machen, auch wenn sie alltäglicher Bestandteil des sozialen Lebens in diesen Nationen sind.

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Eine Epistemologie der anderen Art. Der Beitrag von Aníbal Quijano in der Neustrukturierung der Sozialwissenschaften in Lateinamerika César Germaná Zu Beginn des 21. Jahrhunderts findet man in Lateinamerika und weiten Teilen der Welt die Wiedergeburt eines kritischen Denkens mit einer besonderen ethischen und politischen Perspektive. Ausgehend von verschiedenen Blickwinkeln (unter anderem der Kritik am Orientalismus, den postkolonialen Studien oder Subaltern Studies) wird versucht, den Eurozentrismus – eine epistemologische Perspektive mit der sich die Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert historisch herausbildeten – zu überwinden, ohne in einen relativistischen Skeptizismus zu verfallen. In Lateinamerika haben zwei peruanische Denker, José Carlos Mariátegui (1894-1930) und Aníbal Quijano (1930) – beide zwei Epochen (den ersten und den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts) mit besonderen Charakteristika zugehörig – ein höchst bemerkenswertes und originelles Denken über die lateinamerikanische und peruanische Realität, als Teil des modernen/kolonialen Weltsystems, produziert. Beide Denker haben es geschafft, eine intellektuelle Autonomie zu erreichen, die es ihnen erlaubte, die eurozentrischen Alternativen in der Erforschung und der Transformation der Gesellschaft zu überwinden. Die Erkenntnisperspektive, in der sie ihre Forschungen und Beiträge zur historisch-sozialen Realität verorteten, erlaubt uns, die Grundsätze einer »Epistemologie der anderen Art«1 zu erkennen; diese ist ein Blickwinkel der sozialen Erkenntnis, der sich nicht als Teil der eurozentrischen Modernität versteht, sondern versucht, eine andere Rationalität zu entwerfen. Die epistemologischen Vorschläge von José Carlos Mariátegui und Aníbal Quijano können sich aber auch in dem theoretischen Feld verorten, das man als kritisches Denken bezeichnet. Dieses Denken entsteht in Europa im 19. und 20. Jahrhundert als Konsequenz einer tiefen Unzufriedenheit und des Nonkonformismus der vom Kapital ausgebeuteten und beherrschten Klassen bezüglich der Nichterfüllung der grundlegenden Versprechen der Moderne: das Erreichen von Gleichheit, Freiheit und Solidarität. Für Boaventura de Sousa Santos (2003: 26) ist ein kritisches Denken jenes, das 1

Im Sinne von Walter Mignolo (2003) für Epistemologien, die sich »geopolitisch aus der kolonialen Differenz heraus« entwickeln. | 71

»die ›Realität‹ nicht darauf reduziert, was existiert«, sondern es ist ein »Ermöglichungsfeld« mit der Aufgabe, »den Variationsgrad, der jenseits des empirisch Gegebenen existiert, zu definieren und abzuwägen«. Im Gegensatz zu den Sozialwissenschaften, die Moderne und Kapitalismus preisen und eine ›Wertneutralität‹ annehmen, hat das kritische Denken eine klar ethische und normative Orientierung. Es akzeptiert nicht das Existente als das, was sein soll – gemäß den Vorstellungen der positivistischen Soziologie von A. Comte bis T. Parsons –, sondern erlegt sich die notwendige Pflicht auf, das Existente zu dem zu transformieren, was sein soll. Diese Idee eines kritischen Denkens haben Theodor Adorno und Max Horkheimer mit aller Präzision aufgezeigt: » Aber nur im Geiste der Kritik wäre Wissenschaft mehr als die bloße Verdoppelung der Realität durch den Gedanken, und die Realität erklären, heißt allemal auch, den Bann der Verdoppelung brechen. Solche Kritik aber bedeutet nicht Subjektivismus, sondern die Konfrontation des Gegenstandes mit seinem eigenen Begriff. Das Gegebene gibt sich nur dem Blick, der es unter dem Aspekt eines wahren Interesses sieht, unter dem einer freien Gesellschaft, eines gerechten Staates, der Entfaltung der Menschen. Wer die menschlichen Dinge nicht an dem misst, was sie selber bedeuten wollen, der sieht sie nicht bloß oberflächlich sondern falsch.« (Adorno/Horkheimer 1971: 22)2

Die Erkenntnisperspektiven, in denen sich Mariátegui und Quijano verorten, orientieren sich an der Tradition des kritischen Denkens und setzen eine Demontage des Mythos der ›Wertneutralität‹ voraus, indem sie gleichzeitig in intellektuellen, moralischen und politischen Termini reflektieren. Jedoch unterscheiden sich die Ideen von José Carlos Mariátegui und Aníbal Quijano vom eurozentrischen kritischen Denken insofern, als im Zentrum ihrer Vorschläge die Problematik der Kolonialität der Macht auftaucht, eine Perspektive, deren Reflexion nur in der Peripherie des modernen/kolonialen Weltsystems möglich ist. Es handelt sich um das, was Walter Mignolo als »kritisches Grenz-Denken«3 bezeichnet hat. Das eurozentrische kritische Denken war aber innerhalb des epistemologischen Rahmens 2 3

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Verwendete deutsche Quelle: Adorno, Theodor/Horkheimer, Max. 1991. Soziologische Diskurse. Frankfurt a. M. Europäische Verlagsanstalt (Anm. d. Übers.). Ein von Walter Mignolo vorgeschlagenes Konzept, um sich auf »jene Erkenntnisformen [zu beziehen], die zwischen dem metropolitanischen Erbe des Kolonialismus (globale Designs) und dem Erbe der kolonisierten Gebiete (lokale Geschichten) entsteht.« (Mignolo 1997: 31). Eine breitere Analyse des »Grenz-Denkens« findet man bei Mignolo (2003).

der Moderne gefangen, wo die Idee eines unausweichlichen Fortschritts durch die Entwicklung der Produktivkräfte und des dadurch entstehenden Klassenkampfes eine der zentralen Motivationen war. Das kritische Denken an der Grenze hat im Gegensatz dazu die Kolonialität der Machtverhältnisse in das Zentrum der Reflexion gerückt. Daher dreht sich dessen Hauptsorge um die Deskolonisierung der Machtstrukturen als Ausgangspunkt einer effektiven Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens. Es handelt sich also um eine Wissensperspektive, die vor allem ein Projekt herausbildet, das vielversprechende Eigenschaften hat und in verschiedene Richtungen erweitert werden kann.

Kolonialität des Wissens und die »Epistemologie einer anderen Art« im Werk von Aníbal Quijano In den Schriften von José Carlos Mariátegui und der darin enthaltenen Erkenntnisperspektive lässt sich eine Art und Weise der Wissensproduktion über die Gesellschaft finden, die versucht, der indoamerikanischen historisch-sozialen Realität als eine spezifische Sozialformation gerecht zu werden. Er war nicht davon überzeugt, ein vorgefertigtes theoretisches Schema anzuwenden, um das soziale Leben zu verstehen; sondern davon, dass es notwendig ist, geeignete Konzepte in der eigenen Realität zu finden. Innerhalb dieser Suche taucht eine alternative Rationalität gegenüber der eurozentrischen Moderne auf, nämlich eine neue historische Vorstellung der sozialen Existenz, die seinen Reflexionen, Forschungen und seiner politischen Praxis eine fruchtbare Orientierung gab. Um dorthin zu kommen, erforschte er aus einem theoretischen und historischen Blickwinkel Ökonomie, Politik und die intersubjektiven Beziehungen des damaligen Perus. Der Ausgangspunkt dieser Sichtweise war, Wissen als Teil einer sozialen Praxis zu sehen. In diesem Sinne, stellte er sich Wissen als einen von der Praxis der Menschen nicht zu trennenden Aspekt vor, denn diese werden sich der Realität, in der sie agieren, durch ihr ständiges Handeln bewusst. Alles, was die Menschen wissen und kennen, befindet sich in der Geschichte, die wiederum durch sie selbst konstruiert wird. In den Analysen über das Funktionieren der peruanischen Gesellschaft und deren Veränderungstendenzen, erarbeitete Mariátegui eine Ansammlung an Kategorien, mit denen er versuchte, die spezifischen Phänomene dieser Realität auszudrücken. Er übertrug nicht einfach jene Konzepte der europäischen Realität auf die peruanische Gesellschaft. Auf gewisse Weise | 73

erarbeitete er sie neu, damit sie die neuen Phänomene, die seine Forschungen enthüllten, ausdrücken konnten. In diesem Sinn bot ihm die Erforschung der indoamerikanischen Realität die notwendige Methode und Theorie, um ihre Organisation und Transformation zu verstehen. Sein Verständnis von Geschichte– ein aus den transformativen Handlungen der Menschen entstehender Prozess – führte ihn notwendigerweise dazu, jene Analysestrategie zu verwerfen, in der die Phänomene als Objekte betrachtet werden, sei es die Ökonomie, politische Institutionen oder Ideologie. In seiner Perspektive lösen sich diese verdinglichten sozialen Tatsachen in den sozialen Beziehungen auf, die sie bestimmen. Das, was erstarrt und undurchsichtig erscheint, erwacht zum Leben und die ›sozialen Tatsachen‹ erscheinen als Beziehungen zwischen Menschen. Auf diese sozialen Beziehungen zielen die Forschungen von José Carlos Mariátegui ab, jedoch nun nicht mehr nur als Erscheinungen. Vielmehr möchte er dieses komplexe und übertönte Muster, welches das menschliche Leben bildet, fern von seinen objektivierten Erscheinungen rekonstruieren. Die Perspektive von Aníbal Quijano folgt in wichtigen Aspekten den Forschungen von José Carlos Mariátegui über die peruanische Gesellschaft und seine Transformation. Sie verfolgt die Ausarbeitung von neuen Konzepten, die es erlauben, der spezifischen historisch-sozialen lateinamerikanischen Realität, ausgehend von einer Infragestellung der eurozentrischen epistemologischen Perspektive, gerecht zu werden; ein Ansatz, dessen wichtigstes Charakteristikum ein dualistisches und evolutionistisches Verständnis der sozialen Realität ist. Daher rührt seine andauernde Auseinandersetzung mit zwei gegensätzlichen Versionen des eurozentrischen, reduktionistischen Rationalismus: die Modernisierungstheorie des Strukturfunktionalismus und der historische Materialismus des Marxismus/Leninismus. Eine Abhandlung dieser Auseinandersetzung findet man in dem Text »Die neue strukturelle Heterogenität in Lateinamerika« (Quijano 1990). Nach Quijano spaltet sich Lateinamerika für die Modernisierungstheorie in zwei klar differenzierbare Räume: die vormodernen Gesellschaften mit Sozialbeziehungen, die auf dem »heiligen Charakter der Tradition« beruhen, wie es Max Weber aufzeigte; und die modernen Gesellschaften, die Züge von kapitalistischen Gesellschaften haben und auf einer formalen Rationalität des Profits, des Marktes und der Lohnarbeit basieren. Unter diesen Bedingungen wird Entwicklung mit Modernisierung gleichgesetzt, also einem evolutionistischen Projekt, das bedeutet, die traditionelle Gesellschaft zu verlassen und die moderne Gesellschaft zu erreichen (Quijano 2000). 74 |

Im anderen Extrem, aber mit derselben eurozentrischen Ausrichtung, verortet sich der historische Materialismus des Marxismus/Leninismus. Eine Charakterisierung dieser Strömung findet sich in dem bereits zitierten Text von Quijano (ebd.). Hier zeigt er auf, dass dies eine intellektuelle Strömung ist, die Ende des 19. Jahrhunderts von Friedrich Engels und den Theoretikern der deutschen Sozialdemokratie als eine »Hybridisierung einiger der Vorschläge des theoretischen Erbes von Marx im Rahmen des spencerianischen Positivismus« produziert und in der Sowjetunion unter der Diktatur Stalins kodifiziert wurde. So werden auch im historischen Materialismus die Gesellschaften Lateinamerikas aus einer dualistischen Perspektive verstanden, nämlich anhand der Identifikation von zwei getrennten Strukturen, dem vorherrschenden ›Feudalismus‹ und dem ›Kapitalismus‹. Als Konsequenz würde der soziale Wandel im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus bestehen – mit einer Haltestelle im »Semifeudalismus« (Quijano 1990: 14). Gegenüber diesen Perspektiven, in denen Lateinamerika wie Europa betrachtet wird, verortet sich Aníbal Quijano in einer radikal anderen Wissensperspektive, die sich dadurch charakterisiert, dass sie die eurozentrische Art und Weise, das soziale Leben zu ergründen, hinterfragt und auf den Kategorien »strukturelle Heterogenität« und »Abhängigkeit« basiert. Nach Quijano wurde die Idee einer »strukturellen Heterogenität« nach dem zweiten Weltkrieg hervorgebracht, »um der spezifischen Art und Weise der Zusammensetzung unserer Gesellschaft Rechnung zu tragen, einer Kombination und Gegenüberstellung von strukturellen Mustern, deren Ursprünge und deren Natur in sich sehr verschieden waren« (ebd.: 8). So wird die Gesellschaft als eine historische Totalität betrachtet, in der sie durch verschiedene Anordnungen von in sich verwobenen Phänomenen zusammengesetzt ist, dies aber nicht homogen, sondern konfliktiv und widersprüchlich, sodass sich eine Struktur sozialer Machtverhältnisse ergibt. Deswegen wurde dem Konzept der ›strukturellen Heterogenität‹ das der ›Abhängigkeit‹ hinzugefügt, die jedoch nicht als eine Unterwerfung eines Landes durch ein anderes gedacht wird, wie es eine Strömung des nationalentwicklungspolitischen Denkens vertritt. Vielmehr weist sie auf »eine Machtstruktur [hin], die in dem Zusammenschluss von Ausbeutung und Beherrschung unter den Dominanten der internationalen Ordnung und denen der internen Ordnungen eines ›Landes‹ oder einer ›Nation‹ besteht. Darin sind auch alle Folgen hinsichtlich der sozialen Existenz impliziert.« (ebd.: 9). | 75

Die in den 1960er und 70er Jahren von Aníbal Quijano ausgearbeitete Analyse der peruanischen und lateinamerikanischen Realität zeigt die Furchtbarkeit dieser Wissensperspektive, die er angenommen und entwickelt hat. Besonders wichtig sind die Arbeiten über Urbanisierung und Marginalität in Lateinamerika (Quijano 1977a; 1977b), die gemäß dem Autor die »ersten Anzeichen eines Bruches« mit dem eurozentrischen Wissensverständnis sind. Auf der anderen Seite sind sie sehr lehrreich, um die Art und Weise zu bestimmen, wie Quijano in seiner Wissensperspektive eine Analyse der peruanischen Konjunktur unter der Militärregierung von Velasco Alvarado (1968-1975) ausarbeitet. In diesen Texten befinden sich zwei hervorzuhebende Aspekte. Auf der einen Seite die Tatsache, dass es nicht möglich ist, die peruanische Konjunktur dieser Zeit ohne ein Verständnis der weltweiten kapitalistischen Entwicklung nachzuvollziehen; auf der anderen Seite, wie die Analyse des Regimes von Velasco aus der Perspektive der Arbeiteremanzipation gemacht wird. Im Bezug auf den ersten Aspekt erforscht Quijano in dem Buch »Nationalismus, Neoimperialismus und Militarismus in Peru« (1971) sowie in verschiedenen Artikeln in der Zeitschrift Sociedad y Política4 die neue Artikulationsweise der peruanischen Gesellschaft mit der Struktur des gegenwärtigen Imperialismus sowie die Rolle, welche die herrschenden Klassen und der Staat in der sich herausbildenden Machtstruktur spielen. Im Bezug auf den zweiten Punkt erforscht Quijano die Rolle der Arbeiter in ihrem Kampf gegen die Ausbeutung durch das Kapital und in der Aufgabe, eine neue soziale Ordnung zu erreichen, die nicht die Übernahme des Staates bedeutet, sondern die Sozialisierung der politischen Macht, ausgehend von der Konstruktion von verschiedenen Formen direkter Demokratie.5 In der Vorstellung dieser Entstehungslinie einer »Epistemologie der anderen Art« ist es wichtig, die Analyse zu beleuchten, die Aníbal Quijano in Bezug auf das Werk von Mariátegui macht.6 Er attestiert Mariátegui, dass er sich durch eine »nachdrücklich intellektuelle Autonomie« auszeichnet, die es ihm erlaube, die »eurozentrischen Forschungs- und Revolutionsoptionen der Gesellschaft« zu überwinden. Er identifiziert diese Einzigartigkeit in

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Diese Zeitschrift wurde zwischen 1972 und 1982 herausgegeben. Zum Kampf der Arbeiter, siehe folgende Arbeiten von Quijano (1973a; 1973b und 1975). Zur Frage der Sozialisierung der Macht, siehe Quijano (1981a; 1991 und 1996). Die wichtigsten davon sind: Quijano (1981b; 1987; 1994a; 1994b; 1995)

»der Verwendung von Kategorien, die innerhalb der eurozentrischen Version der modernen Rationalität erarbeitet wurden, definiert diese aber wegen seiner Einschreibung in eine radikal andere Wissensperspektive, als die der damals unter den europäischen und vor allem den Intellektuellen des internationalen Stalinismus vorherrschende, neu«. (Quijano 1995)

Auf diese Weise sieht er im Werk von Mariátegui das Projekt einer epistemologischen Perspektive, die sich in Opposition zum Eurozentrismus entwickelt und in einer, zur herrschenden, alternativen Rationalität mündet. Ihr Kern liegt in der Identifikation der Besonderheit der peruanischen Gesellschaft als eine Artikulation von historischen, strukturell heterogenen Elementen, die eben nicht systematisch oder organisch verbunden sind, sondern konfliktiv. Aus diesem Grund führt das epistemologische Projekt von Mariátegui dazu, ausgehend von der Existenz von historischen Formen der Selbstorganisation der Arbeiter die Idee einer spezifischen Form von sozialer Emanzipation vorzuschlagen: den »indoamerikanischen Sozialismus«, der als das Projekt der Wiederherstellung der historischen Vorstellung der peruanischen Gesellschaft definiert werden kann; ihrer reoriginalización, also. Die Erforschung der Probleme in Bezug auf den Entwurf einer alternativen Rationalität führt Aníbal Quijano (1988) dazu, einige Fragestellungen zu diskutieren, die in der Idee von Modernität impliziert sind. Dieses so oft – allerdings mit fehlender Präzision – benutzte Konzept wird von Quijano als eine umfangreiche Ansammlung von Veränderungen betrachtet, die sich in der gesamten Welt unter der europäischen Hegemonie seit dem 16. Jahrhundert ergaben und eine zunehmende Rationalisierung der sozialen Existenz bedeuteten. Letzteres im Sinne von Max Webers »formaler Rationalität« oder Max Horkheimers »instrumenteller Vernunft«. Es handelt sich also um eine Art der sozialen Beziehungen, in der die Handlungen von einer Berechnung der Mittel geleitet sind; daher ist jene erfolgreiche Handlung rational, welche die passenden Mittel verwendet, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Diese Form von Rationalität hat sich nach Quijano in der »bürgerlichen Vernunft« gegenüber der »historischen Rationalität« durchgesetzt, die »ein Versprechen einer rationalen sozialen Existenz [implizierte], als ein Versprechen von Freiheit, Gleichheit, Solidarität und kontinuierlicher Verbesserung der materiellen Bedingungen dieser sozialen Existenz und nicht von irgendeiner anderen« (ebd.: 17). Speziell für Lateinamerika beobachtet Quijano, dass die Bedingungen gegeben sind, damit sich diese historische Rationalität mit jener trifft, die in der vorkolonialen | 77

Welt entstand. Die zur eurozentrischen Moderne alternative Rationalität ist deswegen möglich, weil Elemente im kulturellen Erbe von Bevölkerungen existieren, die »als Träger eines historischen Verständnisses wahrgenommen werden können und das allmählich auch werden, im Gegensatz zur Herrschaft der instrumentellen Vernunft und zum kulturellen Obskurantismus« (ebd.: 31). So erscheint beispielsweise innerhalb der andinen Tradition ein alternativer Vorschlag von Rationalität, wo die Realität als eine Totalität betrachtet wird, die das magische mit einschließt. »Die Rationalität ist hier nicht die Entzauberung der Welt, sondern das Verständnis ihrer Totalität. Das Reelle ist nämlich nicht weniger rational, wenn es das magische mit aufnimmt. So erzählen es Rulfo und Arguedas, als die wichtigsten Vertreter dieser originellen Rationalität« (ebd.: 62). Auf diese Weise taucht Lateinamerika als »der privilegierte Raum [auf ], der Ursprung einer historischen Rationalität ist, wo alle rationalen Kreationen aller Kulturen mit einfließen« (ebd.: 34). In der Untersuchung der Moderne zeigt Aníbal Quijano (ebd.: 11) auf, dass ihre Entstehung »eine direkte und innige Beziehung zur historischen Konstitution Lateinamerikas« hat. Die Ausführung dieser Fragestellung führt ihn dazu, eine breite Problematik rund um das auszuloten und zu diskutieren, was er »Kolonialität der Macht« genannt hat.7 Der Ausgangspunkt der Untersuchung dieser Kategorie ist die Existenz eines Machtmusters (patrón de poder i.O.), das die konstitutiven Anordnungen einer bestimmten Gesellschaft in einer Gesamtheit vereint. Mit dieser Idee überwindet Quijano die simplifizierenden Perspektiven auf das soziale Leben wie die des historischen Materialismus (ökonomische Basis, juristisch-politischer Überbau und Formen von sozialem Bewusstsein) oder des Liberalismus (Markt, Staat, Zivilgesellschaft), um einen epistemologischen Holismus anzunehmen, in dem die soziale Existenz eine durch Macht strukturierte Totalität bildet. Jedoch ist diese Macht nicht funktionalistisch in dem Sinne, dass sie sich als ein einfaches System herausbilden würde, wo wenige Variablen, die es formen, eine mechanische und lineare Beziehung zueinander haben; vielmehr handelt es sich um ein komplexes System, in dem unterschiedliche

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Aníbal Quijano führte das Konzept der Kolonialität der Macht 1991 ein. Später hat er es in unterschiedlichen Texten weiterentwickelt: Quijano und Wallerstein (1992); Quijano (1993; 2000b; 2000c; 2000d; 2000e; 2001; 2003; 2004; 2007). Für eine Auseinandersetzung mit diesem Konzept sind Mignolo (2003), Escobar (2003) und Grosfoguel (2003) zu empfehlen.

Elemente nicht nur miteinander interagieren, sondern sich auch auf konfliktive Weise gegenseitig definieren. Macht ist für Quijano kein Ding, sondern eine soziale Beziehung, die folgende Elemente auf permanente Art und Weise artikuliert: Beherrschung, Ausbeutung und Konflikt. »[Sie] betrifft die vier grundlegenden Bereiche der sozialen Existenz und ist Resultat und Ausdruck der Auseinandersetzung über deren Kontrolle: 1) Arbeit, ihre Ressourcen und Produkte; 2) Sex, seine Ressourcen und Produkte; 3) kollektive (oder öffentliche) Autorität, ihre Ressourcen und Produkte; 4) Subjektivität/ Intersubjektivität, ihre Ressourcen und Produkte« (Quijano 2000c: 21)

Diese Bereiche des sozialen Lebens wirken nicht unabhängig voneinander, sondern sind miteinander verflochten, da ein Bereich nicht ohne die anderen existieren kann. So bilden sie ein komplexes dynamisches System, »dessen Charakter immer historisch und spezifisch ist« und ein »historisches Machtmuster« hervorbringt (ebd.).8 Für Aníbal Quijano bildete sich mit der spanischen und portugiesischen Eroberung Amerikas ein neues Machtmuster heraus, das in der Tat global war und mehr als fünf Jahrhunderte andauern würde. Dieses globale Machtmuster basiert auf der Kolonialität, weil es sich nicht nur um eine juristischpolitische Kolonisierung handelte, sondern von der Idee der raza durchzogen war, mit der die Beherrschung und weltweite Sozialklassifikation der Bevölkerungen möglich wurde. Mit der Kolonialität der Macht, werden die Beziehungen von Ausbeutung, Beherrschung und Konflikt rassialisiert; das heißt, die Machtverhältnisse werden in dem Maße naturalisiert, wie sich die Dominanten als überlegen und die Dominierten als minderwertig definieren. Darüber hinaus, und das ist das Perverseste dieser kolonialen Herrschaftsverhältnisse, werden die Beherrschten selbst zu Komplizen ihrer eigenen Unterdrückung, da sie die scheinbare biologische Überlegenheit der Konquistadoren als legitim betrachten. Die Kolonialität der Macht wird in diesem Sinne zum effizientesten Herrschaftsinstrument, sowohl in materiellen als auch in intersubjektiven Aspekten der sozialen Existenz. So erscheinen Modernität und Kolonialität als zwei Gesichter des aktuell bestehenden globalen Machtmusters. Die Modernität gibt sich als die aufgeklärte Seite aus und wird als der zunehmende Rationalisierungsprozess der unterschiedlichen Ordnungen des sozialen Lebens angesehen. Sie repräsen8

Siehe auch die Diskussion über Totalität in Quijano (2000d). | 79

tiert in diesem Sinne das Neue und das am weitesten Fortgeschrittene des Menschen. Die Menschheitsgeschichte wird als ein Ablauf betrachtet, deren Endpunkt das im 16. Jahrhundert entstandene Europa sei. Dadurch wäre dieses Europa quasi das Ende der Geschichte. Die andere Seite, die weniger glänzende und normalerweise versteckte, ist die Kolonialität; sie bedingt Machtverhältnisse, die sich zwischen dem Europäischen und dem NichtEuropäischen auf der Basis von raza errichten. Dieses Konstrukt beruht auf angeblichen biologischen Unterschieden zwischen Menschen und lässt einige – die Konquistadoren – überlegen und andere – die Kolonisierten – minderwertig erscheinen. Die Kolonialität hat also Herrschaftsverhältnissen – soziale Tatsachen – in biologische Hierarchien transformiert; diese sind in der Folge rassialisierte Verhältnisse. Was das Produkt von kolonialer Beherrschung war, ist als Kolonialität erhalten geblieben, als die kolonisierten Gebiete ihre juristisch-politische Unabhängigkeit erlangten. Dabei haben sich die rassialisierten Verhältnisse von Über-/Unterlegenheit als die Basis erhalten, auf der sich die aktuellen Strukturen des globalen Machtmusters errichten. Indem er die Kolonialität als die zentrale Achse der Struktur des globalen Machtmusters voraussetzt, zeigt Aníbal Quijano auch die Existenz von drei Komponenten auf, die ihr zugrunde liegen: der Kapitalismus als universelles soziales Ausbeutungsmodell von allen historisch bekannten Formen der Arbeitskontrolle, die das Kapital artikuliert, um Waren für den Weltmarkt zu produzieren; der Staat als universelles Kontrollmodell von kollektiver Autorität, dessen häufigste Variante der Nationalstaat ist; und der Eurozentrismus, in der ganzen Welt als die einzig legitime Form von Rationalität durchgesetzt, vor allem in der Form von Wissensproduktion.9 Anibal Quijano hat in mehreren Texten auf die Analyse der Kolonialität der Macht/des Wissens als einen Hauptaspekt des modernen/kolonialen globalen Machtmusters hingewiesen. Dort geht es darum, wie sich die Wissensstrukturen, die sich in Europa Ende des 17. Jahrhunderts herausbildeten, in der gesamten Welt durchsetzten, die intersubjektiven Vorstellungen der eroberten Bevölkerungen kolonisierten und ein Produkt der Rassialisierung der Beziehungen zwischen Konquistadoren und Eroberten darstellten. Das Wissen und die Erkenntnis der blancos setzte sich als dem der indios, negros und mestizos überlegen durch. »Als Teil des neuen globalen Machtmusters 9

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Zur Artikulation der unterschiedlichen Bereiche in der Struktur des aktuellen globalen Machtmusters, siehe Quijano (2000c; 2000d).

hatte Europa unter seiner Hegemonie auch die Kontrolle von allen Formen von Subjektivität, Kultur und vor allem von Wissen und seiner Produktion inne« (2000b: 209), wie Aníbal Quijano aufzeigt. In dem Eroberungsprozess wurden die amerikanischen Bevölkerungen nicht nur ihrer materiellen Ressourcen, sondern auch ihrer symbolischen Vorstellungen über die Welt enteignet, ihrer »Erkenntnisperspektiven [und] der Art und Weise, den Resultaten der materiellen oder intersubjektiven Erfahrung einen Sinn zu geben und diesen zu produzieren« (ebd.: 210); und es setzte sich derjenige der Konquistadoren durch. Auf diese Weise implizierte die Kolonialität der Macht die Hegemonie des Eurozentrismus als Wissensperspektive, da sich die Europäer wegen ihrer Stellung in den Strukturen der weltweiten Sozialklassifikation mit der Idee von raza als natürlich überlegen betrachteten und die kolonisierten Bevölkerungen akzeptier(t)en die Hegemonie dieser Erkenntnisperspektive als eine natürliche. Aber man muss bei der Abgrenzung der Idee des Eurozentrismus Acht geben. Denn Quijano bezieht sich mit diesem Konzept nicht nur auf all das, was die Europäer oder Nordamerikaner produzieren, sondern auf »eine spezifische Rationalität oder Wissensperspektive, die weltweit hegemonial wird, indem sie alle vorherigen oder unterschiedlichen sowie deren konkrete Wissensformen kolonisiert und sich darüber stülpt – sowohl in Europa als auch im Rest der Welt« (ebd.: 219). Das moderne/koloniale globale Machtmuster konfiguriert ein neues Universum von intersubjektiven Beziehungen, basierend auf der Dominanz der europäischen gegenüber den nicht-europäischen Bevölkerungen. Aníbal Quijano zeigt drei Hauptaspekte auf, welche diese spezifische Form von symbolischer Gewalt ausmachen: a) die Aneignung der kulturellen Errungenschaften zum Wohle der kapitalistischen Entwicklung; b) die Unterdrückung der »Produktionsweisen von Wissen, der Modelle von Sinnstiftung, der symbolischen Universen, der Ausdrucks- und Objektivierungsmechanismen von Subjektivität aufseiten der Kolonisierten«; und c) das erzwungene Erlernen der Kultur der Dominanten durch die Dominierten (ebd.: 209-210). Zusammenfassend bedeutete die Rassialisierung der Machtverhältnisse für die intersubjektive Welt der Beherrschten eine Konditionierung, die dazu führte, dass »wir Lateinamerikaner uns ständig mit den Augen der Dominanten betrachten« (Quijano 1998). Der von Aníbal Quijano angewandte Blickwinkel, um die Formen der Gesellschaftsorganisation und -transformation zu verstehen, ist jedoch von einer tiefgreifenden ethisch-politischen Überzeugung getragen: dem Ziel, | 81

zu einer radikalen Demokratisierung der Gesellschaft beizutragen. Die Wissens- und Transformationsperspektive sind in seinen Reflexionen nicht nebeneinander gestellt, sondern Teil desselben Prozesses kritischen Denkens. Sein Kommentar zu dem Vortrag »Für eine Praxis« von Orlando Fals Borda im Jahr 1978 zeugt von der Präzision dieser Erkenntnisorientierung: »Das Wissen über die soziale Realität ist nur aus dem Inneren einer transformativen sozialen Praxis vollständig zugänglich. Das impliziert selbstverständlich eine epistemologische und gleichzeitig eine ethische Entscheidung. Möchte man ein volles Verständnis der sozialen Realität erreichen, muss man sich dieser transformativen sozialen Praxis hingeben. Oder diesem Wissen entsagen.« (Quijano 1978)

Für die Deskolonisierung einer Wissensperspektive ist die unumgängliche Voraussetzung, die eurozentrische epistemologische Option infrage zu stellen, die der Entstehung der Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert vorausging. In verschiedenen Texten diskutiert Aníbal Quijano (1990a; 1990b; 2001b; 2007) die wichtigsten Eigenschaften dieses Wissensmodells über das soziale Leben. Vier davon machen eine Definition dieser eurozentrischen Perspektive möglich: Zum einen ein »radikaler Dualismus«, die Trennung von ›Subjekt‹ und ›Objekt‹ des Wissens, welche aus der cartesianischen Erkenntnistheorie stammt; in der das ›Subjekt‹ das unbestimmte Individuum ist, nicht verortet, ohne historisch-sozialen Bezug und daher universell; und das ›Objekt‹ eine vom ›Subjekt‹ und von dem Beziehungsgeflecht, in dem es steht, komplett losgelöste Entität. Die zweite Eigenschaft des Eurozentrismus ist eine Konsequenz der ersten: die Objektivität der Erkenntnis, die durch die Einklammerung des ›Subjektes‹ ausgedrückt wird; das heißt, die Annullierung des Forschers, der versucht die ›Realität‹ zu erkennen, die wiederum ›genau so wie sie ist‹ erkannt werden kann. Die dritte Eigenschaft ist das atomistische Verständnis des sozialen Lebens: die soziale Realität setzt sich aus »deutlich differenzierten Bereichen« zusammen; und wenn man versucht, diese in einer Totalität zu artikulieren, stellt sie sich auf organische oder funktionalistische Weise dar. Und die vierte Eigenschaft ist der Evolutionismus: die Gesellschaft schreitet als homogene Realität unausweichlich, unilinear und unidirektional in Richtung Fortschritt voran. Für Aníbal Quijano bedeutet die eurozentrische Wissensperspektive ein Auseinanderdriften zwischen der historischen Erfahrung Lateinamerikas und den Wissens- und Machtstrukturen. Um eine historische Vorstellung unserer sozialen Existenz zurückzugewinnen, ist es daher »unausweichlich, unsere 82 |

historische Netzhaut von der eurozentrischen Brille zu befreien und unsere historische Erfahrung wiederzuerkennen« (Quijano 2007: 353); das heißt, die »epistemologische Falle des Eurozentrismus« zu überwinden, um eine radikale »kulturelle Subversion-reoriginalización« unserer Gesellschaften zu erreichen. Das ist auch Aufgabe der Sozialwissenschaften, unter der Bedingung, dass diese ihre eurozentrischen Fundamente entscheidend hinterfragen. Auf der anderen Seite sieht Quijano eine Erosion des eurozentrischen Erkenntnismodells, weil das moderne/koloniale Machtmuster, von dem es ein Teil ist, auch in der Krise steht. Sowohl durch die inhärenten Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise als auch aufgrund der Herausforderungen der Beherrschten. In Bezug auf den ersten Punkt, kann man elementare Tendenzen in der Funktionsweise des Kapitalismus erkennen, die zu seiner aktuellen Krise geführt haben; die wichtigsten davon sind nach Quijano: »die steigenden Beschränkungen der Merkantilisierung von individueller Arbeitskraft; die ›strukturelle Arbeitslosigkeit‹; die Überakkumulation von manchen Bereichen und die Unterakkumulation von anderen; die Fragmentierung der Arbeit; die Technokratisierung des Wissens; die Verengung von demokratischen Räumen« (Quijano 2001b).

In Bezug auf den zweiten Punkt beobachtet er die Präsenz von sozialen Kräften in allen Bereichen der Beherrschung, welche die Hegemonie des derzeitigen Machtmusters hinterfragen. Quijano sieht in den »indigenen« und »afrolateinamerikanischen« Bewegungen soziale Kräfte, die angefangen haben, das moderne/koloniale Machtmuster infrage zu stellen und eine alternative Rationalität zu begründen, eine neue historische Vorstellung von sozialer Existenz, die auf die Demokratisierung der materiellen und intersubjektiven Sozialbeziehungen abzielt. Diese Bewegungen »weisen die theoretische und soziale Legitimität einer ›rassiologischen‹ und ›ethnischen‹ Klassifikation zurück und schlagen eine neue Idee von sozialer Gleichheit vor. Sie negieren die Dauerhaftigkeit und Legitimität des Nationalstaates, der auf der Kolonialität der Macht gründet. Schließlich schlagen sie, zwar weniger deutlich und explizit, die Affirmation und Reproduktion von Reziprozität und ihrer Ethik einer sozialen Solidarität vor. Dies kann eine alternative Option zu den räuberischen Tendenzen des aktuellen Kapitalismus sein«. (Quijano 2007: 368)

Auf diese Weise sind die Bedingungen gegeben, dass eine zum Eurozentrismus alternative Wissensperspektive entsteht. Im Gegensatz zur vorausgegan| 83

genen Epoche, wo die Zerschlagung der Arbeiter- und Volksbewegungen die Folge hatte, dass ein »Zukunftshorizont« in der historischen Vorstellung ausgelöscht wurde, der in seinem Kern kritisch war und daher auch eine kritische Sozialtheorie darstellte, scheint diese Zeit der Niederlagen heutzutage, vor allem seit den 1990er Jahren, zu einem Ende gekommen zu sein. Gemeinsam mit diesem neuen sozialen Bezugspunkt für die Infragestellung des Systems tauchen Möglichkeiten der Deskolonisierung der Wissens- und Erkenntnisstrukturen auf. »Der bereits begonnene globale Widerstand impliziert oder kann implizieren«, so Quijano, »dass sich eine kritische Vorstellung, ein anderer Zukunftshorizont wiederherstellt, der sich von dem vorherigen unterscheidet. Bisher gibt es noch keinen klaren Blick auf diesen möglichen neuen Horizont. Aber wenn der Widerstand nicht bald und vollkommen zerschlagen wird, ist es immerhin ein Anzeichen dafür, dass ein Zukunftshorizont im Entstehen begriffen ist.« (2001b)

Aníbal Quijano verdeutlicht einige der Elemente, die zur Neustrukturierung des Wissens über das soziale Leben beitragen können. Erstens die Intersubjektivität des Wissens, also der Vorschlag, dass das Wissen Teil der symbolischen Aspekte der sozialen Beziehungen ist und dort ihre Legitimität erhält (Quijano 1990b: 17-18). Zweitens die Vorstellung einer Totalität als historisches, komplexes und widersprüchliches System, definiert durch die »Ko-Präsenz historischer Zeiträume und struktureller Fragmente von Formen der sozialen Existenz mit unterschiedlicher historischer und geokultureller Herkunft« (Quijano 2007: 352), die um und mit Machtverhältnissen angeordnet sind. Drittens die Idee von Fortschritt als der mögliche Übergang zu einer gerechteren und demokratischeren Ordnung, das heißt, eine tatsächliche Deskolonisierung der Macht, die letztendlich von der kollektiven Handlung der Menschen abhängt.

Eine Epistemologie der anderen Art und die Neustrukturierung der Sozialwissenschaften Aus dieser Einführung in die Erkenntnisperspektive von Aníbal Quijano können wir schließen, dass die notwendigen Erkenntnisinstrumente gegeben sind, um Wissen über die historisch-soziale Realität zu produzieren, mit der wir nicht in den Widerspruch der gegenwärtigen epistemologischen Diskussion verfallen: zwischen einem metaphysischen Realismus des Positivismus und des skeptischen Relativismus des Postmodernismus. In beiden Fällen 84 |

ist die Sozialwissenschaft von einem schrecklichen Rückschritt bedroht, der bedeuten würde, in der eurozentrischen Wissensperspektive oder in der Erosion des Vertrauens auf wissenschaftliches Denken zu verharren, vor allem, wenn es sich um ein sozialkritisches wissenschaftliches Denken handelt. Die von Aníbal Quijano angenommene Perspektive kann als eine Herausforderung gegenüber der Epistemologie gesehen werden, mit der die Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert entstanden, basierend auf den drei grundlegenden Prinzipien der modernen Wissensstruktur: a) die Voraussetzung der Simplifizierung; b) die Voraussetzung der Objektivität; und c) die Voraussetzung von ›zwei Kulturen‹. Ersteres impliziert »zu wissen« gemäß der cartesianischen Erkenntnistheorie immer auch, die Phänomene in so viele Elemente wie nur möglich aufzuteilen, um sie besser erforschen zu können. Das Einfache erscheint so als das Vereinfachte, als die Aufteilung des Komplexen in unabhängige Teile; wo sich jede Parzelle vom Gesamten isoliert. Diese geschaffene Trennung entkontextualisiert die erforschten Phänomene. Innerhalb der Sozialwissenschaften hat das Prinzip der Simplifizierung zu einer Disziplinierung des sozialen Wissens geführt. Die Disziplinen sind, so Immanuel Wallerstein (2005: 141-142), gleichzeitig intellektuelle Kategorien, welche die Existenz von spezifischen Forschungsfeldern bestätigen; institutionelle Strukturen im Sinne von Organisationsstrukturen in den Universitäten; und sie haben eine bestimmte Kultur, da sie dieselben Überzeugungen und Werte teilen. So wie es der Bericht der Gulbenkian Kommission gezeigt hat (1996), entstehen die Disziplinen der Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert gemäß drei Achsen der Simplifizierung der Realität: Disziplinen, welche die nichteuropäischen Bevölkerungen erforschen (Anthropologie, Orientstudien); Disziplinen, welche die Vergangenheit der europäischen Zivilisation erforschen (Geschichte) und jene, welche die europäische Gegenwart erforschen, die sich gemäß der liberalen Ideologie in Markt, Staat und Zivilgesellschaft trennen lässt (Ökonomie, Politikwissenschaft und Soziologie). Der totalisierende Blickwinkel, den Aníbal Quijano in der Erforschung der Gesellschaft benutzt, stellt das Wissensgerüst, das die Sozialwissenschaften ausgehend von untereinander unabhängigen Parzellen, aufgebaut haben, infrage. So entsteht eine unidisziplinäre sozialwissenschaftliche Perspektive10, die es erlaubt, die Realität als ein historisch komplexes System zu verstehen. 10 Im Sinne des Vorschlags von Immanuel Wallerstein (2005: 138; 2001) einer »historischen Sozialwissenschaft«. Vor allem das Kapitel »Das Erbe der Soziologie, das Versprechen der Sozialwissenschaft« ist zu empfehlen. | 85

Die Voraussetzung der Objektivität bedeutet, die Vorstellung zu akzeptieren, nach der die Realität unabhängig von uns existiert und dass wir über die wissenschaftliche Forschung die objektive Realität erkennen können, was wiederum der Wahrheit entspricht. In dieser Perspektive steht die Subjektivität des Forschers in Klammern, da sie auf keine Weise das erforschte Objekt beeinflusst. Die Welt ist von deterministischen, linearen Gesetzen bestimmt, im Gleichgewicht und als Wiederkehr. Die Aufgabe des Wissenschaftlers ist es, sie so, wie sie in der Realität existieren, zu identifizieren. Gegenüber dieser objektivistischen Vision, schlägt Aníbal Quijano die »Intersubjektivität des Wissens« vor. Mit dieser These hält er fest, dass »Wissen ein Element in den Strukturen der intersubjektiven Beziehungen der Realität ist und sich darin legitimiert. Wissen ist ein Beziehungsverhältnis zwischen Individuum und Realität, nur insofern und soweit das Individuum Ankerpunkt und Handlungsträger einer Struktur von materiellen und intersubjektiven Beziehungen ist.« (Quijano 1990b: 17)

Die dritte Voraussetzung finden wir ursprünglich bei C. P. Snow, der auf einer Konferenz im Jahr 1959 erklärte, dass in der westlichen Welt »zwei antithetischen Polgruppen [existierten]: auf der einen Seite haben wir die belesenen Intellektuellen [...] und auf der anderen die Wissenschaftler«; beide Gruppen haben ihre eigene Kultur – »gemeinsamen Habitus, Annahmen und Lebensweisen« – und »zwischen beiden Polen gibt es einen Abgrund von gegenseitigem Unverständnis« (Snow 1977: 14). U. Cerroni hat gezeigt, dass diese Idee in den modernen Wissensstrukturen tief verankert ist; sie ist dem Geist der Renaissance fremd, wo sich beide Kulturen als Teil desselben intellektuellen Programms verstanden; aber ab dieser Epoche verdeutlicht sich die Trennung zwischen der humanistischen Idee der sozio-historischen Welt und der neuen experimentellen Wissenschaft. »Eben genau mit Kant«, so verdeutlicht Cerroni (1971: 17), »scheint sich die Trennung zwischen Naturwissenschaften und Wissenschaften über den Menschen definitiv herauszukristallisieren und auf dieser gefestigten und vorausgesetzten Basis arbeitet unsere Kultur seit zwei Jahrhunderten«. Und dieser Dualismus zwischen Wissenschaft und Kultur, Natur und Menschheit ist ein Charakteristikum des modernen Wissens, dessen Teil auch das ist, was I. Prigogine und I. Stengers als »klassische Wissenschaft« bezeichnet haben, deren Fundament sie in der kritischen Philosophie von Kant sehen:

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»Der Wissenschaftler kann nicht nur nicht das Ding an sich erkennen, sondern auch die Fragen, die er sich stellt, haben überhaupt keine Relevanz für die wirkliche Probleme der Menschheit; weder Schönheit noch Freiheit oder Ethik sind das Objekt der positiven Erkenntnis, also der Wissenschaft: sie gehören zur Welt des Dings an sich, zum Bereich der Philosophie, und sind komplett von der Welt der Phänomene abgeschnitten.« (Prigogine/Stengers 1990: 123)

Hier wäre es möglich zu argumentieren, dass die These der zwei Kulturen, welche die Wissensstrukturen im modernen Weltsystem charakterisiert haben, eine Konsequenz der »Entzauberung der Welt« ist, mit der Max Weber (1966: 26) beschrieb, wie die Moderne die unterschiedlichen Wertungsebenen differenzierte: »Wenn irgend etwas, so wissen wir es heute wieder: dass etwas heilig sein kann nicht nur: obwohl es nicht schön ist, sondern: weil und insofern es nicht schön ist, [...] und dass etwas schön sein kann nicht nur: obwohl, sondern: in dem, worin es nicht gut ist [...]; und eine Alltagsweisheit ist es, dass etwas wahr sein kann, obwohl und indem es nicht schön und nicht heilig und nicht gut ist.«11

Die Konsequenz dieser Wissensperspektive wäre, dass die Philosophie und die Geisteswissenschaften nach dem Objekt des Guten und Schönen suchen müssten; während die Wissenschaft das Monopol auf die Suche nach der Wahrheit behalten würde, durch die experimentelle Erforschung der Realität. Aus der Auseinandersetzung der Sozialwissenschaften mit den ›zwei Kulturen‹ entstand ein methodologischer Disput, der sich Ende des 19. Jahrhunderts ergab.12 Auf der einen Seite standen diejenigen, welche die Sozialwissenschaften in Richtung Naturwissenschaften tragen wollten und einen nomothetischen Blickwinkel – die Suche nach universellen Gesetzen – anwenden wollten, wie im Falle der Ökonomie, Soziologie und Politikwissenschaft; auf der anderen Seite diejenigen, die zu den Geisteswissenschaften tendierten und daher zu einem ideographischen Blickwinkel – das Verständnis von einzigartigen und nicht wiederholbaren Phänomenen – , wie im Fall der Geschichte. Durch diesen methodologischen Dualismus auseinandergerissen, konnten die Sozialwissenschaften sich nicht in Gänze 11 Quelle auf Deutsch: Weber, Max. 1919. Wissenschaft als Beruf: http://www.wspkultur.uni-bremen.de/summerschool/download%20ss%202006/Max%20Weber %20-%20Wissenschaft%20als%20Beruf.pdf (Anm d. Übers.). 12 Siehe die Diskussion von Jürgen Habermas (1987) über den Dualismus der Naturund der Gesellschaftswissenschaften. | 87

institutionalisieren. Erst Ende des 19. Jahrhunderts und mit der Hegemonie des Positivismus und der nomothetischen Perspektive wurden sie in die akademische Welt als zurückgebliebene Verwandte der Naturwissenschaften aufgenommen. Aber die These der zwei Kulturen hatte eine andere Konsequenz für die Entwicklung der Sozialwissenschaften: die Wertneutralität. Die Aufgabe des Sozialwissenschaftlers sollte die wertfreie Forschung in der Art und Weise eines Physikers oder Chemikers sein. Daher war in dieser Perspektive die Entscheidung über den letztendlichen Zweck der Forschung nicht die der Sozialwissenschaften. Das Problem der Werte wurde auf der Ebene des Irrationalen angeordnet, als ein »Krieg zwischen zwei Göttern«, so Weber, »und über diese Götter und ihre Kriege regiert das Schicksal, aber gewiss nicht die Wissenschaft«. Diesem Problem geht er in einem seiner einflussreichsten Texte in der Auseinandersetzung über Wertneutralität auf den Grund, in dem er über die unterschiedlichen Ebenen der wissenschaftlichen Arbeit diskutiert: »Der Sinn der ›Wertfreiheit‹ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften« (1917). Aus seiner Sicht kann die Wissenschaft keine Antworten auf die Probleme der Wertung geben, da »die Wahrhaftigkeit von Werten eine Glaubensfrage ist« (Weber 1911). Die Sozialwissenschaften versuchen sich ausschließlich an die Daten und die Fakten zu richten und sich mit der Identifikation von Kausalzusammenhängen zwischen »sozialen Tatsachen« zufrieden zu geben. Jede Fragestellung über ethische oder ästhetische Fragen wird aufgegeben. In der Perspektive von Aníbal Quijano finden wir einen Vorschlag, der dazu aufruft, die »zwei Kulturen« zu überwinden, denn seine Analysen sind gleichzeitig intellektuell, moralisch und politisch. In seinen Forschungen über die soziale Realität findet sich eine tiefe Besorgnis über die Art und Weise, wie die Gesellschaft und ihre Transformationstendenzen organisiert sind; aber es taucht auch eine moralische Entscheidung für eine gute und gerechte Gesellschaft auf, und ein Interesse zu diskutieren, wie man effektiver dort hinkommen kann, wo man hin möchte. Die Erkenntnismauer zwischen Geistes- und Naturwissenschaften wird abgerissen. In diesem Sinn kann darauf hingewiesen werden, dass wir auf dem Weg sind, die Welt wieder zu verzaubern, welche die eurozentrische Moderne entzaubert hat.13

13 Zur Wiederverzauberung der Welt, siehe I. Prigogine und I. Stengers (1990: 193326) und Wallerstein (2001: 293-295) 88 |

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Entwicklung und Kolonialität Pablo Quintero

Einleitung Es ist üblich, der nordamerikanischen Außenpolitik unter der Präsidentschaft von Harry Truman die Verantwortung für den Beginn der Vorstellungen sowie der aktuellen Politik der Entwicklung zuzuschreiben. Im Grunde wird der vierte Punkt seiner Ansprache vom 20. Januar 1949 oft als die erste programmatische Darlegung der Entwicklungsidee angesehen. Wie auch Arturo Escobar bestätigt (1998), war der berühmte Diskurs Trumans sowie der vierte Punkt seiner Rede Teil der amerikanischen Strategie, sich die Vorherrschaft in der komplexen weltpolitischen Situation nach dem zweiten Weltkrieg zu sichern. Nichtsdestotrotz ist das Konzept der Entwicklung, zu dessen Verbreitung Trumans Diskurs sicherlich beitrug, weder das direkte Ergebnis der nordamerikanischen Geopolitik noch der generellen Umstrukturierung des damaligen Weltsystems. In seinen philologischen Nachforschungen zeigt Raymond Williams (2000), dass der Begriff Entwicklung im 17. Jahrhundert vermutlich in der französischen Sprache (développer) als Antonym für verwickeln, aufrollen oder aufwickeln und daher mit einer ähnlichen Bedeutung wie entfalten, ausrollen und abwickeln auftaucht. Wie es scheint, begann sich seine metaphorische Bedeutung im 18. Jahrhundert im Sinne von »die Fähigkeiten des menschlichen Geistes entwickeln« (Williams 2000: 98) zu etablieren. Zum Ende des gleichen Jahrhunderts erweiterte sich die Bedeutung des Begriffs, um gewisse Prozesse von Lebewesen im Sinne von »natürlichem Wachstum« zu charakterisieren. Von dort an begann dieses Morphem seine enge Verbindung mit dem Begriff der Evolution, mit welchem er in der Tat einen gemeinsamen Ursprung teilt. Der bedeutsame Zusammenhang zwischen den Begriffen Entwicklung und Evolution scheint zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert in Westeuropa als Resultat der philosophischen Abhandlungen dieser Epoche über Natur und Gesellschaft entstanden zu sein. Bereits im 19. Jahrhundert unter der Vorherrschaft des Liberalismus begann Entwicklung in England als übliche Beschreibung der Industrialisierungs- und Kommerzialisierungsprozesse sowie der imperialen Expansion verwendet zu werden. Dabei wurde bezog man sich bereits auf ›ökonomische‹ sowie ›soziale‹ Phänomene, nicht mehr nur auf rein biologische. | 93

Es ist sogar möglich, die Verwendung von Begriffen ähnlicher Bedeutung weit vor dem 17. Jahrhundert festzustellen. In der Metaphysik des Aristoteles zum Beispiel erscheint die Idee im deutlichen Zusammenhang mit der Idee der Natur, Bezug nehmend auf die »Essenz der Dinge, welche in sich selbst das Prinzip der Bewegung tragen« und »im inhärenten Phänomen des Wachstums teilnehmen« (Aristoteles 1968). In seiner politischen Philosophie definiert Aristoteles die Existenz des Staates als das Resultat eines natürlichen Wachstums, welches wiederum der endgültige Zweck der ursprünglichen comúnitas sei (Aristoteles 1968). Nichtsdestotrotz weicht das Konzept von Zeit bei Aristoteles von der Temporalität in der modernen Rationalität ab. Für ihn läuft das natürliche Wachstum letzten Endes auf seinen Untergang hinaus. Daher hat seine Idee einen prozessualen und zyklischen Ansatz. Die Vorstellung eines grenzenlosen und kumulativen Fortschritts – wie ihn die jetzige Entwicklungsidee präsentiert – scheint in der aristotelischen Gedankenwelt so nicht zu existieren. Laut Ivan Illich (1992) hat das Konzept der Entwicklung seit der klassischen Antike zahlreiche historische Metamorphosen durchlebt. Allerdings sind seine fundamentalen Grundsätze, die sich in Form von sozialer Exklusion und Stigmatisierung der unterdrückten Bevölkerungen ausdrücken, weitgehend dieselben. Sicherlich ist die Ansammlung an Ideen und Begriffen, die vor dem 17. Jahrhundert als Annäherungen an das Konzept der Entwicklung sprossen, sehr groß. Jedoch zeigt sich bei der genaueren Untersuchung dieser Ideen, dass die integralen und systematischen Bedeutungen des Begriffs vom modernen Konzept desselbigen abweichen. Wie es auch bei Aristoteles der Fall ist, verursachen die Ähnlichkeiten, die das Morphem Entwicklung mit anderen, natürliche und/oder soziale Prozesse beschreibende, Kategorien aufweist oder die Art und Weise, in welcher es sich in ein Instrument sozialer Differenzierung konvertiert hat, eine generalisierte Verirrung, die es unmöglich macht, die Geschichtlichkeit und das Spezifische des Ausdrucks sowie seine zentralen Konsequenzen zu unterscheiden. Die Plastizität des Konzepts sowie seine Verwendung als Argumentationsstütze in der kulturellen Beherrschung und der wirtschaftlichen Ausbeutung großer Teile der Weltbevölkerung bestätigt allerdings nicht zwangsweise, wie von Illich behauptet, seine konstante Präsenz in der Geschichte der Menschheit. An seiner immerwährenden Existenz festzuhalten, bedeutet die ahistorische und universalistische Vision, die uns das Konzept der Entwicklung selbst einzureden versucht, zu bevorzugen. Sicherlich ist das Konzept, wie es heutzutage verstanden wird, ausschließlich eine Idee der Moderne und folglich mit den prinzipiellen Metaerzäh94 |

lungen, die ihm Sinn verleihen, verflochten. Aus dem gleichen Grund und weit davon entfernt ein einfaches Beiwort zu sein, ist Entwicklung sowohl ein Instrument sozialer Klassifikation als auch eine Motivationsquelle verschiedener sozialer Kräfte und mit außergewöhnlicher Stärke tief im Selbstverständnis der großen Mehrheit der Weltbevölkerung verwurzelt. Was Truman 1949 verkündete, ist Teil einer Reihe gemeinsamer Ideen und Praktiken, die sich im Laufe der Zeit entwickelt hat und die Besonderheit aufweist, sich in der Nachkriegszeit als eine alte Neuheit zu präsentieren. Um Entwicklung tiefgründig zu erforschen, ist es nötig, anhand zweier analytischer Ansätze vorzugehen. Einerseits die Ergründung der historischen Entstehung von Entwicklung als eine moderne subjektive Erscheinung; andererseits – dies allerdings simultan – die Untersuchung derselbigen als ein integraler Ausdruck des globalen Kapitalismus. Im diesen Sinne ist die Kolonialität der Macht, wie sie von Aníbal Quijano (2000a und 2000b) konzeptualisiert wurde, der Analyseschlüssel, der es erlaubt, die Schnittstelle zwischen Modernität und Kapitalismus sowie das aus dieser strukturellen Assoziation heraus entstandene Feld, auf welches sich Entwicklung in verschiedenen Formen stützt, sichtbar zu machen. Laut Quijano stellt die Kolonialität das strukturelle Muster der modernitätsspezifischen Macht. Es setzt sich historisch aus der Verbindung zwischen einem Beherrschungssystem zusammen, das auf der Verflechtung sozialer intersubjektiver Beziehungen und auf der hierarchischen sozialen Klassifikation der Weltbevölkerung basiert; und einem Ausbeutungssystem, das eine Artikulation aller bekannten Formen von Ausbeutung in einer durch den Kapitalismus beherrschten Struktur umfasst. Es ist angebracht, Entwicklung als konstitutiven Teil dieser strukturellen Verbindungen zu analysieren.

Entwicklung und eurozentrische Modernität/Kolonialität Es ist durchaus nützlich, daran zu erinnern, dass das Hereinbrechen der Modernität die – zwar stufenweise, aber doch radikale – Transformation der intersubjektiven Strukturen, die ihr vorausgingen, sowie die Herausbildung eines einzigartigen Modells von Rationalität, das Schritt für Schritt die Gesamtheit der Weltbevölkerung erfasste, bedeutet hat. Eine der fundamentalen Grundlagen dieser umfassenden Veränderung war eine neuartige Auffassung der Zeit, in welcher die Vergangenheit durch die Zukunft als prinzipieller Erwartungshorizont der Gesellschaft ersetzt wird (Quijano 1988). Der Beginn dieses neuen Geschichtsbewusstseins verleiht der Ent| 95

wicklungsidee Sinn, die wiederum gleichzeitig eine der zentralen Achsen dieses neuen Bewusstseins wird. Die Eroberung der Gebiete die sich später Amerika nennen werden, ist der Entstehungsmoment, der die besagte Transformation ermöglicht. Amerika als Gründungsort der Moderne (Quijano 1992) wird das Versuchsfeld für die Modifikation der Vorstellungen der Konquistadoren und die Erschaffung neuer Ideenwelten darstellen – nicht nur bezüglich der historischen Zeit und der Projektion der Zukunft, sondern auch in Verbindung mit dem Auftauchen bis dahin unbekannter geokultureller Identitäten, sozialer Vorstellungen und Wissensperspektiven. Auf diese Art und Weise geht die Kolonisation der Gebiete und der einheimischen Bevölkerung Amerikas Hand in Hand mit der Konfiguration eines neuen intersubjektiven Universums. Obwohl sich die Moderne als ein weltweites Phänomen präsentiert, ist besagte Erfahrung nicht in der symmetrischen Artikulation der sozialen Konglomerate und der grundsätzlichen sozialen Machtstrukturen zementiert. Weit davon entfernt die Befreiung der Menschheit zu sein – so wie es durch die Aufklärung hervorgehoben wurde –, bildet die Moderne zusammen mit dem Kapitalismus einen integralen Teil des globalen Machtmusters. Mit ihr wird sich im gleichen historischen Prozess ein neues Produktions- und Kontrollsystem der (inter)subjektiven Beziehungen herausbilden, das gleichermaßen von den Anforderungen des Kapitalismus sowie dem Bedürfnis der Konquistadoren, ihre Herrschaft zu bewahren und zu etwas scheinbar Natürlichem zu erheben, abhängig ist. Dies ist der Eurozentrismus (Quijano 2006b). Seine wirksamste Eigenschaft war, den Unterdrückten einen den Blick verzerrenden Spiegel vorgehalten zu haben, der sie von nun an zwang, sich selbst durch die Augen der Herrschenden zu betrachten, und der ihre autonomen historischen und kulturellen Perspektiven verdeckte. Daher ist der Eurozentrismus nicht die exklusive subjektive Sichtweise der Dominanten im globalen Kapitalismus, sondern aller unter seiner Vorherrschaft Erzogenen (Quijano 2000a). In den Zwischenräumen des Eurozentrismus sind die Identitätsformeln der Modernität mit der Produktion von Formen des absoluten Anderssein artikuliert, die der kürzlich erschaffenen europäischen (Id)Entität gegenüberstehen oder äußerlich sind. Innerhalb dieses Entstehungsprozesses von Identitäten/Andersartigkeiten wird sich Europa gleichzeitig selbst definieren und seine Anderen als grundsätzlich minderwertige Wesen erfinden. Die Idee von Entwicklung ist eines der deutlichsten Resultate dieses historischen Prozesses. 96 |

Für die Mehrheit der Konquistadoren stand die Menschlichkeit der amerikanischen Ureinwohner außer Frage. Aber mit der Anerkennung der Gewissheit dieses Umstandes wurde gleichzeitig die Existenz von Unterschieden zwischen beiden Bevölkerungsgruppen bestätigt. Diese Verschiedenartigkeit wurde auf eine vermutete und innewohnende körperliche, geistige und moralische Natürlichkeit zurückgeführt, was unter der Idee der raza katalogisiert wurde. Das Konzept raza, als weitere historische Neuheit innerhalb der durch die Eroberung Amerikas geformten Konzepte, wird sich als eine der zentralen Fundamente der hierarchischen Klassifikation der Weltbevölkerung herausstellen (Quijano 2000a). Die Unterschiede zwischen Herrschenden und Beherrschten werden ab dem 16. Jahrhundert Teil einer taxonomischen Stufenleiter sein, an deren Spitze die europäische Gesellschaft sowie das europäische Subjekt stehen werden. Diese Eurozentriertheit der Moderne wird alle neuartigen intersubjektiven Gefüge den Bestimmungen der Kolonialität der Macht unterwerfen und eine soziale Struktur anhand dieser taxonomischen Richtlinien entwerfen. Das Konzept raza, im Sinne der Klassifikation/Hierarchisierung zwischen Eroberern und Eroberten, stellt den Ausgangspunkt dar, von dem aus Individuen und soziale Gruppierungen in dem Machtgefüge anerkannt und unterworfen werden. Davon ausgehend werden ältere Klassifizierungen wie die Idee des Geschlechts und das spätere Konzept der Klasse sowie weitere Werkzeuge der sozialen Kategorisierung integriert. In diesem Prozess werden die kulturellen Errungenschaften der Beherrschten als Ausdruck ihrer kognitiven sowie körperlichen Fähigkeiten und daher als Beispiel ihrer rassiologischen Unterlegenheit gegenüber den Vorbildern der europäischen Modernität betrachtet. Allerdings sind innerhalb der beherrschten razas wichtige Unterschiede bezüglich ihrer kulturellen Muster auszumachen. Die identifizierbaren Unterschiede zwischen der von den Mexikas, Inkas sowie der Maya geschaffenen materiellen Kultur und dem Rest der indigenen Bevölkerungen führte zu einer Re-Klassifizierung unter den Bevölkerungen, die sich eigentlich als ein einziges Menschengeschlecht verstanden. Wenn auch im Verlauf der modernen Identitätshomogenisierung alle unter dem Terminus indio zusammengefasst wurden, so war es doch klar, dass grundsätzliche Unterschiede (sprachliche, religiöse, technologische, gesellschaftliche, etc.) zwischen ihnen existierten. Der berühmte Disput zwischen Juan Ginés de Sepúlveda und Bartolomé de las Casas zeugt von dieser, von der spanischen Elite erzeugten, Differenzierung der Beherrschten: Trotz der gemeinsamen ›natürlichen Beschaffenheit‹ der | 97

amerikanischen Bevölkerung war es möglich, bestimmte Unterschiede im »Auffassungsvermögen« und »Gehorsam« sowie zwischen ihrer »Güte« und ihrem »Glauben« auszumachen (Mires 1986). Diese zwischen 1550 und 1551 im Disput von Valladolid knapp verfassten Ansichten bestehen, durch die Einführung der kolonialen Klassifizierung, weiterhin. Raza war dabei genau das Instrument der sozialen Klassifikation, das mittels Unterwerfung der Individuen und sozialen Gruppen in hierarchische Schichten operierte. Diese wiederum wurden an ihrer Nähe zu allem Europäischen gemessen. Dadurch wurde ein Prozess der sozialen Reklassifizierung in Gang gesetzt, der im Stande war, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Nuancen der sozialen Universen der Beherrschten aufzuzeigen. Die Ausarbeitung eines Vergleichmodels in der frühen Phase der Kolonisation durch Missionare und Chronisten bildete die Grundlage einer Protoethnologie, deren Ziel es war, die Unterschiede zwischen den menschlichen Bevölkerungen zu studieren und zu erklären (Pagden 1988). Das Auftauchen des modernen Konzepts der Kultur im 17. Jahrhundert führte die notwendigen Elemente ein, damit die Fürsprecher des Eurozentrismus die vermeintlich natürlichen Unterschiede mit kulturellen Unterschieden in Verbindung bringen konnten. Einhergehend mit der Stärkung der sozialen Klassifikation im kolonialen Sinne bildete sich ein Erklärungsmodell heraus, nach welchem die historisch-kulturellen, materiellen und immateriellen Errungenschaften die Distanz zwischen den Kolonisierten und den zivilisierten europäischen Bevölkerungen widerspiegeln. Diese stellt sich als eine ebenso geografische wie zeitliche Distanz dar. Das Vergleichsmodell der modernen Rationalität gibt vor, die Unterschiede zwischen Bevölkerungen mit Genauigkeit zu untersuchen und diese in eine die menschliche Vielfalt widerspiegelnde anthropologische Karte einzutragen. Allerdings ist dies nicht eine Karte von Gleichwertigkeiten und Symmetrien, sondern ganz im Gegenteil eine, die Unterschiede, Spaltungen und zeitliche Distanzen repräsentiert. Folglich ist die Anordnung dieser Daten und Identifikationen zentraler Bestandteil eines zeitlich progressiven Ablaufes, der – durch die theologische Information der Epoche – die »Geschichte der Menschen« seit paradiesischen Zeiten wiedergibt (Amodio 1993). Trotz der kirchlichen Grundlage dieser Studien ist der treibende Faktor das neue geschichtliche Bewusstsein der modernen Rationalität. Dieser lineare Gesellschaftszeitstrang wird in Stufen gemessen, von einer hypothetischen Vergangenheit bis hin zur durch Europa repräsentierten 98 |

Gegenwart. In diesem Sinne bildet der »Entwicklungsstand« der sozialen Universen eine Möglichkeit, die natürlichen und in der Idee der raza verankerten Unterschiede zu erklären. Sollte es nun tatsächlich möglich sein, jede raza einem bestimmten Moment in diesem Kontinuum zuzuordnen, so müsste es auch möglich sein, die kulturellen Unterschiede zwischen diesen razas herauszufinden und im zeitlichen Modell je nach ihren Merkmalen einzuordnen. Laut diesem Modell erreichen die verschiedenen menschlichen Gruppierungen im Laufe ihrer Geschichte verschiedene Stufen, doch dies immer im Einklang mit ihren Fähigkeiten. Während Europa den höchsten Punkt dieser Entwicklung repräsentiert, befanden sich seine ›Anderen‹ im unteren Teil der Stufenleiter verteilt. 1662 fasst John Locke dieses teleologische Modell in seiner Aussage folgendermaßen zusammen: »am Anfang war die ganze Welt eine Art Amerika«. Die weltweite Ausbreitung der europäischen Imperien bezieht andere Völker ebenso bei der wirtschaftlichen Ausbeutung wie bei der spiegelverkehrten (Re)Produktion der europäischen Identität mit ein. Während des 18. Jahrhunderts, besonders in der französischsprachigen (Turgot, Condorcet, Rousseau, Buffon), englischsprachigen (Smith, Locke, Hume) und deutschsprachigen (Kant, Leibniz, Hegel, Schelling) Aufklärung wurde davon ausgegangen, dass die gesellschaftlichen Subsistenzformen ein Spiegel ihres Entwicklungsstandes in der eurozentrischen Geschichtslinie seien. Der Rest der sozialen Institutionen (Regierung, Eigentum, Gesetz, Religion, etc.) waren das Resultat der sozialen Subsistenzorganisation. Wenn sich die Gesellschaften auf natürliche und reguläre Weise weiterentwickeln, würde die Untersuchung ihrer sozialen Institutionen, besonders derer, die auf der sozialen Reproduktion des Lebens basieren, ihren Entwicklungsstand ans Licht bringen. Innerhalb dieses theoretischen Gebildes wurde festgelegt, dass Jagd, Viehzucht, Landwirtschaft und Handel die natürlichen und progressiven Subsistenzformen der Menschheit seien (Meek 1981). Es ist recht eindeutig, dass unter diesem Ideenkanon nur das Europa des 18. Jahrhunderts die einzige Gesellschaft war, deren Subsistenz auf Handel und Markt basierte. Die generell fehlende Teilnahme der Kolonisierten an den kommerziellen und merkantilistischen Praktiken wurde natürlich nicht als eine Konsequenz der kolonialen Ordnung und der Unterdrückung durch ein hartes Ausbeutungssystem gedeutet. Vielmehr wurde dies auf den kulturellen Rückstand dieser Völker sowie ihre »Unmündigkeit« geschoben: diese wiederum ist durch ihre »Faulheit« und »Feigheit«, wie es Immanuel Kant 1784 behauptet, charakterisiert. | 99

Auf diese Weise wurde die vermeintliche Geschichte der europäischen ›Entwicklung‹ dem Rest der Gesellschaften als Maßstab aufgezwungen. Einem minderwertigen Entwicklungsstand der Menschheit angehörig, werden die Nicht-Europäer als Repräsentanten der Wirkungsmacht der Vergangenheit und des Rückstandes, als Auslöser ihrer eigenen Unfähigkeit, die Herausforderungen der Geschichte zu bewältigen, und als eine Beleidigung gegenüber der menschlichen Natur wahrgenommen (Duchet 1975). Obwohl sie räumliche Zeitgenossen sind, werden die Beherrschten als nichtgleichzeitig dargestellt, da sie sich wegen ihrer Gewohnheiten laut der Theodizeegeschichte in einem vorhistorischen Moment befinden. Lewis Morgan fasst diese etwas eigene Auffassung 1877 folgendermaßen zusammen: »Der Wilde von heute ist unser zeitgenössischer Vorfahre.« Diese Verneinung der Gleichzeitigkeit wird eine der am häufigsten wiederkehrenden Tendenzen der modernen Rationalität (Fabian 1983) wie auch einer der wichtigen Komponenten von Entwicklung werden. Die moderne Idee der Entwicklung bezieht sich somit auf einen allgemeinen sozialen Veränderungsprozess, der in einem positiven und natürlichen Sinne formuliert wurde und zeitlich kumulativ und progressiv ist. Er ist nicht vom Zufall abhängig, sondern folgt ganz im Gegenteil als universell postulierten spezifischen und kontinuierlichen Etappen. Wie schon gesehen, ist diese Idee bei Weitem nicht nur die Beschreibung eines Prozesses, sondern eine Messlatte der Gesellschaften. Zwischen dem Ende des 17. Jahrhunderts und Mitte des 18. Jahrhunderts verfestigen sich die Grundlagen von Entwicklung als moderne Metaerzählung. Die Kategorie geht endgültig von der Charakterisierung der Prozesse lebender Organismen dazu über, konzeptueller Teil der Philosophie und der entstehenden Sozialwissenschaften zu sein (Esteva 2000). Von diesem Punkt an beginnt Entwicklung, unter einer einzigen Kategorie verschiedene Ausdrücke des globalen Machtmusters zu organisieren: a) das temporäre Modell der eurozentristischen Modernität, b) die hierarchische Klassifikation der Weltbevölkerung in ein beschreibendes/erklärendes System basierend auf ›Entwicklungsstufen‹, c) eine Rechtfertigung der kapitalistischen Ausbeutung und der historisch-strukturellen Abhängigkeit und d) in Bezug auf die vorhergehenden Punkte, die Hauptmotivation für sozialer Kräfte verschiedenster Art. Während des 19. Jahrhunderts bilden sich diese signifikanten Ausdrücke aus den damaligen kolonialen Statuten und dem Gedankengut der Epoche heraus. Vermutlich sind es zwei intellektuelle Strömungen die simultan die Konkretisierung der Entwicklungsidee vorantreiben. Einerseits fasst der 100 |

deutsche Idealismus und die Geschichtsphilosophie, hauptsächlich vertreten durch Hegel, die teleologische Zeit- und Raumauffassung der modernen eurozentristischen Rationalität zusammen und weitet sie auf andere Ebenen aus. In einem globalen Ansatz führt er das Konzept von Entwicklung als Bestandteil seines philosophischen Systems an und benutzt diese Kategorie dabei in einem ontologischen, bisher so nicht verwendeten Sinne. Neben der Erschaffung des Okzidents als neue globale, geokulturelle Identität, bestätigt Hegel (1821) eine neue Sichtweise auf die Entwicklung der Menschheit: »Die Weltgeschichte ist [...] an und für sich Vernunft und ihr Für-sich-Sein im Geiste Wissen [...], die [...] notwendige Entwicklung [...], die Auslegung und Verwirklichung des allgemeinen Geistes.«1 Europa ist der absolute Endpunkt der Weltgeschichte. Zeitgleich zu Hegels Erörterungen erscheint in Frankreich und England eine neue Synthese der Entwicklungsidee, dieses Mal in der Form des Sozialevolutionismus. Aufbauend auf der Idee des Fortschritts – ein der Entwicklung ähnliches, aber älteres Morphem – und von der industriellen Revolution inspiriert, stellt der Sozialevolutionismus die These auf, dass Entwicklung und Geschichte wesensgleich seien und Erstere folglich nicht nur wünschenswert, sondern für die komplette Menschheit irreversibel sei. Die nicht-westlichen Gesellschaften, die sich ihrer Kraft widersetzen oder nicht diese Ziele verfolgen, würden also buchstäblich aus der Geschichte und der Welt ausgeschlossen bleiben. In den drastischen Worten Jean-Baptiste Says (1843): »Sie werden zivilisiert oder zerstört werden. Nichts kann sich der Zivilisation und den Fähigkeiten der Industrie widersetzen. Es werden nur diejenigen tierischen Spezies überleben, welche durch die Industrie vermehrt werden.« Und in der Tat wird es der Sozialevolutionismus sein, welcher der kolonialen (Re)Konfiguration der Welt im 19. Jahrhundert Legitimität verschafft. Und bekannterweise wird er auch die Inspiration für einige der wichtigsten politischen Modelle des 20. Jahrhunderts werden: Zivilisation (Kant), Positivismus (Comte), Marktwirtschaft (Smith), Kommunismus (Marx), um nur einige der unerbittlichen Entwicklungsziele zu nennen, welche die Gesellschaften aufgrund der Natur der historischen Evolution zu erreichen haben. Herbert Spencer (1877) entwirft dies in seinem »Gesetz 1

Quelle auf Deutsch: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. 1979. Grundlinien der Philosophie des Rechts: http://www.zeno.org/Philosophie/M/Hegel, Georg+ Wilhelm+Friedrich/Grundlinien+der+Philosophie+des+Rechts/Dritter+Teil. +Die+Sittlichkeit/Dritter+Abschnitt.+Der+Staat/C.+Die+Weltgeschichte (Anm. d. Übers.) | 101

der steigenden Komplexität«, wonach sich sowohl die lebendigen als auch die sozialen Organismen vom Minderwertigen zum Überlegenen sowie vom Unbestimmten (Einfachen) zum Komplexen entwickeln und sich dabei kumulativ und unumgänglich perfektionieren. Man kann also sagen, dass der Sozialevolutionismus ein notwendiger Abschluss ist, damit sich der Entwicklungsgedanke als soziale Kraft zusammenfügen und als Teil des intersubjektiven Gefüges der Menschheit einprägen und dabei die Gefühlsund Referenzstrukturen konfigurieren kann (Said 2004). Diese wandeln ihn – trotz der ihn umgebenden Heterogenität – in eine universell verständliche Erzählung und/oder Motivation. Offensichtlich besteht das Problem von Entwicklung nicht ausschließlich in der Gesamtheit der modernen/ kolonialen Ideen, die es zusammenhalten, sondern in der Artikulation und Hegemonie, die Entwicklung im Einklang mit dem globalen Machtmuster ausübt, sowie in seiner andauernden Fähigkeit, an der Errichtung und Aufrechterhaltung desselbigen teilzuhaben.

Entwicklung und kolonialer/moderner Kapitalismus Trotzdem wissen wir, dass die von der Moderne verursachten Veränderungen nicht nur durch die Entstehung neuer intersubjektiver Beziehungen repräsentiert werden, sondern dass sie von einer bis dahin nicht existierenden Strukturierung eines Modells zur Kontrolle und Ausbeutung von Arbeitskraft begleitet wird, das sich auf allen Ebenen der sozialen Existenz widerspiegelt. Die Hegemonie von Entwicklung als Idee und Wirkungsmacht2 wird in der gleichen Weise durch die Gesamtheit der durch den Kapitalismus begründeten Beziehungen beschleunigt. Deshalb muss darauf bestanden werden, dass Entwicklung nicht als reine Ideologie und/oder Utopie wahrgenommen wird, sondern vielmehr als eine Idee und Wirkungsmacht im Sinne »analoger Motivationen und Impulse für tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaft« (Quijano 2000c). So repräsentiert Entwicklung einen Gedanken- und Handlungsbereich, begründet auf einer episteme, die seine Diskurse und Repräsentationen regelt, sowie einem System, das seine Eingriffe kodifiziert. Falls Entwicklung im Laufe der Geschichte es geschafft hat, etwas zu ›entwickeln‹, waren es die weltweite Ungleichheit und Asymmetrie durch das Wachstum und die Expansion von Kapitalismus und Kolonialismus. Es ist daher nötig, einige historisch-prozessuale Details darzulegen. 2 102 |

i.O.: desarrollo como idea/fuerza

Obwohl man die Entstehung des Kapitals als soziale Beziehung bis ins 12 Jahrhundert zurückverfolgen kann (Quijano 2009), wird es bis zur Eroberung Amerikas dauern, dass es sich als globales und hegemoniales Ausbeutungsmodel herausbildet. Die Eroberung Amerikas gibt den notwendigen Impuls, damit der merkantile Kapitalismus sich weltweit ausbreitet und die ihm vorhergehenden sozio-ökonomischen Strukturen in einer einzigen umfasst und unterordnet. Karl Marx (1867) erkannte diesen Impuls und erahnte ihn im Wesentlichen aufgrund der angehäuften Reichtümer, welche die Ausbeutung der amerikanischen Umwelt der spanischen Staatskasse bescherte. Auch wenn diese These von Marx unbestreitbar ist, kommen zwei komplementäre Prozesse bei der Enteignung der natürlichen Ressourcen hinzu, die für den Triumph des Kapitalismus nötig waren. Einer davon war die durch die Eroberung Amerikas begonnene weltweite geografische Vernetzung, welche die Errichtung von Handelswegen erlaubte und so die schnelle weltweite Ausbreitung des kolonialen Kapitalismus ermöglichte (Wolf 1993). Der andere erwähnenswerte und vermutlich wichtigere Prozess ist die gewaltsame Aneignung der lebendigen Arbeitskraft der amerikanischen Ureinwohner, die den wahren Antrieb für den Aufstieg des Kapitalismus darstellt. Darüber hinaus, dass sich der weltweite Kapitalismus dadurch auszeichnet, die einzige historische Produktionsform zu sein, die ausschließlich auf Akkumulation und Selbsterweiterung ausgerichtet ist, ist er gleichzeitig dasjenige System, das es vollbracht hat, alle Einheiten und Bedingungen, welche die menschliche Arbeit lenken, in einem System zu verbinden und so eine weltweite Hegemonie zu etablieren. Diese Produktionsweise ist im Wesentlichen ein System zur Kontrolle von Arbeitkraft, das in der Artikulation aller bekannten Ausbeutungsformen in einer einzigen Struktur von Warenproduktion für den Weltmarkt besteht und unter der Hegemonie des Kapitals angeordnet ist. Historisch gesehen gründet die Entstehung des Kapitalismus auf der Desintegration aller älteren Arbeitskontrollmechanismen. In diesem Prozess absorbierte er alle ihm vorangegangenen strukturellen Fragmente, die ihm nützlich waren. Dabei merkantilisierte die neue Produktionsweise die sozialen Prozesse und verlieh ihnen neue Bedeutungen. In dem Maße, wie sich der Kapitalismus räumlich und zeitlich ausweitete, wuchsen die Ungleichheiten zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten auf widersprüchliche, aber konstante Weise. Es lässt sich daraus folgern, dass diese Form der Ausbeutung niemals homogen, sondern ganz im Gegenteil wegen der spezifischen Charakteristika dieses Produktionssystems äußerst heterogen war. | 103

In (Latein)Amerika haben sich historisch spezifische Formen der Kontrolle und Mobilisierung der Arbeitskraft herausgebildet, die nicht unabhängig von den durch die Kolonialität der Macht auferlegten Mechanismen der sozialen Klassifikation funktionieren. Die strukturellen Verbindungen zwischen raza-Arbeit und ›Geschlecht‹-Arbeit bilden dem Kapitalismus untergeordnete spezifische Ausbeutungssysteme. Im Falle der ersten Assoziation bilden sich zwei verschiedene Systeme gemäß der auferlegten rassiologischen Identitäten heraus, nämlich die Leibeigenschaft und die Sklaverei. Beide Ausbeutungssysteme, die bis dahin als vorkapitalistisch, feudal und mit wenig oder keiner Verbindung zum weltweiten Kapitalismus galten, wurden zu Stützpfeilern des Kapitalismus und ermöglichten die Entstehung der darauf folgenden, durch die Philosophen der Aufklärung so gefeierten Marktwirtschaft in Europa. So wurde zum Beispiel die Leibeigenschaft der Indigenen zum generellen Ausbeutungssystem der indigenen Haushalte im direkten Dienst für das Kapital. Eben dieser Haushalt stellt historisch eine Schlüsselinstitutionen für das Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft dar (Wallerstein 1998). Wie durch Marx (1867) dargelegt, ermöglichte die ursprüngliche Akkumulation die historische Entwicklung und Ausbreitung des Kapitals. Die Notwendigkeit der steten Einverleibung neuer Gebiete und Bevölkerungen zur Ausbeutung und Ausweitung des Kapitals sollte nicht wie ein anfängliches oder vorübergehendes Phänomen betrachtet werden, sondern vielmehr als Ausdruck der dem Kapitalismus innewohnenden konstanten Dynamiken. Jene Subsistenzweisen, welche die europäische intellektuelle Elite im 18. Jahrhundert so sehr beschäftigten und als niedrigste aller Entwicklungsstufen der menschlichen Gesellschaften klassifiziert wurden, bildeten erst die Voraussetzung für das Auftrumpfen Europas. Die Kolonialität ist von Beginn an eines der inhärenten Merkmale der Entstehung des Kapitalismus, und der Kolonialismus ist – im Sinne einer geopolitischen Praxis der fortlaufenden Eroberung – ihre wiederkehrende Praxis. Mit der europäischen Expansion während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird sich unter dem Einfluss der modernen Rationalität und der imperialen Notwendigkeit einer wirksameren Kontrolle über die Peripherie – Lieferant billiger Arbeitskraft, natürlicher Ressourcen und Absatzmarkt für produzierte Güter – der Kolonialismus als politisches System zur Sicherung der globalen Asymmetrie sowie als konfliktminimierende Kraft zwischen den Imperien etablieren. Nach der Aufteilung der Welt bei der Berliner Konferenz 1885 entstand das System der sogenannten Mandate 104 |

als Herrschaftsform über die europäischen Kolonien, die sich größtenteils in Asien und Afrika befanden. Die Mandate wurden zur kontinuierlichen Absicherung der Kapitalakkumulation sowie auch als Möglichkeit entwickelt, der unzivilisierten Welt »beizustehen«. Zu jener Zeit herrschte die Idee vor, dass der Westen eine eindeutige »moralische Pflicht« habe, die Entwicklung der Kolonien zu unterstützen – und dies durch die Vereinigung der kolonialen Politikansätze mit dem philanthropischen Modell im Sinne der damals vorherrschenden christlichen Ideen. Auf diese Weise hatten praktisch alle Imperialmächte gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Pflicht, die Entwicklung ihrer Kolonien zu unterstützen, als Eckpfeiler ihrer Kolonialmandate formuliert (Rist 2002). Der Pakt des 1919 als erste internationale Regierung gegründeten Völkerbundes3, formulierte in Artikel 22 seines Gründungsaktes diese Prinzipien: »Auf die Kolonien und Gebiete, die infolge des Krieges aufgehört haben, unter der Souveränität der Staaten zu stehen, die sie vorher beherrschten, und die von solchen Völkern bewohnt sind, noch nicht imstande sind, sich unter den besonders schwierigen Bedingungen der heutigen Welt selbst zu leiten, finden die nachstehenden Grundsätze Anwendung: Das Wohlergehen und die Entwicklung dieser Völker bilden eine heilige Aufgabe der Zivilisation.« (Zitat in Rist 2002: 72)4

Auf dieser Rechtsprechung gründen sich zum ersten Mal die vollen Rechte des Westens, die Welt zu kolonisieren und zeitgleich wird Entwicklung als Notwendigkeit und Verpflichtung festgelegt. Man konnte nicht mehr darauf warten, dass der teleologische Werdegang der Geschichte die Unterdrückten selbst zu den Vorteilen der Entwicklung führt, sondern die eigenen zivilisatorischen Kräfte des Westens mussten direkt eingreifen, um diesen Prozess in Gang zu setzen. Die Kolonisation war nicht nur wünschenswert, sondern auch heilig, da sie die Kolonien auf den unausweichlichen Weg der Entwicklung leiten würde. Natürlich mussten die Kolonien den Preis ihrer eigenen Besatzung selbst tragen, doch war dieser im Vergleich zur Ankunft des Fortschritts unbedeutend. Von hier an etablierte sich eine feste Artiku3

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i.O. gobierno internacional. Allerdings sind die Ideen einer internationalen Regierung und die des Völkerbundes (bzw. der Vereinten Nationen) grundsätzlich verschieden, da Letzterer lediglich eine zwischenstaatliche Organisation und keine Regierung im klassischen Sinne darstellt (Anm. d. Übers.) Quelle auf Deutsch: http://www.documentarchiv.de/wr/vv01.html (Anm. d. Übers.) | 105

lation zwischen kapitalistischer Expansion und den Entwicklungsmodellen als Motivation und Begründung der kolonialen Intervention. Während in vergangenen Epochen die Christianisierung der Heiden und die Zivilisierung der Barbarei die Formeln der Kolonialzeit waren, wurden diese fortan durch die Entwicklung bestimmt. Die hierarchische Klassifikation der Weltbevölkerung, die durch die Kolonialität der Macht Jahrhunderte vorher eingeführt worden war, hatte schon festgelegt, wer diese minderwertigen und anormalen Bevölkerungen innerhalb der Moderne sein würden. Dabei ist allerdings zu beachten, dass sich ohne die Zusammensetzung des durch den Kapitalismus auferlegten Lebensstils – basierend auf Motivationsgründen wie Individualismus, Wettbewerb, Gewinn, Zins – das Konzept Entwicklung nur schwer im Zentrum moderner Utopien platzieren konnte. Dafür war die Erschaffung eines kapitalistischen Ethos nötig, der die grundlegenden Neigungen der Bevölkerung orientiert. Sicherlich hat der durch den Kapitalismus auferlegte Lebensstil Entwicklung als plausible Option (für Nationen, Gemeinschaften und Individuen) zum Erklimmen der Leiter des universellen Fortschritts und zum Erreichen der höheren Stufen mystifiziert. In diesem Zusammenhang muss auf ein zentrales Problem hingewiesen werden: nämlich, dass mit dem Anbruch der Moderne die soziale Schichtung, die in Europa vor der Eroberung Amerikas herrschte, ihre grundlegende Struktur verlor (Quijano 1992). Auch wenn die feudale Struktur beibehalten und auf die einheimische Bevölkerung Amerikas angewandt wurde, so begannen die Eliten in Europa doch, Zugang zu neuen Mechanismen der sozialen Mobilität zu haben, die durch das koloniale Unterfangen und die allgemeine Entstehung des Kapitalismus ermöglicht wurden. Dies erlaubte ihnen, die starren Standesregelungen durch ein flexibleres Schichtengefüge zu ersetzen, das Individuen den ›sozialen Aufstieg‹ erlaubte, der nun auch für einige der subalternen Gruppen möglich wurde. Mit diesen sozialen Mechanismen vereinten sich Vorstellungen von Freiheit, Fortschritt und individueller Entwicklung, gekoppelt mit dem Stimulus, die Stufen der sozialen Struktur zu erklimmen. Es ist tatsächlich möglich, diverse Mechanismen und Dispositive aus der kolonialen Epoche zu finden, die in Verbindung mit dem kapitalistischen System eine Loslösung der Subjekte von einigen sozialen Unterdrückungsstrukturen begünstigten. Diese Mechanismen konnten Formen des sozialen Aufstiegs von der Produktion und Reproduktion von Kapital, Eheschließungen, Ankauf von königlichen Titeln bis zum blanqueamiento racial (Castro-Gómez 2005) sein. Zur gleichen Zeit, in der sich diese Methoden 106 |

des sozialen Aufstiegs etablierten, waren jedoch andere Bevölkerungen in der Peripherie wie auch in einigen zentralen Teilen des Weltsystems noch stärker der Bindung an die und Unterwerfung innerhalb der Herrschafts- und Ausbeutungsmuster ausgesetzt (Polanyi 1992). In dem Maße wie der Kapitalismus als Produktions-, Austausch- und Konsumverhältnis aufgezwungen wurde, gliederte er weite geografische Gebiete und zahlreiche Bevölkerungen in sein Ausbeutungssystem ein. Weit davon entfernt eine neue Autonomie für die Weltbevölkerung darzustellen, legten diese Tendenzen das Fundament für neue Ausbeutungsmechanismen. Die historische Originalität des Kapitalismus bestand auch in einer mythologischen Kreation, laut der sich jeder der Spielregeln bemächtigen und – in der modernen Auffassung – sein Leben verbessern, in anderen Worten, sich entwickeln konnte. Im Laufe der Zeit hat es dieser Mythos durch seine symbolische Wirkung geschafft, sich eindrucksvoll durchzusetzen, vor allem unter den Ausgebeuteten.

Entwicklung und Reorganisation des Kapitalismus und der Modernität/Kolonialität Ungeachtet dessen, dass er seit der Anfangsphase Teil des Entstehungsprozesses des modernen Weltsystems war, und trotz seines speziellen Machtmusters haben sich die Formen, in denen sich die Entwicklungsidee aktuell präsentiert, fundamental geändert und sich mit Nachdruck im Alltagsverstand und den Motivationen der Bevölkerungen sowie den globalen sozialen Institutionen verfestigt. Diese Veränderungen sind sowohl Folgen der eigenen Entwicklungsgeschichte als auch der Transformationen des Kapitalismus und der Modernität/Kolonialität, die seit dem Ende des zweiten Weltkrieges stattfinden. In der Nachkriegswelt setzten sich die Vereinigten Staaten im Rahmen einer Restrukturierung der internationalen Beziehungen zur Absicherung der Herrschaft der Siegermächte als Hegemonialmacht durch. Um diese neue Weltordnung zu strukturieren, wurde eine Reihe von internationalen Institutionen gegründet, welche die Interessen des Kapitalismus und der innerhalb des Systems hegemonialen Nationalstaaten vertreten und durchsetzen. Der Völkerbund wurde durch die Organisation der Vereinten Nationen als Schlichterin globaler Konflikte und Bewahrerin imperialer Interessen hinter einer demokratischen Fassade ersetzt. Um dem heute nicht mehr bestehenden sozialistischen Block und dem Warschauer Pakt ein Gegengewicht zu setzen, wurde die NATO als militärische Organisation | 107

zur Bedrohung und Intervention in den aufständischen Ländern der neuen Weltordnung gegründet. Schließlich wurden noch internationale Institutionen mit dem Auftrag gegründet, die weltweite Kapitalakkumulation zu verteidigen und zu stärken sowie seine Ungerechtigkeiten aufrechtzuerhalten. Zunächst der Internationale Währungsfonds (IWF), der ursprünglich als wirtschaftliche Grundlage für den Wiederaufbau Europas diente, gefolgt von der direkt von den USA kontrollierten Weltbank. Innerhalb dieses generellen Panoramas bildet sich der Entwicklungsgedanke als eine der antreibenden Tendenzen der neuen Weltordnung heraus und nimmt einen zentralen Platz innerhalb der Prozesse weltweiter Neuanordnungen ein, sowohl in der Funktionsweise des kapitalistischen Systems als auch in der sozialen Klassifikation. Die berühmte Rede Harry Trumans im Jahr 1949 war die neue öffentliche Anerkennung des von der Entwicklungsidee bereits eingenommenen Platzes. Die Erfindung von Entwicklung und der privilegierte Platz, den sie von diesem Moment an in den zeitgenössischen sozialen Vorstellungen einnimmt, erlaubt es ihr, die Parameter der sozialen Klassifikation der Weltbevölkerung anhand wirtschaftsliberaler Standards neu zu konfigurieren (Escobar 1998). Dies hebt die alten Aufteilungen, basierend auf den Ideen von raza, Geschlecht und Klasse nicht auf, verbindet sie aber mit der Kategorie der ›Unterentwickelten‹, die breite und vielfältige Bevölkerungsschichten inferiorisiert. Es ist kein Zufall. dass diese die historisch durch die Kolonialität der Macht unterdrückten Bevölkerungen sein werden. Auf diese Weise entsteht ein Abbild des Planeten, das ihn geografisch anhand der ontologischen Unterschiede in den mutmaßlichen ›Entwicklungsstufen‹ der verschiedenen Gebiete unterteilt. So wird von der Existenz dreier verschiedener Gruppen ausgegangen: die Erste Welt, entwickelt, technisch fortgeschritten, frei zur Ausübung des Utilitarismus und ohne ideologische Restriktionen; die Zweite Welt (gegenwärtig so gut wie nicht bestehend), auch entwickelt und technisch fortgeschritten, jedoch mit einer ideologischen Last, die jenen Utilitarismus unterbindet; und letztendlich die Dritte Welt, unterentwickelt, technisch zurückgeblieben und mit einer traditionellen Mentalität, welche die Möglichkeit des utilitaristischen und wissenschaftlichen Denkens verhindert (Mignolo 2003). In diesem Sinne hat sich Entwicklung als eine der Stützen der globalen geokulturellen Definitionen errichtet und fungiert gleichzeitig als Antrieb zur Homogenisierung, der weite Bevölkerungsteile unter dem Etikett der ›Unterentwickelten‹ oder ›Dritt-Welt’ler‹ zusammenfasst. Diese ontologischen Ansichten haben 108 |

solch eine Akzeptanz erfahren, dass es unvermeidlich erscheint, sie als eine Art zweite Charaktereigenschaft anzusehen (Coronil 1999). Obwohl sich die Idee der Unterentwicklung auf den ersten Blick auf eine wirtschaftlich-produktive Unterscheidung stützt, wird sie als ein multidimensionales Phänomen betrachtet, das alle Lebensbereiche betrifft (Cowen y Shenton 1995). So wird im Entwicklungsjargon üblicherweise von wirtschaftlicher, politischer, sozialer, kultureller, gesundheitlicher etc. Unterentwicklung gesprochen. Das Leben der Bewohner der Dritten Welt ist per definitionem ein unterentwickeltes Leben, ontologisch verschieden von jenem in der ›Ersten Welt‹. Wie üblich unter dem Blick des Eurozentrismus werden die Probleme dieser großen Gebiete, bestehend aus den ehemaligen Kolonien, nicht als das Resultat eines historischen Konflikts oder als eine durch die strukturelle Koppelung von sozialen Herrschafts- und Ausbeutungssystemen geschaffene Subalternisierung erläutert. Allenfalls drehen sich die vorgebrachten Antworten für die Gründe der Unterentwicklung um die kulturellen (wenn nicht natürlichen) Unfähigkeiten der Beherrschten. Trotzdem deutet die historische Konstruktion der Entwicklungsidee darauf hin, wie seine Repräsentationen und Initiativen von der Kolonialität der Macht durchzogen sind. Diese Wirkungsmacht von Entwicklung hat dazu beigetragen, die Asymmetrie der globalen Beziehungen zu verbergen, und sie hat es gleichzeitig vollbracht, sich als säkulares Dogma in im globalen Alltagsverstand zu naturalisieren. Sich ihm zu widersetzen, würde scheinbar schon an Gotteslästerung grenzen. Die Naturalisierung von Entwicklung in dieser letzten Phase seiner Geschichte führte zur Schaffung von einer Vielzahl nationaler und internationaler Organisationen, die nur das Ziel verfolgen, die Transformation der Dritten Welt anhand von Modernisierungspolitiken, -programmen und -projekten voranzutreiben. Wenn die Imperialmächte schon seit dem 19. Jahrhundert die Verpflichtung hatten, den Kolonien die Vorteile der Industrie und des Wissen der Moderne anzubieten, so institutionalisierte sich diese Verpflichtung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den ehemaligen Kolonien in Form von Sekretariaten, Ministerien und Entwicklungsbanken. Nach über sechs Jahrzehnten gibt es in Lateinamerika keinen einzigen Staat, der nicht auf zumindest eine dieser Institutionen baut, um sich zu entwickeln. Dabei scheint es nicht allzu wichtig, dass der Subkontinent nach so vielen Jahren auf dem Pfad der universellen Entwicklung nicht allzu weit vorangekommen ist. Diese dogmatische Fähigkeit von Entwicklung, so viele Jahre als wirkmächtige Idee fortzubestehen, ist vermutlich seiner engen Verbindung zum | 109

globalen Machtmuster sowie seiner Praxisnähe geschuldet. Nur schwer ist eine andere Idee und Wirkungsmacht von derartiger Zentralität in der heutigen Welt auffindbar, die in so wenig Zeit auf so viele Substantive zurückgriff, um auf geringfügige, aber doch irreführende Weise ihre zentralen Bedeutungen zu modifizieren. Gleichermaßen wäre es mühsam eine andere Idee zu finden, die solch eine Aura der Gewissheit ausstrahlt. Trotz der vollbrachten Transformationen und ihrer wiederholten Fehlschläge ist Entwicklung sowie ihre Architektur prinzipiell gleich geblieben (Escobar 1998).

Einige Schlussbemerkungen Wenn sich etwas ›entwickelt‹, wenn man dieses Wort für einen Augenblick von seinem ursprünglich biologischen Ballast und seinen hierarchisierenden Konnotationen sowie seiner evolutionistischen Teleologie befreien kann und wenn der Ausdruck dazu benutzt werden kann, um größere Prozesse von globalem Ausmaß zu beschreiben, dann wäre der einzige Fall, auf den man dieses Wort als deskriptive Kategorie scheinbar anwenden könnte die kapitalistische Weltwirtschaft (Wallerstein 1996) und das globale Machtmuster (Quijano 2000c). In diesem langen historischen Zeitraum ist das Einzige, was von sich selbst expandierender, verkomplizierender und ausufernder Eigenschaft ist, dieses unangemessene Beherrschungs- und Ausbeutungssystem mit seiner Ungerechtigkeit und so vielen Opfern. Trotzdem sind die Bedeutungen dieses Ausdrucks so alt, dass es falsch wäre, sich damit auf irgendeinen Prozess zu beziehen. Es ist eine Gewissheit, dass der Kapitalismus die Unterentwicklung entwickelt (Frank 1970), aber in der aktuellen Zeit würde der Gebrauch von beiden Kategorien unsere Fähigkeit, die Art dieses Phänomens zu verdeutlichen, eher einschränken als erweitern. Am Ende dieses Textes ist es angebracht, auf die Notwendigkeit hinzuweisen, neue Wege von Ideen nachzuzeichnen, welche sowohl die Sichtbarmachung von diesen Problematiken orientieren und motivieren als auch die Transformation der Strukturen dieses Machtmusters. Die zahlreichen Resemantisierungen des Entwicklungsgedankens (nachhaltig, endogen, ökologisch, menschlich, gerecht, ethnisch, von unten etc.) können kaum zu bedeutenden Veränderungen an dieser wirkmächtigen Idee führen, da sie an einen Erkenntnisraum und in einer Praxis, eingebunden sind, die in der eurozentrierten Modernität/Kolonialität gefangen sind. Mit anderen Worten und in aller für ihn charakteristischen Deutlich- und Tiefgründigkeit meint Boaventura de Sousa Santos dazu Folgendes: 110 |

»Es muss allen klar sein, dass die Substantive immer noch den intellektuellen und politischen Horizont bestimmen, der nicht nur definiert, was sagbar, zu glauben, legitim oder realistisch ist, sondern auch und darin impliziert das, was nicht sagbar, nicht zu glauben, illegitim oder unrealistisch ist. Indem man sich also nur auf Adjektive beschränkt, beglaubigt die Theorie den kreativen Nutzen im Selbsterhalt der Substantive, aber zur gleichen Zeit wird akzeptiert, die Debatten und Vorschläge darauf zu limitieren, was innerhalb eines Möglichkeitshorizontes gemacht werden kann, der ihm ursprünglich nicht zu eigen ist. Eine kritische Theorie erhält so einen hergeleiteten Charakter, wegen dem sie zwar mitdiskutieren darf, aber es ist ihr trotzdem nicht erlaubt, die Bedingungen der Debatte zu bestimmen und noch weniger, warum eben jene Debatte statt einer anderen geführt wird.« (Sousa Santos 2010: 30)

So scheint es die nicht allzu leichte Aufgabe zu sein, neue Ideen und Einsichten zu finden, die das Handeln orientieren. In diesem Sinne soll es nicht die Aufgabe sein, eine alternative Entwicklung vorzuschlagen, sondern ganz im Gegenteil tatsächliche Alternativen zur Entwicklung. Und eine Alternative zur Entwicklung muss notwendigerweise eine Alternative zu Kapitalismus, Modernität und Kolonialität sein, da Entwicklung auf deren struktureller Assoziation beruht. Die lateinamerikanische Dependenztheorie hat es vorgemacht, die kapitalistischen Entwicklungswege in aller Vehemenz infrage zu stellen und zu zeigen, wie Machtverhältnisse die soziale Ausbeutung strukturieren und ausweiten. Trotz diesem Teilerfolg hat es die kritische Strömung der Dependenztheoretiker, vor allem ihre Vertreter mit größerer Reichweite (Cardoso und Faletto 1969), nie geschafft, Entwicklung als wirkmächtige Idee tiefgreifend zu problematisieren, sondern höchstens aufgrund seiner kapitalistischen Eigenart. So blieb eine der kritischsten Strömungen gegenüber Entwicklung darin gefangen , diesen Gedanken nur anhand seiner unterschiedlichen Modelle, aber nicht seine Konstitution zu hinterfragen. Entwicklung wurde weiterhin als deskriptive Kategorie und schlimmer noch als realisierbare Utopie gebraucht. Jedoch setzt eine Veränderung im Sprachgebrauch auf keine Weise eine mechanische oder automatische Transformation der semantischen und materiellen Strukturen voraus. In der aktuellen lateinamerikanischen Debatte über das Bien Vivir oder Buen Vivir kann man eine große Anzahl an Vorschlägen herauslesen, die im Grunde genommen die Ideen, Illusionen und natürlich auch die Probleme von Entwicklung reproduzieren, aber es eben | 111

anders nennen. Doch nichts wäre gefährlicher, als dass der Entwicklungsgedanke endgültig ein neues Kleid – dessen historische Konfektion noch schwieriger zu unterscheiden wäre – anlegte, um sich in aller Ruhe darin zu verstecken. Auf diesem Scheideweg stehen wir also vor der Notwendigkeit, uns für eine Subversion von Entwicklung und allem, was ihm ähnlich sieht, zu entscheiden.

Literatur Amodio, Emanuele. 1993. Formas de la alteridad. Quito. Abya-Yala Aristóteles. 1968. Política / Metafísica. La Habana. Instituto del Libro. Cardoso, Fernando Henrique/Faletto, Enzo. 1969. Dependencia y desarrollo en América Latina. Mexiko Stadt. Siglo XXI Castro-Gómez, Santiago. 2005. La hybris del punto cero: ciencia, raza e ilustración en la Nueva Granada (1750-1816). Bogotá. Pontificia Universidad Javeriana Coronil, Fernando. 1999. Más allá del occidentalismo: hacia categorías geohistóricas no imperiales. In: Revista Casa de las Américas, Nr. 214, La Habana. 21-49 Cowen, Michael/Shenton, Robert. 1995. The invention of development. In: Crush, Jonathan [ed]. Power of development. Londres. Routledge. 27-43. Duchet, Michèle. 1975. Antropología e historia en el siglo de las luces. Mexiko Stadt. Siglo XXI Escobar, Arturo. 1998. La invención del tercer mundo. Bogotá. Norma Esteva, Gustavo. 2000. Desarrollo. In: Andreu, Viola [ed.]. Antropología del desarrollo. Barcelona. Paidós. 67-101. Fabian, Johannes. 1983. The time and the other. How anthropology makes its objects. New York. University of Columbia Frank, André Gunder. 1970. Capitalismo y subdesarrollo en América Latina. Mexiko Stadt. Siglo XXI Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. 1976 [1821]. Filosofía del derecho. Caracas. Universidad Central de Venezuela 112 |

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In Richtung eines alternativen Horizontes von Diskursen und Praktiken deskolonialer Widerstände. Anmerkungen über ökonomische Solidarität und Buen Vivir. Boris Marañon Dieser Text hat die Absicht, eine Reflexion über die ökonomische Solidarität aus der Perspektive der Deskolonialität der Macht vorzuschlagen. Dies bedeutet, die Solidarität im Kontext der globalen Krise des kolonial/modernen Kapitalismus zu denken und zu praktizieren, in der ein neuer geschichtlicher Ideenhorizont entsteht, der durch die Desmerkantilisierung des Lebens und der Natur aufrecht erhalten wird und sozial dominante Praktiken und Konzeptionen neu deutet. Diese neuen Ideen beziehen sich in ihrer Gesamtheit auf eine Reformulierung der sogenannten Ökonomie, da diese ja nur eine Dimension ist, die auf die Befriedigung der Bedürfnisse ausgerichtet ist und nicht von den anderen Bereichen der sozialen Existenz getrennt ist. Diese Vorschläge implizieren darüber hinaus, die Knappheit als Referenzrahmen gegenüber ›Ressourcen‹, die Assimilierung von Arbeit im Allgemeinen als Lohnarbeit sowie die objektivierende Beziehung gegenüber der Natur neu zu diskutieren und eine symmetrische Reziprozität als grundlegende Achse der sozialen Beziehungen zu errichten. Diese Reflexion strukturiert sich ausgehend von einer vorläufigen Beurteilung von sozialen Praktiken in verschiedenen Ländern Lateinamerikas, die von dem Auftauchen dieses neuen historischen Ideenhorizontes zeugen. Dieser Horizont fußt auf dem Respekt gegenüber der Natur, der Desmerkantilisierung des sozialen Lebens durch soziale Beziehungen gemäß der Reziprozität, einer Subjektivität, welche das Band zwischen Gesellschaft und Natur wieder herstellt und auf einer Struktur von Autorität und politischer Repräsentation, die von dem gemeinschaftlichen Leben ausgeht und auf direkter Demokratie beruht. In diesem Sinne sollte man das Buen Vivir als einen alternativen Vorschlag gegenüber dem Kapitalismus erwägen, das als Basis die Solidarität innerhalb der Gesamtheit des sozialen Lebens und die Befreiung von der Kolonialität der Macht hat. Allgemein wird die Kolonialität der Macht als ein historisches Machtmuster verstanden, das Ende des 15. Jahrhunderts begründet wurde und von zwei Strukturen aufrecht erhalten wird: zum einen von einer sozialen Herrschaftsstruktur, die auf der Klassifikation der Weltbevölkerung anhand | 115

der Idee von raza (Produktion von sozialen Hierarchien, begründet über phänotypische Unterschiede zwischen Personen) beruht. Und zum andren von einer Struktur der sozialen Ausbeutung, die auf der Kombination von verschiedenen Formen der Arbeitskontrolle unter der Hegemonie des Kapitals für die Produktion von Waren im Weltmarkt basiert. Diese Struktur der sozialen Ausbeutung ist der Kapitalismus. Macht wird hier als das Verhältnis von Ausbeutung, Beherrschung und Konflikt in den fünf entscheidenden Bereichen der sozialen Existenz (Arbeit, Natur, Sex, kollektive Autorität und Subjektivität) betrachtet. Im Sinne der Theorie der Kolonialität der Macht ist der Eurozentrismus das Element, das es erlaubt, die soziale Realität aus einem gewissen (Blick-)Winkel zu sehen, zu fühlen, zu kennen oder nicht zu kennen und zu erklären und zwar aus dem Blickwinkel der Macht, ihrer Geschichte, ihrer Institutionen, ihrer sozialen Beziehungen und Werte. Auf diese Weise ist der Eurozentrismus der Mechanismus, der die Produktion von Werten und Subjektivitäten (soziale Vorstellungen, historische Erinnerung und Wissen) orientiert, um die Kolonialität der Macht zu legitimieren. Daher ist die soziale Produktion einer deskolonialen Welt nur über den Bruch mit dem Eurozentrismus, mit der Zurückweisung von rassialisierten sozialen Beziehungen und von der Trennung zwischen Gesellschaft und Natur sowie zwischen Objekt und Subjekt möglich, also all dem, was die sozialen Handlungsweisen in der Modernität/Kolonialität auf instrumentelle, individuell-egoistische Art und Weise ordnet (Quijano 2000a und 2000b; Quintero 2010; Marañon 2012). Dieser Artikel ist in vier Teile gegliedert. Der Erste stellt das Auftauchen eines neuen historischen Ideenhorizonts vor, der das Buen Vivir als Basis und Inhalt einer neuen antikapitalistischen Alternative hat und auf die Deskolonialität der Macht orientiert ist, in und aus den indigenen Gesellschaften Lateinamerikas kommt und als eine Lebensweise charakterisiert ist, die auf den überlieferten Kenntnissen des Respekts gegenüber der Natur, der kollektiven und reziproken Arbeit basiert und Werte von Gleichheit, Freiheit und Demokratie beinhaltet. Der zweite Teil zeigt die Konfliktivität zwischen Extraktivismus und der Konstruktion des Buen Vivir. Der dritte verfolgt, wie sich ausgehend von den sozialen Praktiken eine Ökonomie entfalten kann, die nicht auf Akkumulation durch Beraubung und Zerstörung von Leben beruht, sondern auf der Befriedigung von, sozial neu definierten, Grundbedürfnissen, welche die Natur respektieren und Ausbeutung und Beherrschung aufheben. Zu guter Letzt werden einige Ergebnisse vorgeschlagen. 116 |

Deskolonialität der Macht und ein neuer deskolonialer historischer Ideenhorizont: Das Buen Vivir Die gegenwärtige historische Epoche ist durch die Konsolidierung und Ausdehnung der strukturellen Arbeitslosigkeit, die Finanzialisierung des Kapitals und die Hypertechnokratisierung der instrumentellen Vernunft gekennzeichnet (Quijano 2012) und zwar auf eine Art und Weise, dass sich der Kapitalismus definitiv von seinen größten Versprechen verabschiedet hat: Freiheit, Gleichheit, Demokratie, materieller und subjektiver Wohlstand. Stattdessen gab es in den letzten zwei Dekaden eine steigende merkantilisierende Offensive gegenüber dem materiellen und subjektiven Leben, die damit droht, die materiellen und sozialen Grundbedingungen der Reproduktion der Menschheit in ihrer Gesamtheit zu zerstören. Gegen diese Situation haben sich an verschiedenen Orten in Lateinamerika zahlreiche Widerstände gebildet, die auf dem Weg sind, einen neuen historischen Ideenhorizont zu bilden, der auf einer befreienden Rationalität gründet und ein Zusammenleben ausgehend von sozialen Beziehungen fördert. Dieses Zusammenleben basiert auf einer Solidarität/Reziprozität (sowohl untereinander als auch gegenüber der Natur) sowie auf einer kollektiven öffentlichen Autorität, die das Ergebnis eines autonomen Entscheidungsfindungsprozesses von sozialen Subjekten ist. Es ist wichtig festzuhalten, dass die Widerstände/Alternativen in einem historischen Kontext entstehen, der durch die Unmöglichkeit gekennzeichnet ist, die soziale Reproduktion mit/ohne Staat und mit/ohne Markt zu gestalten, also dass das Alte nicht weit genug beseitigt wurde und das Neue noch kein ausreichend gefestigtes und konsolidiertes Niveau erreicht hat, das es erlauben würde, die soziale Reproduktion nur auf Basis der Reziprozität zu erreichen und eine kollektive öffentliche Autorität abseits vom Nationalstaat zu schaffen. Daher muss in den neuen gemeinschaftlichen ökonomischen Praktiken die Reziprozität in einem Spannungsverhältnis zu dem herrschenden Marktmuster verortet und beurteilt werden. Dieser neuer historische Ideenhorizont ist nach Quijano (2012) der Ausdruck von einem »Widerstand [der dazu] tendiert, sich wie eine Produktionsweise einer neuen Idee der sozialen Existenz, des Lebens selbst, zu entwickeln, eben deshalb, weil der Großteil der betroffenen Bevölkerung mit zunehmender Intensität wahrnimmt, dass es aktuell nicht nur um ihre Armut als ihre immerwährende Erfahrung geht, sondern um nichts weniger als ihr eigenes Überleben. Solche | 117

Einsicht beinhaltet gezwungenermaßen, dass man nicht das menschliche Leben auf der Erde verteidigen kann, ohne zur gleichen Zeit und in einer gemeinsamen Bewegung die Grundlagen des Lebens auf der Erde an sich zu verteidigen. Auf diese Weise konstituiert sich die Verteidigung des menschlichen Lebens und der Lebensbedingungen auf dem Planeten als neue Idee der Widerstandskämpfe einer immensen Mehrheit der Weltbevölkerung. Ohne die globale Kolonialität der Macht und ihren global/kolonialen Kapitalismus ihrer heutigen räuberischsten Phase umzustürzen und zu desintegrieren, könnten diese Kämpfe nicht weiter in der Produktion eines alternativen historischen Ideenhorizonts voranschreiten, welcher der eurozentrierten Kolonialität/Modernität entgegensteht.«

Im letzten Jahrzehnt entstand in Lateinamerika aus dem Widerstand gegen einen räuberischen und irrationalen Kapitalismus das Buen Vivir. Diese gesellschaftliche Alternative ist darauf ausgerichtet, das gesellschaftliche Leben sowie das Leben mit der Umwelt auf solidarischer Basis neu zu ordnen – nicht nur als ökonomische und produktive Aktivität, sondern in allen Bereichen der sozialen Existenz. In diesem Maße ist das Buen Vivir ein Bruch mit dem Eurozentrismus, sowohl in der Wissensproduktion, der historischen Erinnerung und Vorstellungen als auch als das Fundament von sozialen Beziehungen. In Bolivien und Ecuador hat es sogar Einzug in die Gesetzgebung gefunden.1 Dadurch entsteht eine relationale Vision zwischen Menschen und Nicht-Menschen und eine Idee der Zugehörigkeit zur Natur sowie die Notwendigkeit, sie zu schützen. In epistemischen Termini entwirft diese Haltung eine Zusammenkunft zwischen Gesellschaft und Natur, die Rückkehr zu einer relationalen Vision zwischen beiden, was die Zurückweisung des Subjekt/Objekt-Ansatzes bedeuten würde, der die soziale Handlungsweisen in der Modernität/Kolonialität als instrumentelle begründet hat (Walsh 2008; Escobar 2010; Marañon 2011b). Auf diese Art und Weise stellt das Buen Vivir die Zusammenkunft zwischen Gesellschaft und Natur dar, die beide seit der Durchsetzung der Kolonialität der Macht, also seit Ende des 16. Jahrhunderts, getrennt sind, weil diese eine hierarchische soziale Klassifikation der Menschen auf der Grundlage von raza implizierte (und immer noch impliziert). Diese Rassialisierung der sozialen Beziehungen und der grundlegenden sozialen Klassifikationen der Menschen, diese Dualisierung der Bevölkerung durch das neue Machtmuster in Menschen und Halb/Menschen, in rassiologisch als 1

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In beiden Fällen innerhalb der neuen Verfassungen, die in Bolivien 2009 und in Ecuador 2008 verabschiedet wurden (Anm. d. Hrsg.)

überlegen und unterlegen naturalisierte Menschen, war für die Ausarbeitung des radikalen cartesianischen Dualismus (Trennung zwischen Vernunft und Natur, zwischen Subjekt und Objekt) und seine Anerkennung als eben das Fundament der modernen, aber auch kolonialen Rationalität entscheidend, da es sich auf ein Kriterium für soziale Unterschiede auf der Basis von biologischen Unterschieden berief (Quijano 2009). Dávalos (2008) stellt fest, dass die herrschende ökonomische Theorie mit dem cartesianischen Paradigma dem Menschen die Rolle als »Herr und Gebieter der Natur« zuteilt und die Natur als einen der Menschheitsgeschichte äußerlichen Bereich versteht (ein Konzept, dem sogar der Marxismus unterliegt), was somit ihre Beherrschung und Ausbeutung ermöglicht. Dem gegenüber schließt das Sumak Kawsay (Buen Vivir) die Natur in die Geschichte mit ein. Es handelt sich daher um einen fundamentalen Wechsel für die moderne episteme, denn wenn sich das moderne Denken mit etwas gerühmt hat, dann eben damit, dass es die Natur aus der Geschichte ausgeschlossen hat. Im Vergleich zu allen anderen menschlichen Gesellschaften ist die moderne episteme die einzige, die einen derartigen Vorfall hervorgebracht hat. Die Konsequenzen davon beginnen sie nun einzuholen. Mit dem Buen Vivir weist man a) den Anspruch von Entwicklung als linearer Prozess von historischen Sequenzen, die sich wiederholen müssen, zurück; tritt man b) für eine andere Beziehung mit der Natur ein, in der sie als Rechtssubjekt wahrgenommen wird, und fordert verschiedene Formen eines kontinuierlichen Verhältnisses mit der Umwelt; werden c) die sozialen Beziehungen nicht ökonomisiert, noch werden alle Dinge als merkantilisierbare Güter oder Dienstleistungen reduziert; wird d) die Lebensqualität oder der Wohlstand in einer Art neu konzeptualisiert, die nicht nur vom Besitz von materiellen Gütern oder vom Einkommen abhängt, was die Wichtigkeit impliziert, Glück und spirituelles Buen Vivir zu erforschen; geht man e) über eine materialistische Haltung hinaus, denn im Grunde geht das Buen Vivir auch von anderen Spiritualitäten und Sensibilitäten aus; und es positioniert die Wichtigkeit einer Ethik, da es darum geht, andere Formen zu finden, wie Werte verstanden und zugewiesen werden; kämpft man f ) für die Deskolonisierung des Wissens und g) für eine demokratische Entscheidungsfindung. In dem Nicht-Menschlichen eigentümliche Werte zu identifizieren, ist eines der wichtigsten Elemente, durch das sich diese Haltung von derjenigen der westlichen Moderne unterscheidet: »Aus diesem neuen Blickwinkel werden auf der Stelle Gemeinschaften neu definiert, um das Nicht-Menschliche erweitert, und es entstehen wechselständige Konzep| 119

tionen von Natur« (Guadynas 2011: 19). Das ist einer der grundlegenden Beiträge des Buen Vivir, also die Wiederherstellung der Einheit, der Komplementarität zwischen Natur und Gesellschaft, indem zwischen beiden eine relationale Bindung statt einer Exteriorität hergestellt wird. So entsteht eine Alternative, die von den Gesellschaften dieser Erdteils ausgeht, und ein Weg für die menschlichen Subsistenz auf der Basis von überliefertem Wissen des Respekts gegenüber der Natur. »Das Buen Vivir ist ein Phänomen, dessen Absicht es ist zu zeigen, dass wir in eine historisch radikal neue Epoche eingetreten sind; es ist nicht nur ein Zeichen des Widerstands, sondern hat einen eigenen Charakter: es stellt einen Vorschlag als einen Prozess einer historisch genuinen Alternative in einer entscheidenden Epoche der Weltgeschichte dar.« (Quijano 2009)

Gerade in der Debatte über alternative Horizonte gegenüber dem Kapitalismus muss das Buen Vivir in eine antikapitalistische Perspektive gestellt werden, damit es seine deskolonisierende Wirkung entfalten kann. Mit den Worten von Quijano (2012): »Was ich hier aufwerfen will, ist eine der entscheidenden Fragen unserer entscheidenden Periode der Geschichte: das Bien Vivir – was nichts anderes sein kann als ein Komplex sozialer Praktiken, der auf die demokratische Produktion und Reproduktion einer demokratischen Gesellschaft abzielt, um eine echte historische Verwirklichung zu sein; eine andere Form der sozialen Existenz mit ihrem eigenen spezifischen historischen Ideenhorizont, grundlegend anders als die globale Kolonialität der Macht und die eurozentrierte Kolonialität/Modernität.«

Die Spannungen zwischen Extraktivismus/ Entwicklungspolitiken und der Ökonomie des Buen Vivir Wie kann sich im gesellschaftlichen Leben ein auf die Desmerkantilisierung des Lebens und der Natur gerichteter Vorschlag konkretisieren? Wie kann man in produktiven Termini zum Buen Vivir kommen und sich von der Dominanz und Ausbeutung des Extraktivismus entfernen, der gerade in unseren Ländern eine wichtige Divisen-, Steuer-, Investitions- und Finanzierungsquelle des öffentlichen Haushalts ist? Um in diesem Sinn in Richtung einer neuen sozialen Ordnung zu schreiten, ist es nötig herauszufinden, aus was dieses neue Akkumulationsmuster bestehen könnte, das in seinen Phasen von Produktion, Distribution und 120 |

Konsum den Vorschlag eines solidarisch-reziproken Lebens unter den Menschen und mit der Natur übersetzt, also die sozialen Beziehungen in Richtung einer Desmerkantilisierung des Lebens und der Überwindung von Ausbeutung und Beherrschung transformiert. Was wäre das neue Energieversorgungsmodell, welches das aktuelle, basierend auf fossilen Brennstoffen, ersetzen könnte? Wie würde das Problem des Eigentums von Produktionsmitteln gelöst werden? Gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen Privat- und Staatseigentum? Sollten alle grundlegenden Produktionsmittel vergemeinschaftet werden oder gibt es Raum für das private/familiäre Eigentum, wenn man es gemeinschaftlich nutzen könnte? Was wäre das Kriterium für die Effizienz der Produktion? Wie würden sowohl die Produktion als auch der Konsum reorganisiert werden? Was wären die Grundbedürfnisse, die befriedigt werden sollten? Was wären die Grundversorger? Was wären die Quellen einer alternativen Akkumulation gegenüber dem Extraktivismus und wie sollte man zu einer Ökonomie des Buen Vivir gelangen? Auf welche Weise könnten der Kapitalismus und seine grundlegenden Kategorien, unter anderem Lohn, Geld, Markt (nicht der Tausch), auf unwiderrufliche Art ihre ökonomische Bedeutung verlieren? Was wäre die entsprechende politische Institutionalität? Der alltägliche Konstruktionsprozess des Buen Vivir zeigt aktuell auf zahlreiche Spannungen. Eine davon ist im politischen Bereich verortet, im Übergang zu einer neuen Struktur von politischer Autorität und Repräsentation, welche die gemeinschaftlich/sozialen Interessen ausdrücken kann. Das heißt im Falle von Bolivien oder Ecuador der Aufbau von plurinationalen Staaten. Die andere, welche mit der ersten verbunden ist und sein sollte, basiert auf der Befriedigung von (sozial neu und umdefinierten) menschlichen Bedürfnissen, ausgehend von einer Ökonomie, die als Grundlage den Respekt gegenüber der Natur und die Solidarität/Reziprozität hat. Die neusten Vorkommnisse, sowohl in Ecuador als auch in Bolivien zeigen, dass die Formulierungen des Buen Vivir als konstitutionelle Ratifizierungen nicht in die alltägliche Praxis übersetzt werden, vor allem, weil es eine starke Opposition in gewissen Reihen der Regierung gibt und auch weil die Prefiguration2 der neuen Lebensweise nicht ausreichend diskutiert oder verbreitet ist. In beiden Ländern, vor allem im ersteren, ist die kapitalistische Prägung der ökonomischen und politischen Führung der Regierung offensichtlich geworden. In Ecuador, also: 2

Zur Kategorie der Prefiguration siehe Tischler y Navarro (2011). | 121

»ist nach fünf Jahren klar geworden, dass die Regierung Correa das politische Projekt, das die ecuadorianische Bevölkerung gewählt hat, betrogen hat. Das Projekt von Correa repräsentiert ein autoritäres und korruptes Modell kapitalistischer Modernisierung. Um ein gewisses Bild einer linken Politik zu legitimieren, benutzt die Regierung einen Diskurs von radikalem Antlitz, aber es handelt sich um einen scheinheiligen Diskurs. Der plurinationale Staat blieb auf dem Papier und die Idee wurde ihres Inhalts entleert. Die solidarische und soziale Ökonomie reduziert sich auf ein Staatsministerium mit beschränkter Vision und begrenzten Ressourcen, ohne mit dem ökonomischen Entwicklungsmodell, das die Verfassung vorschreibt, weiter zu kommen. Die Rechte der Natur und der indigenen Territorien sind im Worte anerkannt, aber das extraktivistische Modell, das die Regierung antreibt, widerspricht diesen und gefährdet sie auf brutale Weise. Es wird behauptet, dass die prekären Formen der Arbeitsbeherrschung sowie das Outsourcing oder die Flexibilisierung beschränkt worden seien, aber die Prekarisierung ist nur auf den öffentlichen Sektor ausgelagert worden, indem man den Arbeitern das Recht auf Organisation, gewerkschaftliche Betätigung und Arbeitsstabilität wegnahm. Die gewerkschaftliche Bewegung wird mit dem Vorwand der Einschränkung von Privilegien attackiert, aber man lässt die Privilegien des Kapitals unberührt. Der Diskurs der Inklusion und Wertschätzung der Frauen steht im Widerspruch zu machistischen und patriarchalen Ausformungen und einer Sozialpolitik, welche die geschlechtliche Arbeitsteilung vertieft. Die vorgegebene Demokratisierung der Meinungsfreiheit verdeckt die Verfolgung jedes kritischen Diskurses, der das Handeln der Regierung infrage stellt. Die soziale Teilhabe wird nur vorgetäuscht, um die Regierungspolitik zu unterstützen. Während der Diskurs der Regierung die Auslandsverschuldung infrage stellt, hat man nur den Kreditgeber gewechselt; wenn zu Beginn der neokoloniale Charakter der Freihandelsabkommen mit den USA verurteilt wurde, so verschuldet sich die Regierung heute mit der Unterzeichnung eines ›Handelsabkommens‹ mit der Europäischen Union, welches sich im Grund nicht von den vorherigen Freihandelsabkommen und deren Auflagen unterscheidet. Es wird viel von Ernährungssouveränität gesprochen, aber privilegiert wird das Agrobusiness und die Produktion für landwirtschaftliche Exporte.«3

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Manifest des Treffens von sozialen Bewegungen Ecuadors für Demokratie und Leben, 11.08.2011. http://ecualibre.blogspot.com/2011/08/manifiesto-del-encuentro-de-movimientos.html. In Ecuador haben die Kämpfe für die Verteidigung des Lebens, der Territorien und der Natur ein hohes Konfliktpotenzial erreicht und die Regierung hat mit Repression und Kriminalisierung des Protests geantwortet.

In Bolivien wurde der von Organisationen des Pacto de Unidad4 formulierte Vorschlag einer sozial-kommunalen Ökonomie als Leitlinie der nationalen Wirtschaft in dem Durchsetzungsprozess der neuen Verfassung abgelehnt und an dessen Stelle wurde die Wirtschaftsordnung einer pluralen Ökonomie durchgesetzt. Auf diese Weise ist nach dem Artikel 306 der neuen Verfassung »das ökonomische Modell Boliviens plural und darauf ausgerichtet, die Lebensqualität und das Wohlergehen von allen Bolivianerinnen und Bolivianern zu verbessern. Die plurale Ökonomie artikuliert verschiedene Formen ökonomischer Organisation (gemeinschaftliche, staatlich, privat und sozial-kooperativ) auf den Prinzipien der gegenseitigen Vervollständigung, Reziprozität, Solidarität, Umverteilung, Gleichheit, rechtliche Sicherheit, Nachhaltigkeit, Gleichgewicht, Gerechtigkeit und Transparenz. Die soziale und gemeinschaftliche Ökonomie ergänzt das Eigeninteresse um das kollektive Wohlergehen.« (Republik Bolivien 2009)

Dieser Wandel von einer sozial/gemeinschaftlichen hin zu einer pluralen Ökonomie erklärt sich in Hinblick auf die Regierungspartei, das Movimiento al Socialismo (MAS), weil in Bolivien nicht die historischen Bedingungen gegeben sind, um eine sozialistische5 Transformation des Staates und der Gesellschaft voranzubringen: Gründe sind ein gehemmtes Proletariat und die Schwäche des gemeinschaftlichen Landwirtschafts- und urbanen Potenzials (García Linera 2006). Der Vorschlag einer pluralen Ökonomie artikuliert sich mit dem sogenannten »Anden- und Amazonaskapitalismus«, der den Aufbau eines starken Staates beinhaltet, der die Ausbreitung der Industriewirtschaft reguliert, deren Überschüsse abschöpft und sie in die gemeinschaftliche Sphäre transferiert, um die Formen der Selbstverwaltung und 4

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Der Pacto de Unidad entstand in der Stadt Santa Cruz unter der Teilnahme von fast allen indigenen Organisationen des Ostens: die Central Sindical Ùnica de Trabajadores de Bolivia (CSUTCB), der Consejo Nacional de Ayllus y Marcas del Qullasuyo (CONAMAQ), die Confederación de Colonizadores de Bolivia, die Federación Nacional de Mujeres Campesinas Bartolina Sisa, das Movimiento Sin Tierra, die Coordinadora de Pueblos Étnicos de Santa Cruz, die Organización del Pueblo Mojeño und die Asamblea del Pueblo Guaraní. Der Pacto de Unidad wurde von der Notwendigkeit vorangetrieben, gemeinsame Forderungen zu stellen, vor allem eine souveräne verfassungsgebende Versammlung zu organisieren und mit einer breiten sozialen Partizipation einen institutionellen Raum für tiefgreifende Reformen der staatlichen und gesellschaftlichen Struktur Boliviens zu schaffen. Eine Diskussion über den Sozialismus als theoretisches Postulat und historische Erfahrung wäre hier unumgänglich. | 123

der andinen und amazonischen Handelsentwicklung zu stärken. Dies unter der Voraussetzung, dass das Gemeinschaftliche nicht weiterhin auf brutale Weise der Industriewirtschaft untergeordnet ist, dass das Moderne dem Gemeinschaftlichen nicht all sein Potenzial aussaugt und wegnimmt, sondern dass die autonome Entwicklung gefördert wird. Das neue soziale Subjekt dieser Idee wäre der aus Produktivleistungen wie dem Kunsthandwerk und Mikrounternehmen aufgestiegene neue indigene Geschäftsmann, der vom Staat unterstützt werden sollte, um sich als neues Bürgertum zu formieren. Diese Idee wurde stark hinterfragt, denn sie schlägt vor, dass der Anden- und Amazonaskapitalismus eine neue soziale Zusammensetzung der dominanten bürgerlichen Sektoren sucht, indem er das indigene Bürgertum fördert und die Grundlagen der kapitalistischen Akkumulation unangetastet lässt: der Privatbesitz an Produktionsmitteln, die andauernde Exportorientierung der Wirtschaft basierend auf der Ausbeutung von natürlichen Ressourcen und schließlich die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Die Regierung erkennt die Existenz eines gemeinschaftlichen Potenzials an, das die Möglichkeit einer gemeinschaftlich/sozialistischen Ordnung erahnen lässt, aber dafür müssten die noch bestehenden kleinen gemeinschaftlichen Netzwerke gefördert und unterstützt werden, sodass man aufgrund dessen zwei oder drei Jahrzehnte später an eine sozialistische Utopie denken könnte. Man erkennt also die Existenz eines gemeinschaftlichen Potenzials an, aber es ist noch nicht die Absicht der Regierung, auf konkrete Art und Weise ihre Wiederherstellung im Sinne einer kommunalen Wirtschaft und als zentrale Achse der Subjektivität zu entwerfen.6 Vor diesem Hintergrund nahm die 6

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Dem hält man entgegen, dass der Vorschlag einer »pluralen Ökonomie« unmöglich sei, da der Widerspruch zwischen der Überwindung der Ressourcen exportierenden kapitalistischen Akkumulation und der utopischen pluralen Ökonomie genau in den Charakteristika der Entwicklung des Systems bestehe: die auf dem Wettbewerb beruhende Konzentration und Zentralisierung, was das Nebeneinander –höchstens auf hierarchisch geordnete Art und Weise – der ökonomischen Interessen der Kleinproduzenten und derjenigen der Transnationalen verhindert. In diesem Kontext ist die größere staatliche Präsenz nur darauf ausgerichtet, die kapitalistische Akkumulation im Sinne größerer Staatseinnahmen zu fördern und eine populistische Politiken zu finanzieren, die, obwohl sie die Aufmerksamkeit auf die Produktion für den Binnenmarkt richtet, die gegenwärtigen Ordnung aufrecht erhält. Auf diese Weise beharren die Befürworter dieser wirtschaftlichen Maßnahmen, als Bedingung dieser kapitalistischen Akkumulation, auf dem Erfolg, die Preise stabil zu halten und den Ressourcenexport voranzutreiben, während die sozialen Folgen weiterhin hohe Arbeitslosigkeit, Armut und eine immense ungleiche Einkommensverteilung sind (Arze 2011). Zur Diskussion über die plurale Ökonomie siehe auch Samanamud (2011), Wanderley (2011), Prada Alcoreza (2011). Eine interessante Diskussion

Regierung von Evo Morales die Nationalisierung des Erdgases und den Erlass einer neuen Verfassung vor, aber er hat sich nicht von dem extraktivistisch/ entwicklungspolitischen/kapitalistischen Modell abgewandt. Stattdessen fördert er die Konsolidierung eines Staatsapparates, der die Produktion und Umverteilung der in der Ausbeutung von natürlichen Ressourcen gewonnenen Einkommen aufgrund dieser Nationalisierung kontrolliert. Diese Transformation des Staates wäre eine der Grundlagen, um die politische Souveränität gegenüber den imperialistischen Mächten zurückzugewinnen und die Industrialisierung der Erdgasproduktion zu finanzieren. Es existiert also ein Spannungsverhältnis zwischen der intensiven Ausbeutung von natürlichen Ressourcen und dem Umweltschutz sowie der Opposition der indigenen Bewegungen gegenüber den extraktivistischen Projekten, die ihre Territorien und Lebensweise bedrohen. Diese Opposition wurde von der Regierung als Widerstand gegen ›den Fortschritt‹ dargestellt, und die Bewegung wurde zudem beschuldigt, von der nationalen und internationalen Rechten unterstützt zu werden. Darüber hinaus hat die Regierung, wie im Falle des TIPNIS Projekts7, versucht, die Bewegung mit gewaltsamer Repression auseinanderzubringen – ohne dass es ihnen gelungen wäre.8 Die vom TIPNIS Projekt ausgehende Gewalt gegenüber den Indigenen hat die tatsächlichen Interessen der Regierungskoalition offengelegt, die im Diskurs auf internationalen Foren die Pachamama und ihre Rechte verteidigt, aber in der Innenpolitik entschieden anti-indigen ist, indem sie das extraktivistische Modell vertieft, ohne die neue Verfassung oder die den Indigenen über ihre Territorien zugestandenen Rechte zu respektierten. Eine weitere Tatsache,

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im Hinblick auf die solidarische und gemeinschaftliche Ökonomie im Prozess des bolivianischen Wandels findet man bei López (2012). Isidore Sécure Nationalterritorium und -park Der Staatschef ging mit den Sektoren, die sich diesem Projekt entgegenstellen, hart ins Gericht. Die höchste Autorität des CONAMAQ weigerte sich, gemeinsam mit der CIDOB gegen das Entwicklungsprojekt zu demonstrieren. In einer Rede (19.08.2011) widmete Präsident Evo Morales dem Thema der Autobahn zwischen Villa Tunari und San Ignacio de Moxos ein paar Minuten und kritisierte die Sektoren, die sich gegen den Bau zur Wehr setzten und bezeichnete sie als Verräter. Er zeigte sich auch darüber besorgt, dass sich einige politische Wortführer unter dem Vorwand, für den Umweltschutz einzutreten, von rechten Politikern beeinflussen lassen. Morales betonte, dass er nicht versteht, wie es möglich sei, dass diese Sektoren gegen Fortschritt, Integration und ökonomische Entwicklung des Landes sind. »Es gibt einige politische Führer mit einer verschlossen Haltung. Wenn sie dieses Projekt ablehnen, sind sie Verräter und das kann ich nicht verstehen«, hielt Morales fest. Quelle: http://eju.tv/2011/08/aumenta-tension-por-el-tipnis-evo-endureceataques-a-indgenas-que-rechazan-su- proyecto-carretero/, 19.08.2011. | 125

welche die paternalistische und rassistische Haltung der regierungsnahen Sektoren belegt, ist die Position der Confederación Sindical Única de Trabajadores Campesinos de Bolivia (CSUTCB), die dem Pacto de Unidad angehört und deren Vorsitzender, Roberto Coraite, auf einer Pressekonferenz Folgendes erklärte: »Man muss die dringendsten Notwendigkeiten anerkennen, man muss differenzieren können, welche unseren Brüdern im TIPNIS mehr Nutzen bringt; die Autobahn oder in der Versenkung zu verharren, Bedürftige oder Wilde [Hervorhebung des Autors] bleiben. Was ist das Wichtigste? Ich glaube, es sind diese Unterschiede, die man anerkennen muss [...]. Wir wollen nicht mehr, dass die Indigenen [im TIPNIS] wie Wilde leben,« »Wenn die Autobahn kommt, so wird sicher auch auf der Stelle Bildung kommen; wenn die Autobahn kommt, wird auch eine Gesundheitsvorsorge kommen, denn die Genossen kennen weder Gesundheit noch Medikamente«, so der Vorsitzender der CSUTB.9

Letztendlich und um die mehr als zwei Monate dauernde Demonstration zu beenden, erließ Präsident Evo Morales am 24.10.2011 ein Gesetz, das die Unantastbarkeit des TIPNIS sicherstellt, so wie es die indigenen Repräsentanten gefordert hatten.10 Der vom Kapital ausgeübte Druck, um die Akkumulation durch Enteignung zu vertiefen und auszuweiten, führt dazu, dass sich ein Großteil der sozialen Kräfte angesichts des autoritären und repressiven Wandels, der die sogenannte progressiven Regierungen charakterisiert, im Widerstand übt.11 Trotzdem ist es auch notwendig, der Formulierung von konkreten 9

Roberto Coraite von der CSUTCB bekräftigte, dass er hofft, dass die Autobahn dazu beiträgt, dass die Indigenen des TIPNIS nicht mehr als Hilfsbedürftige leben. Quelle: http://www.laprensa.com.bo/diario/actualidad/bolivia/20110906/roberto-coraite- de-la-csutcb-afirmo-que-desea-que-la-carretera-evite-que_5690_9859. html, 6.09.2011. 10 »Der Präsident verabschiedet die Gesetzesverordnung des TIPNIS«, Quelle: http://www.lostiempos.com/diario/actualidad/economia/20111025/el-presidente-promulga-la-ley-corta-del- tipnis_146889_303848.html, 25.10.2011. 11 Das geschieht aktuell in Ecuador, wo Folgendes bekräftigt wird: »Aber die andere Realität ist die der Bevölkerungen, der sozialen Bewegungen und Organisationen, die wir heute gegen dieses Modell demonstrieren, so wie wir gestern gegen den Neoliberalismus demonstriert haben: Wir sind nicht vor dem Autoritarismus der Regierung eingeknickt. In dem Maße wie sich der Charakter dieser Regierung verdeutlicht, spitzt sich die politische Auseinandersetzung zu und die soziale Mobilisierung beginnt. Wir haben hier diejenigen, die gegen den Bergbau kämpfen, für die Erhaltung der Mangrovenwälder, die Kämpfe der afro-Bevölkerung und der Kleinfischer, die Kämpfe der Umwelt- und Ökologiebewegung, der Lehrer 126 |

Alternativen, die sich im Buen Vivir inspirieren, größere Aufmerksamkeit zu schenken. Trotzdem, und im Vergleich zu den 1980er Jahren, als der räuberische Kapitalismus unaufhaltsam erschien und die emanzipatorischen Ideen gegenüber der Modernität/Kolonialität bezwungen schienen, befindet sich der Kapitalismus heute in einer tiefgreifenden Krise und es entsteht bereits ein alternativer Vorschlag einer Gesellschaft, der von den Bevölkerungen in Lateinamerika ausgeht und sich auf überliefertes Wissen stützt. Es ist die Wiederaneignung, ohne Fundamentalismen, einer andinen Rationalität (basierend auf der Reziprozität und der Solidarität in der kollektiven Arbeit), die sich mit den größten Versprechen der historischen Vernunft (Gleichheit, Freiheit, Solidarität, Demokratie) artikuliert, um die Grundsteine einer anderen Rationalität zu legen, welche das soziale Handeln in die Richtung einer definitiven Emanzipation der Menschheit führt und dies ausgehend vom Respekt gegenüber der Natur.

Einige zentrale Elemente der ökonomischen Diskussion Die Diskussion, wie das soziale Leben ausgehend vom Buen Vivir organisiert wird, ist innerhalb der Auseinandersetzungen um die extraktivistische Entwicklungspolitik in Ecuador und Bolivien unausweichlich. Im letzteren Falle löste der Widerstand gegen die geplante Zerstörung des TIPNIS, den die Regierung gewaltsam stoppen wollte, eine Diskussion über den Charakter der sozialen Interessen aus, welche die dem Extraktivismus verpflichtete Regierung verteidigt, während sie gleichzeitig die Indigenen, die sich gegen diese Entwicklung stemmen, als »Wilde« kritisiert. Parallel dazu, aber von der anderen Seite aus, von denjenigen, die den Schutz des TIPNIS verteidigen, erwächst eine Debatte darüber, wie man auf konkrete Weise zum Buen Vivir kommen kann und was das im Verhältnis zum ökonomischen Wachstum und Wohlstand der Bevölkerung bedeuten kann. In diesem Zusammenhang stellt Zibechi (2011) fest: und Lehrerinnen, der Studierenden, der feministischen Bewegungen und der Bewegung für geschlechtliche Diversität, die Kämpfe der öffentlichen Angestellten, die Mobilisierung der Kleinhändler, der indigene und bäuerliche Aufstand für Wasser und Land und für den Aufbau eines plurinationalen Staates, die Kämpfe der Bewohner der Armensiedlungen; hier haben wir das deutliche NEIN zur Abstimmung am 7. Mai.« Quelle: »Manifest des Treffens sozialer Bewegungen Ecuadors für Demokratie und Leben«, http://ecualibre.blogspot.com/2011/08/ manifiesto-del-encuentro-de-movimientos.html, 11.08.2001 | 127

»Der springende Punkt ist, welchen Weg die Bevölkerungen, die Bolivien bewohnen, beschreiten möchten. Und das ist die schwierigste, die dornigste Frage, die wir auch am Wenigsten diskutieren. Kann denn jemand ignorieren, dass das Buen Vivir und die Nicht-Ausbeutung der Natur, den Zugang zum Konsum für große Teile der Bevölkerung verhindern würde? Ist es möglich, eine nichtparadigmatische Entwicklungspolitik eines leichten ökonomischen Wachstums mit der Mindestversorgung von Bedürfnissen wie Ernährung, Gesundheit und Bildung für die gesamte Bevölkerung zu kombinieren?«

Diese Auseinandersetzung ist fundamental, weil sich die Ökonomien der ›progressiven‹ Regierungen auf den Extraktivismus stützen, der die Devisen, Steuereinnahmen und Investitionen sichert. Die sofortige Beendigung dieses Extraktivismus würde in diesen Ländern einen Großteil der Wirtschaft paralysieren.12 Dieser Idee nachzugehen, bedeutet, die Lehren des gescheiterten real existierenden Sozialismus wieder zu beleben sowie eine Auseinandersetzung darüber, wie eine Ökonomie auf der Basis von sozialen Beziehungen der Reziprozität organisiert werden kann. Also wie die Produktion organisiert werden würde, wenn man das wiederaneignete, was für Mariátegui der »praktische Sozialismus«, basierend auf einem »gemeinschaftlichen Geist« von Kooperation, Reziprozität und Solidarität, war. Deswegen müssen verschiedene Elemente betrachtet werden, unter anderem die Energieversorgung, das Eigentum, die Artikulation zwischen dem Individuellem und Kollektivem, die Produktion, Distribution und der Konsum. Also all jene Charakteristika dieser neuen Produktions- und Akkumulationsidee innerhalb des Buen Vivir, die darauf ausgerichtet sind, die soziale Ausbeutung wie auch die der Natur zu beenden und die Deskolonisierung der Macht in den anderen Bereichen der sozialen Existenz zu stärken. Dieses Akkumulationsmodell muss ausgehend von den finanziellen Ressourcen konstruiert und gefördert werden, die durch das Extraktivismusmodell entstehen. Letzteres Modell muss dem ersten als Grundlage und als Beginn eines die Macht deskolonisierenden Prozesses untergeordnet werden. Wenn man von den existierenden sozialen Praktiken, den bäuerlich/indigenen, solidarischen, ökologischen ausgeht, dann zeichnet sich insgesamt Folgendes ab: 12 Im Falle Perus stellt eine aktuelle Studie fest, dass zwischen 2007 und 2010 der Extraktivismus 70% der Exporte, 40% der Steuereinnahmen und 20% der privaten Investitionen schuf (Sotelo und Dancourt 2011). 128 |

1) Die Energieversorgung der Produktion basiert auf landwirtschaftsökologischen Praktiken, bei denen Sonnenenergie gewonnen wird, um Güter, Materie und Energie zu produzieren. Es handelt sich nach Leff um »den Aufbau einer auf Photosynthese beruhenden Ökonomie, welche Sonnenenergie in Biomasse transformiert, was einen Neubedeutungsprozess des Lebens und der menschlichen Existenz sowie der Wiederaneignung der Natur impliziert. Und nicht nur eine produktive Wideraneignung, denn die kulturelle Kreativität ist nicht nur die einer produktiven Effizienz, sondern der Ideen und der Werte, die man der Natur als Lebensraum und als Ort der kulturellen Wiederbelebung zuordnet.«13

Das setzt den Aufbau einer neuen Ökonomie und einer neuen Art zu leben voraus, die auf einem Gleichgewicht zwischen Entropie und Negentropie14 besteht, also zwischen der Menge an Energie, die auf unwiderrufliche Weise nicht mehr nutzbar ist, und jener, die sich täglich erneuert. Der Beweis dieser Möglichkeit liegt in der täglichen Praxis von Tausenden bäuerlich/ indigenen Produzenten, die das überlieferte Wissen aufrecht erhalten und bereichern sowie eine reziproke und komplementäre Beziehung mit der Natur eingehen. Toledo und Barrera-Bassols (2008: 55-57) behaupten, dass die Subsistenz von Bauern mehr im ökologischen Tausch (mit der Natur) als im ökonomi13 Leff: »In Richtung einer Umweltrationalität.« Quelle: http://www.agua.org.mx/ index2.php?option=com_content&do_pdf=1&id=6861, ohne Datum. Siehe auch Leff (2004). 14 Die Negentropie, oder auch negative Entropie oder Syntropie, eines lebendigen Systems ist die Entropie, welche das System absondert, um seine Entropie niedrig zu halten; sie befindet sich an der Überlagerung zwischen Entropie und dem Leben. In der Thermodynamik ist die Entropie die physikalische Größe, die es anhand von Berechnung erlaubt, den Teil der Energie zu bestimmen, der nicht gebraucht werden kann, um Arbeit zu verrichten (in der klassischen Mechanik ist die Arbeit, welche eine Kraft auf einen Körper bewirkt, gleich der notwenigen Energie, um diesen Körper zu bewegen). Die Entropie beschreibt das Unwiderrufliche von thermodynamischen Systemen und weist auf die Entstehung von Unordnung hin, der Abbauprozesse nach dem zweiten thermodynamischen Gesetz charakterisiert. Verknüpft ist sie mit dem Grad der möglichen Mikrozustände von Materie und Energie eines Systems, was die Menge an nicht zu gebrauchender Energie eines Systems bedeuten würde. So wie es das zweite Gesetz beschreibt, wandelt sich Energie um, kann aber nicht erschaffen oder zerstört werden. Diese Umwandlung neigt dazu, sich auf ungeordnete, chaotische Weise zu vollziehen und kann also nicht zur Arbeit benutzt werden. So hat Wasser im Gaszustand, mit seinen verteilten und voneinander entfernten Molekülen, mehr Entropie als Wasser im flüssigen Zustand mit mehr zusammenhängenden und geordneten Molekülen. | 129

schen Tausch (mit dem Markt) besteht und dass sie daher gezwungen sind, Überlebensmechanismen anzuwenden, die den ununterbrochenen Fluss zwischen Gütern, Materie und Energie garantieren. Indigene Haushalte neigen dazu, eine nicht spezialisierte Produktion auf der Basis des Prinzips der Diversität von Ressourcen und Praktiken zu realisieren. Das impliziert, den maximalen Nutzen aus allen verfügbaren Landschaften, dem Recycling von Materialen, Energien und Abfall, der Diversifizierung von erwirtschafteten Produkten und vor allem der Integration von verschiedenen Praktiken zu ziehen: Ackerbau, Sammeln, Forstwirtschaft, Forstlandbau, Fischerei, Jagd, Viehzucht und Kunsthandwerk. Die Autoren bekräftigen zudem, dass »sich hinter dieser Art und Weise, das Überleben zu sichern, eine ökonomische Rationalität mit Schwerpunkt auf den Gebrauchswerten verbirgt, sodass die Produzenten dazu gezwungen sind, eine Strategie anzunehmen, welche die Vielfalt der generierten Produkte maximiert, um die Bedürfnisse eines Haushalts über das Jahr zu sicherzustellen.« (ebd: 56) »Diese Rationalität, eine duale ökologische und ökonomische Logik, um die lokalen Bedürfnisse sicherzustellen, während man gewissen Hindernissen (klimatischen, Mangel an Arbeitskraft, Kapital und Land) begegnet, zeigt sich durch den multiplen Gebrauch und Nutzen in den lokalen Kontexten, indem man sich auf soziale und kulturelle Netzwerke von Reziprozität und Verantwortung innerhalb des Haushaltes, des Ortsteils und der gesamten Gemeinschaft verlässt.« (Toledo 2008. 107)15

Daher orientieren die indigenen Bauern – die Campesindios (nach Bartra: 2010a) – ihre Handlungen nach einer ökonomisch/ökologischen Rationalität, welche die Sonnenenergie ausnutzt und den Gebrauch von Ressourcen und Praktiken diversifiziert, um ihre Reproduktion zu ermöglichen. All dies ausgehend von einer überwiegend auf Gebrauchswerten beruhenden Produktion.16 Diese auf einer gemischten ökologisch-ökonomischen Rationalität beruhende Strategie, zu großem Teil von Postulaten aus der ökologischen 15 In diese Analyse müssten die internen Konflikte, die Prozesse von sozialer Differenzierung, die interne/externe Verfolgung, die Spannung zwischen Reziprozität und Markt sowie anderen Faktoren einfließen, um das bäuerlich/indigene Leben in diesem historischen Abschnitt zu kontextualisieren. 16 Zur Diskussion über eine bäuerlich/indigene Rationalität, siehe Golte (1980), der die Rationalität der andinen Organisation hervorhebt, da versucht würde »den Gebrauch der Diversität und der Arbeitskraft zu maximieren«. 130 |

Landwirtschaft und Forstwirtschaft beeinflusst, stimuliert die Entwicklung und Vervielfältigung von Produktionssystemen. Die Wichtigkeit und Tragweite von landwirtschaftsökologischen bäuerlich/indigenen Praktiken wird von verschiedenen Studien bestärkt. Eine davon wurde 2009 von Boege und Carranza anhand sechs mexikanischer Beispiele17 durchgeführt und kommt zu dem Schluss, dass die nachhaltige bäuerlich/indigene Landwirtschaft, zu Lösungen für Umwelt-, Sozial-, Kultur- und Genderproblematiken beitragen kann. Die Autoren schlussfolgern, dass die nachhaltige bäuerliche und indigene Landwirtschaft ein effizientes Instrument ist, um Problemen wie dem Bodenverfall, Wüstenbildung und Urwaldabholzung zu begegnen als auch dem Verlust von einheimischen Samen, den Armuts- und Sicherheitsproblemen sowie der fehlenden Ernährungssouveränität. Die indigenen Bauern können also in einem regionalen Rahmen Erfahrungen gewinnen, die eine Referenz für staatliche Politiken sein könnten. Die beschriebenen Erfahrungen zeigen zudem, dass die nachhaltige Landwirtschaft Alternativen für die Regionen und Territorien von indigenen Bevölkerungen darstellt, um sich gegen Probleme der Transgenetik, der Eigentumsrechte von einheimischen Samen und Zuchtpflanzen zu wehren und die Kultur der ursprünglichen amerikanischen Bevölkerung zu schützen. In diesen Gebieten löst die traditionelle Landwirtschaft, so wie sie sich heute zeigt, nicht die Probleme der niedrigen Produktivität des Bodens oder der Umweltzerstörung, während die Praktiken der industriellen Landwirtschaft, welche diese Gebiete durchdringen, vom ökonomischen (aufgrund des hohen Investitionsaufwands), sozialen (sie haben keinen Zugang zu diesen Investitionen) und ökologischen (diese Praktiken zerstören die Ökosysteme) Standpunkt nicht möglich erscheinen. Diese Projekte kämpfen tagtäglich gegen die Hilfsprogramme der Regierung, die eine Antithese der nachhaltigen Landwirtschaftsphilosophie sind. Darüber hinaus, läuft in den Regionen, wo die ARIC-UUID und DESMI tätig, sind ein Krieg niedriger Intensität gegenüber den Indigenen und das Territorium wird zunehmend militarisiert. Eine andere Studie, die in den Regionen Chiapas (Schafzucht), Yucatán (Baumwolle), Michoacán (Mais) in Mexiko, Tarapoto (Baumwolle) in Peru, 17 Asociación Rural de Interés Colectivo, Unión de Uniones Independiente y Democrática (ARIC UUID), Promotores de Calakmul, Centro de Desarrollo Integral Campesino de La Mixteca (CEDICAM), Desarrollo Económico Social de los Mexicanos Indígenas (DESMI), Unión de Organizaciones de la Sierra Juárez (UNOSJO) und Grupo Vicente Guerrero (GVG). | 131

Parabaíba (Landwirtschaft und Viehzucht) in Brasilien und Chullpakasa (Landwirtschaft, Viehzucht und Forstwirtschaft) in Bolivien durchgeführt wurde, zeigt zudem die Potenzialitäten von alternativen landwirtschaftsökologischen Systemen – im Gegensatz zu traditionellen Systemen – im Hinblick auf Arten- und Raumvielfalt, Erhalt des Bodens und allgemein auf natürliche Ressourcen und einen effizienteren Gebrauch von internem und externem Input18. Diese Vorteile übertragen sich auf eine größere Gesamtproduktivität sowie die Entstehung von größeren Gelderträgen und reduzieren die Abhängigkeit vom nicht-landwirtschaftlichen Nebenerwerb. Außerdem wird die Praxis der Reziprozität zwischen Erzeugerfamilien sowie die breitere lokale Entscheidungsfindung durch mehr Partizipation betont. Zugleich zeigt diese Studie einige Schwierigkeiten auf, darunter die bedeutsame Steigerung der Produktionskosten und die Abhängigkeit von einer größeren Anzahl an externen Produkten in den ersten Jahren der Einführung der alternativen Systeme, die Preisstagnation im Verkauf, wenn dieser nicht entsprechend organisiert ist, und schließlich die nur langsame Anpassung der alternativen Systeme (Astier 2007: 256-258). 2) Das Konzept der Effizienz: Wenn das Leben im Buen Vivir auf der Reproduktion des Lebens und dem Respekt gegenüber der Natur basiert und als Fundament eine befreiende Rationalität hat, dann darf das Kriterium der Produktionseffizienz nicht die Produktionsgröße pro Hektar oder der erzeugte Wert pro Hektar im Verhältnis zu den Produktionskosten sein. Das Wichtigste müsste ein Produktivitätskriterium sein, das ökologische, soziale und wirtschaftliche Kriterien kombiniert, also das den Naturschutz und die Produktion von Energie und Biomasse beinhaltet sowie eine Entlohnung der Arbeit, um die Grundbedürfnisse zu befriedigen, die Förderung von Autonomie und den ökonomisch erzeugten/investierten Wert. In diesem Sinne wird von der ökologischen Landwirtschaft der Vergleich zwischen der landwirtschaftlichen und der landwirtschaftsökologischen Produktion ausgehend von einem spezifischen Produkt pro Flächeneinheit kritisiert, indem man das Kriterium des Ertrags benutzt, um zu argumentieren, dass die Landwirtschaft der grünen Revolution mehr als die ökologische Landwirtschaft produziert. Man sollte in jedem Fall die Gesamtproduktivität betrachten, da man in der herkömmlichen Landwirtschaft nur ein Produkt 18 Damit unterscheidet man die inner- oder außerhalb der Parzelle hergestellten Produkte (Anm. d. Hrsg.). 132 |

und in der ökologischen mehrere erhält, da es sich um eine diversifizierte Produktion handelt (Landwirtschaft, Viehzucht, Forstlandbau). Aber die Wichtigkeit der landwirtschaftsökologischen Idee erschöpft sich nicht in der Gesamtproduktivität, sondern bezieht sich auch auf andere Bereiche. Auf der einen Seite trägt sie zum Naturschutz und zum Wohlbefinden der Produzenten und Konsumenten bei. Auf der anderen ermöglicht sie einen Weg in Richtung der Desmerkantilisierung der landwirtschaftlichen Produktionsprozesse und die Möglichkeit einer gewissen Autonomie gegenüber dem Input des Landwirtschaftsbusiness, da im Sinne der Konzeption der ökologischen Landwirtschaft der Input nicht mehr notwendig ist. Denn innerhalb der ökologischen Landwirtschaft bleibt das Saatgut und alles Notwendige zur Düngung des Bodens und zur Krankheits- und Seuchenbekämpfung erhalten.19 Daher muss die Frage der Effizienz den Respekt gegenüber der Natur und das volle human development in Betracht ziehen. Letzteres muss die Abschaffung der entfremdeten Arbeit bedeuten, also dem Arbeiter die Kontrolle über den Arbeitsprozess zurückgeben.20 3) Die Bedürfnisse und die Produktion: Das Buen Vivir verlangt eine Neudefinition der sozialen Bedürfnisse in Anbetracht aller physiologischen und kulturellen Aspekte, in Einheit mit dem Respekt gegenüber der Natur und der ›Dematerialisierung‹ des Wohlbefindens und des Glücks. Neff (1986) argumentiert, dass man ursprünglich geglaubt habe, dass die menschlichen Bedürfnisse unendlich seien; dass sie sich ständig veränderten; dass sie von einer Kultur zur anderen abwichen und in jeder historischen Epoche unterschiedlich seien. Aber solche Vermutungen sind falsch, da sie das Produkt eines konzeptuellen Fehlers sind, der darin besteht, dass man die Bedürfnisse mit den Möglichkeiten verwechselt, diese zu befriedigen. Daher hält dieser Autor fest, dass die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse endlich, gering und klassifizierbar und in allen Kulturen und allen historischen Epochen die gleichen sind. Was sich mit der Zeit und über Kulturen verändert, sind die Mittel oder Möglichkeiten zur Befriedigung der Bedürfnisse. Die grundlegenden Bedürfnisse sind: Subsistenz (Gesundheit, Ernährung, etc.), 19 In einer Unterhaltung mit Peter Rosset, Berater von Vía Campesina in San Cristóbal de Las Casas, Chiapas, November 2011. Siehe auch Asociación Nacional de Agricultores Pequeños, Vía Campesina und Centro de Estudios para el cambio en el campo Mexicano (2011) für eine detaillierte Analyse der Fortschritte in der ökologischen Landwirtschaft in Kuba. 20 Eine Sicht des Sozialismus des 21. Jahrhunderts auf dieses Thema, siehe Harnecker (2010). | 133

Schutz (Sicherheits- und Vorsorgesysteme, Behausung, etc.), Affekt (Familie, Freundschaften, Privatsphäre, etc.), Verständnis (Erziehung/Bildung, Kommunikation, etc.), Teilhabe (Rechte, Verantwortungen, Arbeit, etc.), Muße (Spiele, Spektakel, etc.), Kreation (Geschicke, Fertigkeiten), Identität (Referenzgruppen, Sexualität, Werte), Freiheit (gleiche Rechte). Die Bestimmung der Bedürfnisse und der Produktion wäre das Ergebnis eines demokratischen Konsenses und könnte ausgehend von einer partizipativen und dezentralisierten Planung geschehen. Das Verhältnis zwischen Produktion und Konsum wäre lokal verortet und würde zur Selbstversorgung tendieren sodass sich der Tausch auf komplementäre Weise realisieren ließe (Toledo 2006; Barkin 2011). 4) Das Thema der Eigentums- und Produktionsverhältnisse ist sehr kontrovers, da ausgehend vom Marxismus, der den real existierenden Sozialismus aufrecht erhielt, die Vorstellung vertreten wird, dass das Eigentum an Land und auch die Organisation der Arbeit kollektiv sein muss, da es das Privateigentum ist, das per se die Quelle von Beherrschung ist. Aus dieser Perspektive wäre die Alternative zum privaten das staatliche Eigentum, was aber die Diskussion über das Eigentum in eine Sackgasse führen würde. Denn trotzdem zeigt die historische Erfahrung, dass die Abschaffung des Privateigentums, ersetzt durch das staatliche (im real existierenden Sozialismus oder in nationalistischen Regimes), nicht notwendigerweise die Abschaffung der Ausbeutung oder Beherrschung bedeutet (Quijano 2007). Deswegen müsste die Debatte über die Eigentumsformen erweitert werden: »Dies gilt für die grundlegende Institution des Eigentums. Hier darf es kein a priori geben, keine vorgefertigte absolute Priorität zugunsten einer bestimmten Eigentumsmodalität. Es darf außerdem kein Naturrecht für das (kapitalistische) Privateigentum geben, so wenig wie für das staatliche Eigentum über Produktionsmittel als einzige Alternative. Es ist eben genau diese verabsolutierte falsche Alternative, welche die Welt in diese fast verzweifelte Lage gebracht hat, in der sie sich befindet und sie in Richtung Abgrund treibt« (Duchrow und Hinkelammert 2007: 339).

Patzi (2010) schlägt ausgehend von der bolivianischen Erfahrung eine Organisation der Produktion auf individueller und/oder kollektiver Eigentumsbasis vor, die als Ziel die Überwindung der Ausbeutung von Arbeitskraft hat, sodass es weder Kauf noch Verkauf von Arbeitskraft gibt und eine Ökonomie von direkten Produzenten organisiert wird. Es würde darum 134 |

gehen, kommunale Betriebe zu errichten, in denen auf eigene Rechnung und im Sinne der Bauern und Indigenen produziert wird. Im ersten Falle würde der Zusammenschluss der Arbeiter im Hinblick auf, unter anderem, technologische Erneuerungen und Verkauf gefördert werden oder in einer größeren vergemeinschafteten Instanz würde der gemeinsamen Produktion und dem gemeinsamen Verkauf nachgegangen werden. Wenn es sich hier um Bauern und Indigene handelt, die ein gemeinschaftliches und im erweiterten Sinne familiär/privates Eigentum haben, das auf individuell/familiäre Weise genutzt wird, wäre ein Zusammenschluss nicht notwendig, da sie bereits als Gemeinschaften bestehen. Sie müssten mit verschiedenen ökonomischen Instrumenten unterstützt werden, damit sie in Selbstverwaltung kommunale Betriebe bilden könnten, die sich der Herstellung und Industrialisierung ihrer Produkte widmen, um ihre Ökonomien zu stärken und ihre Beschaffenheit als Subsistenzökonomien zu überwinden. Der Überschuss wäre vor allem für die Produzenten selbst bestimmt, falls keine Abgaben gegenüber dem Staat oder demselben kommunalen Betrieb zu dessen Erweiterung abgezogen würden. Zuletzt setzt die Stärkung der kommunalen Ökonomie eine ursprüngliche Akkumulation voraus, sodass der Staat die kommunalen Betriebe in den Bereichen Technologie, Vertrieb und Infrastruktur unterstützten müsste (Patzi 2010).21 Barkin und Rosas (2006) behaupten auch, dass das Eigentum nicht notwendigerweise kollektiv sein muss, da das Wichtigste die kollektive, kommunale Verwendung des Landes sowie die gesellschaftliche Verteilung des Überschusses ist. Nach unterschiedlichen, in verschiedenen Ländern Lateinamerikas durchgeführten Forschungen weisen die wirtschaftlichen Organisationsformen der bäuerlichen Sektoren Strukturen gemischten Eigentums auf. Land kann privat sein und individuell verwaltet werden, aber Aufkauf, Transformation und Verkauf geschehen auf kollektiver Basis, ebenso wie die Aufteilung des Überschusses. Dies ist der Fall in Mexiko bei den Kaffeekooperativen Tosepan Titataniske (Bartra, Cobo und Paz 2004) und Yeni Navan, der ›Gesellschaft für soziale Solidarität in der Produktion, der Verarbeitung und dem Vertrieb von organischem Sesam‹ (Comunidades Campesinas en Camino), einer Kooperative für den Anbau von Avocado (Cupanda), und 21 Bei Mier Aliaga (2009), Ferreira (2010) und Soza Soruco (2010) findet man eine vom orthodoxen Marxismus ausgehende Diskussion, in der die unumgängliche Notwendigkeit argumentiert wird, das Privateigentum abzuschaffen, um ein sozialistisches Projekt voranzutreiben. | 135

einer Kooperative für Tomatenanbau und -export (Unidad, Desarrollo y Compromiso). Mit Ausnahme von Cupanda und Yeni Navan zeigen alle anderen eine große Diversität an Aktivitäten und Produkten (Marañon, i.E.). In Peru ist die Central de Cooperativas Agrarias Cafeteleras (Cocla) hervorzuheben (Remy 2007), im Falle Boliviens vor allem El Ceibo in der Produktion von Kakao und Schokolade (Hillekamp 2006), CORACA Irupana in der Produktion von Kaffee, Amaranth und Honig sowie die Compañia de Productos de Camélidos (COROCA) in der Produktion von Alpakawolle und -kleidung (López Córdova 2012); und schließlich die Movimiento de los sin tierra in Brasilien (Zibechi 2007). Besondere Erwähnung verdienen die zapatistischen Bemühungen in Chiapas, eine Ökonomie auf Basis von Autonomie, ökologischer Landwirtschaft und genossenschaftlichen Prinzipien zu organisieren und die Handelsaktivitäten den Beziehungen der Reziprozität unterzuordnen, indem eigene Vertriebsnetzwerke im Widerstand und durch nationale und internationale Solidaritäten aufgebaut werden, um das in ihren Territorien produzierte Kunsthandwerk und organischen Kaffee zu verkaufen. Bei der zapatistischen Alternative muss außerdem die Ablehnung von staatlichen oder internationalen Hilfestellungen sowie der Widerstand gegen die Kommerzialisierung unter dem kapitalistischen Markt hervorgehoben werden (Gerber 2004). Dieses Ensemble an Erfahrungen bezieht sich auf eine landwirtschaftliche Aktivität und die darin entstehenden neuen soziale Beziehungen, die als Basis das Territorium und den Schutz der Natur haben, aber gleichzeitig die Deskolonisierung der Macht mit unterschiedlichen Rhythmen und Betonungen in den grundlegenden Bereichen der Beherrschung, der Ausbeutung und des Konflikts innerhalb der sozialen Existenz (Arbeit, Subjektivität, kollektive Autorität, Sex) vorantreiben. Man kann auch andere Erfahrungen im städtischen Kontext beobachten, organisiert als Widerstände gegen die Zerstörung von Lohnarbeit und die auferlegte Merkantilisierung des Lebens. Viele davon organisieren sich innerhalb von Kooperativen, in denen das kollektive Eigentum der grundlegenden Produktionsmittel sowie die Selbstverwaltung Voraussetzungen sind, wie im Falle der mexikanischen Reifenfabrik TRADOC (Díaz 2011; Luna 2010), in der Produktion von Fruchtsaftgetränken bei der Cooperativa Pascual Boing (Marañon 2011a) und bei einer großen Anzahl von wieder angeeigneten (recuperadas i.O.) Firmen und Fabriken, vor allem in Argentinien und Brasilien (Rebón 2007; Marañon 2011a).

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5) Die Produktivorganisationen haben eine nicht-kapitalistische ökonomische Ausrichtung, die auf die Herstellung von Gebrauchswerten zielt, und die sozialen Beziehungen werden in Reziprozität hergestellt. Trotzdem erhalten die Organisationen einen Teil ihrer Einkommen über den Markt statt über den Verkauf von Produkten, da eine Reproduktion nur über Gebrauchswerte nicht möglich ist. Im Alltag gibt es somit eine Spannung zwischen den Reziprozitäts- und Marktmustern, bei denen Erstere zwar dominieren, aber nicht endgültig, da es Druck von außen und von innen gibt, der versucht, die solidarischen Organisationen zu destrukturieren (der staatliche Klientelismus, die niedrigen Preise der importierten Produkte, die interne Differenzierung). 6) Die Arbeit hat im seltensten Falle den Charakter von Lohnarbeit, da die landwirtschaftliche Produktion Familienarbeit ist und durch gegenseitige Hilfe und, falls nötig – wie in spezifischen Phasen, z.B. der Ernte –, durch Lohnarbeit komplementiert wird. In den gemeinsamen Phasen von Verarbeitung und Verkauf können gewisse Arbeiter bezahlt werden, während die Mitglieder der Organisationen, die administrative Aufgaben übernehmen, auch eine monetäre Entlohnung erhalten. Alle Mitgesellschafter erfüllen während ihres Lebens gesellschaftliche ›Dienste‹ oder verschiedene Beiträge durch ihre Arbeitskraft in verschiedenen Posten und erhalten meistens keinen Lohn, aber doch einen monatlichen Ausgleich. Auf diese Weise stellen Reziprozität als soziales Produktionsverhältnis und die ökologische Landwirtschaft zwei zentrale Mechanismen im Desmerkantilisierungsprozess der Produktion und des Lebens dar.22 7) Die Produktion ist vor allem für den Markt bestimmt, in gewissen Fällen für den fairen Handel, aber insgesamt geht der Großteil der Produktion auf konventionelle, urbane Märkte. Das Besondere ist, dass es keine dichte und solide Verknüpfung zwischen Produktion und Konsum gibt. Die auf einer reziproken und solidarischen Basis realisierte Produktion, schafft es nicht, von engagierten und solidarischen Konsumenten gekauft zu werden, was die Notwendigkeit aufzeigt, die Organisation des Konsums zu stimulieren – durch Organisation von Käufergruppen verschiedener Modalitäten (Konsumkooperativen, Versorgungsgruppen) und der Förderung von 22 Empfehlenswert ist die Arbeit von Ledezma Rivera (2003), um die Reziprozität als soziale Beziehung und gleichzeitig als eine nicht-monetäre Strategie der landwirtschaftlichen Produktion zu verstehen. | 137

solidarischen Märkten. Wenn die Verknüpfungen zwischen Produktion und Konsum unbedeutend sind (das gleiche geschieht in der produktiven und finanziellen Verkettung), dann sind auch die Bindungen zwischen solidarischen Betrieben sehr gering. Dies weist auf die Abwesenheit von solidarischen ökonomischen Kreisläufen hin, verstanden als die physischen und monetären Flüsse, die entstehen, um in sozialen Beziehungen von Reziprozität Güter herzustellen und die Grundbedürfnisse zu befriedigen. Das ist mit der Notwendigkeit verbunden, einen Akkumulationsprozess des Buen Vivir zu denken, also eine Ansammlung von die solidarischen Produktionen durch Produktions-, Handels-, und Transformationsmaterial unterstützenden Maßnahmen. Auf diese Weise halten Barkin und Lemus (2011: xx) fest, dass »die Wichtigkeit des Handels anzuerkennen, ein weiteres zentrales Element in der Konfiguration der solidarischen Ökonomie aufzeigt: die Marktstruktur, an der die Gemeinschaften und ihre Umfelder teilnehmen. In der dominanten Ökonomie leidet der Großteil der Kleinproduzenten an einem ungünstigen Zugang zu den Distributionsmärkten ihrer Produkte; und auch wenn sie es als Gruppe schaffen, bleiben die Handelstrukturen diskriminierend und bestrafen die angebotenen Preise aufs Härteste. Als eine Konsequenz ist es fundamental, dem Problem der Warenzirkulation – des Tausches – nachzugehen. Zunächst für bessere Bedingungen und darauf aufbauend für bessere Möglichkeiten, die produzierten Überschüsse für eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen zu nutzen, so wie die Fähigkeit, ihre Produktions-, Sozial- und Umweltinfrastrukturen zu konsolidieren und auszudehnen.«

8) Der Kampf ums Überleben und das Leben im Widerstand geschieht in der kollektiven Organisation über die Wiederherstellung der solidarischen kollektiven Arbeit auf der Basis von Reziprozität. Zunächst muss aber ein Problem im Verkauf und der daraus resultierenden Kontrolle des Überschusses gelöst werden: die Ausbeutung durch die Mittelsmänner – in Mexiko ›Koyoten‹ genannt –, da so auch Verarbeitung und Verkauf realisiert werden. In diesen Prozessen entstehen verschiedene Spannungen zwischen Akkumulation/Redistribution, Rentabilität/Leistung, Legitimität/ ökonomische Durchführbarkeit, Demokratie/Rentabilität und die bereits erwähnte zwischen Reziprozität/Markt. Bei all diesen muss man sich die Notwenigkeit in Erinnerung rufen, die interne soziale Zusammensetzung zu stärken (Marañon, i.E.). Diese Strategien müssen kritisch beurteilt werden, 138 |

weil die Kontrolle des Überschusses mit einer gemeinschaftlich beschlossenen Strategie einhergehen muss, den Überschuss durch den Aufbau von Handelsnetzwerken von sozialem und solidarischem Charakter zu stärken. Diese sollten rück- und vorwärts blickend Produktionsmuster als Teil einer politischen Entscheidung bilden, in der man vom Widerstand in die Richtung expliziter Konstruktion von Marktalternativen geht, während man gleichzeitig eine Artikulation zwischen Produktion und Konsum herstellt und ein Akkumulationsmodell umreißt, dass auf dem Buen Vivir gründet.23 9) Jede Erfahrung in der Produktion, die auf dem Respekt gegenüber der Natur und der Reziprozität aufbaut, bildet sich in einem Raum, in einem spezifischen Territorium, in einem Ort heraus. Also ist das Territorium ein sozialer Raum, denn in ihm sind die sozialen Produktions- und Reproduktionsbeziehungen der Gruppen, die ihn bewohnen, eingebettet. Außerdem ist das Territorium durch symbolische Repräsentationen konstruiert, die es erlauben, dass sich soziale Beziehungen in einem System von Koexistenz und Kohäsion unter den sozialen Gruppen erhalten, so wie die Art und Weise, wie diese Gruppen das Territorium wahrnehmen, erfahren und darin leben (Rodríguez 2010). So wie es ein Bewohner von San Mateo Atenco in Mexiko betont, einer Siedlung, die gegen die Enteignung aufgrund des Flughafenneubaus in Mexiko Stadt kämpfte, bildet sich ausgehend von Widerständen gegen die Landvertreibung ein Territorium heraus: »Wir sehen das Land als unsere Mutter, denn von ihr erhalten wir alles, was wir brauchen, dort werden wir geboren, dort essen wir, davon leben wir und sie gibt uns das, was wir brauchen, etwas, das in unserer Kosmovision noch größer ist.« (Grajales und Robles 2010: 91)

Somit ist das Land für Gemeinden und Bevölkerungen ein praktisch und semantisch multipler Raum, ausgehend von den sozialen Beziehungen zwischen Menschen und der Natur, die sich in Ritualen ausdrücken, und ein Produkt und Produzent von Identität. Das Land ist eine sozial erschaffene Identität, ein kultureller und mit Eigenschaften ausgestatteter Raum (Concheiro und Diego 2002). Zudem ist es möglich, in der kollektiven Erinnerung die territoriale Identität zurückzuverfolgen (Grajales und Robles 2010: 91). Das Territorium ist ein physischer, sozialer, kultureller und politischer 23 Bei Bartra (2010b) findet man eine unumgängliche Diskussion über die Implikationen der »Aneignung des Produktionsprozesses«. | 139

Raum, in dem sich das Leben abspielt. In den Worten eines kolumbianischen Indigenen: »Die Misak nehmen den Kampf wieder auf und bauen aufs Neue eine territoriale Basis, denn es ist das sensibelste Element unseres Lebens, darin artikulieren sich alle kulturellen, natürlichen, ökonomischen und spirituellen Prozesse; es ist das dynamische und das die lebenswichtigen Prozesse unserer Kultur artikulierende Element.« (Tunubalá/Muelas 2008: 16; zitiert in Olver Quijano 2011: 243)

Mit dieser Einschätzung erkennt man die besonderen Bedeutungen eines Ortes und Territoriums nicht nur als Produktionsstätten, sondern vor allem als lebendige und existenzielle Oberflächen, die einen anderen Blickwinkel auf das Ökonomische bedingen und es mit soziokulturellen und natürlichen Praktiken verbinden, die auf ein großes Differenzierungspotenzial hinweisen. Dies repräsentiert eine anregende und lebendige politische Idee, die nicht vollkommen dem »Kapitalozentrismus« und »Globozentrismus« (Olver Quijano 2011: 243) untergeordnet ist.24

Abschlussbemerkungen In dieser Arbeit wurde nachzugehen versucht, wie ausgehend von der globalen Krise des kolonial/modernen Kapitalismus ein neuer historischer Ideenhorizont entsteht, der auf dem Respekt gegenüber der Natur basiert und sich in Richtung der Desmerkantilisierung der Natur und des Lebens orientiert. Es handelt sich um eine Neuformulierung der herrschenden Konzeption von Ökonomie, denn dieser Ideenhorizont geht nicht vom Konzept des Mangels aus und deutet die Idee der Arbeit um (Robert und Rahnema 2011). Es handelt sich eher um eine ›eigenständige Ökonomie‹. Für die Mitglieder der Nasa25 in verschiedenen Zonen des kolumbianischen Cauca ist »die eigenständige Ökonomie vor allem eine Form der Verteidigung, Kontrolle und Verwaltung des Territoriums«. Daher haben sie ausdrücklich wiederholt, dass »wir glauben, dass dies ökonomische und produktive Tätigkeiten sein sollen, welche die Ernährungssouveränität und die Nachhaltigkeit der Territorien und des Lebens fördern«, »aber Ernährungssicherung heißt 24 Eine größere Auseinandersetzung über die Wichtigkeit des Ortes und des Territoriums findet man bei Escobar (2010). 25 Die Nasa sind eine indigene Bevölkerungsgruppe, die hauptsächlich in der südwestlichen Andenregion von Kolumbien lebt. Die Bevölkerungsmehrheit der Nasa bewohnt dort die Provinz Departamento de Cauca (Anm. d. Hrsg.). 140 |

nicht, dass diese sicher in den Läden oder Supermärkten steht«. »Schließlich ist die Ernährungssouveränität die transversale Achse des Wirtschaftsund Umweltprogramms der Organisation«. Zusammenfassend und so wie es die Anhänger ausgedrückt haben, »ist das, was geschehen muss, der Aufbau von anderen ökonomischen Formen – gegen Gier und Habsucht« (Quijano Valencia 2012: 232). Ernährungssouveränität, Territorialität, Ort, Landwirtschaftsökologie, Reziprozität, ökologisch/ökonomische Effizient, kollektiv/familiäres Eigentum und kollektive Administration sind einige der Elemente, die eine neue Vision einer Ökonomie bilden und mit dem entstehenden historischen Ideenhorizont sowie dem Buen Vivir verbunden sind. Sie zielt auf die Desmerkantilisierung des Lebens und der Natur und setzt die Reziprozität als Achse der sozialen Beziehungen einer von der Kolonialität der Macht befreiten Gesellschaft in Bewegung.

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Biopolitik und Kolonialität in der Entstehung des modernen Argentinien Martin E. Díaz

Einleitung Der Konsolidierungsprozess des modernen Argentinien beinhaltete ein kolossales epistemisch/politisches Ereignis, von welchem aus die Neigung entstand, die Nation von gewissen, über den gesamten Kontinent verbreiteten zivilisatorischen Parametern aus zu entwerfen. Es handelt sich um den Prozess der Erfindung eines sozialen Körpers, in dem die einheimischen intellektuellen Eliten Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle in der Konstruktion einer ›geplanten Nation‹ (nación ideada i.O.) einnehmen. Nämlich ausgehend von der Ausarbeitung diskursiver Strategien, die fähig sind, eine Lösung gegenüber dem ›internen Übel‹ zu diagnostizieren und auszuarbeiten, das die Modernisierung des Landes behindert und aufhält. Daher wird die Prämisse, die erwünschte Bevölkerung zu modernisieren und auszuwählen, um den Traum eines modernen Argentiniens zu realisieren, ein entscheidender Schritt in der Herausbildung eines aufkommenden ›nationalen Seins‹, gemäß der Inkorporation und Wiederaneignung von kulturellen Praktiken, Bräuchen und Regierungstechnologien, die sich durch die europäische kapitalistische Modernität und durch die USA in unserem Kontinent ausbreiteten. Zwei zentrale Ideen liegen dieser Arbeit zugrunde. Die erste besteht darin zu zeigen, wie sich in der Herausbildung einer geplanten Argentinität (argentinidad i.O.) zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine ganze Reihe von biopolitischen Technologien sowie gewisse Vorstellungen gegenüber einer natürlichen Unterlegenheit des Anderen vereinigen, die in dem ›kolonialen Erbe‹, entstanden durch die Kolonialität in Beziehung zum Phänomen der ›Entartung‹ und des ›schlechten Lebens‹, wurzeln. Die zweite hier entworfene Idee bezieht sich auf den Wunsch gewisser Intellektueller dieser Epoche, ausgehend von einer den wissenschaftlichen Rassismus verteidigenden Lesart, eine raza argentina zu schaffen, die den restlichen Nationen des spanischsprachigen Amerikas überlegen sei.

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Die geplante Nation: Vom ›lebensleeren Raum‹1 zur Medikalisierung des sozialen corpus Es wäre möglich, den Wendepunkt der kolossalen Anstrengung, Argentinien in eine moderne und zivilisierte Nation zu transformieren, in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts zu finden, wo dazu aufgerufen wurde, jene patagonischen Territorien zu annektieren, die außerhalb der staatlichen Kontrolle lagen. Vor allem aber in der Realisierung einer ›ethnischen Säuberungskampagne‹ gegenüber den in diesen Ländereien ursprünglich wohnenden Bevölkerungsgruppen. So sollte mit der sogenannten Generation der 80er2 – aber eigentlich mit dem Jahr 1879 als Wende- und Ausgangspunkt des Massenmordes an der ursprünglichen Bevölkerung des heutigen Südargentiniens – der Entwurf eines nationalen Projekts beginnen, das ein für allemal die Trennlinie, welche damals die Zivilisation vom lebensleeren Raum der ›Wüste‹ teilte, beseitigen sollte. Die Vorstellung dieser Wüste sollte so als ein leerer Raum konstruiert werden, der durch den argentinischen Staat gefüllt werden konnte. Daher ermöglichte die Herstellung dieser Vorstellung einen ›zu belebenden Raum‹, die in der erobernden Ausbreitung einer zivilisatorischen Maschinerie enthalten ist und über einen leeren Raum die transzendente Einheit des Staates begründet – im Gegensatz zur Immanenz, verkörpert durch ein entvölkertes Land und den wilden Körpers des indio (Rodríguez o.D.). Auf diese Weise macht die erfolgreiche sogenannte ›Wüsteneroberung‹3, vermarktet als der Triumph der Zivilisation gegenüber das unwirtliche Wilde, Platz für ein 1 2

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Mit ›lebensleerer Raum‹ oder ›Wüste‹ wurden zu dieser Zeit eben die Gebiete Patagoniens und des großen Chacos bezeichnet, die als zu erobernde Gebiete und daher als lebensleer konstruiert wurden (Anm. d. Übers.). Die Generation der 80er umfasst in Argentinien den Zeitraum zwischen 1880 und 1916 und basiert auf einem liberalen oligarchischen Projekt, das durch die Europäisierung der Bräuche, einer Einwanderungspolitik zugunsten der Bevölkerung des Landes durch europäische Arbeitskraft und, im geopolitischen Sinne, die ökonomisch-politische Abhängigkeit von den imperialistischen Interessen Englands aufrecht erhalten wurde. Mit der sogenannten ›Wüsteneroberung‹ (conquista del desierto i.O.) versuchte man, 15.000 Meilen patagonischen Territoriums für den argentinischen Staat zu annektieren, der für seine landwirtschaftliche Exportorientierung neues und fruchtbares Land brauchte, das aber von einer »sterilen« und unproduktiven raza besetzt war. Nach den Daten des offiziellen Berichts der wissenschaftlichen Kommission, welcher dem Generalstab der Expedition nach Río Negro beigefügt wurde, hatte die von General Julio Argentino Roca geführte Kampagne 14.000 Tote Indigene

paradigmatisches Ereignis des Argentinien des 19. Jahrhunderts, indem es einen Genozid über jene Leben verübte, die in den Augen der herrschenden Regierungseliten Repräsentanten bloßer Animalität, Wildheit und der komplett fehlenden Neigung zum materiellen Fortschritt der Nation waren. Der indigene Genozid, ein groß angelegtes Verbrechen, aber als alles andere als eben das sichtbar gemacht, legte den Grundstein für eine historische Wunde in der Konstruktion eines ›Wir‹, markiert durch das, was die brasilianische Anthropologin Rita Segato (2007) als »ethnischen Terror« bezeichnet hat, der hier gegenüber jenem Anderssein ausgeübt wurde, das außerhalb des Universums von Wissenschaft und Vernunft stünde. So ging der Wunsch nach einer Konstruktion des ›Wir‹ Hand in Hand mit der Herausbildung einer den Raum und die Körper totalisierenden Ordnung, die es sowohl erlaubte, die territorialen Grenzen der Zivilisation zu erweitern als auch die ontologische Geltung der Körper, die kaum als menschliche galten, zu bestimmen. Mit anderen Worten dachte oder erfand sich dieses Argentinien anhand des mito de blancura, der als Indikator für Fortschritt und Modernisierung galt und dem man unbedingt nacheifern wollte Das Land strebte danach, sich mit einer wissenschaftlich-militärischen Unternehmung ausgehend von der ›Wüsteneroberung‹ in ein landwirtschaftliches Exportland zu entwickeln, damit es fähig wäre, sich in die Strömungen der kapitalistischen Produktion des Weltmarktes zu integrieren (Rodríguez o.D.). Es ist nicht die Absicht dieser Arbeit, eine tiefgehende Analyse dieses tragischen Gründungsmomentes des modernen Argentiniens und seiner philsophisch/politischen Implikationen im Verhältnis zur Frage des Anderssein zu unternehmen (Díaz 2008). Was uns interessiert, ist ihn als den Entstehungsmoment einer Regierungstechnologie zu verstehen, die ab 1890 – bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinein – den Charakter eines Medikalisierungsprozesses des Lebens annahm, der dazu tendierte, in den lebenswichtigen Prozessen und Verhaltensweisen eines Bevölkerungskomplexes zu intervenieren und als das verstanden werden kann, was wir im groben Sinne als europäische ›Lebenswissenschaft‹ bezeichnen. In diesem Zusammenhang ist die Rolle zur Diskussion zu stellen, welche diese ›diskursiven Arsenale‹ wie der Darwinismus, Evolutionismus, Spencerismus in der Diagnose und Behandlung der Ursachen eines entstehenden plus 14.000 Gefangene, darunter Frauen und Kinder, die zu Leibeigenen wurden, zur Folge. | 151

Modernisierungsprozesses spielten, dessen ›unerwünschte Seite‹ unter der Bezeichnung ‹soziale Frage‹ gedacht wurde. Es handelt sich um einen historischen Moment, in dem bestimmte, der einheimischen Elite zugehörige Sektoren, beeinflusst von einer starken medizinisch/hygienistischen4 Prägung, es als die eigene Leitaufgabe verstanden, dem Land eine soziale und moralische Reform zu bieten, sodass man es von den sozialen Übeln, das es plagte, heilen könnte. Der ›Ausbruch‹ der sozialen Frage in Argentinien war somit das Produkt von sozialen Ungleichheiten, die durch die Einführung des oligarchischen Landwirtschaftexportmodells entstanden, das dazu tendierte, die sozialen Ungleichheiten zu akzentuieren und zu naturalisieren. Dazu kommt die Ankunft der ins Land geholten europäischen Einwanderer, um es ›durch die Arbeit zu zivilisieren und zu europäisieren‹, was so zu einer Veränderung des psycho-sozio-biologischen Erbes unserer indigenen Vergangenheit beitrug. Davon zeugt die psycho-sozio-biologische Analyse des Intellektuellen und Rechtsberaters Carlos Bunge in Nuestra América als ein offensichtliches Beispiel für die Notwendigkeit, die schwere Last der mestizaje, die als Konsequenz des indigenen Erbes und der biologischen Überkreuzung zwischen dem indio und anderen razas auf dem gesamten Kontinent liegt, »anhand der Arbeit zu europäisieren« und durch die Einwanderung zu modifizieren. Die Lösung für das »schändliche Erbe«, das die mestizaje darstellt, würde für Bunge in der Herausbildung einer »Arbeitskultur« als das Resultat von Bräuchen und Gewohnheiten der aus Europa stammenden Immigranten liegen (Bunge 1903). In dieser Situation, und nachdem die Eroberung der Wüste beendet war, begann die zentrale Stellung, welche die ›indigene Frage‹ innerhalb der dominanten Eliten in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts innehatte, sich in Richtung der ›Einwandererfrage‹ und später in Richtung einer ›Arbeiterfrage‹ zu bewegen. Letztere war assoziiert mit Armut, Kriminalität, Prostitution, Krankheitsherden und unerträglichen Mit dem ›Ausbruch‹ diverser Spannungen, die um das sogenannte ›Soziale‹ geordnet waren, nahmen die Probleme in Bezug auf das Wachstum und die Hygiene der 4

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Der Hygienismus (in diesem Artikel auch Medikalisierung) ist eine wissenschaftliche Strömung, die Ende des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit dem Liberalismus entstand und Gesundheit/Krankheit als soziale Phänomene sieht, die alle Aspekte des menschlichen Lebens mit einschließen. Hygienistische Maßnahmen sind beispielsweise die Einrichtung von öffentlichen Bädern oder von Kanalisation (Anm. d. Hrsg.).

Städte sowie die Bräuche, Verhaltensweisen und Lebensformen der breiten Bevölkerung eine privilegierte Rolle in der Agenda einiger der ›gebildeten Männer‹ ein. Diese bildeten die sogenannte »argentinische wissenschaftliche Kultur«5 und später wurden viele von ihnen Staatsfunktionäre oder Berater der staatlichen Politiken. Der Einfluss dieser ›gebildeten Männer‹ sollte nicht nur auf die der »wissenschaftlichen Intelligenzija« eigenen Herangehensweise beschränkt sein, die darum bemüht war, strikt akademische Erklärungen für die Probleme des modernen Gesellschaftslebens herauszuarbeiten, sondern viele von ihnen hatten, wie bereits erwähnt, wichtige Ämter innerhalb der staatlichen Institutionen inne. Zum Beispiel war José Ramos Mejías als einer der größten Vertreter des Hygienismus in Argentinien unter anderem6 gemeinsam mit Emilio Conti der Gründer der öffentlichen Fürsorgeanstalt von Buenos Aires und Direktor des nationalen Hygieneministeriums. Daneben teilte sich ein anderer der großen Intellektuellen dieses Zeitraums, José Ingenieros, gemeinsam mit Augusto Bunge die Leitung der Abteilung für industrielle Hygiene desselben Ministeriums und war im Jahr 1904 auch der Klinikchef der Beobachtungsstelle für Geisteskranke der Polizei von Buenos Aires und im Jahr 1907 Direktor des kriminologischen Instituts der nationalen Strafanstalt. Diese Einschreibung der erwähnten Intellektuellen innerhalb der staatlichen Institutionen zeugt von der Wirkungsmacht, welche die positivistische Wissenschaft in Argentinien, beeinflusst von den Postulaten des Darwinismus, des Sozialhygienismus und der Verhaltensforschung in der Entstehung eines medizinischen Rechtsstaates (Salvatore 2001) oder auch einer, wie es die argentinische Soziologin Susana Murillo (2009) nennt, »wissenschaftlichen Protopolitik« erreichte. Ziele dieser Politik waren, ein universelles Subjekt zu bilden/erfinden, ein medizinisches Beamtentum zu fördern und Interventionen in die Körper durch die Schaffung von gewissen institutionellen Dispositiven zuzulassen. 5

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Wir folgen in Bezug auf diesen Aspekt der Formulierung des argentinischen Philosophen und Historikers Oscar Terán, der »wissenschaftliche Kultur« als die Gesamtheit der theoretischen Interventionen der ›gebildeten Männer‹ des modernen Argentiniens (1880 – 1990) bezeichnete, die durch die Legitimität und die führende Rolle gerahmt sind, welche die wissenschaftliche Erkenntnis in der Organisation des sozialen Lebens erfüllen sollte. Für eine detaillierte Analyse, siehe Terán (2000). Als staatlicher Angestellter war Ramos Mejías über mehrere Jahre auch Präsident des nationalen Bildungsrates von Argentinien. | 153

Mittels der Entstehung dieses medizinischen Rechtsstaates und der Ausbreitung dieser ›wissenschaftlichen Protopolitik‹ sollte die ›Verteidigung der Gesellschaft‹ vor jenen Subjekten gelingen, die dazu fähig wären, die etablierten moralischen und sozialen Normen zu brechen. Hinzu kam der Wunsch, eine gewisse Moralisierung der Bräuche einzuführen, der es obläge, die ›Liebe zur Arbeit‹ herzustellen, die ›Fürsorge der Familie und der Kinder‹ durch die Frau, die Suche nach einem geordneten Leben fern von der Versuchung der Laster oder der als antisozial betrachteten Verhaltensweisen wie Alkoholismus, Glücksspiel oder Prostitution. In diesem Sinn arbeitete die positivistische Wissenschaft als eine Art »interpretatives Raster« (Salvatore 2001) oder als ein »Verständnisraster« für das Studium und die Behandlung von sozio-moralischen Problemen, die durch die Konsolidierung des voranschreitenden Modernisierungsprozesses aufgeworfen wurden. Auf diese Weise konfigurierte sich innerhalb dieses medizinischen Rechtsstaates ein kapillares Beziehungsnetz, das ausgehend von gewissen institutionellen Dispositiven agierte, welche die Entstehung einer Reihe von Interventionen in die Körper und die Sanktionierung der Grade von Akzeptanz oder sozialer Gefahr dieser Verhaltensmuster ermöglichten. Zu diesen, mit dem medizinischen Rechtsstaat verbundenen, institutionellen Dispositiven zählten unter anderem die Einrichtung der Gesellschaft für juristische Anthropologie (1888), das Anthropometrische Institut (1889), die Untersuchungsanstalt für Geisteskranke (1899), das Leichenschauhaus des rechtsmedizinischen Institutes (1896) und das rechtsmedizinische Büro im Jugendzuchthaus (1905) (ebd.). All dies machte es möglich, auf die Gesamtheit der Interventionen hinzuweisen, die das positivistische Projekt im Privatleben der Subjekte durchzusetzen versucht – mit dem Ziel, die internen Gefahren, welche das Stadtleben heimsuchten, aufzuspüren. Ebenso verdeutlichte es, welche Folgen die Medikalisierung des Sozialen in der Entstehung der disziplinären Felder wie der Soziologie, Rechtswissenschaft, Psychologie, Kriminologie, Erziehung etc. haben sollten (Talak 2010). Außerdem bildete sich als Resultat der Entstehung dieses medizinischen Rechtsstaates gewissermaßen ein Ethos heraus, der die Arbeitskultur und gewisse soziale Werte, symbolisiert in der monogamen, patriarchalen, unternehmerischen, heterosexuellen etc. Familie, umfasste. Es wurde, mit anderen Worten, versucht, in der Bevölkerung gewisse Lebensstile oder ›Lebensformen‹ zu produzieren, welche die Subjekte als notwendigerweise eigene und als ›natürlich‹ begehrenswerte im Konsolidierungsprozess des modernen Kapitalismus in Argentinien annahmen. 154 |

Die letzte Behauptung impliziert keine Zurückweisung des konservativ/ oligarchischen Charakters, der den erwähnten Rechtsstaat während dieses historischen Zeitraums prägte, oder der disziplinären, in manchen Fällen repressiven, Maßnahmen, die auf jene Gruppen, die als potenziell gefährlich galten, angewandt wurden. Vielmehr möchten wir hier aufzeigen, wie sich im modernen Argentinien zu Beginn des Jahrhunderts allmählich eine Regierungsrationalität durchsetzte, die versucht, die Bevölkerung ausgehend von der Erzeugung eines künstlichen Umfeldes – Milieus – zu regieren, das den freien Strom von Waren, Subjekten und Verlangen ermöglicht. So wie es Michel Foucault (2006) in seinen Vorlesungen aus dem Jahr 1978 mit dem Titel Sicherheit, Territorium, Bevölkerung zeigte, impliziert die Erzeugung eines Umfeldes, das den Strom von Dingen und Subjekten garantiert, nicht das Verschwinden der juristischen Mechanismen des Gesetzes, das etwas verbietet oder erlaubt, oder der Disziplinarmechanismen, welche die Körper normalisieren. Stattdessen fügen sich diese Körper an den neuen Sicherheitsdispositiven zusammen, deren Ziel es ist, die lebenswichtigen Aspekte der Bevölkerung zu verwalten. Anders gesagt ist das, was sich im modernen Argentinien allmählich durchzusetzen beginnt, eine Regierungstechnologie oder Gouvernementalität, welche die ökonomische und moralische Führung der Bevölkerung ins Auge fasst, um in ihr die freie Entfaltung von Verlangen und ›Freiheiten‹ zu ermöglichen, die nötig sind, um den Reichtum der Nation zu vermehren. Ebenso wie die Möglichkeit, in tolerierbaren und nicht tolerierbaren Handlungen für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung zu intervenieren. Indem wir die von Foucault vollzogene Analyse als ›Werkzeugkasten‹ verwenden, versuchen wir, die Entstehung des Liberalismus in Argentinien als eine ›Regierungskunst‹ sichtbar zu machen – auf die Weise, wie von dem französischen Philosophen die Analytik der Biopolitik im Rahmen des Verständnisses von Gouvernementalität gedacht wird7 –, die dazu fähig ist, in einem bestimmten Feld, wie dem der Bevölkerung, durch den Gebrauch 7

Nach dem kolumbianischen Philosophen Santiago Castro-Gómez ist es möglich zu zeigen, wie Foucault die Analytik der Gouvernementalität gegenüber einem kriegerischen Schema der Macht bevorzugt, das in Die Verteidigung der Gesellschaft vorherrscht. So geschehen seit seinen Kursen von 1978/79. Auf diese Weise scheint das Problem der Biomacht innerhalb eines breiteren Verständnisrasters eingeschrieben als die Gouvernementalität, von wo aus die Probleme bezüglich der Entstehung der Biopolitik interpretiert werden. Siehe dazu die interessante Arbeit von Castro-Gómez (2010). | 155

von bestimmten Expertenwissen wie politische Ökonomie, Statistik und Sozialmedizin zu intervenieren. Nach Murillo (2009) liegt das Besondere dieser liberalen Kunst in Argentinien in der »vierseitigen« Form, welche diese Regierungsrationalität annimmt, da darin ein Dispositiv entsteht, das in der Triade Gesetz-DisziplinSicherheit nicht beachtet wird. Dies ist ein »Dispositiv der Herstellung von Marginalität«, das dazu fähig ist, ein Anderssein zu entwerfen, das innerhalb jener erwünschten Bevölkerung, die man sich gemäß dem Lauf der Dinge »entfalten lässt«, beseitigt oder ausgelöscht werden kann. Daher ermöglicht dieses »Dispositiv der Herstellung von Marginalität« die Verwaltung des Gegenteils von jenen Leben, die man sowohl »zum Leben erweckt« als auch »sich entfalten lässt«. Die Entstehung der Gouvernementalität in Argentinien zeigt daher im Umkehrschluss die »dunkle Seite« dieser Regierungstechnologie auf, indem man die Negation und den Tot des Anderen zu einem, mit wissenschaftlichen Gründen legitimierten, natürlichen Ereignis macht. Unter diesem Vorzeichen kann man annehmen, dass die Ausbreitung des Liberalismus im modernen Argentinien von der Kolonialität, als jener Form von Macht, begleitet ist, die in der Analytik der Gouvernementalität nicht betrachtet wird. Erst dadurch wird die Negation von bestimmten Lebensformen aufgrund des wissenschaftlichen Rassismus in den modernen Lebenswissenschaften möglich.

Die Stadt vom Verfall und dem ›schlechten Leben‹ heilen Das Auftauchen des Liberalismus produzierte somit in Argentinien eine Fokussierung auf das Stadtleben, sowohl als Zirkulationsort von Körpern und – notwendig für das »gute Regieren« der Bevölkerung – Waren als auch als das natürliche Habitat, in dem gewisse Subjekte wohnen, die zu authentischen »sozialen Krankheiten« geworden sind. So gesehen, und aus dem Blickwinkel des herrschenden evolutionistischen positivistischen Diskurses – beeinflusst von den darwinistischen Thesen á la Ernst Haeckel und des Evolutionismus von Herbert Spencer8 –, wird von diesen sozialen Krankheiten oder Pathologien aus das sogenannte Phänomen des ›schlech8

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Für eine tiefgehende Analyse bezüglich der Rezeption der vom Positivismus beeinflussten Theorien in Argentinien, siehe Ricaurte (1968).

ten Lebens‹ verstanden. Dies umfasst nach der Definition des Gerichtsmediziners Ingenieros (2007) all jene antisozialen Verhaltensweisen, die das Produkt von sozialer Unangepasstheit gegenüber den ethischen Normen des Umfelds sind, in dem sie hergestellt werden. Daher bilden Alkoholiker, Obdachlose, Prostituierte, zweideutig oder »umgekehrt« sexuell Orientierte, Geisteskranke, Straftäter und Anarchisten das Universum des verneinten Anderssein, gegen das mit der Einführung von sozialen Prophylaxen, welche die öffentliche Ordnung garantieren, vorgegangen werden muss. Oder auch, nach dem Wunsch einiger »gebildeter Männer«, durch direkte eugenische Maßnahmen, welche die Reproduktion dieser »Degenerierten« verhindern.9 Eine der Diskussionen über die positiven oder negativen Effekte der Sterilisierung der Degenerierten ist jene, die der Arzt für Geisteskrankheiten Benjamin Solari mit dem italienischen Arzt Angelo Zuccarelli führte. Bei dieser Gelegenheit vertrat Letzterer in einer Publikation in den Archiven der Psychiatrie, Kriminologie, Rechtsmedizin und affinen Wissenschaften10, die von Ingenieros von 1902 bis 1913 geführt wurde, die Notwendigkeit, die Reproduktion der Degenerierten aufzuhalten. Die eugenische Haltung Zuccarellis (1902) basierte auf der Einschätzung, dass die Reproduktion der Degenerierten eine wahre soziale Schande sei, die durch ihren Nachwuchs das Familienwesen und die Gesamtheit der Gesellschaft beschädige. Daher stelle die Unterbindung der Reproduktion der Degenerierten eine Hilfsaktion dar, die man im Sinne der menschlichen Perfektionierung leisten solle, die sich wegen der Übertragung von Erbkrankheiten, welche die Degeneration verursache, in Gefahr befänden. Das interessante an diesem Argument ist aber nun, dass diese Schutzmaßnahmen gegenüber der Gesellschaft und die Sorge um die menschliche Perfektion eine Aufgabe des medizinischen Expertenwissens ist, was wiederum den Medikalisierungsprozess des sozialen Corpus belegt, auf den wir in Bezug auf das Entstehen des medizinischen Rechtstaates verwiesen haben. 9

Die Entwicklung der Eugenik in Argentinien erreichte im 20. Jahrhundert einen Höhepunkt, als es nach den USA das zweite Land des Kontinents wurde, das eugenische Maßnahmen gegenüber der Bevölkerung als Staatspolitik anwendete. Zum Thema der Ausbreitung der Eugenik in diesem Kontinent, siehe García González und Álvarez Peláez (2005). 10 Die Zeitschrift Archive war eines der wichtigsten Organe der Diskussion und Verbreitung von positivistischen, darwinistischen und eugenischen Ideen zur ›sozialen Frage‹. Die zentralen Vertreter der argentinischen wissenschaftlichen Kultur waren auf die eine oder andere Weise in dieser Publikation vertreten. | 157

Das medizinische Wissen sollte also die in den Rissen des gesellschaftlichen Lebens verborgenen Degenerierungsmerkmale entdecken, die sich in Kindern, Frauen und Männern verbergen. Schulen, öffentliche Ämter und Büros sowie Standesämter waren dazu bestimmt, rechtzeitig sichere Maßnahmen gegen die Reproduktion der Degenerierten zu finden (ebd.). Gegenüber dieser Positionierung gemäß einer »negativen Eugenik«11 hält Solari (1902) die Sterilisation der Degenerierten für eine extreme Maßnahme, da sie sich nicht auf wissenschaftliche Mittel berufe, die in solchen Fällen angewendet werden sollten, und wegen des unwiderruflichen Charakters der Maßnahme, die gegen das Rechtsprinzip verstoßen, dass erst andere Zwangsmaßnahmen erfolgreich ausgeschöpft werden müssten. Nach der Meinung Solaris (ebd.) sei die Kastration der Degenerierten für die erwünschten Ergebnisse nicht zielführend, wenn sie zu einer Generalisierung der Maßnahme führe, da sie ausgehend von Verrückten, Epileptikern, Einfältigen über deren Degenerierung auch mestizen, mulatos und cuarterones betreffe, bis schließlich auch die behandelnden Ärzte und Psychiater zur Kastration durch das Skalpell gezwungen wären. Das zentrale Argument in Bezug auf die Unproduktivität und Unratsamkeit der Sterilisierung oder Kastration bestand darin, dass die Degenerierten eben aufgrund ihrer Degeneration nicht dazu neigten, sich zu reproduzieren oder sich am Leben zu erhalten. Mit anderen Worten besteht die Lösung der Degenerierung aus den Degenerierten selbst, die sich wegen ihrem Erbe, das sie weitergeben, selbst abschaffen. Beide Vorschläge treffen sich in der Notwendigkeit, die Gesellschaft vor den Degenerierten und den Erblastern, die sie mit sich tragen, zu beschützen. Hingegen unterscheiden sie sich zum Einen im radikalen Charakter der 11 Nach Vallejo und Miranda (2005) lag der Schwerpunkt der Eugenik in Argentinien vor allem auf der Umwelt und nicht auf »harten« oder direkten Aktionen gegen die »unerwünschten Leben« in der Bevölkerung, so wie es in anderen Ländern des Kontinents versucht wurde. In diesem Sinne wurde die Entwicklung einer »eugenischen Erziehung« favorisiert, die darauf ausgerichtet war, eine »bewusste Fortpflanzung« oder eine Prophylaxe in der Bevölkerung zu schaffen, die auf der Notwendigkeit von Sexualpraktiken basierte, die bessere Individuen für die Gesellschaft produzieren würde. Die Effektivität dieser eugenischen Erziehung bestand in einer Vorauswahl jener Individuen, denen man mit größerer Wahrscheinlichkeit »nacheifern« und auf denen – mit den Worten von Bunge – eine »patriotische Erziehung« basieren konnte. Dieses höchst selektive und hierarchisierende Merkmal der Wertung von einzelnen Individuen zeigt für Vallejo und Miranda die besondere autoritäre Tendenz, die in der institutionellen Variante der argentinischen Eugenik vorherrschend war. 158 |

Maßnahmen, die von jenem italienischem Arzt vorgeschlagen werden, und zum Anderen in der Notwendigkeit, alle verfügbaren wissenschaftlichen Methoden anzuwenden, um die öffentliche Gesundheit zu erhalten »ohne die Kranken zu enthaupten« (ebd.: 341). Die Argumentationen von Solari gegenüber den Thesen von Zucarrell erlauben es, die Bedeutung jener Theorie zu erkennen, die von Benedict August Morel 1857 in Frankreich über die Degenerierung formuliert wurde – vor allem in Argentinien innerhalb der Medikalisierung des ›Abnormalen‹ und in den sozialen Schutzmaßnahmen von jenen Gruppen, die scheinbar Träger eines tödlichen biologischen Erbes waren.12 Das Muster von Praktiken und Diskursen, das in der positivistischen Wissenschaft in Argentinien in der Degenerationstheorie zusammenfließt, wird auf diese Weise gemeinsam mit den Postulaten über Geisteskrankheit und Hygiene eine Technologie zur Generierung von Anderssein bilden. Man beruft sich dabei auf einen wissenschaftlichen Rassismus, der diese als unterlegene, untermenschliche oder atavistische Lebewesen stigmatisiert, als wären sie regressive Formen der menschlichen Evolution. So bildet der wissenschaftliche Rassismus – so wie ihn Foucault im Inneren der modernen europäischen Staaten analysiert hat – das Dispositiv, das es erlaubt, zwischen »buena« und »mala raza« zu unterscheiden, als müssten Letztere notwendigerweise sterben, um das Kontinuum des biologischen Substrats, das wir sind, zu beschützen (Foucault 2000b). Die Berufung auf einen wissenschaftlichen Rassismus und die Idee von raza als Demarkationskriterium zwischen dem, was leben oder sterben muss, erlaubt es, die Gewalt und die Kontrollmechanismen sowie den Genozid gegenüber einem Anderssein zu rechtfertigen, das für das kollektive Leben als gefährlich betrachtet wird. Wenn man über die theoretischen Abhandlungen hinausgeht, die sich über die Idee von raza und über die Entstehung des biologistischen Rassismus im 19. Jahrhundert machen ließen, scheinen in diesem Sinne beide diskursiven Konstruktionen in dem zusammenzu12 So wie Foucault (2000a) in seinen Vorlesungen Les anormaux von 1974-75 hingewiesen hat, stellen die Erbtheorie und die Degenerationstheorie von Morel zwei zentrale Puzzleteile in der Erkennung und Abgrenzung von Anomalien sowie in der Medikalisierung des ›Abnormalen‹ aufgrund der Erfahrung der medizinischen Psychiatrie dar. Diese hatte im 19. Jahrhundert eine führende Rolle in der Abgrenzung des Paares normal/pathologisch und in der Herstellung einer Normalisierungsmacht, deren Fokus nun nicht mehr auf den als ›krank‹ und ›verbrecherisch‹ Betrachteten lag, sondern auf einer neuen Art von Gefahr, die durch die Figur des ›Abnormalen‹ symbolisiert wurde. | 159

fließen, was der puerto-ricanische Philosoph Nelson Maldonado Torres die »Kolonialität des Seins« genannt hat, die sich innerhalb der eurozentrierten Klassifikation der Menschheit verbirgt. So bemüht sich die »Kolonialität des Seins«, die Entstehung einer Attitüde von »Misstrauen« gegenüber der Menschlichkeit des rassialisierten Anderen sichtbar zu machen, was die Sanktionierung der Charakterisierung als lebensunwürdig oder als entbehrliches Leben erlaubt.13 Raza und später der Rassismus setzten sich als weltweite Klassifikationsweisen des Lebens fest und haben als gemeinsamen Nenner den Grundzweifel an der möglichen Menschlichkeit und Rationalität des Anderen. Auf diese Weise hat der wissenschaftliche Rassismus im 19. Jahrhundert die Rolle einer globalen Plattform eingenommen, die einer sogenannten »Negation der ontologischen Gleichzeitigkeit« Raum gab, von der aus es scheinbar möglich wurde, unterschiedliche Grade von Degeneration, Atavismus oder Anomalität zu bestimmen, die gewisse Personen als Bestandteile einer generellen Evolution des menschlichen Geschlechts besitzen.14 Hier erlaubt uns das Verhältnis zwischen raza, Rassismus und Kolonialität, die Entwicklung eines Machttypus sichtbar zu machen, der in der Ausbreitung der Gouvernementalität in Argentinien präsent ist und der es 13 In einem weiteren Sinne verweist das von Maldonado Torres thematisierte Konzept der »Kolonialität des Seins« auf die ontologische koloniale Differenz, die innerhalb der europäischen Kolonialbemühungen produziert wurde. Dies erlaubt es, zwischen dem Sein und der Seinsleere jener Leben zu unterscheiden, die in den Kolonien entbehrlich gemacht wurden. Die Kolonialität des Seins basiert auf dem Skeptizismus gegenüber einer möglichen Menschlichkeit und Vernunft des Anderen, der auf eine subontologische Position und eine Subalternisierung reduziert wird, was wiederum die Naturalisierung von dessen Auslöschung möglicht macht. Eine ausführliche Analyse dazu findet man bei Maldonado Torres (2007) selbst. 14 Unter »Negation der ontologischen Gleichzeitigkeit« kann man die ›dunkle Seite‹ verstehen, die sich mit der europäischen Kolonialexpansion und der Verbreitung von wissenschaftlichen Rassentheorien im 19. Jahrhundert ausbreitete. Dies folgt einer ähnlichen Logik wie die durch Castro-Gómez aufgezeigte Idee einer »Negation der epistemischen Gleichzeitigkeit« und der Vorschlag von Johannes Fabian einer »Negation der Gleichzeitigkeit« – denial of coevalness – innerhalb des anthropologischen Diskurses. Die hier vorgeschlagene Idee möchte die von den Rassentheorien im 19. Jahrhundert projizierte ›ontologische Maßlosigkeit‹ und die Forderung nach einer Nicht-Existenz in den Vermenschlichungsprozessen sichtbar machen, welche die verschiedenen »razas humanas« gemäß der Zusammensetzung ihres biologischen Erbes und/oder ihrer Umweltbedingungen durchlaufen. An anderer Stelle (Díaz 2012a) habe ich versucht, die theoretischen Möglichkeiten dieser Idee und ihre Verbindungen mit der Bevölkerungskontrolle in Lateinamerika zu analysieren. 160 |

ermöglicht, die Negation von gewissen Leben zu etablieren. All dies, ausgehend von der Rezeption und Aneignung der europäischen Rassentheorien des 18. und 19. Jahrhunderts durch die ›gebildeten Männer‹ als Angehörige der einheimischen wissenschaftlichen Kultur. Mit anderen Worten bilden Biopolitik und Kolonialität eine Regierungsmaschinerie, die es erlaubt, in der Bevölkerung sowohl den Wunsch nach Modernisierung und Fortschritt zu internalisieren als auch die Gedankenwelten gegenüber der Minderwertigkeit und Gefährlichkeit jener Subjekte, die jenseits des Universums von Wissenschaft, Ordnung, Normalität und Vernunft situiert werden. Diese Maschinerie zur Bildung von Anderssein gemäß der Degenerationstheorie von Morel, das Problem der Kriminalität, die ethnische Frage des Landes und die Probleme bezüglich der Einwanderung sowie einige mehr15 breiteten sich innerhalb jener Felder aus, die in diesem Sinne den Interventionspunkt innerhalb des medizinischen Rechtsstaates bildeten und in denen sich der Liberalismus in Argentinien ausbreitete. Und zwar mit dem Ziel, jene Bereiche der Bevölkerung zu identifizieren, die möglicherweise den freien Strom von Dingen und den Fortschritts der Gesellschaft stören könnten. Es sollte Ingenieros sein, der als einer der wichtigsten Vertreter der positivistischen Kriminologie in Argentinien eine neue Leseart von Kriminalität einführte und dabei auf eine sozio-biologische Erklärung für den Akt des Diebstahls zurückgriff, der dabei als das Resultat sowohl von biologischen Faktoren als auch von sozialen und physischen Umweltbedingungen gedacht wurde, unter denen der Straftäter aufgewachsen war. Daher trafen für Ingenieros im Begehen einer Straftat sowohl biologische als auch exogene Faktoren zusammen, mit denen sich die kriminologische Wissenschaft beschäftigen musste, um eine Forschung über die Gründe der Straftat durchzuführen, den »Gefährlichkeitsgrad« des Täters zu bestimmen und Strategien von »sozialen Schutzmaßnahmen« auszuarbeiten, die sich aus-

15 Talak (2000) zeigt als Interventionsfelder der Degenerationstheorie Kriminelle, Anarchisten, die Arbeit und Prostitution von Frauen, zurückgelassene Kinder, Jugendkriminalität, Arbeiterkonflikte und die ›indigene Frage‹ auf. Auf den letzten Punkt würde das ethnische Problem in Argentinien zutreffen. Aufgrund von Platzmangel werde ich mich in dieser Arbeit auf einige der Interventionen beschränken, die ausgehend von der positivistischen Wissenschaft unternommen wurden und auf die Frage der Kriminalität, die ethnische Zusammensetzung von Argentinien und das Einwanderungsproblem in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts abzielen. | 161

gehend von Präventivinstitutionen anwenden ließen, um die Straftäter für ihre Behandlung zu isolieren.16 So wie ich es an anderer Stelle aufgezeigt habe (2012b), ist der Straftäter für Ingenieros das Resultat einer Art physischen und psychischen Anomalie, die notwendigerweise ein entsprechendes Mittel verlangt, um seine antisozialen Impulse zu bändigen. Im Gegensatz zu den Forderungen der italienischen Positivismusschule nach Cesare Lombroso und seiner Theorie des Uomo delinquente ist es in der Lesart von Ingenieros nicht möglich, die Existenz eines »Straftätertypus« festzustellen, sondern man erkennt – aus einem anthropologischen Blickwinkel – in den Straftätern jene Anomalien, die allen Degenerierten zu eigen sind. Daher liegt Lombroso für den argentinischen Kriminologen falsch, weil er erstens den Straftäter als einen atavistischen Degenerierten, als eine Art »verlorenen Wilden« in der modernen Zivilisation identifiziert. Zweitens, weil er den Kriminellen als einen »moralisch Verrückten« identifiziert und in eine Erklärung zurückfällt, die auf einem »moralischen Atavismus« basiert. Und drittens wegen der Schlussfolgerung, in der Lombroso den Straftäter mit einem »Epileptiker« vergleicht, beziehungsweise ihn als das Resultat einer Dystrophie des Nervenssystems sieht, was er als »latente Epilepsie« bezeichnet.17 Im Gegensatz zu Lombroso ist die Ursache der Kriminalität bei Ingenieros im Phänomen der Degeneration, das von Morel erforscht wurde, eingeschlossen, da diese ein scheinbar nützliches theoretisches Werkzeug in der Erforschung der Psychopathologie des Kriminellen und seiner Behandlung ist. Die Figur des Straftäters taucht so innerhalb des Feldes der Anomalie auf, das wiederum die Degeneration voraussetzt. Ausgehend von dieser Abgrenzung des Straftäters im Feld der Anomalie wird anhand des ›Verständnisrasters‹ der positivistischen Wissenschaft folgende Frage gestellt: Wie verhält sich diese Technologie der Generierung von Anderssein gegenüber der ethnischen Frage und der Einwanderungsdebatte des Landes ? Der Traum eines modernen Argentinien implizierte auch die Erforschung seiner ethnischen Zusammensetzung und der Möglichkeiten, die schwere 16 Ingenieros errichtet für jede einzelne dieser Zielsetzungen seiner positivistischen Kriminologie ein bestimmtes Studienfeld: »Kriminalethologie«, »klinische Kriminologie« und »Kriminaltherapie«. Für eine Analyse en extenso kann man Ingenieros selbst lesen (1902; 2007; 1946; 1986). 17 Als Vorläufer dieses Argumentes von Ingenieros in Criminología kann man mehrere seiner Kritiken an den Thesen von Lombroso in einer Publikation von 1902 in der Zeitschrift Archivos erkennen, die er damals leitete. 162 |

Last des schändlichen rassiologischen Erbes, symbolisiert in der Figur der mestizaje, umzukehren. So wie es der bereits erwähnte Bunge in seinem Werk Nuestra América ausdrückte, stellt die mestizaje die offenkundigste Ausprägung von »Faulheit«, »Dekadenz« und »Fatalismus« dar, die in der psycho-sozialen Zusammensetzung der Bevölkerungen auf diesem Kontinent und besonders in der argentinischen bestehe, da sie »nicht zu lachen vermag« (Bunge 1903: 183). Auf ähnliche Weise schlug der Hygienearzt Lucas Ayarragay (1912) die ethnische Erforschung von Argentinien mit dem Ziel vor, die Zusammensetzung einer mestizischen Bevölkerung zu analysieren, die eine deutliche Tendenz zur physischen und moralischen Degeneration habe. Ethnisches Erbe und Degeneration verbinden sich für Ayarragay in Argentinien als das Produkt der mestizaje und einer rassiologischen Hybridisierung und führten so zur Entstehung von »neuropathischen razas« und zu verschiedenen Degenerationstypen wie »mental Schwache, Amoralische, Idioten, Faulpelze, Alkoholisten, Mörder und Müßiggänger« (ebd.: 24). Das Problem einer ›gut zusammengesetzten‹ Bevölkerung verlange also im Gegensatz zur rassiologischen Hybridisierung der mestizaje nach einer insgesamt homogenen raza. Daher liegt für Alyagarray das ethnische Dilemma Argentiniens darin, ohne jede Kontrolle und im Eifer, »das Land zu bevölkern«, »alte« und »erschöpfte razas« von Einwanderern empfangen zu haben, die vermischt mit den einheimischen razas indígenas eine bedauernswerte ethnische Situation hervorgebracht hätten (ebd.). Die Lösung des aktuellen ethnischen Degenerationszustandes beruhe daher in der »Kreuzung« von Europäern »de buena raza« über mehrere Generationen, um die mentale Schwäche und die Tendenzen zur Degeneration unserer mestizischen Bevölkerung zu verändern. Diese selektiven Überschneidungen würden es nach Ayarragay dem mestizo ermöglichen, sich »überlegen« zu machen, sich dem Europäer anzunähern. Dasselbe solle mit den Kindern von negros mit indios oder zambos geschehen, die selbstverständlich sowohl physisch als auch mental unterlegen seien, damit die Vermischung mit dem Europäer zu einer schleichenden Verbesserung der Nachkommenschaft führe (ebd.). Gewiss ist die »Verbesserung« der mestizischen Bevölkerung durch die Vermischung mit Europäern »de buena raza« als ein gradueller Prozess gedacht, der mindestens drei oder vier Generationen durchlaufen muss, damit der mestizo zu einem tercerón, cuarterón oder quinterón, ausgehend von der Abstammung von weißen Eltern, wird und sich so in »der europäischen Zivilisation assimilieren | 163

und ein effizienter ökonomischer, sozialer und politischer Faktor sein« kann (ebd.: 43). Die Einwanderungsfrage oder, besser besagt, die Auswahl von europäischen Immigranten »de buena raza« wurde so zu einem der dringendsten zu lösenden Probleme, in Bezug auf den Wunsch nach einer Argentinität. Das idyllische Bild einer homogenen Bevölkerung und einer Ankunft des europäischen Immigranten als Spender von Kultur, Arbeit und Fortschritt stand nun aber im Gegensatz zur Ankunft der Immigranten aus »Fleisch und Blut«, von denen viele in der Hitze von sozialen Kämpfen, vor dem Kampf ums nackte Überleben im Arbeitsalltag und vor marginalen Lebensbedingungen geflohen waren. Als Antwort auf die Ankunft von unerwünschten Einwanderern und »gefährlichen Klassen« Europas wurde eine ganze Reihe von Maßnahmen angewandt – begonnen mit dem sogenannten Gesetz Cané oder Residenzgesetz von 190218 –, um die aufständischen Einwanderer – vor allem anarchistische Aktivisten – aus dem Land zu vertreiben und um den »Minderwertigen« oder »sub-razas« die Einreise zu verbieten. Zudem wurde im Jahr 1916 das Gesetz verabschiedet, das negros, amarillos und Juden die Einreise verbot, sowie im Jahr 1925 das Gesetz zur »defensa de la raza«. Dies sind einige paradigmatische Beispiele dieser Notwendigkeit, die Bevölkerung zu selektieren, die man regieren möchte (Vallejo/Miranda 2005). Zusammenfassend bildet das Vorhaben, eine arbeitende, unternehmungslustige und gesunde Familie zu formen, einen der Eckpfeiler der Ausbreitung des Liberalismus in Argentinien und zwar als eine ›Kunst‹, die Freiheiten und Sehnsüchte der Subjekte zu steuern.

Die Möglichkeit einer ›raza argentina‹ Die Konstruktion der Argentinität und das sie symbolisierende Staatsbürgerideal taucht als eine der größten zu meisternden Herausforderungen innerhalb der in Argentinien Anfang des 20. Jahrhunderts angewandten Regierungspraktiken auf. In diesem Kontext steht der Wunsch, eine ›raza argentina‹ zu erschaffen, für den Versuch, die Vorstellung eines modernen, 18 Das Residenzgesetz Nr. 4144, beschlossen am 22.11.1902 unter der Präsidentschaft von Julio A. Roca, erklärt in Artikel 2: »Die Exekutivmacht kann die Ausweisung jedes Ausländers anordnen, dessen Verhalten die nationale Sicherheit gefährdet oder die öffentliche Ordnung stört.« Sitzungsprotokoll der Abgeordnetenkammer, Nationalkongress, Republik Argentinien, 1902. 164 |

›weißen‹ Argentinien zu konkretisieren, das von den destruktiven Elementen der ›minderwertigen‹ razas wie zum Beispiel der indios, negros oder mestizos befreit ist. Diese würden sich nach dem herrschenden positivistisch/evolutionistischen Diskurs im unwiderruflichen Aussterben befinden. Der mito de la blancura, die Repräsentation, dass Argentinien das einzige weiße Land südlich von Kanada sei, fungiert wie ein imaginärer Indikator des Forschritts, in dem sich die Nation wiederfinden sollte, und als Symbol eines sozial-kollektiven Lebens, das fähig ist, sich selbst über Arbeitskraft und Kultur zu modernisieren. Dieser Richtung nähert sich Ingenieros in der Ausarbeitung seiner emblematischen Sociología Argentina (1946) an und erörtert die Möglichkeiten und Fähigkeiten, welche die ›raza argentina‹ besitzt sowie die »Bestimmung zur Überlegenheit«, die ihr in diesem Kontinent beschert ist. Der argentinische Kriminalmediziner hat vier maßgebliche Gründe für eine vielversprechende und außerordentliche Zukunft, die Argentinien im geopolitischen Kontext des spanischsprachigen Amerikas erwartet, benannt: das weiträumige Territorium, die Fruchtbarkeit des Bodens, das ideale Wetter für die Akklimatisierung von europäischen razas und die starke Präsenz von europäischen razas. Aufgrund des Zusammentreffens von diesen Elementen hat das argentinische Volk für Ingenieros die unausweichliche Bestimmung, einen großen moralischen Einfluss auf den Kontinent auszuüben und sich an die Spitze der neolateinischen Völker zu stellen (ebd.). In diesem Kontext sind die ökonomischen, politischen und intellektuellen Kapazitäten, von denen man vermutete, dass die Region des Río de la Plata – Uruguay, Südbrasilien, Zentralargentinien und Zentralchile – sie besäße, zusammen mit den Umweltbedingungen, welche die Entfaltung der ›raza blanca‹ ermöglichen sollten, für Ingenieros (1986) deutliche soziologische Fakten, die es erlaubten, diese Gegend als das Zentrum einer neolateinischen raza einzurichten. Diese raza sollte ein globales Gegengewicht zum »englischen, deutschen und yankee Imperialismus [sic!]« bilden. Der Ruf von Ingenieros nach einer »Unión Latinoamericana« – darin inbegriffen die Idee eines »Lateinamerika für die Lateinamerikaner« – ist Ausdruck des politischen Willens, dass die lateinamerikanischen Bevölkerungen einen moralischen, kulturellen und politischen Horizont entwerfen, der dazu fähig sei, der Doktrin des US-Imperialismus, verkörpert im Panamerikanismus von Monroes Aufruf zu einem »Amerika für die Amerikaner«, entgegenzuwirken (ebd.). Diese gewisse ›lateinamerikanistische‹ Note bzw. die Fokussierung auf die ‹nationale Problematik‹ bei Ingenieros | 165

– teilweise als das Produkt der Entzauberung, welche die Barbarei des Krieges in seinem Denken auslöste – hindert einen nicht daran, den deutlichen meritokratischen Rassismus zu erkennen, der durch die Prinzipien des die Freiheit verneinenden Determinismus aufrecht erhalten wird, durch die Vorherrschaft von biologischen Gesetzen, die natürliche Unterschiede zwischen Lebewesen sanktionieren, und durch das Prinzip des Kampfes ums Überleben, in dem sich die besser angepassten Individuen behaupten (Ingenieros 1946). Im Sinne der zukünftigen Überlegenheit, die unserem Land vorbestimmt ist: Worin besteht denn für Ingenieros die Idee einer ›raza argentina‹? Unter ›raza argentina‹ kann man eine neue Variante der in ein Territorium eingewanderten ›razas europeas‹ verstehen, wobei das Territorium sich durch seine günstigen Akklimatisierungsbedingungen auszeichnet. In diesem Sinne meint man, wenn man von einer ›raza argentina‹ spricht, eine lokale Variante von ›razas europeas‹ oder ›razas euroargentinas‹ als das Produkt von sozialen und psychologischen Variationen, welche die argentinische Natur in den, im neuen Territorium angepassten ›razas europeas‹ verursacht. Raza, die Meritokratie der am besten fürs Überleben Angepassten, die Moralisierung der Bräuche und ein darüber gestülpter Eurozentrismus konvergieren so in dem Streben nach einer Argentinität, die dazu fähig sein soll, den Weg des Fortschritts und der Modernisierung der westlichen Zivilisation nachzugehen. Wissenschaft, Ströme von modernisierten Subjekten und Kolonialität vereinigen sich so in den Vorstellungen einer geplanten Nation, die auf Exklusion und historischem Verschweigen derjenigen Leben und Stimmen beruht, die in der Exteriorität der erwünschten Gemeinschaft verortet sind. Letztendlich handelt es sich um eine Erzählung über ein ›Wir‹, dessen Markierungen immer noch präsent sind und die uns gleichzeitig zu ihrer Dekolonisierung aufrufen.

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Die lateinamerikanische Universität auf dem dekolonialen Scheideweg1 Zulma Palermo »Doppelt herausgefordert von Gesellschaft und Staat, scheint die Universität diesen Herausforderungen nicht gewachsen, insbesondere wenn sie auf tiefgreifende Veränderungen und nicht nur auf partielle Reformen abzielen.« B. de Sousa Santos Eine Annäherung an die Problematik der lateinamerikanischen Universität unserer Zeit setzt eine Bedingung voraus: die Bereitschaft, das universitäre Studium von einer ›anderen‹ Verortung aus zu denken, die sich zwar von der Konstruktion von Wissensproduktion und der Struktur von Universitäten, wie sie seit ihrer Gründung in Lateinamerika besteht, unterscheidet, aber diese nicht ausblendet. Von dieser ›anderen‹ Verortung aus zu denken, erfordert, einige zentrale Fragen für die Beseitigung der Probleme, die wir beleuchten, aufzuzeigen: auf der einen Seite die externen Probleme des Universitätssystems, welche die Universitäten außerhalb der Metropolen betreffen, die durch die ›Krise‹ eingetreten sind und mit der ökonomischen Globalisierung wirksam wurden; auf der anderen Seite die für das Konzept einer Universität relevanten Probleme, die mit dem herrschenden hegemonialen Modell seit dessen Erscheinung in Lateinamerika bricht, mit dem nur eine einzige Form von Wissen legitimiert wird – diejenige der eurozentrischen Ratio – und die eine Loslösung der in ihr implizierten epistemischen Kolonialität sucht. Hierfür ist von Anfang an eine radikale Auseinandersetzung mit den Fragen woher, wofür und für wen erforderlich, das heißt, woher, wofür und für wen das Wissen eigentlich bereitgestellt und konstruiert wird (Lander 2000).2 Tatsächlich kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Universität von den Problemen der Gesamtheit der Gesellschaft unabhängig ist, vor1 2

Dieser Artikel ist der Vorläufer für ein Buch, das sich in der Vorbereitung befindet. Ich bedanke mich speziell für die maßgeblichen Beiträge und Kommentare von Fernanda Bravo Herrera und Pablo Quintero. Von der dekolonialen Option aus, in der wir uns situieren, wurde bereits ein breites Feld von Reflexionen dazu produziert (Mignolo 2003: 171-188, 31-58), (Palermo 2002: 157-174; 2005: 41-48; Palermo 2009: 229-236), (Castro Gómez 2005a: 79-92; 2005b:), (Kaplún 2005: 213-250), (Melgarejo Acosta 2003: 171-188). | 171

ausgesetzt, dass sie angesichts dieser Probleme eine klar definierte ethische Verantwortung hat, denn die politischen Projekte, die verschiedene Nationalstaaten und internationale Allianzen zu realisieren beabsichtigen, bedürfen der Gestaltung eines institutionellen Charakters und der Verleihung eines wissenschaftlichen Status’. Die gravierenden Extreme der Marginalität und Armut, des Hungers und der Kinderunterernährung lassen nur auf eine Zukunft mit erheblichen Veränderungen hoffen. Dafür ist es notwendig, die traditionelle Funktionsweise der Universität in eine Krise zu versetzten, ihrer Unbeweglichkeit mit Taten zu begegnen und ihren Widerstand gegen Veränderung zu transformieren. Die drei oben aufgezeigten Fragen sind zentral für die Eröffnung einer Diskussion: Es geht um den geopolitischen Ort (das woher), von dem aus sich die Projekte der universitären Politik entwickeln und konkretisieren; den Zweck (das wofür), an dem sie sich von einem ethischen Standpunkt aus orientieren; um schließlich zur Frage der betroffenen Personen (für wen) zu kommen und den Handlungen, die sich daraus, in großer Abhängigkeit zu den zwei vorherigen Aspekten, ergeben.

Die Kolonialität nimmt Orte ein Von fundamentaler Wichtigkeit ist die Frage nach dem sozio-historischen Ort – der Territorialität. Darin befinden sich die zur Debatte stehenden Universitäten, da jedes Wissen nicht nur eines physischen Raumes bedarf, sondern und vor allem einer gemeinsamen Erfahrung, welche die Lebensformen in einem Gebiet definiert. Unter Territorialität verstehen wir also nicht nur eine legale und administrative Abgrenzung, sondern auch eine symbolische Konstruktion, die von ihren eigenen Mitgliedern verwirklicht und von ihren Intellektuellen konzeptualisiert wird (Escobar 2005b: 157193). Im Fall der Universität trifft dies besonders zu, da das Wissen an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit produziert wird – im Hier und Jetzt jeder Verortung. Und dass es mehr oder weniger Gültigkeit erlangt, ist maßgeblich von Machtfaktoren abhängig, die sie generalisieren, indem sie ihnen den Wert von ›Universalität‹ geben. Die Universitäten, von denen wir sprechen, sind in dem als Lateinamerika bezeichneten Makroraum verortet – in all seiner komplexen Heterogenität. In der gegenwärtigen Situation – der Reaktivierung des Universalismus (des globalen/weltweiten Modells) – tragen sie die Konsequenzen eines langen Prozesses der Kolonialität. Erstens, weil sie das Objekt der imperialen 172 |

Herrschaft waren, und zweitens, weil die ›innere Kolonisierung‹ von der Erlangung der Unabhängigkeiten bis zum heutigen Tag wirkt. Diese wurden von den criollos durchgeführt, die das hegemoniale Modell der Modernität/ Kolonialität bereits naturalisiert hatten. Dieses Modell bewirkte Kolonisierungsprozesse, die sich auf dem Subkontinent seit dem Moment der Eroberung konstruiert und gefestigt und bis in die Gegenwart naturalisiert haben. Diese Behauptung ist eine der Grundlagen der dekolonialen Option, die, indem sie eine analytische Kritik an der Modernität/Kolonialität3 formuliert, eine ›Loslösung‹ Lateinamerikas von dem Paradigma der Modernität vorschlägt. Gemeint ist die Loslösung von der Kolonialität und der Konstruktion der ihr eigentümlichen Macht auf allen Ebenen, die zu einem großen Anteil durch die epistemische Kontrolle reguliert wird. Ein Prozess der nach Aníbal Quijano »Vermischungen, Widersprüche und Be/Entgegnungen« impliziert: »Lateinamerika war [seit seinen Anfängen] und ist [während] all dieser Zeiträume seiner historisch-strukturellen Konstituierung innerhalb des gegenwärtigen Machtmusters dazu gezwungen, der privilegierte Raum zu sein, an dem die Kolonialität der Macht ausgeübt wird. Und davon ausgehend, dass in diesem Machtsystem der Eurozentrismus eine hegemoniale Kontrolle über das Wissen produziert, finden wir Vermischungen, Widersprüche und Be/Entgegnungen, wie sie auch Cide Hamete Benegeli zu ihrer Zeit und an ihrem Ort wahrnehmen konnte.« (Quijano 2005: 10)

Hier wird die komplexe Struktur der kolonialen Matrix (zu der in Opposition die dekoloniale Perspektive entsteht) deutlich, die Teil des modernen/ kapitalistischen Weltsystems ist – hervorgebracht durch den europäischen Kolonialismus Anfang des 16. Jahrhunderts – und die sich »durch die Macht in Form sozialer Beziehungen von Beherrschung, Ausbeutung und Konflikt [aufrechterhält] und alle Bereiche der sozialen Erfahrung kontrollieren möchte« (Quijano 1999: 101). Diese von der westlichen Monokultur manipulierten Funktionsweisen breiten sich in verschiedenen Bereichen des kollektiven und individuellen Lebens aus: 1) die Kontrolle über die Wirtschaft und Autorität, institutionalisiert durch politische und ökonomische Theorien; 2) die Kontrolle über die Natur und ihre Ressourcen, über den 3

Die Zusammenführung seiner konzeptionellen Argumentationslinien bildet den eigentlichen Kern der dekolonialen Option. Für eine Genealogie und Integration des Kollektivs siehe unter anderem Escobar (2005a), Grosfoguel (2006), Mignolo (2007), Pachón Soto (2007). | 173

wissenschaftlichen Apparat und Technologie; 3) die Kontrolle über Gender, Sexualität und Rationalität durch die Unterwerfung von Subjektivitäten; 4) die Kontrolle über das Wissen durch das Aufzwingen einer einzigen Form von Rationalität.4 Diese Rationalität besteht dieser Tage aus einem Glaubensraster, das in Form von Wahrheiten etabliert ist. Von ihnen ausgehend wird gehandelt und die Welt und das Leben der Menschen und des Planeten erkannt und organisiert. Ein globales, vorher imperiales, Beherrschungsmuster, das durch Unterordnung reguliert wird. Für die Theorieproduktion, die kritischen Konstruktionen und hermeneutischen Wege – ohne Unterscheidung der Disziplinen –, wird die Suche nach den Funktionsweisen dieser strukturellen Kontrollen in jeder Verortung innerhalb der kolonisierten Räume, die auch heute noch von der Kolonialität beherrscht werden, im breiten Feld der sozialen Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, zur Notwendigkeit. Mit anderen Worten: Es wird vorgeschlagen, sich für eine Neupositionierung zu entscheiden, die eine Loslösung von der inneren Kolonisierung ermöglicht, durch die wir seit dem Moment, in dem sich die Weltkarte vervollständigte, konstituiert und diszipliniert wurden. Dafür ist es unumgänglich, den Schauplatz der Kolonisierungsprozesse weiter zu definieren als dessen geografische Abgrenzungen und ihrer gewaltvollen Durchsetzung. Die genannten Prozesse müssen in ihrer semiotischen Formatierungen analysiert werden. Diese koloniale Semiose impliziert konstante Interaktionen, die von Vergessenem, Anpassungen, Gegensätzen und Widerständen durchkreuzt und alle Teil des gleichen Prozesses sind. Die Sprache, die Schrift und Zeichensysteme unterschiedlichster Art, ebenso wie ihre Konzeptualisierung und die disziplinäre Verteilung des Wissens, durch die sie formalisiert werden, bilden eine Gesamtheit von Beziehungen, mit der die Kolonisierung effektiv wird. Innerhalb dieses Projektes wurden vor wie auch nach den politischen Unabhängigkeiten und mit den 4

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»Dies ist ein Konzept, das eines der fundamentalen Elemente des aktuellen Machtsystems berücksichtigt: Die soziale und universale Klassifizierung der Bevölkerung des Planeten nach der Idee der ›raza‹. Diese Idee und die auf ihr begründete (›rassistische‹) soziale Klassifizierung sind vor 500 Jahren zusammen mit Amerika, Europa und dem Kapitalismus entstanden. Sie sind der tiefste und beständigste Ausdruck der kolonialen Herrschaft und wurden der gesamten Bevölkerung des Planeten durch die Expansion des europäischen Kolonialismus aufgezwungen. Deswegen erreicht das aktuelle und weltweite Machtmuster alle Orte der sozialen Existenz und diese stellen die tiefsten und wirksamsten Formen von sozialer, materieller und intersubjektiver Herrschaft dar und bilden die universellste intersubjektive Basis für die politische Herrschaft innerhalb des aktuellen Machtmusters« (Quijano2001)

Unterschieden, welche die zeitlichen Veränderungen mit sich brachten, die lateinamerikanischen Universitäten konzipiert und zu äußerst effektiven Agenten der kolonialen Politik. Diese Politik hat nicht nur über die Körper und ihre Stimmen (Sprachen und Schreibsysteme) Gewalt ausgeübt, sondern und vor allem auch über die Wissensformen. Zentrales Moment im Entwurf von Universitäten der ›anderen Art‹, den wir hier in Angriff nehmen, ist die Kolonisierung des Wissens, durch die alle anderen möglichen Formen von Erklärungen über das Leben und die Welt, über die Verarbeitung von historischer Erinnerung, über die Interaktion mit der Natur zur Verbesserung der Lebensbedingungen ausgeschlossen werden. Die epistemische Gewalt, welche die Perspektive der kolonialen Differenz beinhaltet, hat durch das Einheitsdenken die ›anderen‹ Gruppen in Objekte der Erkenntnis transformiert und dabei ausgeschlossen, dass auch sie in der Lage sind, sich als Subjekte der eigenen Wissensproduktion zu konstruieren.5

In Richtung einer Loslösung Um die ›andere‹ Universität zu formen, bedarf es des Einsatzes von Kräften, welche die Möglichkeit eröffnen, über die ›anderen‹ Welten und über das Wissen ›der anderen Art‹ zu sprechen. Es geht darum, einen Wissensraum zu konstruieren, der darauf abzielt, Subjektivitäten zu formieren, die sich daran orientieren, ein dekoloniales, antikapitalistisches, antipatriarchales und antiimperialistisches Projekt zu schaffen. Dieses sollte unterschiedliche institutionelle und konzeptuelle Formen für das Projekt der Sozialisierung der Macht anbieten, je nach den verschiedenen und multiplen Epistemologien. Es geht nicht darum, »die globalen, sozialistischen, eurozentrischen Muster des 20. Jahrhunderts zu reproduzieren, die von einem unilateralen, epistemischen Zentrum ausgehend nur die Fehler wiederholen würden, welche die Linke in ein globales Desaster geführt haben. Dies ist der Aufruf für ein Universal, das pluriversal ist [...], ein konkretes Universal, das alle epistemischen Besonderheiten inkludiert und zu einer Sozialisierung der Macht, auf dekoloniale und transmoderne Art und Weise, führt.« (Grosfoguel 2006: 45) 5

Für das Denken der westlichen Modernität »ist die Rolle der wissenschaftlichtechnologischen Vernunft, Zugang zu den am besten versteckten und fernsten Geheimnissen der Natur zu verschaffen, mit dem Ziel, sie dazu zwingen, unseren Kontrollimperativen zu gehorchen«. (Castro-Gómez 2000: 146). | 175

Diese Möglichkeit ermutigt dazu, die bereits bestehenden Nachforschungen innerhalb des lateinamerikanischen Kontextes zu überprüfen und den Kontakt zu denjenigen zu suchen, die in den anderen Räumen des ›Südens‹ (im Allgemeinen als Dritte Welt bezeichnet) produziert werden, und eine Gesamtheit von diskursiven und textuellen Praktiken analytisch aufzuarbeiten, die dem hegemonialen Diskurs entweder zugrunde liegen oder sich radikal von ihm unterscheiden. Dadurch ist es möglich zu verdeutlichen, dass in diesen Forschungsrichtungen unterschiedliche Genealogien eine Rolle spielen, woraus folgt, dass sie sich an Orten positionieren können, die auf methodologischen und strategischen Ebenen nicht völlig miteinander übereinstimmen. Dennoch ist es möglich, dass sie sich in der politischen Suche nach Alternativen zu den hegemonialen Wissensformen vereinen und gemeinsam nach einem ethischen Bekenntnis zu einer gleichberechtigten Wissenskonstruktion streben.6 Das sich daraus ergebende zentrale Problem der Gültigkeit des Wissens, so wie es bisher bestand und wie es an unseren Akademien aufgefasst wird, erfordert die Diskussion einer zentralen Frage: Warum ist nur eine Form von Wissen – die eurozentristische – legitim und nicht irgendeine andere? Wird die Frage auf diese Weise formuliert, so setzt sie von Beginn an voraus, dass das Wissen politisch hinterfragt wird. Diese Frage wird hinsichtlich des Kampfes um Hegemonie im Inneren eines Feldes verortet, in dem mehrere und unterschiedliche Wissensformen existieren (und es wird anerkannt, dass von dieser Hegemonie mehrere und unterschiedliche Wissensformen existieren, die einander bedingen, um Gültigkeit zu erlangen), die zugunsten der Wissenschaft ausgeschlossen werden mit der Begründung, dass die ›anderen‹ Formen von Wissen nur lokal und punktuell gelten und sich der Möglichkeit zur Verallgemeinerung entziehen, was bedeutet, dass sie als unkommunizierbar gelten. Für die dekoloniale Option ist diese Gleichstellung äquivalent zur Kolonialität des Wissens, da bestätigt wird, dass eine ›essenzielle‹ (natürliche, tiefgreifende) Differenz innerhalb der Wissensformen existiert oder auch eine Form von einer ›Erfahrung der Wildheit‹ (experiencia salvaje i.O.) im Unterschied zu einer anderen modernen, rationalen, entwickelten.7 6 7

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Dieses ethische Bekenntnis lässt sich nicht auf das epistemologische Feld reduzieren, sondern ist eine der Komponenten für eine radikale Veränderung hin zur sozialen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit auf der Welt. Das ist die Konsequenz der anfänglichen Verneinung der Gegenwart, die von dem dominanten Denken ausgeübt wird. Über die Funktionsweise dieser Verneinung

All dies impliziert, dass die Beziehungen zwischen den Wissensformen die gleiche Struktur wie Machtbeziehungen haben, was bedeutet, dass von Beginn an jedes Wissen lokal und potenziell universalisierbar ist, insofern, als dass ihre Macht eine Kontrolle über die Allgemeingültigkeit der anderen Orte ausübt. Nichtsdestotrotz hat das nicht unbedingt Einfluss auf dessen Legitimität: Das Wissen wird nicht dadurch legitim, dass es ein breites Spektrum an Orten betrifft, sondern es wird dann zu einem hegemonialen Wissen, wenn der Ort, an dem es produziert wird, ein Ort der Macht ist. Deswegen verbindet sich die Legitimität des Wissens mit seinem Standort, also mit der Möglichkeit, sich selbst zu legitimieren. Um die von der Modernität generierte Differenz abzuschaffen, ist eine Verortung ›an der Grenze‹ notwendig, an dem Ort, an dem das Anderssein des Europäers handelt und denkt, bei denjenigen, bei denen sich das ›andere‹ Wissen entfaltet. Sich für eine dekoloniale Position zu entscheiden, die Widerstand gegen diesen Zustand ausübt, impliziert, sich innerhalb eines unumgänglichen intellektuellen Kampfes zu verorten. Es bedeutet auch die Notwendigkeit, mit anderen Auffassungen von Widerstand gegen die Herrschaft der Macht zu diskutieren, so wie sie Alain Badiou vertritt, der bestätigt, dass »es besser ist, nichts zu tun, als zu der Erfindung von formalen Wegen beizutragen, die das sichtbar machen, was das Imperium bereits als existierend anerkennt« (in Žižek 2005: 8). Wie Žižek vorschlägt, bedarf dieser Aufruf zur Untätigkeit gegenüber einer offensichtlichen Krise die Öffnung eines Raumes des Wartens, da sich das Scheitern der ›Revolutionen‹, die sich in der westlichen Moderne unter dem Zeichen des Sozialismus ereignet haben, heute in einen Aktivismus ohne Ziel transformiert hätte: »Heutzutage ist die Bedrohung nicht die Passivität, sondern die Pseudoaktivität, die Dringlichkeit, ›aktiv zu sein‹, ›teilzunehmen‹, die Leere dessen zu verschleiern, was vorfällt. Die Personen intervenieren die ganze Zeit, ›tun etwas‹, die Akademiker nehmen an sinnlosen ›Debatten‹ teil usw., und das wirklich Schwierige daran ist, zurückzugehen, sich dem zu entziehen. Diejenigen, welche die Macht haben, bevorzugen sogar eine ›kritische‹ Beteiligung, einen Dialog, gegenüber dem Schweigen – [...], um sicherzugehen, dass unsere ominöse Passivität gebrochen ist. In dieser Konstellation ist der erste wirklich kritische (›aggressive‹, gewalttätige) Schritt, sich der Passivität hinzugeben, sich der Teilnahme zu verweigern; dies ist der notwendige Schritt, der dass Terrain für eine wirkliche siehe Castro-Gómez (2005b). | 177

Aktivität begründen kann, für einen Akt, der die Koordinaten der Konstellation effektiv verändert.« (Žižek 2005: 8f )8

Die Option, nach dekolonialen Wegen zu suchen, unterscheidet sich davon insofern, als dass sie eine andere Auffassung der eigenen Prozesse in Lateinamerika erfordert, auf die sie sich stützen können. Die koloniale Differenz wird hier von einem kritischen Blickwinkel aus betrachtet und daher ist es notwendig, eine kritische Utopie zu konstruieren, die das Gegenteil von konservativen Utopien ist (Sousa Santos 2006). Sie muss diese Differenz aufzeigen, um die entsprechenden Bedingungen herzustellen, damit dialogbereite Beziehungen gefördert werden, worin die Interventionen der kolonisierten Subjekte in Parität und Symmetrie zum hegemonialen Diskurs stehen. Kurz gesagt, soll das Verhältnis von Abhängigkeit, Minderwertigkeit und ›Subalternität‹ zerstört werden, das diese Gesellschaften konditioniert. Das wofür der Universitäten in Lateinamerika orientiert sich folglich daran, dass ein kritisches Denken in Gang gesetzt wird, mit dem das Zentrum dazu mobilisiert wird, sich den Peripherien anzunähern. Dies bedeutet, dass Erinnerungen und Traditionen9 als Kette von vorangegangenen Entscheidungen verwendet werden, die von der peripheren Information immer erneuert werden können, indem die Perspektive wechselt, da die periphere Information Priorität gegenüber dem hegemonialen Vorausgegangenen erhält. Die aus dieser epistemischen Artikulation resultierende Politik zielt darauf ab, die vorher aufgezeigte Symmetrie herzustellen. Hierbei wird vom Respekt für die Wissensformen des Anderen ausgegangen, seine Legitimität wird anerkannt, und es wird nicht nur aus Toleranzgründen gehandelt, denn 8

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Es handelt sich um eine Sichtbarmachung von Vertretern des sogenannten ›Postmarxismus‹, gekennzeichnet von der »Erfahrung der Katastrophe«, die dazu führt einen »Sinn zu suchen, ohne ihn finden zu können, Illusionen zu kreieren […] und an sie zu glauben, zu einem Zeitpunkt, an dem es offensichtlich geworden ist, dass es sich um Illusionen handelt und es daher nicht mehr möglich ist, weiter an diese zu glauben, aber wir es trotzdem nicht lassen können. Schlussendlich ist es nichts anderes als diese paradoxe Unternehmen: die ungreifbare Aufgabe, sich zu einem illusorischen Subjekt der eigenen Illusionen zu machen, zu einem Zeitpunkt, an dem die gegenwärtige Krise des Marxismus völlig schonungslos und unvermittelt erscheint, um sich selbst zu verdammen.« (Palti 2005: 200) Mit ›Tradition‹ ist hier nicht die essenzialistische Auffassung der Wiederherstellung eines Ursprungs gemeint, sondern etwas, das sich in Archive einschreibt, sei es durch Schrift oder mündliche Weitergabe. So wie die Merkmale in der Haut, im Körper, in der eigenen Biographie. Nach diesem Vorschlag wird von hier aus auch die Natur, als Erweiterung des menschlichen Körpers, sichtbar – als ein Ort, an dem sich die Erinnerung an das Leben auf dem Planeten einschreibt.

diese scheinbare und manipulierende Akzeptanz ist immer ein notwendiger Schritt, um den Anderen in die eigene Wissens- und auch Lebensform zu integrieren. Im Gegensatz zum Toleranz-Ansatz wird also vorgeschlagen, von der ›Information‹ der in Betracht gezogenen ›Peripherie‹ auszugehen und seine Tradition nur als ein Sprungbrett zu verwenden, um sich ihr zu nähern.10 Das Profil der lateinamerikanischen Universitäten erfordert daher ein Denken, dass von anderen Orten aus geformt wird, von anderen Sprachen verwendet wird, sich auf andere Logiken stützt und von den Grenzen des modernen/kolonialen Weltsystems aus aufgefasst wird. Deswegen basiert es auf der Kritik am Okzidentalismus/Eurozentrismus aus einer marginalen und keiner selbstmörderischen Position ihm gegenüber. Die verstoßenen Kritiken innerhalb dieser Tradition, die ihm ebenso zu eigen sind, aber überdacht werden müssen, sind auch ein Bezugspunkt. Diese ›anderen Orte‹ einer neuen Utopie wurden von Fernando Coronil folgendermaßen poetisch skizziert: »Stellen wir uns eine Welt vor, in die alle Welten hineinpassen, in jeder Sprache, mit jeder Epistemologie. Aber diese Welt wäre besser, wenn sie aus vielen Welten bestände. Welten, die in Träumen auf Pritschen in den Anden und auf Ruderbooten in der Karibik, auf Aymara und Spanisch geträumt werden, ohne dass jemand bestimmt, welche Träume geträumt werden dürfen. Dies würde zu Welten führen, in denen niemand Angst hat aufzuwachen.« (Coronil 2007)

Aus dem, was bisher knapp dargelegt wurde, lässt sich folgern, dass die Fundamente der in der europäischen Exteriorität lokalisierten Universitäten auf einer kritischen Analyse der Funktionsweisen des Projektes der Modernität und seiner aktuellen Konkretisierung – der Globalisierung und ihrer Auswirkungen – aufbauen sollte, um Alternativen für ihre Vorhaben zu suchen, und zwar in der Konstruktion von lokalen/globalen Netzwerken aus der Position eines politisch verantwortlichen Andersseins. Daher ist es auch unumgänglich, sich von der heute verallgemeinerten Annahme des sogenannten ›politisch Korrekten‹ zu distanzieren. Auf diese Weise würde die Modernität durch die Erfahrung der Kolonialität Risse bekommen und die Infragestellung ihrer spezifischen und temporären ›Ursprünge‹ würde

10 Die Gender Studies und die Rassismusforschung liefern einen unbestrittenen wichtigen Beitrag für die Suchen/Fragen, die sich daraus ergeben. | 179

eingeleitet. Dies würde die Konstituierung von alternativen und möglichen, lokalen und regionalen Welten implizieren. Daher wird es zu einer unvermeidbaren Forderung, aus der Exteriorität des hegemonialen Diskurses zu denken, dessen Differenz durch das unterdrückte Gegenüber, die Frau, den Armen, die von der Idee der raza Markierten und die Natur aufgezeigt wird (Dussel 2006: 21-69). Dieses Andere wird zum Mittelpunkt einer ethischen Herausforderung, die in einem Diskurs geformt wird, der außerhalb des normativen Rahmens (Kanons) des Systems hergestellt wird, in dem aber immer noch die radikalsten europäischen Denker (Derrida, Foucault, Bourdieu – auf welche die lateinamerikanische intellektuelle Elite am meisten zurückgreift) theoretisieren und die außerhalb dieser kolonialen ›anderen Radikalität‹ liegt. Im Unterschied dazu erscheint es von der dekolonialen Option aus nicht möglich, die Modernität kritisch zu betrachten, wenn es nicht von der Exteriorität des Denkens aus geschieht.11 Hierauf beruht die Distanz zu dem ›postmodernen Denken‹ (postmarxistisch, poststrukturalistisch, postliberal usw.) als ein Teil der Tradition der modernen Ratio, und daher reichen die Kritiken an dieser Tradition nicht aus, um die Differenz zu verstehen, die sich ergibt, wenn von und in dieser gedacht wird.12 Deswegen bedenken die dekolonialen Projekte (von verschiedenen geokulturellen Lokalisierungen aus, an denen sie auftauchen) die Komplexität der Prozesse nicht innerhalb des Paradigmas der Modernität und sehen sie nicht als eine Arbeit an, die ausschließlich von dem intellektu11 Teil der ethischen Herausforderung ist auch der vom argentinischen Philosophen Arturo A. Roig so bezeichnete Sprechort. Ohne dieser Gruppe zuzugehören, stützt Roig sich auf die kulturelle Tradition, die er die »Moral des Notstands« nennt. Eine Moral, die von den Praktiken der sozial größten Bevölkerungsgruppen geprägt ist und die sich deswegen von der puren Ethik des Diskurses distanziert, mit der er seine Verortung in der Befreiungsphilosophie aufzeigt, die wie bei Dussel mit der Befreiungstheologie entstand (Roig 2002). Mignolo hat es wiederum so ausgedrückt: »Das Paradigma der anderen Art ist nicht und kann nicht auf das Paradigma der Postmodernität oder auf das postmoderne Projekt reduziert werden, da in beiden Fällen das Paradigma der anderen Art auf ein Schweigen reduziert wird, wie das auch bei anderen Denkformen in fünfhundert Jahren Kolonialität/ Modernität gemacht wurde.« (Mignolo 2003b: 27) 12 Mignolo besteht auf diese Differenz: »Während es sich für die Postmoderne um etwas Neues handelt, geht es bei dem Paradigma der anderen Art, das die Kolonialität geschichtlich denkt, um eine neue Form der Kolonialität. Es handelt sich um eine globale Kolonialität, die sich von der imperialen, religiösen Kolonialität des 16. und 18. Jahrhunderts und von der imperialen, nationalen Kolonialität, die vom 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhundert gültig war, unterscheidet.« (Mignolo 2003a: 45) 180 |

ellen Feld betrieben wird, sondern sie beziehen die subalternisierten Gruppen darin mit ein. An diesem Punkt wird das Projekt zu einer Befreiungsethik. Es geht darum, wie es auch Dussel schon gefordert hat, das Wissen der Transmoderne dort zu lokalisieren, wo der Dialog mit dem nicht-eurozentrischen Anderssein möglich ist und wo gleichzeitig eine Kritik an den Situationen möglich ist, durch welche die Subalternen unterworfen wurden. Dafür muss eine Haltung generiert werden, die nicht vom europäischen Denken abhängig ist und dieses auch nicht nachahmt. Dafür ist die Verinnerlichung der Gegendiskurse dieses Andersseins zentral, das die Modernität mitbegründet. Es geht aber nicht nur um eine diskursive Kritik (die Teil des postmodernen Denkens ist), sondern darum, darüber hinauszugehen, über jene und über die Praktiken nachzudenken, die von der Perspektive des ausgeschlossenen Anderen aus eingreifen: »Die ›Realisierung‹ der Moderne beruht nicht mehr auf dem Übergang ihres abstrakten Potenzials hin zu ihrer ›realen‹, europäischen Inkarnation. Eher beruht sie heute auf einem Prozess, der die Modernität als solche transzendiert. Eine Transmodernität in der beide, die Modernität und die verleugnete Alteridad (die Opfer) gemeinsam in einen Prozess treten, in dem sie sich gegenseitig kreativ befruchten. Die Transmoderne (als ein Projekt der politischen, ökonomischen, ökologischen, erotischen, pädagogischen und religiösen Befreiung) ist die KoRealisierung von dem, was die Modernität alleine niemals erreichen könnte; eine einbindende Solidarität, die ich analektisch genannt habe, zwischen Zentrum/ Peripherie, Mann/Frau, unterschiedlichen razas, verschiedenen ethnischen Gruppen, verschiedenen Klassen, Zivilisation/Natur, westlicher Kultur/Kultur der Dritten Welt.« (Dussel 2001: 69f )

Hier wird der spezifische Zweck der Universitäten deutlich: Die Suche nach der Befreiung, die aber auf einem anderen Weg gefunden werden muss, als demjenigen, den die Befreiungsphilosophie und -theologie vorangetrieben haben. Auch wenn beide die gleiche Theologie und ein identisches ethisches Fundament stützen – die Befreiung der untergeordneten Sektoren und die Gerechtigkeit für alle Menschen (die »Utopistica« auf die sich Mignolo bezieht) –, wird die Befreiung nicht mehr mittels des Kampfes gegen den Westen erreicht (bewaffnet oder nicht), sondern durch den Dialog, anhand der Analektik, durch das, was in der Geopolitik des Wissen als über die Grenzen hinausgehend definiert wurde, auf der Suche nach einer ›gegenseitig kreativen Befruchtung‹. Trotzdem beseitigt diese Art von dialogbereiter Beziehung nicht die Widersprüche, die Unterschiede, die Kämpfe, sondern | 181

es sind genau diese, die das Auftauchen des Anderssein und ihrer Anerkennung möglich machen. 13 »Das grenzartige Denken ist kein Hybrid, in dem sich Teile von verschiedenen Ganzen fröhlich vermischen […], sondern es stammt aus der kolonialen Differenz der Macht, gegen die sie sich erhebt. [Es ist] ein Denken aus der Position der kolonialen Subalternität (wie bei Anzaldúa, Fanon oder dem Zapatismus) oder eine Einbindung der kolonialen Subalternität aus einer hegemonialen Perspektive heraus (wie bei Las Casas oder bei Marx). Dies sind einige der möglichen Wege in Richtung eines kritischen Kosmopolitismus und zur Utopística, die uns dabei hilft, eine Welt zu konstruieren, in die viele Welten hineinpassen« (Mignolo 2003a: 58).

Daher bestätigen diese Hinweise das Prinzip, dass es nicht möglich ist, Wissen zu begreifen, wenn es nicht historisch und kulturell verortet ist und wenn es nicht aus den eigenen Praktiken der sozio-historischen Verortung der Kultur, aus seiner Territorialität kommt (das als universell bezeichnete Wissen entspringt auch einem regional situierten Raum). Deswegen geht es von der Möglichkeit der Einbindung und nicht der Kontrolle von anderem Wissen aus, das in anderen Sprachen produziert wurde und durch Praxen hervorgetreten ist, die vom akademischen Diskurs als ›barbarisch‹ bezeichnet wurden.14 Diese multiplen ›Blickwinkel‹ zeigen die Funktionsweise der Heterogenität in ihrem gesamten Ausmaß und die ›Pluriversalität‹15 des Wissens auf und erfordern die Herstellung von anderen Begriffen und Kategorien, die in der Lage sind, das Anderssein von Praktiken zu erklären: Aus diesem Grund erscheint der Versuch unzulässig, gewisse prägnante Phä13 Für eine Perspektive der Veränderungen dieser Auffassung siehe Palermo (2001: 169-182). 14 Cathrine Walsh, welche die Praktiken und das Wissen der indigenen und afrikanischstämmigen Gemeinschaften in Ecuador untersucht, macht darauf aufmerksam, dass »die fließende Beziehung zwischen Kultur/Identität/Politik, wie sie von der indigenen Bewegung beschrieben wird, ebenso wie die Produktion und die Verwendung des Wissens in dieser Beziehung, generell über die Grenzen der akademischen Institutionen hinausgehen«(Walsh 2006: 71). 15 Das Gegenteil eines ›Universalen‹ ist in diesem Paradigma nicht mehr das ›Partikulare‹, sondern das Multiple, das Andere, das Heterogene. Ausgehend davon entsteht das Vorhaben, die Universalität durch die Pluriversalität zu ersetzten (dieses Konzept ist ein ganz anderes als das von Clark Kerr in Bezug auf die universitäre Institution. Er schlägt vor, die Universität durch eine Multiversität zu ersetzen, die sich am öffentlichen Dienst und an einer konservativen Basis orientiert) (Sousa Santos 1998: 225-294). 182 |

nomene der lateinamerikanischen Gesellschaften (z.B. mexikanischer Zapatismus, der kolumbianische Krieg, die argentinische Piqueterobewegung) mit den interpretativen Paradigmen von Bourdieu, Habermas, Taylor oder Foucault zu erklären, bei denen alle nicht-westlichen Bezüge ausgeschlossen werden. Nichtsdestotrotz führt die epistemische Kolonialität dazu, dass sich die lateinamerikanischen Intellektuellen auf diese stützen und dabei andere wie Fanon, Cesaire, Kush oder Scalabrini Ortiz, um nur einige der vielen zu nennen, vergessen. Letztere haben von Lateinamerika aus gedacht, noch bevor das poststrukturalistische Paradigma zirkulierte.16 Zusammengefasst handelt es sich um ein Projekt, das sich in der Kritik am Konstruktionsprozess der Subjektivitäten durch das Projekt der Moderne verfestigt. Dieses hat sich seit der ›Entdeckung Amerikas‹ bis zur neuen Hegemonie ausgeweitet, die durch die Globalisierungsmechanismen, also mit dem Beginn des Kapitalismus bis hin zum sogenannten Spätkapitalismus, in Kraft gesetzt wurde. Eine so umfassende Perspektive sollte Artikulationen zwischen den traditionellen Wissensdisziplinen darüber ermöglichen, wie dieser komplexe soziale Prozess in seiner räumlichen und zeitlichen Ausdehnung zu verstehen ist. Es sollte versucht werden, die Sozialwissenschaften zu entdisziplinieren, sie von einer Perspektive aus umzudeuten, die eher mit sozio-historischen, kulturellen Formationen verknüpft ist, welche die Kolonialität formten. Also weiter als die Disziplinen zu denken, welche die Welt der Moderne ordnen (Walsh 2002). Für die hier zur Debatte stehenden Fragen wird deutlich, dass die Erfindung eines anderen Wissens allein nicht ausreicht, um die Verhältnisse in der aktuellen Welt zu verändern, denn es herrscht die Überzeugung, dass es »zwecklos ist, zu versuchen, unsere Wünsche und unsere Bestreben, wie attraktiv und plausibel sie auch sein oder erscheinen mögen, der Realität aufzuzwingen. Stattdessen ist es unumgänglich, die Tendenzen im gegenwärtigen Weltgeschehen sowie die möglichen Tendenzen auszuloten, die andere Formen von gesellschaftlicher Organisation, Identifikation [...] und Organisation ermöglichen würden.« (Quijano 2001: 28)

16 Der Beweis ist deutlich: Bei dem Durchforsten der Programme unserer Universitäten erscheinen diese Referenzen nur in besonderen Ausnahmen in den empfohlenen Bibliographien. Für eine fragmentarische und mögliche Genealogie in Argentinien siehe »Pensamiento argentino y opción decolonial« (2010). | 183

Die Universität für/mit wem? Wenn, wie wir behaupten, es einer Diskussion über die Universität an dem Produktionsort Lateinamerika bedarf, wenn ihre Funktion und ihr Zweck dekolonial sein müssen, dann ist sie das in dem Maße, indem sie auf die Besonderheiten derer eingehen kann, für die sie geschaffen wurde: auf direkte Weise für die Studierenden und – durch sie vermittelt – für die gesamte Gesellschaft. Es ist dieser äußerst heterogene Komplex in seinem ethnischen, sozialen und kulturellen Aufbau, der zu den höchst unterschiedlichen Erinnerungen und darüber hinaus zu der herrschenden hegemonialen Kultur gehört, der selbst zum Objekt all dieser Spekulationen wird. Es handelt sich darum, diese Pluridiversität zu berücksichtigen, um »die epistemologische Deskolonisierung [zu erreichen], um einen Schritt in Richtung einer neuen inter-kulturellen Kommunikation zu machen, einem Austausch von Erfahrungen und Bedeutungen als die Basis einer anderen Rationalität, die auf legitime Weise eine gewisse Universalität beanspruchen kann. Denn nichts ist schließlich irrationaler als der Anspruch, dass eine spezifische Kosmovision einer bestimmten Ethnie als universelle Rationalität durchgesetzt wird, auch wenn diese Ethnie sich als Westeuropa bezeichnet.« (Quijano 1992: 440)

Wird der Fokus auf diese unerlässliche interkulturelle Suche gerichtet, so bedarf es nicht nur der Berücksichtigung der gesellschaftlichen Besonderheiten jeder Universität in ihrer Verortung, sondern auch einer Berücksichtigung der eigenen konstitutiven Komplexität innerhalb jeder einzelnen Universität. Die lateinamerikanische soziokulturelle Kartographie macht diese Unterschiede sehr deutlich: Von den Universitäten, an denen die diskreditierten Gruppen aus den indigenen und/oder afrikanischstämmigen Gemeinschaften stammen, bis zu denen, an denen die Mehrheit aus, wenn auch nicht nur, den criollos besteht. Wir sind also mit der unaufschiebbaren und herausfordernden Erwartung konfrontiert, angemessene Strategien für Prozesse in interkulturellen Beziehungen zu ›erfinden‹ und zu fördern, damit sie die ›Loslösung‹ der zukünftigen Generationen von Spezialisten, Technikern und Intellektuellen von den kolonisierenden Modellen bewirken, in denen wir uns alle (de)formiert haben. In den letzten fünfzehn Jahren wurde eine wichtige Erfahrung gemacht und zwar durch die Beiträge von indigenen, afrikanischstämmigen Gruppen und von Auseinandersetzungen mit Geschlecht und Sexualität(skonstruktionen), wovon eine immer größere schriftliche Produktionsdichte zeugt, die außer184 |

dem eine immer größere akademische Verbreitung erfährt (im Speziellen derjenigen, die aus dem Andengebiet, aus der Karibik und dem Cono Sur stammen).17 In diesen Bereichen wurden für das akademische Feld äußerst relevante Fortschritte gemacht; dennoch gliedern sie sich als ›spezifische‹ Wissensräume in die universitäre Struktur ein, die den ›anderen‹18 Gruppen zugehörig und zugewiesen werden und bis auf Ausnahmen Teil des postgraduellen Niveaus und, noch spezifischer, Teil der wissenschaftlichen Forschungsprogramme sind.19 Auch wenn dieses Studienniveau Spezialisten und die benötigte ›Expertise‹ hervorbringt, hat es nicht viel Auswirkung auf die Erststudien, was bedeutet, dass zunächst ein Wissen erzeugt wird, dessen anschließende De-Kolonisierung schwierig zu erreichen ist. Deswegen müssen einige wichtige Aspekte besprochen werden: An erster Stelle der Gebrauch (oder Missbrauch) der Vorstellung von Interkulturalität, der in akademischen Räumen verbreitet ist und einer Analyse aus der Differenz bedarf, auch in Anbetracht der Rolle, welche die criolla-Kultur darin spielt. Im Speziellen geht es dabei um den Mangel an alternativen Vorschlägen für/von diesen Sektoren, da bezüglich der internen Unterschiede der criollos oder mestizos wenig gesagt oder problematisiert wird. In dem Moment, in dem die notwendige Reflexion über diese Fragen stattfindet, muss zum Beispiel auch die diskursive und lokale Verbreitung mit in Betracht gezogen werden, die über die verschiedenen Werte der anderen ›Sprechorte‹ im Subkontinent Auskunft gibt. So wird in der Gegend der nördlichen Anden (Ecuador, Kolumbien) von indigenen und afrikanischstämmigen Gemeinschaften versucht, unabhängig von den mestizos zu handeln, die sich gegenüber diesen ›Minderheiten‹ als ›Machtinhaber‹ positionieren.20 Diese Situation unterscheidet sich maßgeblich von der im Cono Sur. Dort bleiben die erstgenannten Gruppen komplett unsichtbar, da sich der

17 Im Speziellen beziehe ich mich bei der letztgenannten Gruppe auf die Mapuche in Chile. Dazu unter anderem die Revista Lengua y Cultura Mapuche, eine jährlich herausgegebene Zeitschrift der Facultad de Educación y Humanidades, Universidad de la Frontera, Temuco/Chile. 18 Ich hebe als einziges Beispiel die Universidad Intercultural de las Nacionalidades y Pueblos Indígenas Amautai Wasi in Quito (Ecuador) hervor, auch wenn sie auf die Quechuagemeinschaft begrenzt ist. 19 Master- und Promotionsstudiengänge in Kultur- oder Lateinamerikawissenschaften in mehreren Universitäten des Subkontinents. 20 Die Bibliographie ist sehr weitläufig. Ich verweise im Besonderen auf Walsh (2005; 2006), Sierra (2003: 38-70; 2004; 2005: 177-195). | 185

Sektor der criollos als der einzig existente wahrnimmt.21 Die langen und frühen Prozesse der Unsichtbarmachung von indios und mehr noch von Afrikanern hatte den ethnischen und sozialen Effekt zur Folge, dass sich die Gesellschaftsordnung allein auf den criollo konzentrierte. Eine weitere Folge ist nach Mignolo die Entstehung eines »weißen criolla-Bewusstseins, […] das sich aus dem Unterschied zu der afroamerikanischen und amerindischen Bevölkerung konzipiert, die Vorstellung von einer modernen/kolonialen Welt [wandelt] und die Grundlagen für den internen Kolonialismus festlegt, der den gesamten Zeitraum der Nationenbildung durchzogen hat.« (Mignolo 2000: 68) Folglich fungiert zwar der criollo (gaucho in Argentinien und Uruguay oder gaúcho in Río Grande do Sul) als Kriterium für die unvermeidbare Homogenisierung in der Konstruktion von Nationalität, das der Kategorie des mestizo am meisten ähnelt. Vor allem aber bezieht es nur diejenigen Sektoren mit ein, die als Grundlage ein elemento blanco vorweisen können. Die im Laufe der Zeit geschehen Veränderungen sind wichtig, da sie von dem kolonialen Bewusstsein der ›pureza de sangre‹ bis hin zur Zeit der ›Gründerväter‹ und der Unabhängigkeit reichen, um schließlich die aus Europa stammenden Gruppen der größeren Migrationswellen zu inkorporieren. Im Unterschied dazu wird die erste Generation, die aus den östlichen Regionen des Globus stammt, nicht als criolla angesehen. Dies ist der Beweis für die ethnische Basis des criollos und, wenn auch verborgen, seiner Zugehörigkeit zur westlichen Abstammung. Dieser Exkurs hilft uns dabei, die Komplexität der ethnischen Unterschiede der Bevölkerungen zu verstehen, welche die lateinamerikanischen Universitätslandschaften durchqueren, sowie die Komplexität der Schwierigkeit, homogene Modelle und gemeinsame Erwartungen bezüglich der zu erreichenden Kompetenzen und den Umsetzungsstrategien festzulegen. Auch innerhalb eines Landes, jenseits der Vorherrschaft und der von den Universitäten der Metropolen ausgeübten ›Kolonialität‹, verschärfen die 21 Zur Genüge kennen wir heute die Wichtigkeit der diskursiven Funktion in der Herstellung von gewissen Vorstellungen; so kommt es, dass in Argentinien und den anderen Ländern des Cono Sur heute das Wort ›mestizo‹ Teil des akademischen Bereichs ist und andere zur Diskussion bereitstehende Bedeutungen beinhaltet. Mir scheint es wichtig, diesbezüglich die Option einer ›Diskursethik‹ von A. Roig hervorzuheben, die in diesem Fall die Wichtigkeit der politischen Verwendungen des akademischen Diskurses und seine Auswirkungen auf die Eigenidentifikationen betont (Roig 2002: 66f ). 186 |

Besonderheiten kleinerer und jüngerer akademischer Zentren die Konflikte, die sich negativ auf die Umsetzung von alternativen Modellen auswirken.22 Der tiefe Widerspruch zwischen den Repräsentationen, welche die Universität von sich selbst erzeugt, und den spezifischen historischen Formationen, innerhalb derer sie ihre Praxis ausübt, ist deutlich wahrnehmbar: Erst in den letzten Jahren hat sie angefangen, die heterogenen Charakteristika dieser Formierung, deren Teil sie ist, wahrzunehmen, was ihrer ›Demokratisierung« zuzuschreiben ist. Diese doppelte, gleichzeitige und auch angespannte Bewegung ist in der argentinischen Universität auf allen Ebenen ihrer Aktivität sichtbar und wird durch die staatliche Finanzierung von wissenschaftlicher und technologischer Forschung verstärkt, definiert nach den Prioritäten internationaler Organisationen. Hierbei spielen die Globalisierungspolitiken eine fundamentale Rolle. Sie zielen auf die Homogenisierung der Bildung anhand von Definitionen ab, wie diejenigen, welche durch das Allgemeine Abkommen über den Handel mit Dienstleitungen (GATS) von 199423 bestimmt werden. Die höhere Bildung ist dadurch ein Teil der Kommerzialisierungsordnung der internationalen Märkte. Dieser Rahmen von internationalen Abkommen, der schon mehr als einmal kritisiert wurde, beraubt die Nationalstaaten der Möglichkeit, angemessene Politiken zu generieren, die ihrem eigenen sozio-historischen Profil entsprechen und sich an ihren wirklichen Notwendigkeiten orientieren, indem ihre Funktion darauf reduziert wird, die Entscheidungen einer supranationalen Entität (UNESCO)24 schlicht und einfach umzusetzen. Der als ›progressiv‹ aufgefasste universitäre Diskus, mitgeformt durch postmarxistische Positionen wie jene von Badiou und Žižek, entscheidet sich, mit dieser neuen Hegemonie zu brechen, indem er ein Arsenal von Affirmationen verbreitet, die mit der universitären Autonomie und mit Menschenrechten in all ihren Dimensionen verflochten sind und sich für 22 Dies ist der Fall bei der Universidad Nacional de Salta, an deren Gründung ich beteiligt war. Daran erinnert A. Roig als eine entstehende pädagogische Alternative der 70er im Rahmen der Befreiungsphilosophie (Roig 1993: 206). 23 Eine deutsche Fassung des Vertragswerks findet man auf: http://eur-lex.europa. eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:21994A1223(16):DE:NOT (Anm. d. Hrsg.) 24 Ein wichtiges Dokument wurde im Juni 2003 von Delegierten von Universitäten aus Lateinamerika und der Karibik herausgegeben. Es ist das Resultat aus der Folgekonferenz der Weltkonferenz zur Hochschulbildung in Paris 1998 (CMES). Dieses universitäre Netzwerk hat die von den internationalen Finanzierungsagenturen auferlegten Standards adaptiert, welche die Kriterien für ›Qualität‹ nach einem betriebswirtschaftlichen Modell festlegen. | 187

das allgemeine Wohl und die Gerechtigkeit einsetzen. Es wird die Demokratisierung aller Instanzen des sozialen Lebens und der institutionellen Praxis vorgeschlagen. Ungeachtet dessen sind die alltäglichen Praktiken, die diese Personen ausführen, von stark hierarchischen Grundsätzen geprägt, die aus ihrem Kampf um institutionelle Macht entstehen, durchsetzt von höchst bürokratischen Strategien, von einem Unvermögen sich selbst zu verändern und sich selbstkritisch zu betrachten, von fehlendem Willen dem Mehrwert des theoretischen Wissens etwas hinzuzufügen, das gesellschaftlichen Praktiken und sozialen Netzwerken zugute kommt, und der Unfähigkeit, an institutionellen und sozialen Veränderungen teilzunehmen. Dazu kommt – mit besonders ausschließender Wirkung – die Negation der möglichen Existenz anderer Wissensformen.25 Diesen Widerspruch zwischen dem, was gesagt, und dem, was getan wird, begründet eines der größten Hindernisse, um wenigstens einen Anfang in der Veränderung der Prozesse der Wissensproduktion zu machen. Dies betrifft sogar die Akteure, die mehr Bewusstsein über das Niveau der intellektuellen Kolonialität haben, da sie ihre Praxis ausüben. Dadurch wird eine bis heute unüberwindbare Spaltung zwischen einerseits der Forschung produziert, die von besonders hegemonialen und hierarchisierenden Paradigmen bestimmt wird, und andererseits seiner Weitergabe in die Hörsäle für alle akademischen Ausbildungsgrade. Beide sind von der ›Welt‹ der Menschen abgeschnitten, die nicht von diesen Praktiken adressiert wird – oder, in Ausnahmefällen, nur sehr indirekt. All dies impliziert einen Rückzug in sich selbst, in das Innere des Intellekts, eine echte Annullierung des Wissenssubjektes, das sich selbst objektiviert, indem es fremde Aussagen zu den eigenen macht. Dieser Zustand ruft auch die Skepsis der jüngsten Generation hervor, die nicht mehr an ihre eigenen Möglichkeiten glauben, die erwarteten Veränderungen bewirken zu können. Für sie ist klar, dass der universitäre Diskurs, indem er jede Veränderung in die Richtung, in die wir tendieren, zurückweist, die Strategie verfolgt, die wir alle zur Genüge kennen: diejenigen des Dogmatismus, der Spalterei und des Nationalismus zu beschuldigen, die sich für einen alternativen Weg einsetzen. Auf der anderen Seite der Argumentationskette steht die Anschuldigung, die veralteten Vorschläge der Siebziger realisieren zu wollen. 25 Zu diesen Schwierigkeiten kommt noch die des bürokratischen Verwaltungsapparates, dessen tief verwurzelte Regulierungspraktiken die notwendige Agilität behindern, die es braucht, um alternative Strukturen zu errichten. 188 |

In diesem jüngsten Sektor der universitären Gemeinschaft offenbart sich der »›politische‹ Machtexzess« (Žižek 2005: 13) am meisten, der direkt über Evaluierungsapparate ausgeübt wird, die in höchstem Maße bürokratisiert und im Sinne der eurozentristischen episteme der ›harten Wissenschaften‹ konzipiert sind. Für die Entscheidungen über Forschungsprioritäten oder einen späteren Beruf sind diese jedoch ausschlaggebend. Die Erwartungen in verarmten Gesellschaften, wo Arbeitsmöglichkeiten immer spärlicher werden, enden bei den Ausschlussverfahren, die ihnen die akademische Struktur auferlegt. Daher und in letzter Instanz »ist das, was der akademische Diskurs nicht tolerieren kann, eine engagierte Position« (Žižek 2005: 12), die in unserem Fall seine Loslösung von den schon zu lange bestehenden Strukturen impliziert. All dies zeigt offensichtlich, dass dieser Sachverhalt über die inhaltlichen und methodologischen Aspekte sowie ihre Umsetzung in der Praxis hinausgeht, aber gleichzeitig Teil davon ist. Daher ist es notwendig, trotz der Risiken, welche die normalisierte Verbreitung von dekolonialer Rhetorik impliziert, Instanzen zu finden, die ›an den Grenzen‹ dieser Strukturen liegen undinnerhalb der alltäglichen Praktiken funktionieren können, aber auf einer formalen oder systematischen Ebene kaum explizit gemacht sind. Tatsächlich sind sich viele dieser ›Minderheitengruppen‹ der Erfahrung der ›Bilingualität‹ bewusst – so wie sie von Mignolo (1996: 123-142) bezeichnet wurde und wie sie Llanquinao Trabo geäußert hat: »Ich möchte mitteilen, in welcher Dichotomie wir, die Mapuche, zwischen zwei Welten leben. Ich bin eine Mapuche mit Ausbildung, Kennerin der westlichen oder chilenischen Gesellschaft und des Mapuchevolkes, zu dem ich gehöre. Folglich verstehe ich das Leben in beiden Welten. Ich spreche von zwei Welten, weil beide verschieden sind. Die Gesellschaft der Mapuche hat eine andere Weltanschauung, eine andere Art die Welt zu betrachten, folgt einer anderen Logik als derjenigen der nationalen Gesellschaft.« (Llanquinao Trabo 2004: 152f )

Dieses Bewusstsein und dessen Verbreitung im akademischen Feld haben eine bestimmte komplementäre, wenn nicht sogar homogene Beziehung zueinander, so wie bei ›Intellektuellen‹ aus indigenen Gruppen aus anderen Breitengraden. Trotzdem bleibt zu bezweifeln, inwiefern sie wirklich von den Überlegungen betroffen sind, die mit einer befreienden Absicht eben in den hegemonialen Zentren produziert werden. Was ich damit sagen möchte, ist, dass es die in der Praxis entstandenen Forschungen sind, die | 189

sich im Vergleich zu den modernen Sozialwissenschaften als postdisziplinär verstehen und ihre Grundfeste erschüttert und Spalten in der von der kolonialen Differenz errichteten Mauer geöffnet haben. Sie sind aber nicht immer in authentischen Konstruktionen der Orte verwurzelt, die von dieser Differenz bewohnt werden. Für die dekoloniale Option bedeutet das miteinander Denken, epistemologische Konstruktionen zu suchen, die ihren Ursprung nicht im Staat haben, sondern aus den Bevölkerungen und ihren Bewegungen stammen und in ihren Argumenten, Forderungen und Einsprüchen sichtbar werden. Dies impliziert keinen Relativismus oder kulturellen Essenzialismus, es handelt sich um keine Rückkehr zu dem Ursprung oder der ›Reinheit‹ der Traditionen des ›volkstümlichen‹ Wissens, sei es indigen, afrikanisch oder criollo. Im Gegenteil bedeutet es, andere epistemologische Voraussetzungen – Prämissen ›der anderen Art‹ – offenzulegen, um die Beziehungen zur Natur, die Justizverwaltung, die Formen von Koexistenz, die Rolle der Autorität und den Sinn der staatlichen Bildung zu (über)denken. Dafür ist es in erster Linie wichtig, Klarheit über den Ort zu schaffen, von dem aus das Wissen produziert wird. Zugleich muss definiert werden, für wen wir das tun, was wir tun, sowie, noch spezifischer, das, was wir gemeinsam mit ihnen tun, den Studierenden und ihren fast-akademischen Kompetenzen, entstanden aus kollektiven Wissensformen.

Übermittlung Wenn die Universitäten die sozialen Orte bleiben, an dem kritisches Denken produziert wird, ist die Erneuerung und die ›Erfindung‹ von passenden Alternativen für sozio-produktive Räume, deren Teil sie sind, unumgänglich. Gleiches gilt für das Niveau an Sensibilität und Engagement in den aktuellen Internationalisierungsprozessen. Dies umso mehr, als sie sich selbst als Orte begreifen, von denen aus die verschiedensten Antworten auf die dringendsten Forderungen der Gesellschaft hervorgebracht werden. Es ist die Universität par excellence, in der ein wissenschaftlicher und konzeptueller, ein technologischer und vermittelnder Apparat analysiert, beschrieben, interpretiert, formuliert und vorgeschlagen wird, mit dem man auf die allgemeinen (›globalen‹) Charakteristika der Gegenwart antwortet und dies von der spezifischen Differenz aus, die jeden gemeinschaftlichen Raum konstituiert. Mit dieser Verantwortung und dem Bewusstsein handelnd, dass sich das Wissen heute in atemberaubender Geschwindigkeit und über früher 190 |

undenkbare Medien verbreitet, impliziert dies die Annahme einer ethischen Herausforderung, mit dieser Vielfalt an Wissensformen zu arbeiten. Das kann geschehen, indem sie an spezifischen Orten der unmittelbaren sozialen Realität verortet und für und mit ihnen Veränderungen produziert werden, die das Wissen und das Handeln erfordern.26 Es soll nicht darum gehen, die unverzichtbare Rolle des Staates im Bereich der Hochschulbildung aufzulösen, sondern um den Aufbau einer Universität, die mit ihrer spezifischen Funktion die Veränderung eben dieses Staates begleitet und unterstützt. Die Herausforderung besteht darin, Formen zu finden, um Aufstandsund Widerstandspraktiken, die von verschiedenen sozialen Bewegungen in Lateinamerika geschaffen werden, mit theoretischen und diskursiven Praktiken (falls man der ›dekolonialen Rhetorik‹ einen kanonischen Status zusprechen möchte) zu verknüpfen. Und zwar mit der Überzeugung, dass, wenn sich der akademische Apparat nicht von selbst modifiziert, sich die sozio-kulturelle Differenz innerhalb unserer Gemeinschaften – etabliert durch eine Trennung in den kolonialen (heute globalen) Machtverhältnissen – verfestigt und diese transformierende Suche in einer gefährlich leeren Rhetorik erstarrt, die nicht mit den ethischen Prinzipien zu vereinbaren wäre, an denen wir uns orientieren. Wenn das, was wir lateinamerikanischen Akademiker suchen, eine größere Gerechtigkeit in der Verteilung des Wissens zugunsten des Lebens mitten in einer globalisierten Kultur des Todes und des schon so oft propagierten ›Endes der Geschichte‹ ist, so erfordert das, einen ganz ›anderen‹ Weg zu gehen. Es wäre von der dekolonialen Option ausgehend möglich, dass die Universität in ihrer Praxis nicht ihre Prinzipien der Gleichheit widerlegt, so wie es zur Zeit der Fall ist. Ausgehend von der Annahme ihrer spezifischen Rolle – machtkritisch und in der Not kreativ – verlangt dies im Sinne von Arturo Roig nach einem »starken Denken […], das ein Engagement impliziert, welches aber sicher nicht metaphysisch, sondern sozial ist« (Roig 2002: 67). Dafür bedarf es nach Sousa Santos »einer bescheidenen, aber wichtigen Rolle in der Verzauberung des kollektiven Lebens, ohne welche die Zukunft zwar möglich, aber nicht erstrebenswert ist. Diese Rolle wird als eine Mikroutopie übernommen, ohne die eine [lateinamerikanische] Universität nur von kurzer Dauer wäre.« 26 Ich habe gewisse Strategien für den benötigten Wandel bei verschiedenen Gelegenheiten und in unterschiedlichen Veröffentlichungen vorgeschlagen. Siehe dazu unter anderen Palermo (2007: 15-24). | 191

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