Offene Tore: Jahrbuch 2000

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OFFENE TORE BEITRÄGE ZU EINEM NEUEN CHRISTLICHEN ZEITALTER Jahrbuch 2000

Das Weinwunder in Kana (Joh 2,1-11) von Thomas Noack Unsere Erzählung beginnt mit einer Zeitangabe: "Am dritten Tag war eine Hochzeit in Kana in Galiläa" (Joh 2,1). Schon das erste Kapitel war durch Tageszählungen gekennzeichnet (Joh 1,29.35.43), die die geschilderten Ereignisse auf vier Tage verteilen.1 Das alles geschieht noch vor der Gefangennahme Johannes des Täufers (siehe Joh 3,24). Die Synoptiker hingegen lassen die öffentliche Wirksamkeit Jesu erst nach der Gefangennahme des Täufers beginnen (Mt 4,12; Mk 1,14; evtl. auch Lk 3,20). Das JohEv ist demnach nicht nur dasjenige Evangelium, das die Abschiedsreden und -handlungen am ausführlichsten schildert, sondern zugleich auch dasjenige, das die bei den Synoptikern fehlenden Anfangsereignisse nachträgt. Diese Beobachtung deckt sich mit einer Bemerkung, die wir bei Eusebius von Caesarea (gest. 339/340) finden: "Nachdem die zuerst geschriebenen drei Evangelien bereits allen und auch dem Johannes zur Kenntnis gekommen waren, nahm dieser sie … an und bestätigte ihre Wahrheit und erklärte, es fehle den Schriften nur noch eine Darstellung dessen, was Jesus zunächst, zu Beginn seiner Lehrtätigkeit, getan habe." (HE 3,24,7). Das JohEv ist so gesehen das Evangelium der Anfänge des öffentlichen Wirkens Jesu. John A. T. Robinson erwägt in seinem Buch "Johannes, das Evangelium der Ursprünge"2 den Gedanken, "daß die ersten Tage einer neuen Lebensform, vor allem nach einer Bekehrung, dahin tendieren, als besonders be-

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Die vier Tage des ersten Kapitels in Verbindung mit dem dritten Tag der Hochzeit ergeben sieben oder sechs Tage. Die Kommentare sind in dieser Frage uneins. Auf jeden Fall scheint mir hier ein Anklang an den Schöpfungsbericht Genesis 1 (sechs Tage) bzw. Genesis 1 und 2 (sieben Tage) vorzuliegen, zumal schon der Prolog Joh 1,1-18 deutlich an Genesis 1 anknüpft. Demnach würde das JohEv Jesus und seine Wirksamkeit als neue Schöpfung verstehen. Dies wäre ferner ein Hinweis darauf, dass auch die Apokalypse, die ja ebenfalls auf eine neue Schöpfung zuläuft, von demselben Verfasser wie auch das Evangelium stammt. Es erschien 1985 unter dem englischen Originaltitel "The Priority of John". Erst 1999 kam die deutsche Übersetzung interessanterweise auf Betreiben eines Professors für Ostkirchenkunde auf den Markt. Die griechischsprachige Kirche nennt Johannes seit dem 4. Jahrhundert "den Theologen" schlechthin.

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deutsam erinnert zu werden."3 Der tagebuchartige Stil zu Beginn des JohEv könnte also ein Indiz dafür sein, dass sich hier ein Augenzeuge (siehe Joh 21,24) daran erinnert, wie alles begann. Auch das Weinwunder in Kana gehört noch in diese früheste Zeit; es ist der "Anfang der Zeichen" (Joh 2,11). Das Weinwunder geschah wie die Auferstehung am dritten Tag. Das zeigt: Das erste Zeichen blickt bereits auf das letzte voraus. Die Auferstehung geschah am dritten Tag nach der Versuchung am Kreuz. Ähnlich die Hochzeit. Auch sie geschah nach einer Versuchung, denn der dritte Tag bezieht sich hier auf die Rückkehr Jesu aus der Wüste bei Bethanien (siehe Joh 1,23.28). Diesen Wüstenaufenthalt füllen die Synoptiker mit den bekannten vierzigtägigen Versuchungen Jesu. In beiden Fällen, am Anfang und am Ende der Wirksamkeit Jesu, handelt es sich also um eine große Freude nach schwerer Bedrängnis. Es gibt weitere Hinweise darauf, dass das Weinwunder die Auferstehung anzeigen sollte. So sagt Jesus: "Meine Stunde ist noch nicht da." (Joh 2,4). Historisch ist damit gemeint, dass sich Jesus als Gast auf dieser Hochzeit um den Wein zumindest vorerst nicht kümmern musste. Doch darüber hinaus bezeichnet die Stunde im JohEv die Verherrlichung durch die Erhöhung am Kreuz (Joh 12,27; 17,1). Daher ist Jesu Wort, dass seine Stunde noch nicht da sei, typisch johanneisch vieldeutig. Wer nur den Wortsinn hört, verfehlt den Geistsinn. Ferner ist darauf zu achten, dass Jesus durch die Wandlung des Wassers in Wein seine Herrlichkeit offenbarte (Joh 2,11); auch hier ist an die letzte große Wandlung im Leben Jesu zu denken; an seine Verherrlichung, sprich Vergöttlichung. So ist das erste Zeichen Alpha und Omega in einem. Noch war Jesu Mission den Juden, die immerhin die Ankunft eines Messias erwarteten, mehr oder weniger verborgen. Der Täufer hatte Verheißungsvolles von diesem in der Gegend bekannten Jesus aus Nazareth gesagt (siehe Joh 1). Man lud ihn zu einer Hochzeit ein, - und dort enthüllte er, was die Anwesenden freilich nicht verstanden, sein künftiges, welterlösendes Schicksal. Er offenbarte in diesem Zeichen seine Herrlichkeit. Der Evangelist nennt es den "Anfang der Zeichen" (Joh 2,11); dabei verwendet er dasselbe Wort, mit dem er auch seine Frohbotschaft als Ganze beginnen läßt: "Im Anfang war das Wort usw." Gemeint ist jeweils nicht bloß der zeitliche Anfang, sondern das Prinzip, die Grundlage, die Ursache. Das Weinwunder ist daher nicht nur, wie meist übersetzt wird, "das erste Zeichen". Es ist der Inbegriff des gesamten Wirkens und aller Zeichen Jesu. Es zeigt die große Vergeistigungswirksamkeit Jesu an. Dass die Wandlung von Wasser in Wein etwas Prinzipielles des Wirkens Jesu anzeigt, mag auch daraus ersehen werden, dass das Wasser im JohEv häufig eine Rolle spielt. Er3

John A. T. Robinson, Johannes - Das Evangelium der Ursprünge, Wuppertal 1999, 174.

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innert sei an die folgenden Sachverhalte der Kapitel 1 bis 7: Der Täufer und Fischer als Jünger (Joh 1), das Weinwunder in Kana (Joh 2), die Wiedergeburt aus Wasser und Geist (Joh 3), das Gespräch am Jakobsbrunnen mit dem Motiv des lebendigen Wassers (Joh 4), die Heilung am Teich Bethesda (Joh 5), Jesu Gang auf dem Wasser (Joh 6) und das Wasserwort anläßlich des Laubhüttenfestes (Joh 7). Und in den Abschiedsreden nennt sich Jesus den wahren Weinstock. Damit schließt das Evangelium gewissermaßen so wie es beginnt: mit der Wandlung von Wasser in Wein. Denn die Aufgabe des Weinstocks ist die Veredelung des Wassers. Wein ist im inneren Sinn der Einfluß des Geistigen. Für diese Deutung gibt es einige Anhaltspunkte im Text des JohEv: Die Stunde (Joh 2,4) ist die, in der Jesus zum Vater geht, von wo er den Geist der Wahrheit (Joh 15,26) sendet. Nach Joh 2,9 weiß der Speisemeister nicht, woher der Wein ist. Gleiches gilt nach Joh 3,8 für den Geist: "Der Geist/Wind bläst, wo er will; du hörst seine Stimme/sein Sausen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht." Echte Spiritualität ist unergründlich; ihr göttliches Woher bleibt unerkannt. Wer im Wein die Gabe des Geistes erkennen kann, dem zeigt sich ein Zusammenhang der Kapitel 1 bis 3: Zuerst weist der Wassertäufer auf den Geistträger (Joh 1,29-34), dann offenbart dieser seine Herrlichkeit als Geistspender, indem er das Wasser der Taufe in den Wein des Abend- oder Hochzeitsmahls wandelt (Joh 2,1-11) und schließlich spricht er von der Wirkung des Geistes, das heißt von der Wiedergeburt aus Wasser und Geist (Joh 3). Das Weinwunder besagt: Aus Wissen soll Weisheit werden; aus Glaubenswissen Lebensweisheit, echte Spiritualität. Oder mit Swedenborgs Worten gesagt: "Der Herr machte Wasser zu Wein. Das bedeutet, er machte das Wahre der äußeren Kirche zum Wahren der inneren Kirche, indem er das Innere, das im Äußeren verborgen war, aufschloss." (AE 376). Das Geistwirken Jesu zielt auf das innere Verstehen der äußeren Begriffe und Rituale. Diese Vorformen oder Gefäße des Geistigen wurden durch die "sechs steinernen Wasserkrüge für die Reinigung der Juden" (Joh 2,6) angedeutet. Sie stehen zunächst für die äußeren Reinigungspraktiken zur Zeit Jesu; dann aber auch für unsere Begriffsbildungen, mit denen wir glauben, den inneren Läuterungsprozeß zu erfassen. Jesu Wandlung des Wassers in Wein knüpft an die vorhandenen Krüge an. Sie sind also nicht nutzlos; so sind auch unsere Vorstellungen, die wir uns vom Wiedergeburtsgeschehen bilden nicht nutzlos, obgleich sie das Geheimnis nur sehr vorläufig darstellen können. Jesus knüpft an diese Krüge und dieses Wasser der Reinigung an. Indem er aus genau diesem Wasser Wein macht, sagt er: Dieser Wein ist eure Reinigung. Denn in der Tat: Die Vergeistigung der Begriffsbilder ist nicht nur ein Erkenntnisgewinn. Wo das mehr oder weniger kühle Glaubenswasser zu Wein wird, da hüpft das Herz, da jubelt die Seele, da kehrt Freude in das Haus ein. Da geschieht das wahre Abendmahl, denn die reinigende Kraft des Weines bewirkt die Vergebung der Sünden (Mt 26,28).

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Die Mutter Jesu ist die Kirche. Swedenborg hat sehr schön beobachtet, dass Jesus Maria nie seine Mutter nannte (LH 35). Gleichwohl nennt sie der Evangelist so (Joh 2,1). Die Kirche kann den göttlichen Geist nicht gebären. Vielmehr gilt: Aus der Wirksamkeit des göttlichen Geistes ersteht die Kirche in uns. Dennoch hat es den Anschein als sei die Kirche die Mutter Jesu. Sie hat eine hinweisende Funktion, indem sie sagt: "Was immer er euch sagt, das tut." (Joh 2,5). Schenken wir diesem Ruf der Kirche Gehör; dann wird aus Seelenwasser Geistwein.

Jakobs Frauen und Kinder Aspekte der Kirche im Menschen von Thomas Noack Wer ist Jakob in uns? Jakob entspricht "dem Wahren auf der Ebene des Göttlich Natürlichen"4 (3279)5. Was heißt das? Im Denken Swedenborgs hängen das Gute und Wahre eng zusammen (vgl. beispielsweise NJ 11ff). Das Wahre wird als die Form oder Gestalt des Guten verstanden (forma boni: 668). Das hat zahlreiche Implikationen; zum Beispiel, daß das bloße (Gedächtnis)wissen nicht wahr sein kann, solange es nicht Ausdruck (forma) der Wärme oder Güte des Herzens ist. In den Offenbarungstexten durch Jakob Lorber (1800 - 1864) begegnet uns dieser Sachverhalt als das Herzdenken und die damit verbundene Gehirnlehre (vgl. GEJ II,62,1-5). Das Wahre ohne das Gute ist ein Unding (eine Lüge). Gleichwohl können die bloßen Formen (Engramme) - Swedenborg nennt sie die Wissensdinge (scientifica) - eine Zeitlang ohne das Wesen des Guten existieren (das ist die formale oder intellektuelle Bildung). Doch im Prozeß der Neugeburt der Geisteskräfte (regeneratio) muß sich das Wahre des Bewußtseins früher oder später der Macht des von innen her einfließenden Guten beugen (dargestellt in Genesis 33). Jakobs Biographie versinnbildlicht den zeitweiligen Vorrang des Wahrheitsbewußtseins gegenüber den viel subtileren und lange Zeit unbewußt bleibenden Beeinflussungen durch das Gute des inneren Geisteslebens. Soweit einige Erläuterungen zum Wahren. Nicht minder klärungsbedürftig ist der Begriff des Göttlich Natürlichen (Divinum Naturale). Hier muß ich sofort eine ganz grundsätzliche Einschränkung machen; meine Auslegung der Geburtenfolge der Jakobssöhne wird sich auf die Wiedergeburt des Menschen beschränken müssen, wobei ich mich (auch das eine Einschränkung) im Horizont 4 5

Divinum Naturale … quoad verum. Zahlen ohne Buchstabenkürzel beziehen sich auf die "Himmlischen Geheimnisse".

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einer kirchlich gebundenen Sprache bewegen werde. Man soll aber wissen, daß das göttliche Wort, die Heilige Schrift oder Bibel, im innersten Grunde nichts anderes ist als der göttliche Logos (Johannesprolog), der im Anfang aller Dinge schon gesprochen (Genesis 1) und in der großen Zeit der Zeiten als das fleischgewordene Wort das Urwesen Gottes ausgelegt hat (Joh 1,18). Daher zielt die höchste Interpretationsstufe der Heiligen Schrift auf die Verherrlichung des Herrn (glorificatio Domini); diese Sinnebene berühre ich im folgenden jedoch nicht. Deswegen wird das Göttlich Natürliche nicht als die eigentliche Gottnatur vorgestellt, sondern auf die Erfahrbarkeit des göttlichen Einflusses in der menschlichen Natur reduziert. Die drei Erzväter, also Abraham, Isaak und Jakob, bezeichnen dann die stufenweise Bewußtwerdung der Gotteskraft (Abraham) vermittelt durch die Ratio (Isaak) in der menschlichen Erfahrungswelt (Jakob und Esau). Dort ist erkennbar, sofern man sich von der Vernunft6 leiten lassen will, daß das Gute und Wahre die natürlichen Ausläufer einer transzendenten Wirklichkeit sind; andernfalls wären sie der Willkür, Beliebigkeit und Definitionsmacht der Menschenwelt unterstellt und ausgeliefert. Man kann ahnen, daß das Gute und Wahre ewige Werte sind, wenngleich ihr konkreter Inhalt immer wieder neu bestimmt werden muß; als ewige Forderung an uns Menschen können sie ihren Ursprung nicht in der Zeitlichkeit haben. Das Göttlich Natürliche ist also in der alle Menschheitsepochen durchziehenden Frage und Suche nach dem Guten und Wahren greifbar. Wieso bezeichnet ausgerechnet Jakob, der Betrüger, das Wahre? Wäre es nicht angemessener, wenn er für das Falsche stünde? Diese Alternative ist keine wirkliche, denn jeder Mensch hält sein Falsches für wahr. Vor Gott sind Wahrheit und Falschheit ewig unvereinbar; in der Menschenwelt aber wird diese Wahlmöglichkeit oft nur unzureichend und verschwommen wahrgenommen. Man nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau, so daß die größten Irrtümer zur allgemein anerkannten Überzeugung einer Zeit gehören können; auch im individuellen Leben können Selbstbetrug und Phantasiewelten einen ganzen Lebenslauf beherrschen, ohne daß die betreffende Person es merkt. Zudem zeigt ein Blick in die Jakobserzählungen, daß er keineswegs nur als Betrüger dargestellt wird. Gewiß, Esaus Entsetzen nach dem Segensbetrug hat Jakobs Namen für alle Zeiten mit der Anfrage verbunden: "Heißt er etwa deswegen Jakob, weil er mich nun schon zweimal hintergangen hat?" (Gen 27,36). Nomen est omen! Jakob und das hebr. Verb für hintergehen, betrügen usw.7 lauten gleich. Aber Jakob ist nicht nur der

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Vernunft kommt von vernehmen. Sie ist die Fähigkeit das Wahre höherer Welten wie von ferne zu vernehmen. Der Name Jakob wird in Genesis 25,26 von "Ferse" und in Genesis 27,36 von "hintergehen / jmd. ein Bein stellen" (Swe.: supplantare von planta = Fußsohle) abgeleitet. In beiden Fällen spielt der

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Betrüger; es heißt auch: "Jakob war ein sittenreiner Mann (Swe.: vir integer), der in Zelten wohnte" (Gen 25,27). Das hier mit "sittenrein" übersetzte hebr. Wort dient auch zur Charakterisierung des frommen Hiob (Hiob 1,1.8; 2,3) und in leicht veränderter Form8 zur Charakterisierung des untadeligen Noah (Gen 6,9) und des rechtschaffenen Abram (Gen 17,1). Den interessierten Leser verweise ich auf Swedenborgs Ausführungen über dieses Wort in 612, 1994 und 3311. Aufhorchen läßt auch, daß Jakob in Zelten wohnte; Zelte bezeichnen das Heilige der Liebe und des Gottesdienstes (3312). Jakob versinnbildlicht also den in der ethischen Wahrheit wohnenden und lebenden Menschen. Diese makellose Persönlichkeit hat jedoch ihre Schattenseiten. Aufschlußreich ist Jakobs Selbstcharakterisierung: "Ich bin ein glatter Mann (Swe.: vir levis)" (Gen 27,11). Ein Mann ohne Ecken und Kanten. Vor solchen anständigen Leuten sollte man sich in Acht nehmen! Ganz ähnlich wie im Deutschen hat nämlich auch im Hebräischen das Wort glatt die Nebenbedeutung "einschmeichelnd", beispielsweise im Psalter: "Ihre Kehle ist ein offenes Grab, (aal)glatt ist ihre Zunge." (Ps 5,10). Jakob ist also eine ambivalente Gestalt; doch gerade in dieser Doppelwertigkeit ein guter Spiegel, um sich der Brüche, die durch die eigene Existenz gehen und gerade auch bei religiösen Menschen zu finden sind, bewußt zu werden.

Rachel und Lea Rachel ist die große Liebe Jakobs. Der sonst so intellektuelle, auf seinen Vorteil bedachte Jakob wird beim Anblick der schönen Rachel von seinen Gefühlen überwältigt: "Jakob küsste Rachel und erhob seine Stimme und weinte." (Gen 29,11). Zuvor hatte er den Brunnen geöffnet; nun öffnete er ihr den Quellgrund seines Herzens. Zuvor hatte er das Kleinvieh Labans getränkt; nun tränkte er Rachel mit den Küssen seiner Liebe. Tränken und küssen klingen im Hebräischen ähnlich. Sieben Jahre diente er um Rachel: "Und sie waren in seinen Augen wie wenige Tage; so sehr liebte er sie." (Gen 29,20). Doch als die sieben Jahre erfüllt waren, wurde ihm die häßliche Lea untergeschoben9. Die geliebte und die verhaßte Braut sind Sinnbilder der schönen Seelenbraut und der häßlichen

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Fußbereich eine Rolle, der auch sonst in den Jakobserzählungen immer wieder in den Blick genommen wird; diese schon im Namen angelegte Beziehung zum Fußbereich macht Jakob zum Sinnbild des Natürlichen (so Swedenborgs Terminologie) bzw. des Fortschrittes in Auseinandersetzung mit dem Irdischen (Erdverhaftung des Fußbereiches). Dabei ist der (unbewußte) Irrtum und der (bewußte) Betrug allgegenwärtig, denn die Außen- oder Sinnenwelt ist der Ursprung aller Falschheiten; hierzu ist vor allem Swedenborgs Interpretation der Schlange von Genesis 3 heranzuziehen. Auch die Schlange ist hautnah mit dem Erdbereich verbunden. Jakob und Hiob werden als hebr. "tam", Noah und Abram als hebr. "tamim" (nicht Plural von "tam"!) bezeichnet. Mit M.Kahir, Das verlorene Wort, 1960, könnte man die Konsonantenverbindung TM als "Vollendung der Form" (formale Vollendung) deuten. Das Motiv der untergeschobenen Braut ist in den Märchen weit verbreitet; siehe: W.Golther, Die untergeschobene Braut, in: Handwörterbuch des deutschen Märchens I (1930/33) 307 - 311.

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Welt, mit der wir nolens volens viele Kinder zeugen, obwohl doch unsere ganze Liebe der himmlisch schönen Rachel gilt.10 Den inneren Sinn von Rachel und Lea können wir aus Genesis 29,16f ersehen, denn dort werden die ungleichen Töchter Labans charakterisiert: "Laban hatte zwei Töchter: der Name der älteren war Lea; der Name der jüngeren war Rachel. Die Augen Leas waren schwach; während Rachel von schöner Gestalt und schönem Aussehen war." Es ist leicht einzusehen, daß die Augen des Körpers auf der seelisch-geistigen Ebene dem Verstand entsprechen. Leas Vermögen zu verstehen war schwach ausgebildet. Swedenborg übersetzt das hebr. Wort mit debilis = geschwächt, entkräftet, gebrechlich, gelähmt, verkrüppelt usw. Die Grundbedeutung scheint schwach oder kraftlos zu sein. Die Kraft und Stärke des Verstandes sollte die Fähigkeit sein, Wahrheiten klar und deutlich zu erfassen. Diese Fähigkeit ist bei Lea nur schwach entwickelt. Leas Augen bezeichnen daher das vom Weltlicht getrübte und somit geschwächte und beschränkte Verständnis des Wahren. Swedenborg sieht in Lea ein Sinnbild der "äußeren Kirche" (409) bzw. der "Neigung (affectio) zum äußeren Wahren" (3782). Die äußere Kirche schöpft ihr ganzes Wissen aus Überlieferungen, konkret aus Texten, besonders aus den kanonischen Texten der Bibel. Die schwachen, matten und erloschenen Augen Leas deuten auf die bei vielen Exegeten kaum noch vorhandene Fähigkeit hin, den Lebenssinn der heiligen Überlieferungen wahrzunehmen und auszulegen. Das hebr. Wort für Auge bedeutet übrigens auch Quelle. Leas Quelle ist die Heilige Schrift; schwach ist sie, solange man nur ihren historischen Sinngehalt ausschöpfen, ihren Geistsinn aber nicht sehen will. In der äußeren Kirche herrscht das Interesse an der äußeren Wahrheit (affectio veri exterioris, 3782), sei es in der historischen Forschung11, sei es bei den Fundamentalisten; dieses Interesse bezeichnet Lea. Rachel ist von schöner Gestalt und schönem Aussehen. Die hebr. Worte für Gestalt und Aussehen sind vom Verb sehen abgeleitet. Wiederum wird unsere Aufmerksamkeit auf die Wahrheitserfassung gerichtet; diesmal jedoch nicht auf die Augen als das Organ des Sehens, sondern auf die Wahrnehmungen als solche. Rachels Wesen pflanzt sich nämlich in Josef, der intuitiven Wahrheitserfassung, fort; er wird mit genau denselben Worten wie seine Mutter beschrieben: "Josef war von schöner Gestalt und schönem Aussehen." (Gen 39,6). Die schöne Gestalt und das schöne Aussehen beschreiben die aus dem 10

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In einem Jenseitswerk Jakob Lorbers sagt Jakob: "Vierzehn Jahre diente ich um die himmlische Rachel, und siehe, Du [Herr] gabst mir die welthäßliche Lea." (RB I,79,21). Rachel bezeichnet hier also den Himmel und Lea die Welt. Ich bin freilich nicht der Meinung, daß die historische Forschung wertlos ist. Sie ist Grundlagenforschung, auf die die geistige Exegese aufbauen kann. Man sollte also nicht eine Einseitigkeit (die Fixierung auf den historischen Sinn) durch eine andere (die Fixierung auf den geistigen Sinn) ersetzen; das Ergebnis könnte wilde Allegorese sein. Die Berechtigung der historischen Forschung besteht darin, daß der wehrlose Text gegenüber seinem Ausleger stark gemacht wird.

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inneren Gottesgeist aufsteigenden Gedankenformen. Die Gestalt (Swe.: forma) bezieht sich auf die innere Wesensform; das Aussehen (Swe.: aspectus) hingegen auf die äußere Erscheinungsform.12 Schönheit ist die Wohlgeformtheit der im inneren Geisteslicht erschauten Formen; oder mit Swedenborgs Worten gesagt: "Schönheit ist die Form des Wahren aus dem Guten" (10540). Rachel und ihr Sohn (Wahres) sind schön, weil sie ihre Gestalt und Ausstrahlung aus dem inneren Lebensguten der Liebe empfangen. Daher erblickt Swedenborg in Rachel das Urbild der inneren Geisteskirche (ecclesia interna: 409) und die Lebensausrichtung auf das innere Wahre (affectio veri interioris: 3782). An dieser Stelle sind einige Worte zum swedenborgschen Terminus affectio13 (meist mit Neigung übersetzt) notwendig, denn dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, daß die Mütter Israels (der Kirche) für affectiones stehen. Was also versteht Swedenborg unter affectio? Sie ist das continuum amoris (3938), das heißt: das mit der (Lebens)liebe14 ununterbrochen Zusammenhängende und unablässig Zusammenwirkende. Betrachtet man den Menschen als einen Baum (eine in der Heiligen Schrift verbreitete Metapher für den Menschen), dann ist die Lebensliebe der Stamm und die Neigungen sind die Verästelungen unseres Lebensbaumes. Die Liebe als die in der Seele verborgene Lebensenergie fächert den ihr innewohnenden Reichtum in den Neigungen, die bewußtseinsnäher sind, aus; dazu Swedenborg: "Wenn die Liebe des Willens in die Weisheit des Verstandes übergeht, dann wird sie zuerst zur affectio (zur bewußten Abzweigung aus der Liebe)" (GLW 364). Die affectio ist also die Gestaltung der Liebe im Verstand (Bewußtsein); dort, in der Sphäre des Lichtes, kann die Liebe ihren Reichtum erschauen, eben in Form der Neigungen oder Lebensinteressen. Da die affectiones mit der Liebe zusammenhängen (continuum amoris), sind sie "das eigentliche Leben bzw. die Seele des Denkens (anima cogitationis)." (9550). Sie animieren (beleben) unser Denken. Die historischen Gestalten der Mütter Israels sind also Urbilder und korrespondieren daher mit dem Interesse (dem erkenntnisleitenden Interesse), das allen Zeugungen und Erzeugnissen des Geistes als Mutterschoß zugrunde liegt. Mit diesen Müttern zeugt Jakob seine Söhne. Daß Lea die ältere ist will sagen, daß das Interesse an den äußeren Wahrheiten früher da ist als das Angeregtsein aus dem eigenen, inneren Geistesgrund (3819). Jeder baut eben sein Haus viel lieber auf Sand als auf Stein. 12

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Nach 4985 bezieht sich die Gestalt auf das Wesen (essentia), also die innere Form, während sich das Aussehen auf das Dasein (existentia), also die Erscheinungsform, bezieht. Affectio ist aus ad und facere zusammengesetzt; es meint daher für mein Empfinden das Angetanoder Angeregtsein des Geistes aus der Lebensliebe. Die folgende Deutung geht in diese Richtung. Siehe GLW 1: "Die Liebe ist das Leben des Menschen."

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Die Genesis: Das Buch der Geburten Da im folgenden von Geburten die Rede sein wird, weise ich darauf hin, daß die gesamte Genesis als ein Buch der Geburten angesehen werden kann, denn die Geburtenformel (die Toledotformel) bildet das Gerüst des Buches. Alle Erzählabschnitte werden durch diese Formel eingeleitet. Zuerst in Genesis 2,4, wo es heißt: "Dies sind die Geburten15 des Himmels und der Erde, als sie geschaffen wurden." Diese Überschrift16 leitet die "Bildungen (formationes) des himmlischen Menschen" (89) oder, wie Swedenborg auch sagen kann, der "Urkirche (Ecclesia Antiquissima)" (1330) ein, also den Erzählkomplex bis Genesis 4. Dann in Genesis 5,1 heißt es: "Dies ist das Buch der Geburten des Menschen (hebr. Adam)." In zehn Generationen wird der Übergang von Adam (Urkirche) bis Noah (Alte Kirche) vollzogen. In Genesis 6,9 heißt es: "Dies sind die Geburten Noahs." Diese Überschrift leitet die Sintflut- bzw. Noaherzählungen ein, die von der Bildung (formatio) einer (damals) neuen Kirche handeln (605); Swedenborg nennt sie in der Regel die Alte Kirche. Es folgt, Genesis 10, die Völkertafel; auch dort die Toledotformel (Gen 10,1.32). Ab Genesis 11,10, nach der Turmbauerzählung, wird - ebenfalls in zehn Generationen! - die Semitenlinie bis Abram ausgezogen, womit der Übergang von den Urgeschichten (Genesis 1 - 11) zu den Erzvätererzählungen gegeben ist; einleitend wiederum die Toledotformel: "Dies sind die Geburten Sems." (Gen 11,10). Die Erzählungen über Abraham beginnen mit: "Dies sind die Geburten Terachs." (Gen 11,27). Man kann sich fragen, ob die Abrahamerzählungen deswegen nicht besser Teracherzählungen heißen sollten. Der Seitenzweig Ismael wird mit der Toledotformel in Genesis 25,12 eingeleitet; der Hauptzweig Isaak dann mit der Formel in Genesis 25,19: "Dies sind die Geburten Isaaks." Es folgen die sog. Jakobserzählungen (besser Isaakserzählungen?). Der Seitenzweig Esau (die Edomiter) wird in Genesis 36 summarisch dargestellt (die Formel in Gen 36,1.9). Der letzte große Erzählabschnitt der Genesis, die sog. Josefsnovelle, beginnt mit der Formel: "Dies sind die Geburten Jakobs." (Gen 37,2). 15

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In den meisten Übersetzungen wird das hebr. Wort hier leider nicht mit Geburt übersetzt. Meist findet der Leser "Entstehungsgeschichte" oder ähnliche Ausdrücke. Das Studium der altorientalischen Bildsymbolik zeigt jedoch, daß man sich das Verhältnis von Himmel und Erde als ein geschlechtliches vorstellte. Siehe Othmar Keel, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament, 1996, 25. Auch in den folgenden Stellen kann der Bibelleser sehr verschiedene Ausdrücke vorfinden. In der Übersetzung von Hermann Menge beispielsweise findet man: Entstehungsgeschichte, Geschlechtstafel, Geschichte, Stammbaum, Abstammung und Nachkommen. Man sei sich also der Tücke von Übersetzungen bewußt! Eine gewisse Abhilfe bietet die gleichzeitige Lektüre mehrerer Übersetzungen. Swedenborg versteht diese erste Toledotformel als Überschrift (siehe 89). In den meisten Kommentaren wird sie jedoch als Unterschrift des sog. ersten Schöpfungsberichtes Genesis 1,1-2,4a verstanden. Problematisch ist diese Sicht jedoch allein schon deswegen, weil die Toledotformel sonst immer Überschrift ist. Da jedoch das göttlische Schaffen von Genesis 1,1 in diese ersten Toledotformel aufgenommen ist, scheint mir die Schöpfung des geistigen Menschen die Grundlage der Geburten des himmlischen Menschen zu sein.

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Diese Übersicht zeigt, daß es berechtigt ist, die Genesis als das Buch der Geburten zu bezeichnen; von daher bekommen nun die Geburten der Mütter Israels in Genesis 29,31 bis 30,24 ein besonderes Gewicht. Daher einige Bemerkungen zum spirituellen Sinn von "geboren werden". Aus der Traumforschung ist bekannt, daß ein neuer Lebensabschnitt durch einen Geburtstraum angekündigt werden kann. Durch die Geburt wird ein neues Leben ins Dasein entlassen. Die Heilige Schrift handelt vom Leben und der Einhauchung des Lebens in die noch toten Formen: "Jehovah Gott formte (töpferte) den Menschen aus Lehm vom Boden und blies seiner Nase den Lebensodem ein; so wurde der Mensch zur lebendigen Seele." (Gen 2,7). Mit diesen Worten beginnt die Geschichte des Adam; doch auch seine Tragik: die Todverfallenheit. Deswegen mußte Jesus in die tote Welt kommen, um ihr das neue Leben einzuhauchen: "Nachdem er (Jesus) das gesagt hatte, hauchte er sie an und sprach zu ihnen: Empfanget den Heiligen Geist!" (Joh 20,22; vgl. ergänzend Joh 6,63). Das Leben ist das große Thema der Heiligen Schrift; daher ist es angemessen unter der biologischen Geburt die geistige zu verstehen, die Neugeburt (von neuem geboren werden: Joh 3,3). Die Neuoffenbarung bevorzugt diesen Ausdruck; während der sonst übliche juristische, nämlich die Rechtfertigung (iustificatio), praktisch bedeutungslos ist. Swedenborg kann sogar schreiben: "Die Kirchenchristen wissen heutzutage so wenig über die Wiedergeburt, weil so viel von die Sündenvergebung und Rechtfertigung gesprochen wird." (5398). Lassen wir uns also vom Buch der Geburten leiten; lassen wir uns die Augen dafür öffnen, daß es um die Gestaltwerdung des neuen Lebens aus Gott geht. Diese Gestaltwerdung ist das Thema des nun zu behandelnden Textabschnittes Genesis 29,31 bis 30,24. Aus der Strukturanalyse (siehe Abbildung) ist ersichtlich, daß die Geburten einem relativ festen Schema folgen: 1.) die formelhafte Erwähnung der Empfängnis und Geburt, 2.) der Namenssatz und 3.) die Namensgebung (übrigens immer durch die Mutter)17. Wenn man dies als das Normalschema ansieht, dann fallen Unregelmäßigkeiten bei Ruben (erst Namensgebung, dann Namenssatz), bei Gad und Ascher (die Empfängnisformel fehlt), bei Dina (der Namenssatz fehlt) und bei Josef (zwei Namenssätze) auf. In der Strukturübersicht sind auch die Zwischenteile (rechte Spalte) zu sehen. In der folgenden Auslegung werden ich mich auf die Namenssätze konzentrieren; dennoch sollen auch einige der Unregelmäßigkeiten und Zwischenteile in den Blick genommen werden. Ausführlichkeit ist jedoch schon aus Platzgründen nicht möglich.

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Die Namensgebung durch die Mutter erfolgt im AT 26 mal. Außer im vorliegenden Textabschnitt noch in Gen 4,25 durch Eva, in Gen 16,11 durch Hagar, in Gen 19,37f durch die beiden Töchter Noahs, in Gen 35,18 durch Rachel, in Gen 38,3.4.5 durch Schua, in Ex 2,10 durch die Tochter des Pharaos, in Ri 13,24 durch die Frau Manoachs, in 1.Sam 4,21 durch die Frau Pinchas, in Jes 7,14 durch die Jungfrau oder junge Frau, in 1.Chr 4,9 durch eine unbekannte Mutter und in 1.Chr 7,16 durch Maacha.

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Die ersten vier Leageburten Im folgenden soll die Bedeutung der Jakobssöhne aus ihren Namenssätzen abgeleitet werden. In diesen Sätzen werden die Namen mit lautverwandten Worten (meist Verben) in Verbindung gebracht; diese Bezugsworte werde ich durch Kursivschrift hervorheben (auch Bibelübersetzungen informieren darüber). Darüber hinaus dient aber nicht nur das Bezugswort, sondern der ganze Namenssatz zur Erkenntnis des geistigen Sinnes. Allgemein bezeichnen die Jakobssöhne "die Universalien oder hauptsächlichen Gegebenheiten der Kirche" (Ecclesiae universalia: 3861). Denn aus den Jakobssöhnen wurden die Stämme des Gottesvolkes; und später wählte Jesus in Anlehnung an den Zwölfstämmeverband zwölf Jünger18 aus, um anzudeuten, daß sich das neue Gottesvolk um ihn sammeln wird. Der Namenssatz für Ruben lautet: "Denn Jehovah hat mein Elend gesehen, denn nun wird mein Mann mich lieben." (Gen 29,32). Ruben wird von "sehen" abgeleitet.19 Das geistige Sehen besteht in der Überzeugung vom Wahrheitsgehalt bestimmter Thesen, theologisch gesprochen im Glauben, genauer im intellektuellen Glauben (fides intellectu: 3863); dieser etwas mißverständliche Ausdruck meint den Glauben, insofern er Sache des Verstandes ist, insofern er das Für-wahr-halten von etwas ist. Die katholische Kirche unterscheidet zwischen dem Glauben im objektiven Sinne (fides quae creditur)20 und im subjektiven Sinne (fides qua creditur)21. Der erstgenannte Glaube ist derjenige an vorgegebene Lehrsätze; der zweite ist das Vertrauen. Der erstgenannte ist Ruben (die Erstgeburt der äußeren Kirche); der zweite Simeon. Ruben ist "das Wahre des Glaubens" (verum fidei: 3860). Mit dem Akt oder der Fähigkeit, an etwas (z. B. die neuen Offenbarungen) zu glauben, beginnt die neue Geburt aus Wasser (dem Glaubenswahren) und Geist (der inneren Bekräftigung); draußen stehen jene, die von sich sagen müssen: "Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube." (Dr. Faust). Das ist das Leiden der Doktoren. Ohne Beweise wollen sie nicht glauben; und da es Beweise nicht gibt, können sie nicht glauben. Daher ist Ruben (der Glaube an etwas) der unverzichtbare Anfang der Wiedergeburt (3860). Das Elend Leas besteht darin, daß sie vom Wissen zum Wollen des Guten durchdringen will (3864). Das geschieht durch Versuchungen, weswegen Swedenborg das hebr. Wort 18

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Es wäre interessant, die zwölf Jakobssöhne mit den zwölf Jüngern zu vergleichen. Dazu existiert eine Arbeit von J. E. Elliott, die in den Neukirchenblättern von 1965 bis 1967 veröffentlicht worden ist. In Ruben ist auch das hebr. Wort für Sohn enthalten. Daher vermutet Claus Westermann, die ursprüngliche Bedeutung sei "sehet, ein Sohn!" (BK I/2 577). Swedenborg schreibt in Adversaria 691: "Ruben est filius visionis (Sohn des Sehens)". Der Glaube, der geglaubt wird. Der Glaube, durch den geglaubt wird.

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hier mit afflictio (Anfechtung) übersetzt. Auf der Buchstabenebene bezieht sich das Elend oder die Trübsal Leas darauf, daß sie von ihrem Mann nicht geliebt wird. Dem entspricht auf der geistigen Ebene die relative Wertlosigkeit oder Minderwertigkeit des nur Äußerlichen. Durch ihre Geburten will Lea diesen Mangel ausgleichen; die sehnlichst herbeigewünschte Überwindung des Verhaßtseins (Gen 29,31) durchzieht ihre Geburten: "Nun wird mein Mann mich lieben" (Gen 29,32 nach der Geburt Rubens); "Jehovah hat gehört, daß ich verhaßt bin" (Gen 29,33 nach der Geburt Simeons); "Nun endlich wird mein Mann mir anhänglich sein" (Gen 29,34 nach der Geburt Levis). In der Liebesäpfelepisode schreit Lea ihr ganzes Leid hinaus: "Ist es nicht genug, daß du (Rachel) mir meinen Mann genommen hast?" (Gen 30,15). Und dann die letzte Geburt Leas. Bringt sie endlich die Erfüllung ihrer unerfüllten Liebe? Lea hofft: "Diesmal wird mein Mann mir beiwohnen" (Gen 30,20 nach der Geburt Sebulons). Leas Leid wird mit Jehovahs Erbarmen beantwortet. Es fällt nämlich auf, daß die Leageburten Ruben, Simeon und Juda mit Jehovah verbunden sind, von dem dann erst wieder im zweiten Namenssatz für Josef die Rede sein wird. Dazu muß man wissen, daß der hebr. Gottesname Jehovah, vom Verb sein abgeleitet, das Sein (Esse) und die Seinsqualität oder das Wesen (Essentia) Gottes (3910) bezeichnet; das Sein Gottes aber ist das Leben (840) und dessen Pulsschlag in Ewigkeit ist die sich erbarmende Liebe (2253), die sich gerade der Verachteten annimmt. Es war der Leastamm Juda, der nach dem babylonischen Exil die Geschichte des Gottesvolkes weiterführen (daher spricht man von "Juden") und den Erlöser aller Menschen hervorbringen sollte. Simeon Namenssatz: "Denn Jehovah hat gehört, daß ich verhaßt bin, und gab mir auch diesen" (Gen 29,33), läßt uns den zweiten Sohn Leas als die Gestaltung des Hörens erkennen. Schon in der Alltagssprache hat hören die Bedeutung von gehorchen (von: horchen); so in der Wendung: "auf jemanden hören", oder im Sprichwort: "Wer nicht hören will, muß fühlen"; ebenso in "Gehorsam" und in "gehören" (= dem Willen angehören). Die Entsprechung liegt daher auf der Hand: Simeon bezeichnet den Glaubensgehorsam (fides voluntate: 3871), der der Glaubenseinsicht (Ruben) folgt. Zu beachten ist, wie sehr die ersten beiden Namenssätze aufeinander bezogen sind; worin sich die Zusammengehörigkeit von Sehen und Hören ausdrückt. Beide beginnen mit "Denn gesehen/gehört hat Jehovah". Es folgt jeweils ein Hinweis auf Leas erbärmlichen Zustand ("mein Elend" / "daß ich verhaßt bin"). Der Schluß des Simeonsatzes weist durch die Partikel "auch" ("und gab mir auch diesen") auf den Rubensatz zurück. Der (intellektuelle) Glaube muß Zustimmung im Willen finden; sonst ist er kein Glaube. Erst dieses Geschwisterpaar macht uns vor Gott zu Priestern; Levi kann geboren werden:

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"Diesmal nun wird mein Mann mir anhangen, denn ich habe ihm drei Söhne geboren." (Gen 29,34). Anhangen ist ein Ausdruck der Liebe, freilich nicht der kräftigste; daher bezeichnet Levi nur die Nächstenliebe (charitas). Die Zahl drei deutet dennoch eine gewisse Vollendung an, denn im tätigen Liebesdienst kommt der Mensch der äußeren Kirche an sein vorläufiges Ziel und wird fähig, die in seinem Leben wirksam gewordene Gotteskraft der Liebe zu preisen; das ist Juda: "Diesmal will ich Jehovah preisen / bekennen." (Gen 29,35). Die ersten vier Leageburten stellen eine Steigerung dar: vom "Wissen des Wahren" (Ruben: 3882) über das "Wollen des Wahren" (Simeon: 3882) zur tätigen Liebe (Levi) und dem darin empfundenen Gefühl der Liebe zum Herrn (Juda). Dieses Aufsteigen ist für Jakob eine Erfüllung seines Traumes von der Himmelstreppe, auf der Engel Gottes auf- und niederstiegen (Gen 28,12). Auf diesen Zusammenhang weist Swedenborg indirekt in 3882 hin. Man sollte meinen, daß mit Juda (der Liebe zum Herrn) die höchste Vollendung erreicht ist. Doch bisher sahen wir nur Leas Söhne; noch immer ist Rachel wie tot in uns (Gen 30,1).

Die Geburten der Mägde Die Mägde sind die von Seiten des inneren (Rachel) und äußeren Menschen (Lea) eingesetzten Mittel, um der Wiedergeburt neue Impulse zu geben. Da die Beschaffenheit der Mittel aus dem ersichtlich wird, was sie bewirken, wende ich mich sogleich den Söhnen der Mägde zu. Durch Bilha kommt Rachel zu Dan und Naftali. Der Namenssatz für Dan lautet: "Gott hat mir Recht gesprochen und auch meine Stimme erhört und mir einen Sohn gegeben." (Gen 30,6). Im äußeren Sinn bezieht sich dieser Ausspruch auf die Rivalität zwischen den ungleichen Schwestern (eifersüchtig sein in Gen 30,1); und da nichts so überzeugend ist wie der Erfolg, scheint die gebärfreudige Lea die bessere Frau zu sein. Doch durch Dan wird Rachel ins Recht gesetzt; das heißt im inneren Sinn, daß alle Heiligung im Glaubensleben (sanctum fidei) von Gott kommt; der Mensch kann sie sich nicht erwirtschaften. Zwar bedarf es der guten Werke (charitatis opera); aber sie sind nicht die Ursache der Heiligung, sondern nur das (allerdings notwendige) Milieu, in dem sich die erlösende Kraft des lebendigen Gottes auswirken kann. Dan ist die Anerkennung dieses Gottes jenseits der eigenen Intentionalität; diese Anerkennung schafft erstmals Lebensraum für Rachel. Er weitet sich durch Naftali; denn sein Namenssatz lautet: "Ringkämpfe Gottes habe ich gerungen mit meiner Schwester, habe mich auch als stark erwiesen." (Gen 30,8). Die innere Kirche kann sich gegenüber den Widerständen von Sei-

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ten des natürlichen Menschen nur durch Versuchungen durchsetzen, in denen sie sich als stark erweisen muß. Von diesen Geschehnissen profitiert nun auch Lea und kann den Stillstand im Gebären (vgl. Gen 29,35b mit 30,9) überwinden. Durch Silpa kommt sie zu Gad und Ascher. Der Namenssatz für Gad lautet: "Es kommt ein Haufe (Venit turma)." (Gen 30,11). Das hier mit turma (ein Haufen, Schwarm) übersetzte hebr. Wort wird heute mit "Glück" wiedergegeben, so daß man üblicherweise "Glück auf!" oder ähnliches lesen kann. Welche Gründe könnten demgegenüber für Swedenborgs Verständnis sprechen? In Genesis 49 (Jakobs Sprüche über seine Söhne) ist Gad mit hebr. gedud (Heerschar) verbunden (Gen 49,19). Das hebr. Verb g-d-d bedeutet abschneiden und angreifen; von daher eröffnet sich sowohl ein Zusammenhang zur Heerschar als auch zum Glück als dem Beschiedenen (von abschneiden). Möglicherweise sieht Swedenborg auch einen Zusammenhang zwischen Gad und hebr. gadol (groß). Es könnten also sprachliche Verbindungslinien zwischen Schar und Glück bestehen. Außerdem scheinen innere Beziehungen zu existieren. Immerhin interpretiert Swedenborg Gad im höchsten Sinn als die Allmacht der göttlichen Liebe und die Allwissenheit der göttlichen Weisheit (3934). Liebe und Weisheit herrschen aber als Göttliche Vorsehung (GV 1), die wir Menschen als Glück (oder Unglück) erleben. Nach Swedenborg ist das Glück "die Vorsehung im Äußersten der Ordnung" (6493). In Jesaja 65,11 bezeichnet Gad offensichtlich die Glücksgottheit. Wenn Swedenborg in Gad die Werke sieht (3934), dann darf man nicht vergessen, daß (ebenfalls nach Swedenborg) bis in alle Einzelheiten der Werke hinein die Vorsehung (Glücksgottheit) wirksam ist (GV 251). Aus dem Gesagten folgt, daß Gad die Werke des geglückten Tages bezeichnet. Dieses Glück kann sich im Leben einfinden, wenn wir unsere Werke nicht mehr in der Selbstbegrenzung verrichten. Daher bezeichnet Gad auch das sinnvolle Tun (usus), vgl. AR 352; denn in der Öffnung für einen Lebenssinn, den wir uns nicht selber ausdenken können, öffnen wir uns der Lebensmacht des Guten und Wahren, so daß sich die Werke des geglückten Tages durch uns verwirklichen können. Die Folge ist Glückseligkeit, die Geburt Aschers; sein Namenssatz lautet: "In meiner Glückseligkeit, denn glücklich preisen werden mich die Töchter." (Gen 30,13). Welche Töchter? Jakobs Frauen haben bisher nur Söhne zur Welt gebracht. Man kann antworten: Die Töchter des Landes; oder sich auf den inneren Sinn besinnen, wonach die Töchter Emotionen (seelische Bewegungen) darstellen (daher übrigens auch die altorientalische Institution der Klageweiber). Vielleicht liegt hierin auch der tiefere Grund, warum bei den Geburten von Gad und Ascher die Empfängnisformel fehlt. Das unverhoffte Glück als Ereignis (Gad) und als Gefühl (Ascher) kann eben nicht wirklich empfangen und festgehalten werden, sondern

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sich nur durch uns verwirklichen (geboren werden). Das Glück vermittelt dem äußeren Menschen erstmals das Gefühl der Abhängigkeit von einer höheren Macht.

Leas Vollendung Halten wir den bisherigen Stand der Entwicklung fest! Lea empfindet den Lustreiz des inneren Lebens (Überwindung der Selbstbegrenzung) und Rachel setzt sich in den Ringkämpfen (Versuchungen) mit ihrer Schwester allmählich durch. In dieser Situation stößt Ruben (das Glaubensbewußtsein) in den Tagen der Weizenernte (beim Einholen seiner Gedanken- oder Glaubensaussaat) auf Liebesäpfel (das Mittel zur Förderung der ehelichen Liebe). Die Verbindung mit Jakob (natürliche Erstreckung des göttlichen Einflusses) soll nun intensiviert werden. Rachel hat an den Liebesäpfeln ebenso großes Interesse wie Lea. Es kommt zum Ausgleich: Lea darf bei Jakob liegen; doch Rachel erhält die Kraft zur unio mystica22. Lea wird vollendet; Rachel aber wird auferstehen. Nach der Liebesäpfelepisode wird Gott als der Erhörende bezeichnet (Gen 30,17a und 22), denn, wie oben gesagt, hören bezieht sich auf den Willen und dieser auf die Liebe. Lea empfängt Issaschar und ruft aus: "Gott hat meinen Lohn gegeben, weil ich meinem Manne meine Magd gegeben habe." (Gen 30,18). Issaschar ist der Lohn. Das Lohn- oder Verdienstdenken ist der äußeren Kirche offenbar nicht völlig auszutreiben. Man beachte im Namenssatz das zweimalige Vorkommen von "geben" (Prinzip: do ut des): Gott hat gegeben, weil (aufgrund der Tatsache, daß) ich gegeben habe. Lea hat ihre Magd gegeben und nimmt jetzt ihren Lohn entgegen. Wir sahen, daß die Silpageburten die Werke des geglückten Tages und das dementsprechende Glücksgefühl darstellen, weswegen der Lohn hier nicht das selbsterarbeitete Heil sein kann. Vielmehr meint Issaschar die Einheit von Wollen und Denken, die sich einstellt, wenn wir Gott walten lassen. Das ist der Lohn des Selbstverzichtes; Leas fünfter Sohn. Die Zahl fünf ist seit jeher eine mystische Zahl (das Seelenpentagramm); es ist die Seelenvollendung, die Lea erreicht. Das ist wenig23 im Vergleich zur vollständigen Verwandlung Rachels (ihr Tod bei der Geburt Benjamins). Durch die Geburt Sebulons kommt Lea zur Vollendung. Der Namenssatz lautet: "Beschenkt hat mich Gott, mich mit gutem Geschenk. Diesmal wird mein Mann mir beiwohnen, denn ich habe ihm sechs Söhne geboren." (Gen 30,20). Sebulon bezeichnet die 22

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In 3942 bringt Swedenborg die Liebesäpfel mit der ehelichen Liebe in Verbindung. Dieser ungemein bedeutungsreiche Ausdruck impliziert auch die unio mystica. Swedenborg schreibt: "Die wahre eheliche Liebe ist die Einheit (unio) zweier Gemüter, die eine spirituelle Einheit (unio spiritualis) ist." (10168). In 1013 schreibt er, daß die unio mystica (dort verwendet er diesen Ausdruck) allein durch Liebe geschieht. Das Urbild der unio mystica ist die Einheit des Vaters und des Sohnes (unio mystica in 2004). Nach Swedenborg bezeichnet die Fünf als Hälfte der Vollzahl Zehn "etwas bzw. wenig" (649).

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Beiwohnung des Seelenbräutigams. Beiwohnen ist ein bildlicher Ausdruck für die eheliche Verbindung (3960: vgl. auch den deutschen Sprachgebrauch); zugleich ist angedeutet, daß Lea nun zur Wohnung des Herrn geworden ist. Denn das hebr. Wort sebul kann den Himmel als die Wohnung Gottes (Jes 63,15) und den Tempel (beth sebul: 1 Kön 8,13) bezeichnen. Zu beachten ist auch, daß nicht einfach vom einem Geschenk, sondern vom guten Geschenk gesprochen wird; es ist also das Geschenk der Verbindung mit dem Guten der Liebe. Swedenborg übersetzt das in der gesamten Heiligen Schrift nur hier vorkommende Wort säbäd (ebenfalls ein Anklang an Sebulon?) mit dos, das auch Mitgift, Brautschatz usw. bedeutet; also ein weiterer Hinweis auf die Heirat. Die Zahl Sechs (die Hälfte der Vollzahl Zwölf) bezeichnet die Vollendung der äußeren Kirche; also die halbe Vollendung der Gesamtkirche aus Rachel und Lea. Dina ist die einzige Tocher. Daher bezeichnet sie die Kirche als Zusammenfassung der bisherigen zehn (Vollzahl) Geburten. Zugleich ist sie die siebente Geburt Leas; auch diese Zählung verleiht ihr die Qualität der gottesdienstlichen Heiligung (der siebente Tag ist der Tag des Herrn). Ihr Name bringt sie, wie schon ihren Bruder Dan, mit der Vorstellung von Recht und Gericht in Verbindung. Was hat das mit Kirche zu tun? Sehr viel, wenn man sich Begriffe wie Thora (das Mosegesetz), Sünde, Rechtfertigung (iustificatio), Jüngstes Gericht, Kirchenrecht usw. in Erinnerung ruft.

Rachels Auferstehung Nun endlich öffnet Gott Rachels Mutterleib (Gen 30,22). Die Formel "den Mutterleib öffnen" steht in der gesamten Heiligen Schrift nur hier bei Rachels Erstgeburt und in Genesis 29,31 bei Leas Erstgeburt.24 Das hebr. Wort für Mutterleib ist von einem Verb abgeleitet, das zärtlich lieben und erbarmen bedeutet. Mutterschoß bedeutet im Hebräischen die Eingeweide als Sitz des zarten Mitgefühls. Daher entspricht er "dem Guten der himmlischen Liebe" (AE 865). Swedenborg erläutert das mit den Worten: "Daß der Mutterleib das innerste Gute der Liebe bedeutet, beruht darauf, daß alle Zeugungsorgane sowohl beim männlichen, als auch beim weiblichen Geschlecht, die eheliche Liebe bedeuten, und der Mutterleib ihr Innerstes, weil hier die Leibesfrucht empfangen wird und fortwächst, bis sie geboren wird; er ist auch wirklich das Innerste der Zeugungsglieder; von daher stammt auch die mütterliche Liebe, die Zärtlichkeit genannt wird." (AE 710). Der Mutterleib bezeichnet also die Liebe, die uns empfänglich macht (schwanger werden läßt); daher ist er auch ein Bild für die Kirche (4918).

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Das gilt selbstverständlich nur für den hebräischen Grundtext. Dort findet sich tatsächlich nur hier rächäm (Mutterleib) mit patach (öffnen) verbunden. Es gibt freilich eine ähnliche Formulierung, nämlich rächem mit päthär (Durchbruch) = "Durchbruch des Mutterleibes", die Swedenborg in Ex 13,2.15; 34,19 mit "apertura uteri" (Eröffnung des Mutterleibes) übersetzt.

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Aus diesem Schoß der sanften Geistesliebe erleuchtet uns Rachels Frucht. "Gott hat meine Schmach eingesammelt" (Gen 30,23), sagt sie; von der Unfruchtbarkeit des Todes (siehe Gen 30,1) hat er mich erlöst. "Weil die Mutter (in alten Zeiten) die Kirche bezeichnete und die Söhne und Töchter ihr Wahres und Gutes …, deshalb war es Schimpf und Schmach für die Frauen, unfruchtbar zu sein" (AE 721 mit Belegstellen). Josef bezeichnet das ewige Licht des Geistes: "das Göttlich Geistige, das vom Göttlich Menschlichen des Herrn ausgeht" (4669); das Göttlich Wahre, das wir in der christlichen Tradition den Heiligen Geist nennen (NJ 306). Dieses Licht des ewigen Morgens ist wahre Spiritualität ("Spirituale in sua essentia non aliud est": 4669), ist das erlösende, freimachende (Joh 8,32) Licht der Liebe. Dieser Josef kann nicht ohne Benjamin leuchten. Deswegen sprach Rachel ein zweites Mal: "Jehovah füge mir noch einen Sohn hinzu!" (Gen 30,24). Denn in Josef fühlen wir immer auch schon Benjamin; unser höchstes Glück, das uns den Tod bringen wird. Wir sehen in den beiden Namenssätzen den Wechsel von Elohim (Gotteslicht) auf Jehovah (Liebes- und Lebenswärme), den Übergang in die reine Liebessphäre. Auf ihrem Weg mit Jakob wird Rachel noch viel erleben. Die Theraphim (Hausgötter) ihres Vaters wird sie stehlen und im Kamelsattel verstecken. Auf dem Weg nach Bethlehem (Haus des ewigen Lebensbrotes) bei der Geburt Benjamins wird sie alles Irdische ablegen und in die himmlische Freiheit des Geistes übergehen. Wer ist Benjamin? Im Sterben nannte sie ihn Benoni (Sohn meines Schmerzes oder meiner Trauer: 4591). Doch sein Vater nannte ihn Benjamin (Sohn der rechten Seite). In Psalm 110,1 heißt es: "Spruch des Herrn an meinen Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich hinlege deine Feinde als Schemel deiner Füsse." Das Neue Testament erkennt in diesem zur Rechten Sitzenden Jesus.

Zum religiösen Denken von Jung-Stilling von Prof. Dr. Gerhard Merk Vorbemerkung der Schrifleitung: Herr Prof. Dr. Gerhard Merk ist Präsident der Jung-StillingGesellschaft in Siegen. Am 4. September 1999 durften wir ihn im Swedenborg Zentrum zu einem hochinteressanten Vortag über Jung-Stillings Weltsicht aus dem Diesseits und Jenseits begrüssen. Daraus ist nun der folgende Beitrag für unsere Zeitschrift hervorgegangen mit einem Schwerpunkt bei den Jenseitsvorstellungen.

Lebensweg von Jung-Stilling Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817) hat die Geschichte seines Lebens selbst niedergeschrieben; Goethe beförderte den ersten Teil zum Druck. Sie wurde in viele Spra-

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chen übersetzt und blieb bis heute auf dem Büchermarkt. Danach lässt sich der äussere Lebensweg von Jung-Stilling in vier Abschnitte gliedern.

(1) Jugendzeit im Siegerland. Jung-Stilling wächst in einer Grossfamilie von Handwerkern und Bauern im Siegerland auf, einer der ältesten Bergbauregionen in Europa. Nach sorgfältiger Erziehung daheim besucht er die Grundschule und Lateinschule. Von kleinauf steht der frühreife Hochbegabte als Handreicher im Köhlerhandwerk dem Grossvaters zur Seite, lernt beim Vater die Schneiderei und arbeitet als Schulmeister, Vermessungsgehilfe sowie in der Landwirtschaft in seiner Heimat. Auf nahezu allen Gebieten bildet sich der wissensdurstige und bis zu seinem Lebensende lerneifrige Jung-Stilling weiter. Der Knabe ist durch die häusliche Erziehung besonders auch mit der christlichen Frohbotschaft wohl vertraut. Er beantwortet die Gnade der Erlösung mit einem festen, lauteren und treuen Glauben. Die Familie ist reformierter Konfession, und Jung-Stilling blieb zeit seines Lebens in diesem religiösen Umfeld. Der katholische Glaube blieb im letztlich fremd. Was er vom Luthertum kannte, ist nur Stückwerk geblieben.

(2) Reifung im Bergischen Land. Das wirtschaftliche Klima im Siegerland ist um 1760 verhältnismässig schlecht. Demgegenüber erfreut sich das benachbarte Bergische Land einer Phase günstiger industrieller Entfaltung. Getragen wird diese von der eisenverarbeitenden Industrie sowie von zahlreichen Textilfabriken im Talgebiet der Wupper. Viele Menschen wandern in das Bergische Land ein, darunter so mancher Siegerländer. Auch Jung-Stilling entschliesst sich in seinem 22. Altersjahr, als Wandergeselle ins Bergische zu ziehen. Den Schneidergesellen entdeckt einer der damals bedeutenden Gewerbetreibenden an der Wupper: der Fabrikant, Gutsbesitzer, Viehzüchter, Grosshändler und Transportunternehmer Peter Johannes Flender (1727–1807). Er macht Jung-Stilling zum Hauslehrer seiner Kinder und zu seiner rechten Hand im Geschäftlichen. Flender ist wie JungStilling reformierten Bekenntnisses; er entstammt väterlicherseits dem Siegerland. Gottesdienstbesuch und Gebet bei Tisch sind eine Selbstverständlichkeit. Religiöse Fragen beschäftigen Flender immerzu. Er liest entsprechende Bücher; zweimal in der Woche ist der Pfarrer am Abend sein Gast. Jung-Stilling bleibt sieben Jahre im Hause Flender. Er bezeichnet diese Zeit als seine ökonomischen Studienjahre. Jung-Stilling, ländlicher Herkunft, wächst daneben hier auch in die kultivierte Lebensart des städtischen Bürgertums hinein. Bereits 30 Jahre alt, verlässt Jung-Stilling das Haus Flender, um in Strassburg Medizin zu studieren. Er hatte sich im Selbststudium bereits die Grundlagen dieser Wissenschaft angeeignet. Dazu wirkte er in seiner Freizeit als Laienarzt bei Augenkrankheiten; JungStilling erhielt von einem Bekannten seines Onkels eine Handschrift mit entsprechen-

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den Anleitungen. In nur drei Semestern schaffte es Jung-Stilling, das Medizinstudium abzuschliessen. In Strassburg lernte er auch Johann Wolfgang Goethe und Gottfried Herder kennen. Noch vor seiner Abreise nach Strassburg hatte sich Jung-Stilling mit einer kränklichen jungen Frau aus einer Bergischen Unternehmerfamilie verlobt, die er 1771 heiratete. Im Frühjahr 1772 liess er sich als praktischer Arzt in Elberfeld nieder. Bald verlegt er den Schwerpunkt auf Augenkrankheiten, und hier wieder im besonderen auf die Operation des grauen Stars. Bis zu seinem Lebensende schenkt Jung-Stilling etwa 2 000 Menschen durch Operation das Augenlicht wieder. Ein Honorar verlangte er nicht, wiewohl er die meiste Zeit seines Lebens Geldschulden hatte.

(3) Hochschullehrer für Ökonomik. Während seiner Zeit als Arzt in Elberfeld hatte JungStilling auch Abhandlungen über betriebswirtschaftliche Themen veröffentlicht. Diese Arbeiten und seine gute Beziehungen bei Hofe zu Mannheim (das Bergische Land gehörte damals zum Herrschaftsbereich des Kurfürsten von der Pfalz, der in Mannheim residierte) trugen ihm 1778 die Berufung zum ordentlichen Professor für angewandte ökonomische Wissenschaften an die Kameral Hohe Schule in Kaiserslautern ein. Im Herbst dieses Jahres zieht Jung-Stilling mit seiner Familie in die Kurpfalz. Die Kameral Hohe Schule wird 1784 der Universität Heidelberg angegliedert. JungStilling übersiedelt mit seiner Familie dorthin. Er hatte 1782 ein zweites Mal geheiratet, nachdem seine erste Frau in Kaiserslautern starb. Zum Sommersemester 1787 erhält Jung-Stilling unter Verdoppelung seiner bisherigen Bezüge einen Ruf an die Universität Marburg, dem er gern folgt. Bis zum Jahr 1803 lehrt Jung-Stilling nun Ökonomik in Marburg. An der medizinischen Fakultät hält er auch Übungen zur operativen Augenheilkunde ab. Denn Jung-Stilling gibt auch als Ökonomieprofessor seine Tätigkeit als Augenarzt nie auf. Jung-Stilling schrieb zur Ökonomik elf Fachbücher und zahlreiche Aufsätze. Auch veröffentlichte er eine Anleitung zur Operation des Grauen Stars.

(4) Berater am Badischen Hof. Die Französische Revolution von 1789 wirkt sich in Deutschland verheerend aus. Krieg, Mangel, Hunger, Elend, Verarmung, Leid, Trümmer, Plünderungen und Unsicherheit sind die Folge. Ab 1794 steht Deutschland ganz unter dem Druck der Franzosen. Die linksrheinischen Lande werden Frankreich einverleibt, alle anderen Gebiete von Frankreich beherrscht. Die Universität Marburg verkümmert; in den Vorlesungen von Jung-Stilling sitzen nur noch zwei bis drei Hörer. Angesichts dieser widrigen Umstände entsagt Jung-Stilling dem Lehramt und tritt im Herbst 1803 in die Dienste des ihm geistig nahestehenden Karl Friedrich von Baden (1728–1811) als dessen persönlicher Berater. Wieder verlegt Jung-Stilling mit seinem ganzen Hausstand den Wohnsitz, und zwar auf Wunsch seines Gönners zunächst nach

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Heidelberg, im Jahre 1806 dann nach Karlsruhe. Diesmal zieht seine dritte Ehefrau mit ihm. Jung-Stilling war 1790 in Marburg ein zweites Mal Witwer geworden. Karlsruhe ist um diese Zeit ein Mittelpunkt wieder aufblühender Kultur im Südwesten Deutschlands. Das badische Herrscherhaus hatte sich klug an die neue Machtverhältnisse angepasst. Karl Friedrich hatte gar seinen Nachfolger einer Adoptivtochter von Napoleon Bonaparte zum Mann gegeben. Aufgrund dieser Politik wurde er von Frankreich mit Gunstbezeugungen überhäuft. Er stieg vom Markgrafen zum Grossherzog auf; sein Staatsgebiet erweiterte sich beträchtlich durch von Frankreich verfügte Zuweisungen aus anderen deutschen Territorien. Karlsruhe galt als "befreundeter Hof" und war ob dessen dem unmittelbaren Druck Frankreichs und der rohen Willkür seiner Krieger entzogen. Jung-Stilling findet damit in Baden die nötige äussere Ruhe zum Arbeiten. Hier in Karlsruhe stirbt Jung-Stilling im April 1817, zwei Wochen nach dem Hinschied seiner dritten Ehefrau. In Karlsruhe liegt Jung-Stilling auch begraben; das Grabdenkmal befindet sich heute auf dem (neuen) Hauptfriedhof. Bei seinem Heimgang waren ihm bereits sieben Kinder in das Jenseits vorangegangen. Sie alle sah Jung-Stilling samt ihren Müttern gelegentlich einer Verzückung im Himmel, wo sie sich der Seligkeit erfreuen.

Versuch einer natürlichen Gotteserkenntnis In seiner Zeit als Arzt in Elberfeld beschäftigte sich Jung-Stilling einlässlich mit der Frage, wie Gott und die Welt nicht nur aus biblischer Belehrung zu erkennen seien, sondern auch durch vernünftiges Nachdenken. Dieses Anliegen ist in der christlichen Theologie nicht neu. Vor allem Thomas von Aquin (1227–1274) und seine Schule brachten es hierbei, an die Schriften des Aristoteles (384–321 v.Chr.) anknüpfend, zu Lehrsätzen, die bis heute als Glanzstück natürlicher (= nur auf Vernunftschlüssen beruhender) Theologie gelten. Freilich blieb Jung-Stilling zeitlebens die Ergebnisse dieses Denkens unbekannt. Wie viele Genies, so achtete er wenig auf das, was andere vor ihm und neben ihm an Erkenntnissen gewannen. So glaubte Jung-Stilling 1774, sein "eigenes System" entdeckt zu haben. Frucht dessen ist sein "Theosophischer Versuch vom Wesen Gottes und dem Ursprung aller Dinge" aus dem Jahr 1776; die Schrift ist nur als Manuskript auf uns gekommen. Doch 1787 gibt Jung-Stilling diese Gedanken in dem anonym erschienenen Buch "Blicke in die Geheimnisse der Natur=Weisheit" in veränderter Form zum Druck. Jung-Stillings Anliegen ist es letztlich, die Übereinstimmung von Wissen und Glauben, von Denken und Offenbarung zu beweisen, wie er im Vorwort betont. Jedoch sind die Ausführungen an vielen Stellen sehr schwer verständlich und schleierig. Jung-Stilling hat ganz offensichtlich Lehren der westöstlichen Geheimwissenschaft (hermetische

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Schriften) in "sein System" hinein gemischt. Dazu fehlt ein Inhaltsverzeichnis, und die an den Schluss gestellten "Anmerkungen über vorgehendes philosophisches System" stehen teilweise in Widerspruch zum Hauptteil. Jung-Stilling räumt freilich selbst ein, dass "sein System" noch "ausserordentlich viel Unverdautes und Baufälliges" habe. So ist es nicht verwunderlich, dass dieses Buch selbst von den Widmungsträgern (Dalberg, Herder, Kant) mit Kopfschütteln aufgenommen wurde.

Eintreten für den Pietismus Zu Lebzeiten von Jung-Stilling vollzog sich ein beachtlicher, bis heute nachwirkender Aufstieg der Naturwissenschaften. Viele Gesetze und Zusammenhänge wurden erstmals entdeckt. Im Zuge dessen änderte sich allgemein das Verständnis von Gott und der Welt. Denn manches, was man bis anhin als unmittelbares Wirken Gottes ansah, erwies sich jetzt als in die Dinge hineingelegte Regelung. Dies führte nun bei vielen zu falschen Folgerungen. Die einen behaupteten, Gott kümmere sich gar nicht mehr um die Welt und um den Menschen; er habe alles wie ein Uhrwerk vorgeordnet. Andere kamen gar zu dem Schluss, Gott habe sich vergegenständlicht: er sei in der Welt aufgegangen. Diese Gott-Welt-Wirklichkeit sei in immerwährendem Werden. Goethe huldigte solchen Gedanken. Gelehrte und Ungelehrte fühlten sich berufen, die Menschen von dieser neuen Weltsicht "aufzuklären". Die christliche Botschaft wurde als nicht mehr in die "neue Zeit" passend abgelehnt, darüber hinaus oft auch mit Spott und Hass verfolgt. Als Zerrbild des im "Aberglauben" verhafteten Christgläubigen galt den Philosophen und Literaten vornehmlich der "Pietist". Über ihn schütten sie Hohn und Schimpf aus. Solche Hetzjagd rief Jung-Stilling auf den Plan. Er verwahrte sich dagegen, die Pietisten allesamt als hinterwäldlerische Tölpel hinzustellen. In vielen Schriften wies er nach, dass das gläubige Vertrauen in den persönlichen Gott sogar Voraussetzung dafür ist, sich der Welt zuzuwenden und sie zum Besseren zu gestalten. Auch deckte Jung-Stilling auf, wie das Fehlen der Herzensfrömmigkeit zur Kälte gegen die Mitmenschen führt. Zwar wurden sie von den "Aufklärern" hochtrabend als "Brüder" gefeiert. Die tätige Nächstenliebe jedoch blieb ganz auf der Strecke. Statt dessen verkündeten die "Aufklärer" unbestimmte sittliche Forderungen in Menge. Im besonderen schärfte man die auch von Jesus als Richtschnur anempfohlene Goldene Regel ("Handle so, wie du willst, dass andere handeln") ein – freilich ohne deren Verpflichtung im vor Gott zu verantwortenden Gewissen zu verankern. Jung-Stilling hielt es für anmassend, diese neue Weltanschauung als "Aufklärung" zu bezeichnen, und gar noch aus dem Evangelium alles zu streichen, was von der Vernunft nicht zu begreifen sei. Wahre Aufklärung ist vielmehr (so schreibt er in einem Lehr-

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buch) "die richtige Erkänntniß von Gott, von der Natur, besonders von dem Menschen, und von dem Verhältniß desselben zu Gott, und den daher entspringenden Pflichten gegen den Vater im Himmel, und gegen den Nächsten. Aus der wahren Aufklärung folgt also reine und thätige Liebe gegen Gott und seinen Mitmenschen." Man kann sich leicht vorstellen, dass Jung-Stilling für die tonangebende Schicht der Philosophie und Aufklärungs-Theologie als altmodischer Unbelehrbarer galt. Auf vielfache Weise wurde er angefeindet. Andererseits aber scharten sich gläubige evangelische Christen aus vielen Ländern um ihn. Für sie galt er als Bewahrer der unverfälschten christlichen Botschaft. Jung-Stilling bediente seine Anhänger durch eine Vielzahl frommer Schriften, in denen er das Vertrauen auf das Heilswirken Gottes an jedem einzelnen Menschen stärkte.

Jenseitsvorstellungen Die zu Jung-Stillings Zeiten herrschende Aufklärungsphilosophie hatte für ein Leben nach dem Tod wenig übrig. Andrerseits war – ausgelöst vor allem durch die grosse wirtschaftliche Not in breiten Volksschichten infolge der Kriege – vielenorts eine Endzeitstimmung aufgekommen. Im Zuge dessen sprossten in manchen christlichen Kreisen krause, wirre Lehren über Tod und Jenseits auf. Auch "Seher" jeder Art meldeten sich zu Wort, oft genug mit der Behauptung, von Geistern aus dem Jenseits belehrt worden zu sein. Beides, sowohl die Leugnung der jenseitigen Welt als auch die übertriebene Geisterseherei, veranlassten Jung-Stilling, sich vor allem in seinem letzten Lebensabschnitt mit diesen Dingen näher zu beschäftigen. Hatte er zu seiner Zeit in Marburg bereits die "Szenen aus dem Geisterreich" herausgegeben, so folgte 1808 in Buchform die "Theorie der Geister=Kunde": ein Werk, dass auch ins Englische, Niederländische und Schwedische übersetzt wurde. Darin sowie in entsprechenden Stellen seiner Volksschriften legte Jung-Stilling seine Schau der Jenseits dar. (1) Raum und Zeit. Jung-Stilling leugnet weder die Zeitlichkeit noch die Räumlichkeit des Wirklichen. Die unseren Wahrnehmungen zugrunde liegenden Dinge füllen tatsächlich einen Raum aus. Der Wahrnehmung von Gestalt, Abstand, Ausdehnung, Lage, Entfernung und Bewegung entspricht etwas Gleichartiges in der Wirklichkeit. Auch erscheint uns nichts als "stehendes Jetzt". Vielmehr erfahren wir die Dinge als fliessend, beginnend, sich ändern. Wo aber Veränderung ist, da muss ein Nacheinander, also Zeitlichkeit sein. In der Schöpfung (in der Natur) gibt es also Raum und Zeit. Es muss daher nach den Bedingungen von Raum und Zeit sowohl geurteilt als geschlossen werden, und das Ergebnis ist wahr. Gott freilich und die von ihm erschaffenen Geister sehen die Welt anders. Für sie gibt es weder Raum, noch Zeit, noch ein kopernikanisches Weltsystem.

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Daher darf man das nur den körperlichen Wesen (den Menschen, Tieren, Pflanzen und der Materie) anhaftende raumzeitliche Sosein nicht auf die Geisterwelt übertragen. Aus der Sicht des Schöpfers ist das Weltall weder körperlich, noch im Kräftespiel, noch in Bewegung, noch genau so geordnet, wie es sich dem forschenden Menschengeist zeigt. Man warf nun Jung-Stilling vor, er entnehme solche Unterscheidungen den Geheimlehren. Doch steht Jung-Stilling hier voll und ganz in der Überlieferung der christlichen Theologie. Obendrein bezichtigte man ihn der Leugnung des kopernikanischen Weltsystems. Dabei ging es Jung-Stilling doch darum, Folgerungen aus dem naturwissenschaftlichen Weltbild für das Jenseits als unstatthaft aufzudecken.

(2) Engel und Geister. Aus dem Nichts erschaffen hat Gott nicht nur die sichtbare Welt, sondern auch die Engel. Sie sind reine Geistwesen (Körperlosigkeit), unter sich verschieden (Einzigkeit), mit freiem Willen begabt (Selbstbestimmung) und schauen in Gottes Angesicht (Seligkeit). Jung-Stilling schreibt den Engeln einen Einfluss in allen Ebenen der die Welt zu. Sie sind "Werkzeuge, durch welche der Herr die ganze Schöpfung, also auch unsre Sinnenwelt regiert." Aber grundsätzlich steht es dem Menschen nicht an, Umgang mit Engeln zu suchen. Schutzengel sind Geister, die jedem Menschen von Gott beigestellt sind. Sie wenden Gefahren des Leibes und der Seele von ihren Schützlingen ab, eifern sie zum Guten an und begleiten sie in die zukünftige Welt. Es muss ihnen eine gewisse Wirkmacht zu Gebote stehen, wodurch sie auf die Aussenwelt Einfluss nehmen. Wie gross diese ist, bleibt offen. Die von Jung-Stilling angeführten biblischen Beispiele und auch eigene Erfahrungen (sein Schutzengel Siona diktierte ihm die Schrift "Lavaters Verklärung" in die Feder) sind sicher als von Gott erteilte Wirkmacht für einzelne Fälle zu verstehen. JungStilling geht davon aus, dass die Engel in Bezug auf die Spielweite ihrer Machtbetätigung jederzeit an den göttlichen Willen gebunden sind. Eine fromme abgeschiedene Menschenseele kann nach Jung-Stilling zu einem engelgleichen Zustand aufsteigen. In seinen "Szenen aus dem Geisterreich" zählt JungStilling beispielsweise die beiden Zürcher Pfarrer Johann Kaspar Lavater (1741–1801) und Johann Konrad Pfenninger (1747–1792) zu solchen seligen Geistern. Sicher knüpft Jung-Stilling hier an die altkirchliche (und noch heute von der katholischen und orthodoxen Kirche gelehrte) Lehre von den Heiligen an. Es sind dies verstorbene Menschen, die der Gotteskindschaft teilhaftig wurden. "Sie erkennen im Willen Gottes, in dessen Angesicht sie leben, besser als wir, was für uns nüzlich ist, und beten gewiß mit vieler Liebe für uns", meint Jung-Stilling. Grundsätzlich ist er nicht gegen eine Verehrung der Heiligen, wie sie die frühe Kirche pflegte. Freilich sieht er die Gefahr, dass Heilige – ebenso wie Engel – sehr leicht in den Mittelpunkt des Glaubens rücken können. Daher warnt er vor dem Kult der Engel und Heiligen.

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(3) Teufel und Dämonen. Ein Teil der Engel hat sich in freier Entscheidung von Gott abgewendet und steht ihm in Feindschaft gegenüber. Dies sind die bösen Geister (Dämonen). Diese "würken zum Verderben, erhitzen die Leidenschaften, und locken zum Laster", wie Jung-Stilling ihr Tun kennzeichnet. Der abgefallene oberste Engel, dem die Leitung der irdischen Dinge oblag, heisst Teufel (Satan, Luzifer). Nach Jung-Stilling kann der Einfluss des "bösen Feindes" nicht geleugnet, darf jedoch auch nicht übertrieben werden. Die Erkenntnis des Teufels und der bösen Geister überhaupt (als frühere Engel) ist geblieben. Sie übersteigt daher die menschliche. Jedoch erkennt der Satan nicht das Zukünftige und auch nich die Gedanken (alle Denkerlebnisse) der Menschen. Er vermag auch keine Wunder zu wirken, sondern höchstens Taten, welche die menschlichen überragen ("Trugwerk", "Blendwerk"). — Gott gestattet dem Teufel, uns zu versuchen. Aber nicht jede Versuchung ist vom Teufel, weil Fleisch und Welt auch versuchlich sind. Der Satan kann nie zur Sünde zwingen; denn es gibt keine Sünde ohne Freiheit. Teufelsbündnisse sind möglich. Niemand freilich, der sich mit einem bösen Geist verbündet, kann Nebenmenschen schaden, "wenn ihm nicht jemand selbst die Gelegenheit dazu giebt, und die Gottesfurcht beyseite sezt", wie Jung-Stilling betont.

(3) Himmel und Hölle. Jeder einzelne Mensch ist von Gott berufen, für einige Zeit an seiner Schöpfung auf Erden mitzuwirken. Je nachdem, wie er Gott und seinem Nächsten an dieser Lebens-Aufgabe gedient hat, wird seine Bestimmung nach dem Tode sein. Die Gerechten kommen sofort nach ihrem Ableben auf der Erde in den Himmel. Die von Gott abgewandten Bösen werden in einen jenseitigen Strafzustand versetzt, in die Hölle. (4) Hades. Die entleibten Seelen all jener, die sich im irdischen Leben nicht grundlegend für das Gute oder Böse entscheiden haben, kommen in einen Mittelort (Totenreich, Hades, Scheol). Mit dieser Lehre steht Jung-Stilling zwar nicht in Widerspruch zur Geschichte der christlichen Theologie, wohl aber zur reformierten Lehre seiner Zeit. Im einzelnen macht Jung-Stilling zum Hades acht wesentliche Aussagen. 1. Im Hades reifen die Seelen für kürzere oder längere Zeit entweder zum Himmel oder zur Hölle heran. Es gibt also im Hades "Gute und Böse, Halbgute, und Halbböse." 2. Die nach dem Tode im Hades angekommene Seele verspürt die Sinnenwelt nicht mehr. Sinnenwelt meint dabei die irdische Aussenwelt, die durch Empfindungen wie Licht, Ton, Wärme, Kälte, Geruch oder Geschmack wahrgenommen wird. Sie erkennt jedoch "die Geister, die im Hades sind." 3. Die Seelen im Hades können vom Geschick noch lebender Menschen (vor allem der Angehörigen) Kenntnis erhalten. Dies geschieht einmal durch Nachricht von Seelen, die eben entleibt im Hades ankommen. Zum anderen aber kann auch Wissen vermittelt werden "aus Anstalten, die in Ansehung unserer im Geisterreich gemacht werden."

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4. Die Seele besitz im Hades die Vorstellung von Raum und Zeit. Jedoch ist ihr nun im Raum alles nahe und in der Zeit nichts fern. Sie kann deshalb wissen, was in der Ferne und was in der Zukunft geschieht, "insofern es ihr die Gesetze des Geisterreichs erlauben." Freilich kann sich die Seele irren. In Unkenntnis ihrer Falschheit werden dann Aussagen als wahr behauptet. 5. An und für sich betrachtet ist der Hades ein leidensfreier Ort. Die eigentlichen Leiden im Hades sind das Heimweh nach der auf immer verlorenen Sinnenwelt der nun leeren, entblössten Seele, die auf die Hölle zugeht. Seelen, die auf den Himmel vorbereitet werden, erleiden keine Pein, ausser der, die sie sich selbst machen. So empfinden etwas jene Seelen Leiden, die mit einer nicht abgelegten Begierde aus diesem Leben schieden. 6. Auf noch lebende Menschen können Seelen im Hades nur einwirken, wenn sie sich mit ihnen in Verbindung setzen können und dürfen. Sie vermögen dann Menschen auch absichtlich zu täuschen und in die Irre zu führen. Manche machen es sich gar zum Vergnügen, Menschen zu betrügen. 7. Seelen aus dem Hades vermögen sich grundsätzlich körperlich sichtbar zu machen. In diesem Falle können sie von vielen Menschen gesehen werden. Jedoch fällt dem Betrachter auf, dass es sich um keinen natürlichen, lebendigen Menschen handelt. Dies geschah beispielsweise massenhaft beim Tode Jesu (Mt 27, 52). (8) Es ist nützlich und heilsam, für Seelen im Hades zu beten. Niemand ist indessen zu solchem Gebet verpflichtet. Zur katholischen Lehre von der Läuterung (in der deutschen Sprache früher auch "Fegfeuer" genannt) besteht ein wesentlicher Unterschied. Bei Jung-Stilling bereitet der Hades für Himmel und Hölle vor. Nach der altchristlichen und katholischen Lehre von der Läuterung jedoch sind nur solche Seelen in diesem Zustand, die nach einiger Zeit auch in den Himmel kommen. — Der arge Missbrauch, der mit dem "Fegfeuer" getrieben wurde, rechtfertigt nach Jung-Stilling keineswegs, dass die Reformatoren eine Reinigung nach dem Tode zur Gänze ausschliessen. Andrerseits widerstrebt es Jung-Stilling auch, diese Lehre "auf die Canzel zu bringen."

Abschliessende Bemerkungen Die theologischen Aussagen von Jung-Stilling stehen in keinem planvollen, sorgsam durchdachten Zusammenhang. Die mangelnde Systematik erklärt sich daraus, dass Jung-Stilling als Ökonom, Art und Literat die Theologie nicht als sein näheres Aufgabengebiet ansah. So nimmt er meistens nur zu einzelnen Fragekreisen Stellung. Dies geschieht in Büchern (wie etwa seiner Erklärung der Offenbarung Johannis), in Volksschriften und Romanen sowie in – vor allem der Seelsorge dienenden – persönlichen

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Schreiben. Jung-Stilling dürfte zeitlebens gut 20 000 Briefe verfasst haben; die Korrespondenz belegt besonders im letzten Lebensabschnitt einen Gutteil seiner Zeit. In allem aber steht die praktische Frömmigkeit im Vordergrund. Lehrmeinungen treten demgegenüber zurück. Hinzu kommt, dass sich Jung-Stilling selbst stets als Mitglied der reformierten Kirche sah, wie er mehrmals betonte. Von deren Kernlehren wollte er nicht abweichen — wiewohl er das etwa in Bezug auf seine Aussagen zum Wirken der Engel und seine Beschreibung des Hades offenkundig tat. Das brachte ihm schon zu Lebzeiten harsche Kritik seitens der Theologen ein. Bis heute hält dies an; und noch im Katalog der JungStilling-Ausstellung Karlsruhe 1990 zählt ein Theologe und Jung-Stilling-Kenner die "Theorie der Geister=Kunde" den "abstrusen spiritistischen" Büchern bei. Der Lehre von Engeln und Geistern gegenüber reagiert man im reformierten Umfeld günstigenfalls mit milden Lächeln, oft genug mit Entrüstung und Empörung. Dass der unendlichen Vielfalt der sichtbaren Schöpfung Gottes auch eine Vielfalt in der nichtkörperlichen Welt entspricht, gilt als ausgeschlossen. Endlich aber hatte Jung-Stilling ein Misstrauen gegen jede Art von Separatismus, verstanden hier als Abspaltung von der Volkskirche. In seiner Jugend zuhause und in seiner Zeit im Bergischen Land lernte er religiöse Gemeinschaften kennen, die er in seinem Buch "Theobald oder die Schwärmer, eine wahre Geschichte" schildert. Je mehr sich diese von der Leitlinie der Kirchenlehre entfernten, desto überspannter und wirklichkeitsferner gestalteten sie sich selbst: das zeichnet Jung-Stilling deutlich nach. Deshalb schreibt er auch als Motto: "Mittelmaß die beste Straß" in den Untertitel seines Theobald-Romans. In seinem letzten Lebensabschnitt verdächtigte man Jung-Stilling, geistiger Vater vieler damals aufblühender religiöser Gruppen mit schwärmerischer, ja teilweise sogar revolutionärer Lehre zu sein. Er musste sich gegen solche Vorwürfe in einer eigenen Schrift wehren. Auch das festigte Jung-Stilling in seiner Haltung, die verfasste Grosskirche zu bestärken und der Glaubensüberzeugung ihrer Vorsteher gemäss Hebr. 13, 7 zu folgen. Jung-Stilling beeinflusste aber ohne Zweifel die gelebte Glaubenspraxis, die Frömmigkeit der reformierten Kirche seiner Zeit. Zumindest Rinnsale dieses Stromes sind bis heute spürbar.

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Die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre" aus Sicht eines Swedenborgianers von Thomas Noack Am 31. Oktober 1999 (Reformationsfest) wurde in der Augsburger evangelischen St. Annakirche die lutherisch-katholische "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre"25 von Spitzenvertretern des Lutherischen Weltbundes (LWB) und des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen ratifiziert. Darin bestätigen der Lutherische Weltbund und die römisch-katholische Kirche einen "Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre" (Absatz 5, 13, 40, 43)26. Die Gemeinsame Erklärung betont die Alleinwirksamkeit Gottes (Monergismus) und verneint dementsprechend jegliche Mitwirkung des Menschen (Synergismus). Wir lesen: "Gemeinsam bekennen wir: Allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Christi, nicht aufgrund unseres Verdienstes, werden wir von Gott angenommen und empfangen den Heiligen Geist, der unsere Herzen erneuert und uns befähigt und aufruft zu guten Werken" (Absatz 15). "Alle Menschen sind von Gott zum Heil in Christus berufen. Allein durch Christus werden wir gerechtfertigt, indem wir im Glauben dieses Heil empfangen. Der Glaube selbst ist wiederum Geschenk Gottes durch den Heiligen Geist, der im Wort und in den Sakramenten in der Gemeinschaft der Gläubigen wirkt und zugleich die Gläubigen zu jener Erneuerung ihres Lebens führt, die Gott im ewigen Leben vollendet." (Absatz 16). Die "Mitte des neutestamentlichen Zeugnisses von Gottes Heilshandeln in Christus … sagt uns, daß wir Sünder unser neues Leben allein der vergebenden und neuschaffenden Barmherzigkeit Gottes verdanken, die wir uns nur schenken lassen und im Glauben empfangen, aber nie - in welcher Form auch immer - verdienen können." (Absatz 17). "Wir bekennen gemeinsam, daß der Mensch im Blick auf sein Heil völlig auf die rettende Gnade Gottes angewiesen ist. Die Freiheit, die er gegenüber den Menschen und den Dingen der Welt besitzt, ist keine Freiheit auf sein Heil hin. Das heißt, als Sünder steht er unter dem Gericht Gottes und ist unfähig, sich von sich aus Gott um Rettung zuzuwenden oder seine Rechtfertigung vor Gott zu verdienen oder mit eigener Kraft sein Heil zu erreichen. Rechtfertigung geschieht allein aus Gnade." (Absatz 19). Dieser Konsens ist aus neukirchlicher Sicht keine Neuigkeit. Denn schon 1769 wies Emanuel Swedenborg in seiner "Kurze(n) Darstellung der Lehre der neuen Kirche" das

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Der vollständige Text ist im Internet unter www.rechtfertigung.de abrufbar. Die Absätze der gemeinsamen Erkläruung sind nummeriert. Diese Zahlen werden im Folgenden verwendet.

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Folgende nach: "Die durch die Reformation von der Römisch-katholischen Kirche getrennten Kirchen weichen in mancherlei Punkten voneinander ab; stimmen aber alle in den Artikeln von der Dreiheit der Personen in der Gottheit, vom Ursprung der Sünde von Adam her, von der Zurechnung des Verdienstes Christi und von der Rechtfertigung durch den Glauben allein überein." (KD 17). Und weiter: "Die Römisch-Katholischen hatten vor der Reformation ganz Ähnliches über die vier obengenannten Artikel gelehrt wie die Protestanten danach", somit auch "Ähnliches über die Rechtfertigung durch den Glauben an sie mit dem einzigen Unterschied, dass sie diesen Glauben mit der tätigen Liebe oder den guten Werken verbunden hatten." (KD 19). Also schon im 18. Jahrhundert entdeckte Swedenborg nach sachlicher Prüfung der maßgeblichen Dokumente, dass der Unterschied zwischen der römisch-katholischen Mutter und ihren Töchtern aus der Reformationszeit viel kleiner ist als es die lautstark inszenierte Trennung vermuten ließ. Der erreichte "Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre" wird als ein "entscheidender Schritt zur Überwindung der Kirchenspaltung" angesehen (Absatz 44). Gleichwohl hat er nicht die Einheit der lutherischen Kirchen mit der römischkatholischen Kirche zur Folge. Warum? Kirchentrennend wirkt heute nicht mehr die Rechtfertigungslehre; das Konsenspapier zeigt es. Vielmehr ist das eigentliche Hindernis auf dem Weg zur Kircheneinheit die These des Ökumenismusdekrets des Zweiten Vatikanischen Konzils, wonach die Protestanten "wegen des Fehlens des Sakraments der Priesterweihe … kein Abendmahl im Vollsinn und seinem Wesen nach feiern". Selbst in der Papstfrage ist eine Verständigung möglich. Die Reformation hat das Papsttum nur als Amt göttlichen Rechts (de iure divino) abgelehnt. Daher könnten die Lutheraner den Papst als Bischof von Rom und als Patriarch des Westens anerkennen. Die Katholiken freilich müssten das Unfehlbarkeitsdogma von 1870 aufgeben. Kirchentrennend wirken also heute vor allem ekklesiologische Grundüberzeugungen. Swedenborg entlarvte die "Rechtfertigung allein durch den Glauben" als eine falsche Lehre. Sie und ihre Anhänger stellen sich dem Werden einer neuen wahrhaft christlichen Kirche mit aller Macht in den Weg. "Die zwei wesentlichen Lehren (essentialia) der neuen Kirche (siehe EO 490) werden von denen, die innerlich im Falschen der Lehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben sind, ganz und gar verworfen." (EO 501). Diese Lehre ist der Drache der Johannesapokalypse (EO 579), der die Geburt der Geistkirche Gottes gleich bei ihrem Entstehen verschlingen will (siehe Swedenborgs Auslegung von Offb 12,1-6 in EO 532ff, besonders 542). Die sola fide Konfirmation in den Köpfen der Theologen und ihres Glaubensvolkes läßt das innere Leben des Geistes zu einer winterlichen Landschaft erstarren und überdeckt mit eisiger Kälte den allenthalben im Worte Gottes blühenden Ruf nach einem Christentum der lebendigen Tat. "Wer weiß es nicht aus dem Worte Gottes, dass jeder nach dem Tode ein seinen Hand-

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lungen entsprechendes Leben erlangen wird? Öffne das Wort, lies es, und du wirst es deutlich sehen, aber halte dabei deine Gedanken fern von der Rechtfertigung allein durch den Glauben." (GV 128). Trotz dieser eindeutigen Distanzierung von der Rechtfertigungslehre muss nun aber doch auf gewisse Gemeinsamkeiten hingewiesen werden. Insoweit das Anliegen des sola fide (allein durch den Glauben) das solus Christus (allein Christus) ist, ist diesem Anliegen aus neukirchlicher Sicht zuzustimmen. "Die Erlösung war ein rein göttliches Werk" (WCR 123). Der Herr allein ist der Erlöser (EO 279, LH 45). "Die neue Schöpfung27 oder Wiedergeburt ist allein des Herrn Werk." (HG 88). "Die Wiedergeburt des Menschen geschieht allein durch den Herrn und ganz und gar nicht durch den Menschen oder Engel" (NJ 185). Kein Mensch kann sich aus eigener Willenskraft aus der Macht seiner Höllen erlösen. "Denn der Mensch ist nichts als böse, er ist eine Zusammenhäufung von Bösem, sein ganzer Wille ist nur böse." (HG 987). "Jeder Mensch wird von seinen Eltern her in das Böse der Selbst- und Weltliebe geboren … daher wird die Ableitung des Bösen schließlich so groß, dass das gesamte Eigenleben des Menschen nichts als böse ist." (HG 8550). Mit Blick auf das lutherische "simul iustus et peccator (zugleich Gerechter und Sünder)" ist aus neukirchlicher Sicht zu sagen, dass auch der Wiedergeborene noch immer in seinem Bösen lebt. "Nie wird ein einziges Böses oder Falsches derart zerschlagen, dass es gänzlich vernichtet ist, sondern alles … verbleibt so sehr beim Menschen, dass er auch nach seiner Wiedergeburt nichts als böse und falsch ist." (HG 868). Gegenüber der wiedergebärenden Wirksamkeit des Herrn ist der Mensch immer nur ein Empfangender. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an Swedenborgs Vorstellung vom Menschen als einem Aufnahmeorgan. "Der Mensch ist nicht das Leben, sondern das Aufnahmeorgan (Receptaculum) des Lebens von Gott." (WCR 470474). "Der Mensch ist ein gottaufnehmendes Organ (Organum recipiens Dei)." (WCR 34). "Der Mensch ist nicht das Leben in sich, sondern ein lebenaufnehmendes Organ (organum recipiens vitae)." (WCR 46128). "Der Mensch ist ein Empfänger des Lebens (recipiens vitae), nicht das Leben." (HG 2021). In diesem Sinne ist die Wiedergeburt ein Geschenk, ja angesichts der völligen Bosheit und Verdorbenheit des menschlichen Willens sogar ein "unverdientes Gnadengeschenk" (Absatz 38). In HG 633 spricht Swedenborg vom "Geschenk der Barmherzigkeit des Herrn". Selbstverständlich kennt und beachtet auch die neue Kirche die neutestamentlichen Grundlagen. Demnach sind "die tätige Liebe und der Glaube die Mittel zur Wiedergeburt" (WCR 577). "Jede Wiedergeburt wird vom Herrn bewirkt durch das Wahre des Glaubens und ein dementspre-

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Beachte Paulus: "Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden." (2. Kor 5,17). Vgl. auch HG 3318 mit zahlreichen Verweisstellen.

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chendes Leben." (NJ 203). Im "Glauben, der durch die Liebe tätig ist" (Paulus in Gal 5,6) sehen auch wir das Heilsmittel. Doch was ist der Glaube seinem Wesen nach? Bei der Lektüre der Gemeinsamen Erklärung hat man oft den Eindruck der Glaube sei ein göttliches Naturereignis, wen es trifft, den trifft es, und die anderen bleiben ohne dieses wundersame "Geschenk des Glaubens" (Absatz 25). Rechtfertigung ist nicht der Zentralbegriff neukirchlicher Heilstheologie. Das ist die Wiedergeburt (regeneratio)29; sie ist mit Swedenborgs Worten gesprochen "das Wesentliche des Heils" (essentiale salutis, GT 5740). Die neue Kirche steht damit in der johanneischen Tradition (siehe vor allem Joh 1,13; 3,3.5), nicht in der paulinischen. Die in den lutherischen Kirchen mit der Rechtfertigung verbundene sola-fide-Vorstellung blokkiert jegliches Wissen um die Wiedergeburt und ihre zahllosen Geheimnisse. Swedenborg schreibt: "Die Kirchenchristen wissen heutzutage deswegen so wenig von der Wiedergeburt, weil sie so viel von der Vergebung der Sünden und der Rechtfertigung reden" (HG 5398). Denn die wahre Rechtfertigung ist kein im Glauben empfangener Verbalakt (Gerechtsprechung), sondern erfolgt durch die schrittweise Wiedergeburt (HG 4721). Dabei ist zu beachten, dass die Wiedergeburt nicht durch das Sakrament der Taufe geschieht. Diese hat keinerlei regenerierende Kraft, sie entfaltet keinerlei magische Wirkung im Getauften, sondern ist lediglich ein Zeichen dafür, dass der Getaufte willens ist, den Weg der Wiedergeburt zu gehen (siehe NJ 202-209). Obwohl auch nach neukirchlicher Auffassung die Wiedergeburt allein das Werk des Herrn im Menschen ist, kann dieses Werk dennoch nur im Millieu eines mitwirkenden Menschen realisiert werden. "Die neue Geburt oder Schöpfung wird allein vom Herrn bewirkt … unter Mitwirkung des Menschen." (WCR 576). "Was soll das göttliche Wirken im Inneren sein ohne das Mitwirken des Menschen im Äusseren wie aus eigener Kraft (sicut ab illo)?" (EO 451). "Man muss wissen, dass der Herr, obwohl er alles wirkt und der Mensch nichts aus sich, dennoch will, dass der Mensch, soweit seine innere Wahrnehmung reicht, wie aus sich wirke. Denn ohne die Mitwirkung des Menschen wie aus sich heraus kann es keine Aufnahme des Wahren und Guten geben und somit auch keine Einpflanzung und Wiedergeburt. Der Herr gibt nämlich das Wollen, und weil dieses dem Menschen wie aus sich heraus erscheint, gibt er ihm ein Wollen wie aus sich." (OE 911). Die gesamte Heilige Schrift appelliert an das Mitwirken des Menschen und dennoch wissen "die Armen im Geiste" (Mt 5,3) und bekennen es im Herzen, "dass sie nichts Wahres und Gutes aus sich heraus haben, sondern ihnen alles umsonst geschenkt werde (gratis donentur)." (HG 5008). Im berechtigten Verkündigungsinteresse

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Gemeint ist eine geistige Wiedergeburt, nicht die fleischliche Wiedergeburt, die man Reinkarnation nennt.

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an dieser evangelischen Wahrheit muss man nicht die Mitwirkung des Menschen leugnen. Die Gemeinsame Erklärung spricht sich trotzdem gegen jegliche Mitwirkung des Menschen aus. Die Lutheraner bekennen: Der Mensch ist "unfähig, bei seiner Errettung mitzuwirken" (Absatz 21). Er kann die Rechtfertigung "nur empfangen" (Absatz 21); damit ist "jede Möglichkeit eines eigenen Beitrags des Menschen zu seiner Rechtfertigung" verneint (Absatz 21). Die Katholiken, die von Mitwirkung immerhin sprechen können, sehen "in solch personaler Zustimmung" gleichwohl "kein Tun des Menschen aus eigenen Kräften" (Absatz 20); Gottes Gnadengabe in der Rechtfertigung bleibe "unabhängig" "von menschlicher Mitwirkung" (Absatz 24). Diese strikte Betonung "der Passivität des Menschen" wird nun aber doch relativiert, indem vom "Beteiligtsein des Menschen" gesprochen wird. Weder Lutheranern noch Katholiken gehe es darum, "ein wahrhaftes Beteiligtsein des Menschen zu leugnen." Uns wird versichert: "Das strikte Betonen der Passivität des Menschen bei seiner Rechtfertigung hatte auf lutherischer Seite niemals den Sinn, etwa das volle personale Beteiligtsein im Glauben zu bestreiten, sondern sollte lediglich jede Mitwirkung beim Geschehen der Rechtfertigung selbst ausschließen. Diese ist allein das Werk Christi, allein Werk der Gnade"30. Man muss sich nun freilich fragen, was das "personale Beteiligtsein" einer rein passiven, in keiner Weise mitwirkenden Person überhaupt ist. Ferner wird versichert: "Lutheraner verneinen nicht, daß der Mensch das Wirken der Gnade ablehnen kann." (Absatz 21). Darf man daraus schließen, dass der Mensch, sobald er das Wirken der Gnade nicht ablehnt, ihrem Wirken zustimmt? Und was wäre dann, angesichts der strikten Betonung der Passivität, der Akt einer rein passiven Zustimmung? Wir begegnen, indem wir solche Fragen stellen, einer von Swedenborg beobachteten Eigenart der altkirchlichen Dogmatik, nämlich ihrer kontradiktorischen Redeweise. Sie besteht darin, dass einem Lehrsatz A ein Lehrsatz B in den Weg gestellt wird, so dass keiner der beiden Lehrsätze in seinen Konsequenzen voll und ganz zur Entfaltung kommen kann. Auf diese Weise wird der denkende Christ daran gehindert, sich eine klare Vorstellung zu bilden und das theologisch wohl ausbalancierte Lehrsystem verschwindet gegenüber allen Einwänden abgesichert im undurchdringlichen Geheimnis des Glaubens. Indem die neue Kirche keine Scheu hat, die Mitwirkung des Menschen anzuerkennen und theologisch zu durchdenken, tritt sie auch für die freie Willensentscheidung in gei30

Stellungnahme des Gemeinsamen Ausschusses der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und des Deutschen Nationalkomitees des Lutherischen Weltbundes zum Dokument "Lehrverurteilungen-kirchentrennend?" (13. September 1991), in: Lehrverurteilungen im Gespräch, hrsg. von der Geschäftsstelle der Arnoldshainer Konferenz (AKf), dem Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und dem Lutherischen Kirchenamt der Vereinigten EvangelischLutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) (Frankfurt 1993) 84,3-8.

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stigen Dingen ein. Dem widersprechend billigen die Kirchen des Rechtfertigungsglaubens dem Menschen nur die psychologische Freiheit, die sich ja auch nur schwer leugnen läßt, zu, nicht aber die "Freiheit auf sein Heil hin". Wir lesen: "Die Freiheit, die er (der Mensch) gegenüber den Menschen und den Dingen der Welt besitzt, ist keine Freiheit auf sein Heil hin." (Absatz 19). Die finstere Konsequenz dieser Amputation des Menschlichen ist die Prädestinationslehre. Was geschieht mit denen, die das "Geschenk des Glaubens" (Absatz 25) nicht erhalten? Und falls es alle erhalten, woher nehmen sich die unfreien Menschen die Freiheit es abzulehnen? Swedenborg durchdenkt diese Probleme viel gründlicher und kommt zu besseren Lösungen. In der "Wahren Christlichen Religion" widmet er dem "freien Willen in geistigen Angelegenheiten" (WCR 479 und öfters) ein ganzes Kapitel. Aus Sicht der neuen Kirche ist der Glaube nur durch die tätige Liebe und ihre Werke wahrer und lebendiger Glaube. Seine ganze Kraft und sein ganzes Wesen empfängt der Glaube aus der tätigen Liebe, deren Erscheinungsform er ist. Swedenborg drückt es so aus: "Die Trennung der tätigen Liebe vom Glauben ist wie die Trennung des Wesens (essentia) von der Form. Der gebildeten Welt ist bekannt, dass weder das Wesen ohne eine Form noch die Form ohne ein Wesen etwas ist, denn das Wesen hat überhaupt nur durch die Form eine Beschaffenheit und die Form ihrerseits ist nur durch das Wesen ein etwas, das Bestand hat. Folglich läßt sich von keinem der beiden im getrennten Zustand eine Aussage machen. So ist denn auch die tätige Liebe das Wesen des Glaubens, und der Glaube die Form der tätigen Liebe, ganz so wie das Gute das Wesen des Wahren und das Wahre die Form des Guten ist." (WCR 367). In der Gemeinsamen Erklärung hingegen erscheinen die guten Werke der tätigen Liebe nur als Anhängsel des Glaubens. "Wir bekennen gemeinsam, daß gute Werke … der Rechtfertigung folgen und Früchte der Rechtfertigung sind." (Absatz 37). Als Folge, Auswirkung oder bildlich gesprochen Frucht31 der Rechtfertigung ist die tätige Liebe dem unabhängig von ihr vollzogenen Akt der Gerechtsprechung deutlich nachgeordnet. Die tätige Liebe wurde also erst vom Glauben getrennt, damit dieser zum "freien Geschenk" (Absatz 25) mutieren konnte, und anschließend an diesen Glauben wieder angehängt, denn ganz ohne gute Werke wollte man den Christen mit dem Gottesgeschenk des Glauben in der Sünde nun doch nicht stehen lassen. So betont man: Der "Glaube ist in der Liebe tätig; darum kann und darf der Christ nicht ohne Werke bleiben." (Absatz 25). Hierin könnte ein Anknüpfungspunkt für ein Gespräch der Neuen Kirche mit den Kirchen der lutherisch31

Die Rede von den Früchten der Rechtfertigung beinhaltet die Vorstellung, dass der Glaube der Baum sei. Dem widersprechend erklärte ein Engel in der geistigen Welt: "Nicht der Glaube ist der Baum, sondern der Mensch ist der Baum." (EO 417). Und Jesus sagt: "So bringt jeder gute Baum gute Früchte, aber der faule Baum bringt schlechte Früchte." (Mt 7,17). "Entweder macht den Baum gut, dann ist seine Frucht gut, oder macht den Baum faul, dann ist seine Frucht faul; denn an der Frucht wird der Baum erkannt." (Mt 12,33).

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katholischen Rechtfertigungslehre liegen; denn offenbar empfindet man trotz sola fide ein Unbehagen am actus purus der Rechtfertigung ohne Werke. In Übereinstimmung mit der lutherisch-katholischen Lehre sieht Swedenborg in der Verdienstmentalität ein Hindernis, ja ein Übel auf dem Weg zu echter Spiritualität und Religiosität. "In der Kirche ist bekannt, dass der Mensch durch das Gute, das er tut, nichts verdienen kann, denn das Gute, das er tut, gehört nicht ihm, sondern dem Herrn." (HG 3956). "Das Übel (oder das Böse) des Verdienstes ist dann gegeben, wenn der Mensch das Gute sich zuschreibt in der Meinung, es stamme von ihm, und sich daher das Heil verdienen will." (HG 4174). Diesem Irrtum der Heilserwirtschaftung erliegen anfangs freilich alle, die frohgemut den geistigen Weg betreten. "Am Anfang glauben alle, die geistig umgeformt werden, dass das Gute aus ihnen sei und sie sich folglich durch dieses Gute der eigenen Tat das Heil verdienen (erarbeiten)." (HG 4174, siehe auch 4145). Wenngleich also die dem Heilsaktivismus des Anfängers anhaftende Kaufmannsmentalität ein Übel ist, so ist es aber ein noch viel größeres Übel jenes erstgenannte dadurch zu beseitigen, dass der Aktivismus als solcher beseitigt wird. Kein vernünftiger Mensch wird das Unkraut in seinem Garten dadurch vernichten, dass er den Boden vergiftet. Das Tätigsein des äußeren Menschen ist dieser Boden, in den der Herr das Leben des Geistes einpflanzen will. "Viele verwerfen die guten Werke in der Meinung, diese seien bei niemandem ohne die Absicht möglich, sich dadurch etwas zu verdienen. Diese Leute wissen nicht, dass diejenigen, die vom Herrn geführt werden, nichts sehnlicher wünschen, als gute Werke zu vollbringen, und gleichzeitig nichts weniger im Sinn haben als einen durch sie erreichbaren Verdienst." (HG 6392). Die Kaufleute werden spätestens dann aus dem Tempel vertrieben, wenn Jesus selbst mit der Geißel den Tempel reinigt, entweder synoptisch am Ende oder johanneisch gleich zu Beginn des Weges. Solange jedoch der Jünger des inneren Lebens den Impuls des Geistes noch nicht empfindet, sollte er sich nicht befleissigen das Gute zu tun, sondern das Böse nicht zu tun; dazu muss er es freilich zuerst erkennen. Das ist die Übung der Selbstbeschauung und der Umkehr, Buße genannt. Denn "niemand kann das Gute, das wahrhaft gut ist, von sich aus tun." (LL 9). Deswegen gilt: "Insoweit der Mensch vor dem Bösen als Sünde flieht, tut er das Gute nicht von sich aus, sondern vom Herrn her." (LL 18). Ausserdem sollte er ein ihn ansprechendes und berührendes Wort Gottes lesen und nachsinnend in dessen Tiefen eintauchen und so das Bewußtsein seines äußeren Menschen den Formen des göttlichen Geistes einformen. Das ist die Übung der reformatio (in der WCR mit Umbildung übersetzt), das heißt der Neuformung des Gemüts. Das ist nach Swedenborg die Reformation. Auf diese Weise wird der äußere Mensch mit dem inneren verbunden, ein neues Glaubensbewußtsein erwacht, und der Verdienstwahn löst sich ebenso auf wie die Nebelschwaden im Lichte der aufsteigenden Sonne. Diese

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Morgenröte (aurora WCR 571) ist im Menschen die Wiedergeburt und ganz das Werk des Herrn, denn kein Mensch hat die Macht, die Sonne aufgehen zu lassen. Durch die Verlagerung der Rechtfertigung in das Gebiet des bloßen Glaubens wurde die Religion aus der Kirche entfernt. Denn "alle Religion ist eine Angelegenheit des Lebens und ihr Leben besteht im Tun des Guten." (LL 1). Daher verwundert es uns nicht, dass infolge dieser Hinausbeförderung nun ausserkirchliche Religiosität entsteht und die leeren Kirchen, abgesehen von ein paar leichenblassen Rechtfertigungspredigten, ihrer Aufgabe als Sozialamt nachkommen in der Meinung, das Reich Gottes sei primär eine gerechte Weltordnung. Die Anhänger der Rechtfertigung allein durch den Glauben berufen sich auf Paulus. Zu untersuchen wäre, ob dem ein richtiges Paulusverständnis zugrunde liegt. Eine solche Untersuchung muss hier aus verschiedenen Gründen unterbleiben. Doch die folgenden Hinweise will ich geben. Römer 3,28, eine Aussage, der in der Reformationszeit eine zentrale Bedeutung zukam, lautet in der Übersetzung von Martin Luther: "So halten wir es nu / dass der Mensch gerecht werde / ohn des Gesetzes Werk / alleine durch den Glauben."32 Im griechischen Urtext ist das Wörtchen "alleine" nicht zu finden; Luther hat es offenbar als einen verdeutlichenden Zusatz im Sinne seines Verständnisses dieser Stelle hinzugefügt. In EO 417 berichtet Swedenborg von einem Konzil in der geistigen Welt. Den Ausführungen kann man entnehmen, dass Paulus unter "den Werken des Gesetzes" wahrscheinlich "die Werke des mosaischen Gesetzes für die Juden" verstanden hat, also das Kultgesetz, die Bestimmungen der vorbildenden Kirche. Die Meinung des Paulus wäre demnach in etwa so zu umschreiben: Der Mensch wird von nun an ohne die Befolgung der kultischen Vorschriften der Thora gerecht, und zwar durch das lebendige und tatkräftige Vertrauen auf das Heilswirken Christi. EO 417 bietet für ein noch zu entwickelndes Paulusverständnis der neuen Kirche insgesamt sehr interessante Textbeobachtungen. Abschließend ein Wort Martin Luthers. In der geistigen Welt besprach er sich mit Swedenborg und bekannte seinen Irrtum mit den Worten: "Wundert euch nicht, daß ich mich auf den allein rechtfertigenden Glauben warf und die tätige Liebe ihres geistigen Wesens beraubte, den Menschen auch allen freien Willen in geistigen Dingen absprach und dergleichen mehr, was von dem einmal angenommenen Grundsatz des bloßen Glaubens abhängt wie der Haken von der Kette. Es war nämlich mein Ziel, von den Römisch-Katholischen loszukommen, und dies ließ sich nicht anders bewerkstelligen und aufrechterhalten. Ich wundere mich deshalb gar nicht, daß ich mich verirrte, sondern nur, daß ein Verrückter viele andere zu Verrückten machen konnte." (WCR 796). 32

Zitiert nach: Das Neue Testament Deutsch von D. Martin Luther. Ausgabe letzter Hand 1545/46. Unveränderter Text in modernisierter Orthographie. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 1982.

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Die Fusswaschung (Joh 13,1-20) von Thomas Noack Der Ort der in den Kapiteln 13 bis 17 überlieferten Geschehnisse ist das "gepflasterte Obergemach"33, das in Mk 14,15 und Lk 22,12 erwähnt wird. Das Interesse an der Örtlichkeit kennzeichnet diejenigen, die bei einem wichtigen Ereignis nicht selber anwesend waren und denen daher nun der Ort wichtig wird, durch den sie sich mit der denkwürdigen Stunde in Verbindung setzen wollen. Das Interesse an der Örtlichkeit des Abendmahls ist daher ein Indiz für die relative Spätdatierung der synoptischen Überlieferung. Für den Augenzeugen hingegen waren die äußeren Umstände nebensächlich, weder der Ort, noch das Mahl34, das er nur beiläufig und höchst unbestimmt erwähnt, fesselten seine Aufmerksamkeit, selbst die Abendmahlsworte überlieferte er uns nicht. Stattdessen wurde ihm von den Ereignissen der letzten Stunden mit Jesus eine Fußwaschung zum zentralen Symbol. "Vor dem Passafest aber wusste Jesus, dass seine Stunde gekommen war, aus dieser Welt zum Vater hinüberzugehen, und da er die Seinen in der Welt liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung." (13,1). Das Passafest erinnert an den Auszug aus Ägypten, dem "Haus der Knechtschaft" (Ex 13,3). Für Jesus war dieses Fest nicht Erinnerung, sondern Vorbildung oder Dramaturgie seines eigenen Weges, seines Auszugs aus der Welt. Die entscheidende Stunde der Verherrlichung war nun gekommen; dreimal wurde sie angekündigt (2,4; 7,30; 8,20), und dreimal heißt es, dass sie nun da ist (12,23; 13,1; 17,1). Jesus verläßt bzw. überwindet den Kosmos, den Machtbereich des "Beherrschers dieser Welt" (12,31; 14,30; 16,11), und wird am Ostermorgen als Gott auferstehen. Eine Nachfolge in dieses alles verzehrende, alles verwandelnde Feuer der Gottheit ist ausgeschlossen. War also die Gemeinschaft mit Jesus, in dessen Nähe man Gott spürte, nur eine Episode? Jesus verläßt die Welt, die Seinen aber bleiben nach wie vor in ihr. Wird diese Trennung das Band der Liebe, eben erst verheißungsvoll geknüpft, schon wieder zerreißen? Die johanneische Antwort auf diese Frage ist die Fußwaschung. Jesus, in dem die rettende Liebe des Vaters Gestalt angenommen hatte, liebt die Seinen, wie es heißt, "bis ans Ende". Diese griechische Formulierung ist mehrdeutig. Das Ende, oben mit Vollendung übersetzt, kann zeitlicher, räumlicher oder gradueller Natur sein. Zeitlich verstanden liebte er die Seinen bis zu seinem Ende, bis zur Kreuzi33

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W. Bauer gibt "gepflastertes Oberzimmer" als die wahrscheinlichere Übersetzung an, obwohl andere an "ein mit Teppichen od. Speisepolstern belegtes Zimmer" denken (Wörterbuch zum Neuen Testament, 1971, Sp. 1528). Viele Exegeten bezweifeln sogar, dass das angegebene Mahl ein Passamahl war, denn nach Johannes war ja Jesus das eigentliche Passalamm, das in dem Augenblick, da die Passalämmer im Tempel geschlachtet wurden, am Kreuz starb. Auf dieses Problem sei hier nur am Rande hingewiesen.

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gung, oder bis zu ihrem Ende oder gar bis zum Ende der Welt. Wir erinnern uns an das Schlußwort des Matthäusevangeliums, wo uns der Auferstandene, nun Allgewaltige, versichert: "Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt" (Mt 28,20, allerdings mit einem anderen Wort für "Ende"). Graduell verstanden liebte er die Seinen vollendet, ganz und gar, bzw. bis zu seiner Vollendung (Verherrlichung) oder ihrer Vollendung (Wiedergeburt). Und räumlich verstanden erstreckte sich seine Liebe bis in die körperlichen Endbereiche hinein, denn die Füße, um deren Reinigung es im folgenden gehen wird, meinen "das Natürliche des Menschen" (HG 10243), das ihn nach unten abschließt und erdet. Jesus wird also durch seine Verherrlichung den Einflussbereich seiner Liebe bis dorthin ausdehnen, um immer und überall, auch in der Hölle, erreichbar zu sein. Die eigentliche Fußwaschungsszene beginnt mit Vers 2 und wird in Vers 12 als abgeschlossen vorausgesetzt ("Als er nun ihre Füsse gewaschen hatte"), umfasst also Joh 13,2-11. Dieser Abschnitt ist in sich mehrgliedrig. Zu beachten sind zunächst die Klammer (im folgenden kursiv) und ihre Inhalte (a) und (b) in den Versen 2f. "Und während eines Mahles, (a) als der Teufel dem Judas Iskariot, dem Sohn des Simon, schon ins Herz gelegt hatte, ihn zu verraten - (b) er wusste, dass ihm der Vater alles in die Hände gegeben hatte und dass er von Gott ausgegangen war und zu Gott weggeht -, steht er vom Mahl auf ..." (13,2-4). Die Klammerinhalte befassen sich mit der äußeren Verursachung der Erhöhung durch den Verrat (a) und der dadurch gleichwohl nicht außer Kraft gesetzten souveränen Gestaltungsmacht des Sohnes (b). Ist der Verrat als Verursachung oder als Veranlassung zu werten? Kann das Böse Gutes verursachen oder wird es nur nolens volens in den Dienst des Guten genommen? Jesus ist nicht, auch wenn es so scheinen mag, das Opfer eines Verrats geworden; vielmehr hat ihm der Vater "alles in die Hände gegeben", womit die Allmacht oder, wie wir oben gesagt haben, die souveräne Gestaltungsmacht ausgedrückt ist. Die Passion, das Erleiden, ist somit eigentlich eine Aktion. Der Logos, der von Gott ausgegangen ist, gestaltet seine Heimkehr, seine reichere Heimkehr, indem er auch die schmutzbelasteten Füße reinigt. Die Fußwaschung in den Versen 4f deutet mit Signalwörtern auf die Kreuzigung und die Auferstehung. "Und während eines Mahles … steht er vom Mahl auf und zieht das Obergewand aus und nimmt ein Leinentuch und bindet es sich um; dann giesst er Wasser in das Becken und fängt an, den Jüngern die Füsse zu waschen und sie mit dem Tuch, das er sich umgebunden hat, abzutrocknen." (13,2.4-5). Das Ausziehen (13,4) und wieder Nehmen (13,12) des Obergewandes erweist sich nicht zuletzt durch den Bezug auf Joh 10,17f, wo dasselbe Wortpaar vorkommt, als Metapher für Tod und Auferstehung, denn in Joh 10,17f lesen wir: "Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben (Seele) ausziehe, um es wieder zu nehmen. Niemand nimmt es von mir, sondern ich ziehe es von mir aus aus. Ich habe Macht es auszuziehen, und ich habe Macht, es wieder zu

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nehmen ." (10,17f). Der entkleidete Christus (13,4) verweist, auch mit Blick auf Joh 19,23f, auf die Passion. Und das Aufstehen vom Mahl (13,4) deutet wohl die Auferstehung an, jedenfalls begegnet uns hier das Verb, das auch das Auferwecken bzw. Auferstehen eines Toten bedeutet. Dass die Füsse das Natürliche, Erdhafte, auch die uns tragenden Affekte, bezeichnen, wurde schon gesagt. Für die Einzelheiten, das Leinentuch, das Wasserbecken usw. verweise ich auf HG 10243. In den Versen 6 bis 10, noch immer während der Fußwaschung, nimmt ein Dialog zwischen Petrus und Jesus auffallend breiten Raum ein. Petrus ist der Schüler der Glaubensfestigkeit; gegenüber Johannes, dem Jünger der Liebe, bleibt der petrinische Glaube allerdings im Verständnis des väterlichen Herzens zurück. Ja, er erweist sich sogar, natürlich in bester Absicht, als Gegner (Satan) des väterlichen Liebewillens. In der synoptischen Tradition ist diesbezüglich an die Reaktion des Petrus auf die erste Leidensankündigung zu denken (Mt 16,21-23) und in der johanneischen an den Widerstand des Petrus gegen die Fußwaschung. Der Glaube stützt sich und bezieht seine Sicherheit aus der Autorität des göttlichen Wortes. Dieser Glaube wird durch die Fußwaschung, einen Dienst, den Sklaven, aber nicht Herren zu verrichten haben, in seinem Verständnis der Gottesmacht der Wahrheit verunsichert. Denn diese Gottesmacht, beispielsweise in Gestalt der Zehn Gebote, soll nach petrinischer Glaubensauffassung das Denken und Wollen der Menschen beherrschen, und dieser soll gehorchen und sich auf diese Weise von seinen Sünden reinigen. Nun aber erweist sich gerade die Gotteswahrheit als diejenige, die nicht nur gebietet, sondern die anbefohlene Reinigung eigenhändig ausführt. Kann sie dann noch als anbefohlen angesehen werden? Verliert ein Gebot, das der Gebieter selbst ausführt, damit nicht die gebieterische Strenge? Der petrinische Glaube begreift das alles nicht; die Gottesmacht der richtenden Wahrheit wird durch die Gottesmacht der reinigenden Liebe überwunden. Das ist die Erlösung, der Kosmos wird aus der Macht der gebietenden Gottheit entlassen und dem Dienst der sich herablassenden Liebe übergeben. Damit werden, wie Joh 13,12-20 und das neue Gebot (Joh 13,34f) zeigen, neue Maßstäbe für das Verhalten innerhalb der Gemeinde gesetzt. Dass die Fußwaschung als Liebesdienst zu verstehen ist, wurde gleich im ersten Vers durch das zweimalige Vorkommen von "lieben (agapao)35" angedeutet. Der Glaube wehrt diese Liebe, wie gesagt, ab, daher ist nun die Stunde des Lieblingsjüngers, der Joh 13,23 erstmals erwähnt wird, gekommen. Aufschlussreich ist die Verwendung und Verteilung von "lieben" im Johannesevangelium. In Joh 3,16.35; 10,17 ist Gott, der Vater, das Subjekt dieser Liebe; der Vater liebt den Sohn und indem er ihn liebt, liebt er die Welt. In Joh 11,5 ist erstmals Jesus das Subjekt der Liebe, und ergriffen werden von ihr 35

Im Johannesevangelium begegnen uns zwei Worte für "lieben", nämlich "fileo" und "agapao". Da im Vorwort "agapao" vorkommt, beschränken wir uns auf diesen Begriff.

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Lazarus und seine Schwestern. In den die nachösterliche Gemeinschaft vorbereitenden Kapiteln 13 bis 17 ist eine sehr auffallende Häufung dieses Begriffes zu beobachten (Joh 13,1.23.34f; 14,15.21.23.31; 15,9f.12.13.17; 17,23f.26). Dies zeigt, dass die Liebe als das Leben vom Vater über den Sohn via Lazarus, welcher der Todesmacht entrissen wurde, nun in die Jüngerschar, die ein Vollbild der inneren Kirche ist, überströmt. Ferner begegnet dieser Begriff in Verbindung mit dem Lieblingsjünger (Joh 13,23; 19,26; 21,7) und im 21. Kapitel, welches das Verhältnis von Glaube (Petrus) und Liebe (Johannes) in der Zeit der Kirche reflektiert. Der Abschnitt Joh 13,12-20 ist formal betrachtet ein Jesusmonolog. Die Eingangsfrage, "Versteht (erkennt) ihr, was ich an euch getan habe?" (13,12), zeigt, dass Jesu Tun nach einem tieferen Sinn hin befragbar ist. Dazu passt, dass im Epilog des Johannesevangeliums (Joh 20,30f) Jesu gesamtes Tun und Reden unter dem Schlüsselbegriff des Zeichens zusammengefasst wird. Mit Blick auf das ganze Evangelium kann das letztlich nur bedeuten, dass Jesu gesamtes Dasein den unsichtbaren, aber in Jesus anwesenden Vater vergegenwärtigt. Das Verstehen der Fußwaschung kommt gebündelt im Begriff des Beispiels (13,15) zum Ausdruck. Der Gesandte des Vaters (das Wort des Liebegeistes), dessen Wirksamkeit sich bis in die geistfernen, aber den geistigen Fortschritt allein ermöglichenden Fuß- oder Naturbereiche erstreckt, wird durch ebendiese Tat zum Paradigma aller echten Abgesandten (siehe Apostel in 13,16) dieses einen Urgesandten. Die Gemeinde Christi ist daran erkennbar, dass sich ihre Mitglieder gegenseitig die Füße waschen, dass sie sich bei der Reinigung der verkrusteten Außenpersönlichkeit helfen und so in gegenseitiger Liebe üben. Wer diese Botschaft aufnimmt, der nimmt dadurch den Christusgeist auf, und wer diesen aufnimmt, der nimmt damit eigentlich den Urgeist der Liebe oder des Vaters auf. Oder mit Jesu Worten gesagt: "Wer einen aufnimmt, den ich sende, nimmt mich auf, und wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat." (13,20). Auch Judas tritt uns in dieser Fußerzählung beziehungsreich mit seinen Tretwerkzeugen entgegen. "Der mein Brot isst, erhob gegen mich seine Ferse." (13,18; Ps 41,10), dieses Schriftwort soll durch den Judasverrat erfüllt werden. Die Ferse erinnert uns an Gen 3,15 und an Jakob, den "Fersehalt" (Buber Gen 25,26), der zum Stammvater der Juden wurde, von denen Judas seinen Namen hat. Das Erheben der Ferse ist Ausdruck des alten Hochmuts, der Dominanz des Niederträchtigen, und somit die radikale Aufkündigung der Gemeinschaft der Liebe ("Der mein Brot isst"). Doch wie gesagt, der Tritt des Judas setzt die Erhöhung des Gottgesandten nicht in Gang. Die Erhöhung des mit göttlicher Macht festgetretenen Kosmos in Christus, dieses erhebende Werk ist allein das des seinsmächtigen Gottes, dessen starker Arm Jesus ist. Das Böse und Falsche bewirkt nichts, aber entgeht auch nicht dem allweisen Plane Gottes.

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Die Abrahamsgeschichte: Von der Wiedergeburt des Menschen von Peter Keune Die Abrahamsgeschichte stellt im inneren Sinn eine bildliche Dokumentation des Ringens Gottes um den Menschen dar. Wie in der gesamten Heiligen Schrift wird auch hier die Wiedergeburt des Menschen beschrieben, oder - in anderer Sichtweise - die Herablassung Gottes in unsere menschliche Ebene. Die Abrahamsgeschichte bildet in einer noch tieferen Sinnebene auch Gottes Menschwerdung in Jesus Christus vor. Der Mensch ist ein lebendiges Aufnahmegefäß Gottes. Sein "Ich" wurde mit Vernunft und freiem Willen ausgestattet und mit der Fähigkeit, sich sogar gegen seinen Schöpfer begründen zu können. Damit ist er willensmäßig frei. Er kann seinen eigenen Willen über den Gottes stellen, da er von seinem Schöpfer scheinbar völlig getrennt existiert. Diese Trennung geht soweit, daß alle tieferen Erkenntnisse über ein innewohnendes höheres Leben wie von außen durch göttliche Offenbarung erfolgen müssen. Leider ist das Wort Gottes in der heutigen Zeit äußerlichen Denkens und immer größerer Gottabgewandtheit in Mißkredit geraten. Am Anfang des wissenschaftlichtechnischen Zeitalters durfte daher Emanuel Swedenborg, dessen Berufung durch den Herrn im Jahre 1745 erfolgte, als "ein Diener des Herrn" den inneren, geistigen Sinn der Heiligen Schrift durch die Sprache der Entsprechungen aufzeigen. Wie schon oben gesagt wurde, handelt das "Wort" - wie bei ihm die Heilige Schrift genannt wird - von den Zuständen der menschlichen Seele, ihren Anlagen, ihren Verirrungen und ihrer Absonderung von Gott, dessen Erbarmung und Seinen Kämpfen, um die Seele wieder in ihr eigentliches Vaterhaus zurückzuführen. Erst wenn die Seele sich selbst zu erkennen vermag und ihre Verirrungen einsieht, kann sie auf eine andere Bahn gelenkt werden. In der Heiligen Schrift wird dieser Zustand als Wieder- bzw. Neugeburt bezeichnet. Von solchen Zustandsveränderungen will diese Zusammenstellung berichten und an Hand der biblischen Abrahamsgeschichte wesentliche Aspekte der Wiedergeburt schildern. Damit soll Mut gemacht werden, sich mit der Bibel zu beschäftigen und sie mit tieferem Verständnis kennen zu lernen. Sie ist gewissermaßen das Fundament aller Offenbarung, wie die Grundfesten eines Hauses. Deshalb ist auch jede Offenbarung an der Heiligen Schrift zu messen. "Und der Herr sprach zu Abram: Gehe aus deinem Vaterland und deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das Ich dir zeigen werde." (1.Mose 12,1). Weil die inneren Lebenszustände nicht greifbar dargestellt werden können, da sie weitgehend im Unbewußten wirken und dem Verstand deshalb nicht zugänglich sind, wurden

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sie von alters her in Bilder und Geschichten eingekleidet. Auf diese Weise werden sie deutlich vor Augen gestellt, wie beispielsweise in der Schöpfungsgeschichte. "Da Gott den Menschen schuf, machte Er ihn nach dem Bilde Gottes, und schuf sie einen Mann und ein Weib, und segnete sie, und hieß ihren Namen Mensch." (1.Mose 5,1-2). Mit diesem ersten Text wird das Wesen des Menschen beschrieben. Er ist als Mann und Weib zugleich erschaffen, womit die Schrift aber nicht zwei Personen meint, sondern zwei Eigenschaften, die dem männlichen und weiblichen Prinzip entsprechen. Wir sprachen von den Menschen als Aufnahmegefäßen der göttlichen Liebe und Weisheit, und davon, daß sie in selbständiger Willensfreiheit bereit sein müssen, den göttlichen Einfluß aufzunehmen, damit sie vollendet zu Ihm zurückkehren können. Um ihre Bestimmung erkennen zu können, müssen in dem Menschen zuvor Neigungen entwickelt werden, die der göttlichen Liebe und Weisheit wesensgleich sind. Denn nur Gleiches kann Gleiches, nämlich die höheren Einflüsse, erkennen. Die ersten fünf Tage der Schöpfungsgeschichte sind der bildhafte Ausdruck jenes Prozesses, in dem aus einem nur natürlich denkenden Individuum ein für höhere Erkenntnisse aufgeschlossener Mensch wird. "Da Gott den Menschen schuf machte Er ihn nach dem Gleichnis Gottes" bedeutet, Er macht das Aufnahmegefäß "Mensch" so, daß es aus Weisheit und Liebe gestaltet ist. Oder anders ausgedrückt, Weisheit und Liebe sind die Grundelemente, aus denen der höhere Mensch besteht. Da es zwei Wesensbereiche sind, fährt die Schöpfungsgeschichte folgerichtig in der Mehrzahl fort: "Und schuf sie als Mann und Weib". Das männliche Prinzip entspricht dem Vernunftdenken und somit der Weisheit und das weibliche Prinzip den Neigungen daraus, oder der Liebe. Man könnte jene Stelle auch anders übersetzen und sagen: Da Gott den Menschen schuf, machte Er ihn ähnlich wie Sich selbst und gab ihm einen Verstand (Weisheit) und ein Streben nach Liebe. Nun kommt es darauf an, ob sich diese Anlage im Menschen weiter entwickelt. In der Bibelsprache heißt dieser Entwicklungsprozeß "vermehret euch". Der Mensch lebt ein äußeres und inneres Leben nach seinen Erkenntnissen und Neigungen und ist fähig - aber nicht gezwungen - Gottes Wege zu beschreiten. Tut er es, kehrt er zu Gott zurück, und tut er es nicht, entfernt er sich mehr und mehr von seinem Lebensquell und geht in alle Not und Finsternis über. Vielleicht fällt auf, daß einmal Liebe und Weisheit (in dieser Reihenfolge) in Verbindung mit Gott gesagt wird, und einmal Weisheit und Liebe, wenn es sich um den Menschen handelt. Der Grund ist, weil das Innerste immer zuerst genannt wird. In Gott ist die Liebe der Grund (Vater) und die Weisheit das von der Liebe Ausgehende (Sohn). Beim Menschen herrscht anfangs die Neigung zur Wahrheit vor, welche sich von der Liebe getrennt hat, um im Lauf der Wiedergeburt allmählich wieder eins zu werden mit der Gottes- und Nächstenliebe im Herzen. "Da sich aber die Menschen begannen zu mehren auf Erden, und ihnen Töchter geboren wurden …" (1.Mose 6,1). Wir sprachen kurz von dem Ausspruch "vermehret euch". Dies

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bedeutete, daß die Ausrichtung des Menschen auf vermehrte Erkenntnisse über Gott und eine zunehmende Liebe zu Ihm ausgerichtet sein sollte. Wie soll man nun verstehen, daß ihnen lauter Töchter geboren wurden? Wo blieben die Söhne? Sie werden an dieser Stelle nicht erwähnt, obgleich sie auch vorhanden gewesen sein müssen, da sie ja sonst später nicht hätten "Weiber nehmen" können, wie geschrieben steht. Hier bedeuten "Töchter", daß die Menschen Liebes-Neigungen zur Welt entwickelten. Es geht bei der Nennung von Söhnen und Töchtern nicht um irgend eine Art von Wertigkeit. Die Mißverständnisse liegen in der Unkenntnis der Entsprechungssprache. Wir wissen: "Mann" und "Weib" bedeuten Eigenschaften, und stellen in ihrer ehelichen Verbindung den Menschen als solchen dar. Dieser soll seine Liebe und seine Weisheit verbinden und auf Gott ausrichten, wie es später durch Moses in den Geboten erneut zum Ausdruck kommt, und diesem Streben alles andere unterordnen. Solchermaßen wieder in die Ordnung Gottes zurückgekehrt, fließen ihm die Segnungen Gottes zu. In diesem Sinne soll er sich mehren und "fruchtbar" sein. Es heißt aber in unserem Text weiter: "Nun sahen die Kinder Gottes nach den Töchtern der Menschen". Hierunter wird verstanden, wie die Göttlichen Attribute, nämlich die höhere Vernunft, gepaart mit Weisheit und Liebe, sich mehr und mehr der Weltliebe zuneigten und diese sogar in ihre Begierden aufnahmen (sie zu Weibern nehmen). Mit einem gottgefälligen Weib soll der Mann ehelich verbunden sein. In der Entsprechung stellt sie dann die Liebe zu Gott dar, allerdings nur in seinem wiedergeborenen Zustand, anderenfalls ist sie seine Neigung zum "vernunftmäßig Wahren", wie es Swedenborg ausdrückt. (Heute würden wir sagen: Was uns erstrebenswert erscheint und der Vernunft einleuchtet. Allerdings ist diese Einsicht sehr vom Entwicklungszustand abhängig. Insofern sind die Entsprechungen auf unterschiedlichen Ebenen angeordnet). Neigungen, die uns als natürliche Menschen "reizen", werden in unserem Text mit den Worten ausgedrückt: "... wie sie schön waren, und nahmen zu Weibern, welche sie wollten". Gerade der letzte Teil rückt die Feinheit das Aussage ins rechte Licht. "nahmen. zu Weibern, welche sie wollten". Also nicht der göttlichen Ordnung gemäß, sondern wie sie wollten! So ist es bis heute immer gewesen. Jeder Mensch muß die Möglichkeit zur Widerordnung haben, um wahrhaft frei zu sein. Er muß sich von Gott abwenden können. Wahrhaftiges Heil findet er aber nur in der Befolgung der Gebote Gottes, die eine Kehrtwendung (Neuausrichtung) bewirken. Ein anderes Bild macht diese Sachlage vielleicht noch deutlicher: Alles, was Gott je geschaffen hat, ist aus Seinen Gedanken und Ideen geworden, ist demnach Er Selbst. Als notwendige Folge könnten Seine Geschöpfe keine wirkliche Unabhängigkeit haben, da sie mit der ihnen gegebenen Intelligenz ihre vollständige Abhängigkeit von ihrem Schöpfer erkennen. Wie kann Gott Seine Geschöpfe in eine echte Freiheit setzen und sie damit zu seinen Kindern machen, die als "Du" oder "Gegenüber" Sein Ebenbild sind?

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Um die, auch für einen Gott wahrlich nicht leichte Aufgabe zu lösen, muß Er zwischen Sich und Seinen Geschöpfen eine Barriere, eine Art Mauer errichten, die Ihn vor Seinen Geschöpfen verborgen hält. In dieser Anordnung würde es aber zu keiner Begegnung zwischen ihnen kommen, wenn Er seinen Geschöpfen nicht so etwas ähnliches wie einen Empfänger eingebaut hätte, mit dem sie sich auf entsprechenden Empfang einstellen könnten. Unschwer zu erkennen: Die Mauer ist die Materie und der Empfänger ist Sein uns innewohnender Geist, der zwar zuerst "wie ausgeschaltet" wirkt, dann aber zu spielen anfängt, wenn man "daran dreht". Die Gebrauchsanweisung findet sich im geoffenbarten Wort Gottes und - nicht zuletzt - in einem inneren Ahnen. Es erscheint ganz logisch, daß im Kind in der ersten Zeit der Bewußtwerdung Gottes Bild im Innersten wirkt und erlebt wird, da man in dieser Zeit noch von der Engelwelt umgeben ist. Aber mit der zunehmenden Unabhängigkeit von dieser Sphäre gewinnen die äußeren Reize der Welt an Einfluß und die inneren Wahrnehmungen und Ahnungen verblassen. Wir wären völlig verloren, wenn sich Gott unserer nicht erbarmen würde! Da beim Stand der Dinge diese Zustände jedoch kommen, hat der Herr schon von "langer Hand" Möglichkeiten zu unserer "Wiedergeburt" vorbereitet. Mit anderen Worten: Er muß sich dem Menschen jenseits der Mauer bemerkbar machen (in Erinnerung bringen), verhüllt zwar und mit aller Vorsicht, um nicht Sein großes Ziel, die freiheitliche Entwicklung des Einzelnen, zu gefährden. Da dieses für alle Menschen und zu allen Zeiten gleichermaßen gilt, ist die Beschreibung der Wege Gottes in uns wesentlicher Bestandteil der Heiligen Schrift (Gott offenbarte und offenbart sich auf verschiedenste Weise, bis hin zu Seiner Menschwerdung auf Erden). Die Abrahamsgeschichte schildert in der äußeren Form einer historischen Begebenheit einen bedeutenden Entwicklungsprozeß, nämlich wesentliche Aspekte der Verbindung von Seele und Geist. Wir alle sind Abram (wie sein Name zuerst hieß). Unser Denken und Wollen ist noch auf die Welt ausgerichtet, d.h. die sinnlichen Eindrücke der äußeren Welt reizen uns mehr, als alles Wissen um ein geistiges Leben. Entsprechend sind unsere Familienbande in der Welt zu suchen. Der Herr aber arbeitet daran, uns diese Genüsse schal werden zu lassen. Er wirkt dahin, daß uns ein Interesse um das andere erstirbt, wir keinen Gefallen mehr daran finden und nach Neuem zu suchen anfangen. Wenn der richtige Zeitpunkt da ist, wenn wir "weich" geworden sind, erhebt Er seine Stimme und ruft uns zu: "Gehe aus deinem Vaterland und aus deiner Freundschaft und aus dem Hause deines Vaters" - damit ist das Land diesseits der Mauer mit allen seinen Bindungen gemeint - "in ein Land, das Ich dir zeigen werde." Mit dem Ruf ist ein Ahnen gemeint, daß es noch etwas anderes geben muß, etwas, was jenseits der bisherigen Erfahrungen liegt. Hier rührt uns der Herr an. Es ist gewissermaßen die erste der großen Verheißungen, die auf unsere wahre Bestimmung hinweist. Damals, wie auch heute werden wir aufgerufen. Immer! Heute, indem der Herr uns das ganze Panorama Seiner

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Himmel eröffnet hat. Wie anders sind sonst die Werke des großen Sehers aus dem Norden zu verstehen, in ihnen zeigt Swedenborg das große Ziel des Menschen auf. Er weist nicht etwa bloß darauf hin, er zeigt es buchstäblich, durchschreitet es und berichtet von "Unaussprechlichem - was er gesehen und gehört hat". In der Abrahamsgeschichte offenbarte sich der Herr in noch mehr verhüllter Weise. - Wie schon gesagt, ist Abraham in der Folge wirklich Vater vieler Völkerschaften geworden. Die Verheißung bezieht sich aber in erster Linie auf den inneren Menschen. Religion soll der Ansatzpunkt für alle anderen Neigungen werden, die "wie Völker" in der Seele ein Eigenleben führen. Jede unserer Tätigkeiten soll aus der einen Quelle gespeist werden. Darin liegt unsere Einheit und Stärke. Verheißung ist aber noch nicht Wirklichkeit. Vorerst heißt es einen steinigen Weg der Demut betreten, wissend, daß wir aus uns selbst nichts sind, daß alle unsere Kräfte eigentlich von "Ihm" kommen und daß wir eine völlige Bewußtseinsumwandlung durchmachen müssen. Wir müssen alles "Eigene" unterordnen und Seinen Anweisungen folgen und jedes daraus resultierende Ungemach auf uns nehmen. Daher die lange Wanderung unseres Abram, der übrigens in diesem Stadium noch nicht selbständig im Geistigen wandelt, sondern erst Aufgeforderter ist. Daher sein Name Abram ohne "h". Erst von einem bestimmten Stadium an, wird seine Name durch den Geistlaut "h" in Abraham geändert. In einem weiteren Sinn bezeichnet Abraham den Herrn, bzw. Seine himmlische Kirche, die Er in uns errichten will. Sein Sohn Isaak stellt die geistige Kirche dar und dessen Sohn Jakob die natürliche Kirche im Sinne eines Herabsteigens des Herrn von dem innersten Himmel bis zur menschlichen Ebene. So läßt uns der Text erahnen, welche Wunder uns der Herr auftun will, wenn wir uns aufmachen, alles Bisherige zu verlassen und in ein neues Land (in einen neuen Zustand) zu ziehen, das Er uns zeigen wird. Bezeichnenderweise geschieht dieser Ruf, als Therach, der Vater Abrams, in Haran starb. Sterben ist in der Bibel immer ein Zustandswechsel, indem das Vorherige abgeödet wurde (starb!). - Der Herr in Seiner göttlichen Liebe und Weisheit tritt mehr und mehr in unser Leben, um uns dann zu den Himmeln zu erheben. Und Abram gehorcht! Er nimmt sein Weib Sarai, seinen Neffen Lot und alle seine Habseligkeiten und geht den verheißungsvollen Weg nach Kanaan. Es scheint eine der vielen Wanderszenen zu sein, die bei einem Nomadenvolk gang und gäbe sind. Nomaden sind wir im Geistigen auch. Mal ziehen wir hier hin, mal dahin, immer unseren momentanen Launen oder Neigungen folgend, dorthin, wo neue Futterplätze (Nahrung für Seele und Geist) sind. Scheinbar wie in einem Irrgarten der Gefühle gehen wir unseren Begierden und Wünschen nach. Die Wege führen oft von Gott weg, beschäftigen unseren Gedanken und Sinne, wobei sehr wichtige, kostbare Zeit verloren geht! Von irgendwo her, aus der Tiefe unseres Seins, kommt dann einmal der Ruf: "So kann es nicht weiter gehen, es muß Besseres geben". In diesem Ruf ist der Herr auf der

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Suche nach uns und verheißt uns ein neues Leben! In Wirklichkeit braucht man sein äußeres Leben nicht völlig umzuändern, aber es bekommt einen neuen Geist. "Ich bin der Herr dein Gott, du sollst keine anderen Götter haben neben mir", lautet das erste Gebot. Alles soll Ihm unterstellt werden! Das ist kein langweiliges Leben, sondern eine Reise in immer seligere Zustände. Und noch eins! Noch lange sind wir keine Wiedergeborenen, wenn wir den Ruf vernehmen und ihm Folge leisten wollen. Wir sind vorerst immer noch die Alten. Daher unser Text folgerichtig heißt: "Also nahm Abram sein Weib Sarai und Lot, seines Bruders Sohn mit aller Habe, die sie sich erworben hatten …" Vorerst bleiben alle unsere Neigungen erhalten, unsere "Habe". Abrams Brüder waren Nachor und Haran. Abram bezeichnet in diesem Zustand noch die Eigenliebe des Menschen, seine Brüder Weltliebe und die Vergnügungssucht. Alle diese Liebesarten sind stark an die Sinne gebunden. Aus der Liebe zu den Vergnügungen stammt Lot. Er repräsentierte das, was den Sinnen gefällt oder dem äußeren Menschen behagt. Mit anderen Worten ausgedrückt, wenn wir den Weg der Wiedergeburt beginnen, nehmen wir vorerst unsere Eigenliebe mit allen ihren daraus hervorgehenden Neigungen, den Hang zur Sinnenfreude und den Hang zur Außerlichkeit mit. Um es noch einmal klar zu sagen: Durch den Bewußtseinsprozeß, daß es einen Gott gibt, werden wir noch nicht von unserem "alten Adam" befreit. Die erste Glückseligkeit des Augenblicks hat noch nichts mit der eigentlichen Wiedergeburt zu tun. Diese ist nach unseren Lehren ein Akt der zunehmenden Reinigung und Abwendung vom Bösen und Falschen, welches uns bisher regiert hat. Dieser Prozeß ist nicht auf das irdische Leben beschränkt, sondern setzt sich auch in der geistigen Welt fort. Hören wir dazu Swedenborg im Original: "Wenn der Mensch geboren wird, ist er in Ansehung des anererbten Bösen eine Hölle in kleinster Gestalt. Er wird auch zu einer Hölle in dem Maße er von dem anererbten Bösen annimmt und demselben noch Böses hinzufügt. Daher kommt es, daß die Ordnung seines Lebens durch die Anlage von der Geburt her und durch sein wirkliches Leben der Ordnung des Himmels entgegengesetzt ist. Denn der Mensch liebt aus dem Eigenen her sich selbst mehr als den Herrn und die Welt mehr, als den Himmel, während doch das Leben des Himmels ist, den Herrn über alles zu lieben und den Nächsten wie sich selbst. Hieraus erhellt, daß das erste Leben, welches der Hölle angehört, ganz zerstört werden, d.h. das Böse und Falsche entfernt werden muß, wenn ein neues Leben, welches das Leben des Himmels ist, eingepflanzt werden soll. Dies kann aber durchaus nicht in Eile geschehen, denn jedes Böse steht in einem fest verwurzelten Zusammenhang mit allem Bösen und dessen Falschem. Solches Böse und Falsche ist unzählig und der Zusammenhang desselben so mannigfach, daß es gar nicht begriffen werden kann - nicht einmal von den Engeln - sondern vom Herrn allein. Hieraus erhellt, daß das Leben der Hölle bei dem Menschen nicht plötzlich zerstört werden

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kann, denn wenn es plötzlich geschähe, müßte er seinen Geist aufgeben, wie auch das Leben des Himmels nicht plötzlich eingepflanzt werden kann." (HG 9336) Diese Tatsache findet in der Geschichte der Nachkommen Abrahams ihre äußere Bestätigung, indem es lange Auseinandersetzungen und Kämpfe bis zur Einnahme des Heiligen Landes Kanaan gab - genaugenommen bis in die heutige Zeit andauernd - und noch immer ist kein Ende abzusehen. "Deinem Samen will Ich dieses Land geben …" Samen sind die besten und reifsten Lebenskräfte analog allem Guten und Wahren, und damit Ziel unseres Lebens, aus dem das spätere Himmelreich "bevölkert" werden soll. Der Mensch, solcherart im Umbruch, ist ganz erfüllt von den neuen Aussichten und möchte sein ganzes Leben dem Herrn widmen. Widmen, heißt ein Leben nach der himmlischen Ordnung beginnen und damit dem Herrn eine Bleibstatt im Herzen bereiten. Alle Gebete festigen diesen Zustand. In der Sprache der Bibel heißt es: "Und er baute daselbst dem Herrn einen Altar." Weiter heißt es: "Es kam aber eine Teuerung ins Land …" Teuerung geschieht immer, wenn Warenknappheit herrscht. Auf unserer Station der Wiedergeburt sind wir in den Zustand gelangt, in dem das neue Leben uns ganz glücklich macht und alles in Ordnung zu sein scheint. Nun kommt aber "eine Teuerung ins Land"‚ - schildert den Ausverkauf alter Wahrheiten, die uns in unserem bisherigem Leben als Grundlagen dienten und auf denen unser neues Leben vorerst einmal fußt. Sie erweisen sich auf Dauer als nicht allzu tragfähig. Es ist einfach zu wenig, oder auch das Falsche, um damit ein geistiges Leben führen zu können. Uns fehlen die Kenntnisse über geistige und himmlische Dinge. Folglich blicken wir uns um, wer da helfen könnte: Bücher, Vorträge usw. In vollen Zügen nimmt man auf. - Diese Verhaltensweisen sind nicht erst heute so, sondern von jeher menschliche Reaktion. Wer Hunger hat, wird sich nach Nahrung umschauen. Im geistigen Sinne ist Essen ein Aufnehmen von Kenntnissen aller Art (daher gibt es auch so verschiedenartige Speisen). Die Art der Speise ist dabei noch völlig wertfrei. Das alte Ägypten mit seinen Weisheitsschulen und Einweihungsritualen ist ein Entsprechungsbegriff für "Wissenschaft". Daher wandte sich Abram auch nach Ägypten mit seinen Kornkammern. Entsprechungsmäßig geht es um die Befriedigung geistigen Hungers. Aber es ist nicht Sache der Religion, lediglich Wissen zu sammeln. Vorhin lasen wir, was den Menschen vor und nach der Wiedergeburt unterscheidet: Vorher war es ein Leben der Eigenliebe und nachher ein Leben der Gottes- und Nächstenliebe. Gottes- und Nächstenliebe sind aber nicht Dinge des Wissens, sondern des Herzens, wie auch das Land Kanaan beim geistigen Menschen das Gute und Wahre bei ihm bezeichnet. Natürlich ist Wissen über himmlische Dinge nicht verwerflich, sondern sehr nützlich. Aber es

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befriedigt auf Dauer nicht, ist nicht Endzweck, daher auch dem Text hier zugesetzt wird: "dass er sich daselbst als Fremdling aufhielte." Da es das Ziel aller Wiedergeburtsbestrebungen des Herrn ist, bei uns ein tätiges Leben der Gottes- und Nächstenliebe anzuregen, wandte sich Abram wieder aus der reinen Wissenssphäre seinem eigentlichen Ziele zu. Ägypten war äußerst fruchtbringend für ihn. Gestärkt und ausstaffiert mit allen Grundlagen geistigen Lebens, wie das natürlich Gute (Dienen), geistige Wahrheiten (wissensmäßige Untermauerung) und neue Impulse (Liebe für das Geistige), lebte er zunehmend im weisheitsvollen Wirken. Die Bibel drückt diese Tatsache in ihrer Bildersprache aus: "… war aber sehr reich an Vieh, Silber und Gold." Er bewegt sich im "Mittagsland", welches den Weisheitsbereich anzeigt. Unsere Selbstliebe, hier als Abram bezeichnet, ist in diesem Stadium noch vorherrschend. Dies zeigt die Schrift an, indem Abram mit seinem Weibe, Lot und allem, was er hatte, in das Mittagsland zog. Sein noch unwiedergeborenes Weib stellt hier - noch - die Selbstsucht dar, und der Neffe Lot die Vergnügungssucht, d.h. die Neigung zu den äußeren Reizen. Noch deutlicher sagt das: "Und allem, was er hatte." Ich glaube, es ist deutlich geworden, daß wir noch lange die alten Gewohnheiten und Neigungen behalten. Gleiches gilt auch für uns Freunde des neuen Wortes, bzw. des neuen Verständnisses des Wortes. Nicht die Tatsache, sich aufgemacht zu haben und in den Lehren Bescheid zu wissen, bringt schon Wiedergeburt, sondern erst der in langen Umbildungsperioden mit seinen vielen Anfechtungen vollzogene Wandel. Daher Swedenborg auch von der sogenannten "Neuen Kirche" sagt, daß auch sie anfänglich äußerlich sein würde. Hier noch einige Aussagen Swedenhorgs über diese Kämpfe: "Allein man muß wissen, daß ohne Versuchung niemand wiedergeboren wird, und daß mehrere Versuchungen auf einander folgen. Dies aus dem Grund, weil die Wiedergeburt den Zweck hat, daß das alte Leben des Menschen sterbe, und ein neues Leben, welches das himmlische ist, einfließe. Daraus kann erhellen, daß notwendig ein Kampf stattfinden muß. Denn das Leben des alten Menschen widersteht und will sich nicht zerstören lassen, und das Leben des neuen Menschen kann nicht eindringen, wenn nicht das Leben des alten zerstört ist. Hieraus erhellt, daß von beiden Seiten ein Kampf entsteht, und zwar ein heftiger, weil es sich um das Leben handelt …" (HG 8403). Dieser Text macht auch verständlich, warum solche "radikalen" Worte des Herrn hinsichtlich der Eroberung Kanaans ausgesprochen wurden, was Kritiker der Bibel ohne Kenntnis ihrer Entsprechungsgrundlagen als Anstiftung zum Völkermord ansehen müssen. Kämpfe mit den Feinden des Landes bilden im inneren Sinn Auseinandersetzungen in der eigenen Seele vor. Also die Kämpfe gegen alle niederen Eigenschaften, die unser Herz besetzt halten, in dem doch alleine Gott wohnen soll. Aber man muß sich auch von

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dem trennen, was bisher als gut und gerecht galt. Dies bezeichnet insbesondere die Aufforderung zur Abkehr von der "Familie". - Im folgenden Abschnitt handelt es sich um die Auseinandersetzung mit Lot, seines Bruders Sohn, der mit Abram bisher immer mitzog. Im Mittagsland waren beide reich geworden. Das heißt, in der Weisheitssphäre hatten beide profitiert: Die Eigenliebe, welche im Begriffe war, sich zur Gottesliebe zu wandeln, und jener Hang zur Äußerlichkeit, dargestellt durch Lot. Man muß den Zustand des mittlerweile gewandelten Abram kennen. Hören wir den Text aus der Schrift, welcher aus Platzgründen nicht in voller Länge aufgenommen werden konnte: "… Und er zog weiter vom Südland (Mittagsland) nach Bethel … eben an den Ort, wo er früher den Altar errichtete. Dort rief er den Namen des Herrn an", also in der Weisheitssphäre (noch von Ägypten herrührend) erinnert er sich an den Zustand der Gegenwart des Herrn (er war auf seiner Wanderung schon einmal hier), wo er Ihm einst Gehorsam gelobte und einen Altar errichtete. Eindeutig ein neuerlicher Impuls zur Verinnerlichung. Dort, also in diesem Zustand, erkennt er sein zwiespältiges Wesen. Da ist einmal seine neue und große Liebe zu Gott mit ihren Konsequenzen, auf der anderen Seite die äußere Sinnlichkeit seines Wesens, welche auf die Reize der Welt gerichtet ist. Beide haben große Herden, bedeutet, daß diese Eigenschaften bedeutsame Lebensbereiche umfassen. Für den geistigen Weg ist der Hang zum sinnlichen Leben hinderlich. Es ist in Grenzen zwar nicht falsch, denn in der Welt muß man auch leben, aber das nach außen gerichtete Leben muß von dem inneren, geistigen Leben abgegrenzt sein. Die Konsequenz ist folglich die Trennung. - Wir lesen: "Und das Land mochte nicht ertragen, daß sie beieinander wohnten, denn ihre Habe war sehr groß." Die Folge in der Geschichte zeigt, daß diese Trennung in beiderseitigem Einvernehmen und in Freundschaft geschah. Jedem das Seine. Es sind nicht feindliche Bereiche, sondern nur unterschiedliche Sphären, die man akzeptieren kann. Abram setzte sich später sogar sehr für seinen Neffen ein, wie wir gleich sehen werden. Der natürliche Bereich oder der äußere Mensch wandte sich nach der Trennung bezeichnenderweise in jene Gegend (Zustand), in der sich Sodom entwickelte und welche später höllisch wurde. Hier sehen wir den Hang des natürlichen Menschen zu den Begierden des Bösen. Dort geriet er bald in Verwicklungen, Kriege und Gefangenschaft, woraus er durch Abram (der geistigen Seite des Menschen) gerettet wurde. "… als nun Abram hörte, daß seines Bruders Sohn gefangen war, wappnete er seine Knechte, dreihundertundachtzehn, in seinem Hause geboren, und jagte ihnen nach." Dieser Akt der Nächstenliebe wurde durch den Oberpriester Melchisedek, der in Salem (später Jerusalem) residierte und den Herrn darstellt, gesegnet. Nach dieser kleinen Vorschau über das spätere Schicksal von Lot, kehren wir wieder zu der Trennung von Lot und Abram zurück. Nachdem diese geschah, war der Weg in das Heilige Land frei. Alles, was uns an die Materie bindet, muß "auf seinen Platz ver-

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wiesen" werden. Wir verstehen: Materie muß sein und ist an und für sich nichts Verwerfliches. Wenn wir aber unsere Liebe an sie binden - im Sinne des nicht LosKommens - verhindert sie unsere geistige Entwicklung. Auch der geistige Mensch muß in der Materie leben, solange er hier auf Erden noch inkarniert ist, und diese fordert von Zeit zu Zeit auch ihr Recht. Die Hinwendung zur Welt muß aber dem Geistigen untergeordnet werden und diesem dienen, und nicht umgekehrt. - Solcherart befreit von erdgebundener Verstrickung, ist es nun möglich, dieses verheißene Land zu durchziehen, wie es heißt: "In der Länge wie in der Breite". Letztere Ausdrucksweise könnte belanglose Ausschmückung sein, wenn die Beschreibung nicht in der Bibel als Gottes Wort stünde. So sollte man wieder die Entsprechungskunde zu Rate ziehen. Alles Irdische hat Länge, Breite und Höhe und kann auch gemessen werden. Das Land Kanaan bezeichnet das Himmlische und entzieht sich daher irdischen Maßstäben. Das Geistige muß sich immer an den Graden seiner Vollkommenheit messen lassen. Also wieviel Heiliges (Gottes Liebe), wieviel Wahres und wieviel daraus hervorgehendes Lebensgutes (Nutzwirkungen hinsichtlich der angewandten Lehre) enthält es? Unser Text will nun sagen: Erforsche das dir sich öffnende Himmelreich und erkenne die dort herrschende Liebe und Weisheit Gottes. Es in Besitz nehmen heißt, es sich aneignen und zur Lebensgrundlage machen. Dann erst erschließt sich die dritte Dimension: Es sind die am Anderen erbrachten Dienstleistungen, im Sinne einer neu verstandenen Nächstenliebe. Ist der Wille vollkommen auf die Einnahme des verheißenen Himmelreiches ausgerichtet, und hat der Mensch alles Hinderliche zurückgelassen und sich, mit Swedenborg ausgedrückt, dem Einfluß Gottes geöffnet, kann der Herr seine zweite Verheißung an ihn richten: "Ich bin der allmächtige Gott, wandle vor Mir und sei fromm, siehe Ich bin es und habe Meinen Bund mit dir." So ist die Ordnung Gottes: Zuerst der Herr, dann der Mensch in seinem Ausgerichtet-Sein. In diesem Zustand kann sich Gott dem Menschen nahen und gefahrlos einen Bund mit ihm schließen. Nun ist eine feste und von Gott aus auch ewige Verbindung geschaffen - entsprechend den Zimmerleuten, die einen Abbund machen, wo ein Holz in das andere greift und wodurch ein gegenseitiger Halt ensteht. Himmelreich ohne den Menschen ist sinnlos, aber auch das Leben des Menschen ohne Himmel ist es gleichermaßen. Sie brauchen sich gegenseitig. Als äußeres Zeichen wird dem Abram der Geistlaut "h" eingeprägt. Das "h" ist der Hauch Gottes, Sein Atem, das Geistfeuer, welches ihn erst zu einem Menschen macht. Der siebente Tag in der Schöpfungsgeschichte berichtet: "Da machte Gott der Herr den Menschen aus der Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen." (1.Mose 2,7). - Da die Abrahamsgeschichte auch unsere Geschichte ist, soll dieses Wirken Gottes an uns gleichermaßen geschehen. Der siebente Tag der Schöpfungsgeschichte schildert, daß Gott "ruhte". Hier handelt es sich nur um

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eine Scheinbarkeit. In Bezug auf den Menschen und die gesamte Schöpfung und deren Erhaltung, ist Gott ständig tätig. Wie leicht könnte der Mensch wieder in den alten Zustand zurückfallen! Am siebenten Tag ist der Geistlaut der Wiedergeburt, das "h", hinzugekommen, wie ein Markenzeichen, daß das Eingepflanzte Fuß gefaßt hat. Wohl kann der Mensch auch nach dieser Zeit fallen, aber das "h" verhindert ein gänzliches Abdriften. Es passiert nur ein zeitweises Einkehren in die eigene Hölle. Wir erinnern uns, daß bei der Schaffung des Menschen von der Mehrzahl die Rede war. Wir hatten ausgeführt, wie das Weib die Neigungen, oder Liebesausrichtungen des Menschen darstellt. Durch die erfolgten Läuterungen Abrahams wurden seine Interessen ganz auf das zu erringende Himmelreich gelenkt. Sie wurden in die Ordnung Gottes gebracht. Auch Sarai erfährt den Geisthauch in ihrem erweiterten Namen als Sarah! Dies drückt sich in den Worten des Herrn aus: "Du sollst dein Weib Sarai nicht mehr Sarai heißen, sondern Sarah soll ihr Name sein." Welche Feinheiten die Heilige Schrift aufzeigt, kann man auch erkennen, wenn man die Stelle der Einfügung beim Namen Abram betrachtet. Sie wird in das zweite a geschoben. Der Herr ist immer die "1" und steht hier am Anfang als großes "A" (Der Herr). Das zweite a (der Geistfunke im Menschen als Sein Abbild) wird um den Geistlaut "h" erweitert (also: a h a) und zeigt, daß dieser Funke das "(Geist)Feuer" entfacht hat. Abraham und seinem Weibe Sarah, deren Ehe nun eine geistig-himmlische Verbindung von Liebe und Weisheit darstellt, verkündet der Herr die Geburt eines Sohnes (Isaak). Dieser bedeutet die geistige Kirche oder die inneren Wahrheiten, die aus solcher Verbindung hervorgehen. Ist die Wiedergeburt nun abgeschlossen? Nein, da diese einen in die Ewigkeit reichenden Prozeß darstellt. Der Mensch, die Stimme Gottes hörend und ihr folgend, soll ja erst das Land "in Länge und Breite" einnehmen und darin heimisch werden. Um dies zu erkennen und recht beurteilen zu können, bedarf es der Innewerdung göttlicher Weisheit. Diese wurde ihm gegeben: "Denn Ich will Sarah segnen. Auch von Ihr will ich Dir einen Sohn geben. Völker sollen aus ihr werden und Könige über viel Völker." Die Geburt des gesegneten Sohnes erscheint bei Berücksichtigung des Alters von Abraham und Sarah erst einmal ziemlich unwahrscheinlich. Jedoch sind die Zahlen in der Heiligen Schrift unter Entsprechungsgesichtspunkten besonders interessant. Sie stellen nämlich nicht Zeiträume dar, sondern Zustände. Swedenborg: "… im Wort ist nichts geschrieben, was nicht in einen geistigen und himmlischen Sinn überginge bei den Engeln; denn die Engel sind in keinen anderen, als geistigen und himmlischen Ideen. Sie wissen nicht, noch werden inne, was 8 und 6 ist, auch bekümmern sie sich nicht darum, wie alt Abraham war, als Hagar ihm den Ismael gebar. Wenn aber eine solche Zahl gelesen worden ist, stößt ihnen sogleich auf, was die Zahlen in sich schließen."

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Als Abram aus Haran auf Geheiß des Herrn fortzog ("Geh in ein Land …") und er sich damit zu einem geistigen Leben wandte, war er 75 Jahre alt. Zusammengesetzt heißt die Zahl: 7 (göttliche Eigenschaften) und 5 (noch nicht das Ganze - alles wäre die 10). Anders ausgedrückt ist es der Beginn des göttlichen Lichtes, aber erst ein Teil davon (5). Als der Herr später einen Bund mit Abraham machte, war er 99 Jahre alt (In der Zahlenmystik werden die einzelnen Zahlen gedeutet), also zweimal die neun, jedesmal der Zustand ganz kurz vor der Vollendung. In diesem Fall, sowohl in der geistigen, wie in der himmlischen Entwicklung. Erst in der Fülle der geistigen Reife kann man das Land "durchziehen in Länge und Breite". Als nach vielen Schwierigkeiten der angekündigte Sohn doch noch von Sarah geboren wurde, war Abraham 100 Jahre alt. Der Sohn stellt, wie oben gesagt, das vernünftig Wahre dar, in unserer Geschichte sogar das göttlich Wahre, oder die geistige Kirche, welche aus der Vereinigung der Weisheit (Abraham) mit der Liebe zu Gott (Sarah) hervorgegangen ist. Daß Abraham vor der Geburt Isaaks noch den Sohn Ismael mit der ägyptischen Magd seiner Frau zeugte, war damals ganz legal, war sie doch als Magd eine Leibeigene ihrer Herrin Sarah. Die Bedeutung liegt natürlich in der Entsprechung. Ägypten läßt aufhorchen und auch, daß sie eine Magd war, also eine Hilfe auf dem Weg zur Wiedergeburt. Ismael ist ein Kind der Weisheit (Ägypten) und später der Vater der Araber. Abraham war zu diesem Zeitpunkt 86 Jahre alt. Die 8 setzt sich zusammen aus 2x4, welcher Zustand Versuchungen (4) im geistigen und himmlischen Leben bezeichnet, daher die Verdoppelung. Die 6 ist eine Weiterführung von der 5 - also das Fortschreiten der eingeschlagenen Bahn. Das Kind aus der Liebe zu Gott - und damit die Krönung einer Entwicklung - wird ihm mit 100 Jahren geboren, als das volle himmlische Leben erreicht ist.

Selbsttäuschung - oder von der Notwendigkeit der Selbsterkenntnis von Karin Kreuch Vorbemerkung der Schriftleitung: Karin Kreuch vom Lüneburger Kreis schreibt: "Dieser Beitrag, der als Vortrag von mir gehalten wurde, enthält von mir zusammengetragene Textauszüge zu Thema Selbsttäuschung aus der Heiligen Schrift, den Werken Swedenborgs, denjenigen Lorbers und der kleinen Schrift von F. W. Faber, Selbsttäuschung (Miriam-Verlag). Leider kann ich im Nachhinein die genauen Fundstellen bei Swedenborg und Lorber nicht mehr benennen. Die Swedenborgtexte waren hauptsächlich aus der Göttlichen Vorsehung".

Es geht bei diesem Thema darum, daß wir wahr werden mit uns selbst, wahr werden gegenüber dem Nächsten und wahr werden gegenüber Gott. Es geht um unser geistiges Leben als die einzige Wirklichkeit. Es geht um unsere Beziehung zu unserem himmli-

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schen Vater. Wie ernst meinen wir es, wie ernsthaft verlangt unsere Seele auf seinen Wegen vorwärts zu kommen? In der Heiligen Schrift finden wir sein Versprechen: "Suchet, so werdet ihr finden!" Aber es steht auch geschrieben: "Ihr werdet mich suchen und werdet doch in euren Sünden sterben." Ein Widerspruch? Oder ist es ein Hinweis darauf, daß es auch ein unwahrhaftiges Suchen bei uns Menschen geben kann? Unwahrhaftigkeit ist der beleidigendste Vorwurf, den wir uns gegenseitig machen können; er verletzt unser Herz. Unwahrhaftigkeit ist die allgemeinste aller Erbärmlichkeiten. "Ein wahrhafter Mensch ist das seltenste aller Phänomene", schreibt Faber in seinem Buch. Ich habe daraufhin die Konkordanz zur Bibel zur Hand genommen und unter den Stichwörtern "lügen" und "Lüge" nachgeschlagen und dort Hinweise auf sehr viele Bibelstellen gefunden. Hier nur einige: "… mit deiner Lüge bringst du dich selbst um dein Leben" (StD 1,55). "… sie finden Gefallen an der Lüge, mit ihrem Mund segnen sie, doch in ihrem Innern fluchen sie." (Ps.62,5-6). "… du hast Mich vergessen und auf Lügen vertraut" (Jer.13,26). "… wir haben Lüge zu unserer Zuflucht gemacht und in Trug uns geborgen" (Jes. 28,15). "… draußen sind die, die Lüge lieben und tun" (Off. 22,15). "… es ist die alte Eigenliebe, als der Vater der Lüge und aller Übel aus ihr, die Lüge aber ist die alte sündige Materie als die sündige Erscheinlichkeit der Eigenliebe, der Selbstsucht, des Hochmuts und der Herrschsucht" (Lorber, GEJ Bd.6). Der erste Schritt zur Wahrhaftigkeit ist unsere Erkenntnis, daß sie uns abgeht. Denn aus dieser Erkenntnis erwächst der Entschluß und das Streben, diese Wahrhaftigkeit zu erlangen. Ein allgemeines Schuldbekenntnis reicht aber nicht aus! Wir müssen in uns gehen und unser ganzes Elend und unsere ganze Verderbtheit aufspüren. Swedenborg spricht "von denjenigen, die sich zwar aller Sünden schuldig bekennen, aber keine einzige bei sich aufsuchen (es kann doch niemand das, was er nicht kennt, fliehen, noch dagegen kämpfen)" und sagt, "das sich zu allen Sünden bekennen, ist ein Einschläfern aller und zuletzt ein Sichverblenden". "Alles Böse, das nicht zur Erscheinung kommt, glimmt fort und ist wie Feuer im Holz unter der Asche, auch wie Eiter in einer Wunde, die nicht geöffnet wird" (GV 278). Die innerliche Verderbtheit unserer Natur ist der Rohstoff für unsere Selbsttäuschung. Die Bösartigkeit dieser Verderbtheit liegt in der Verlogenheit. Und am meisten betrügen wir unser Ich. "… mit deiner Lüge bringst du dich selbst um dein Leben" (StD 1,55). Es gibt auf der Welt nichts Schwereres, als sich selbst zu erkennen. Aber wir müssen uns fragen: Bemühen wir uns ernstlich darum? Sind wir ehrlich bei unserer Gewissenserforschung? Wieviel Platz und Zeit hat sie in unserer Tagesordung? Wie steht es mit Regelmäßigkeit, Genauigkeit und Fleiß? "Nichts ist dem ganzen Menschen heilsamer als eine zeitweilige innere Sichselbstbeschauung." (Lorber, GEJ I.224.8). "Widmet Mir

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an Stelle eurer gewissen Weltgedanken und an Stelle eurer so manchen Welterheiterungen nur eine volle Stunde am Tage; heiligt sie dazu, daß ihr euch in derselbe mit nichts, als nur mit Mir in eurem Herzen abgebet - oh, da werdet ihr hundert Anstände für einen finden, und hundert weltliche Gedanken werden sich um einen einzigen schwachen geistigen wie ein Wirbelwind drehen! Allerlei weltliche Rücksichten werdet ihr da zum Vorschein bringen; und wenn sich auch jemand für eine solche Stunde entschließen möchte, so wird er sich sicher nicht zu sehr freuen auf dieselbe, sondern wird vielmehr eine kleine unbehagliche Scheu vor derselben haben und wird dabei fleißig die Minuten zählen und nicht selten mit Ungeduld auf das Finale des Mir geweihten Stündleins harren! Und käme da nur irgendein unbedeutendes Weltgeschäftlein dazwischen, so wird das Stündlein entweder gar kassiert oder wenigstens in eine solche Periode des Tages versetzt, in welcher sich schon gewöhnlich der wohltätige Schlaf über die Sterblichen senkt … Sehet, das alles ist Essig und Galle. Und es ist in euch dadurch nicht vollbracht, wenn Ich zufolge Meiner unendlichen Liebe alles erdenkliche tue, um euch auf den rechten Weg des Lebens zu bringen: denn zur Vollbringung in euch ist nötig, daß ein jeder sich selbst verleugne aus wahrer Liebe zu Mir, sein Kreuz auf sich nehme und Mir getreulich nachfolge." (Schrifttexterklärungen 5). Wenn wir uns keine Mühe geben, uns kennenzulernen, so können wir versichert sein, daß wir nicht wahr mit uns selbst sind. Es lastet auf fast jedermanns Gewissen ein dumpfes, unbestimmtes Gefühl, eine traurige Unklarheit über einen Teil der Lebensführung, und doch wollen wir dieses Gefühl nicht analysieren, es entlarven, um zu sehen, was daran ist. Obwohl wir es tun könnten! Stattdessen greifen wir zu Selbstberedung und Selbstberuhigung. "Ach, das ist eine schwierige Sache!" Warum sagen wir es nicht? "Ich bin gerade jetzt nicht vorbereitet!" Ja, ist es denn eine Sache, die Aufschub duldet? Nach 5 Minuten ehrlicher Selbsterforschung, wäre uns klar, was wir ändern müßten. Aber nein, diese Art geistlicher Führung ist für uns viel zu nüchtern und derb, ja, eigentlich roh und herzlos. Man darf das Pflaster nicht von unseren Wunden reißen. Nebel hat etwas Beruhigendes. So leben wir dahin mit einem halben Dutzend ernster Angelegenheiten, die ungeordnet, unklar und ungeprüft bleiben. Peinlich ist es, wenn uns andere durchschauen. Aber noch viel peinlicher ist es unserer armseligen Natur, uns selbst zu durchschauen, wenn wir die Achtung vor unserem Ich verlieren. Wir finden kaum jemanden, der nicht in seinem Herzen einen Winkel hätte, in den er sich mit Licht nicht hineintraut. Die Gründe hierfür sind so verschieden, wie unsere Seelen verschieden sind. Wir wissen, es wäre Schluß mit unserer Faulheit und Bequemlichkeit, mit unserem angenehmen Leben. Wir würden einer sehr widerwärtigen Sache gegenübergestellt, die uns vielleicht all die Unruhe und Last einer vollständigen inneren Umwälzung aufzwingt oder aber unser Gewissen in große Unruhe versetzt. So lassen wir

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die Vorhänge vor diesem Winkel unseres Ichs und sperren ab. Wie ein Zimmer mit unguten Erfahrungen. Aber glauben wir denn, daß der Vater diesen Ort nicht kennt? Wahrhaft ernst und echt zu sich und anderen sein, dazu gehört: Zu vermeiden unsere eigenen Handlungen zu besprechen und zu erklären. Warum? Fast nie bespricht jemand seine eigene Handlung oder erläutert seine Beweggründe, ohne dabei unwahr zu sein. Allein das Auslassen des Schlechten, macht die Darlegung des Guten zur Unwahrheit. (Beispiel: machen wir unsere Gebetsübungen bekannt, so sollten wir mit unserer Anhänglichkeit an hübschen Möbeln und gut sitzenden Kleidern nicht hinter dem Berge halten.) "… habt acht auf eure Frömmigkeit, daß sie nicht laut werde vor den Leuten". (Matth.6,1-3). Nie tun wir irgend eine Handlung allein aus einem Grund. Bei Anderen fällt es uns auf. Wir begeben uns in eine Lage, aus der wir ohne Schaden für unsere Aufrichtigkeit nicht wieder herauskommen. Es bringt uns aber niemand in diese Lage! Niemand bedarf unserer Erläuterungen über unser Tun. Es kümmert die anderen viel weniger, als wir gern glauben wollen. In Wirklichkeit steckt Eitelkeit und überhöhte Selbsteinschätzung dahinter. Wer andere täuscht, täuscht schließlich immer sich selbst. Die Ehrlichkeit gegenüber Gott. Wir wissen, daß Er uns völlig durchschaut. Wir wissen, daß unsere jämmerlichen Entschuldigungen und Ausflüchte in ihrer ganzen Häßlichkeit offen vor Ihm liegen. "Herr, du hast mich erforscht und erkannt, du erkennst meine Gedanken von ferne; da ist kein Wort auf meiner Zunge, das du Herr nicht schon wüßtest" (Ps. 139). Aber wir lassen dieses Wissen für uns im täglichen Leben nicht an die Oberfläche kommen. Es ist ein schlimmer Gedanke unaufrichtig mit Gott zu sein, und doch sind wir es in erschreckendem Ausmaß. "Herr, rette meine Seele vor Lügenlippen" (Ps. 120). "… darum ist das Reich fern von uns, denn zahlreich sind unsere Verbrechen, denn unsere Vergehen sind uns bewußt und unsere Sünde, die kennen wir." "… mit Lügenworten schwanger werden und sie aus dem Herzen sprechen". (Jes.59,13). "… denn Lüge machten wir uns zur Zuflucht, im Truge verbargen wir uns". (Jes. 28, 15).

Quellen der Selbsttäuschung Erstens, die Seltenheit verläßlicher Selbsterkenntnis. Wir haben den Wunsch, der Hölle zu entkommen, aber wie ernst ist es uns mit dem Wunsch, dem Vater zu gefallen, Ihm mit unserem falschen Tun nicht mehr weh zu tun? Unser geistiges Leben wünschen wir uns behaglich und bequem. Damit gehen wir am Wesentlichen vorbei in Selbstgefälligkeit und Eigenwilligkeit. Unsere Liebe zu uns selbst und unsere Liebe zur Welt hält in unserer Seele nahezu unerschöpfliche Möglichkeiten zum Bösen verschlossen. "… der Mensch wird geboren in Böses aller Art" (Swed.). Die geheime Kraft der Weltlichkeit liegt in unserer Unkenntnis über uns selbst! Es ist keine ahnungslose Unkenntnis, sondern Unkenntnis mit schlechtem Gewissen, das wir nicht zwingen wollen, die harte

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Nuß der Selbsterkenntnis zu knacken. "… die Selbstliebe bringt mit sich, daß man nicht geleitet werden will vom Herrn, sondern von sich selbst" (Swed.). Zweitens, das eigene Ich, das sich selbst betrügt. Eitelkeit ist hier die verbreitetste Ursache. Wir alle überschätzen uns auf die törichste Weise! Z.B. wenn wir uns in Gedanken über uns selbst aufhalten, beginnt sofort die Selbsttäuschung. Das eigene Ich sieht sich immer falsch! Über uns selbst nachzugrübeln führt uns auf einen neuen Weg zur Selbsttäuschung und zwar dadurch, daß wir fast ohne es zu merken unsere Gefühle mit der Wirklichkeit unsere frommen Wünsche mit Taten verwechseln! Die Selbstliebe versteht es mit viel Geschick, ihre Ideale und die Verwirklichung ineinander übergehen zu lassen, so daß niemand wissen soll, was Theorie und was Praxis ist. Weiter betrügen wir uns dadurch, daß wir das, was offenbar unrecht ist, beschönigen. Ein fortlaufender Kommentar heimlicher Selbstentschuldigung geht uns durch den Kopf. Wir geben zu, gewisse Handlungen oder Unterlassungen sind unrecht. Aber die Verhältnisse liegen bei uns ganz besonders, wodurch bei uns weniger unrecht ist als bei anderen. Manchmal hat unser Temperament Schuld, unsere Gesundheit, unsere Stellung. Manchmal sind wir gereizt worden. Wir begnügen uns mit leichter Rüge, blicken gleich auf die guten Seiten unseres Charakters und überhaupt: wer von uns ist schon ohne Fehl? Und damit sind wir beim Anderen und weg von uns. Mit dieser Methode der Selbsttäuschung, versuchen wir eine genauere Bekanntschaft mit unseren fadenscheinigen Motiven aufzuschieben. Wir haben so viel zu tun! Und es ist im geistlichen Leben immer unklug, sich mehr vorzunehmen, als man leisten kann. Wir haben so viele offenkundige Fehler zu bekämpfen, so eilt es nicht so sehr mit gründlicher Selbstprüfung. "… denn das sich zu allen Sünden bekennen ist ein Einschläfern aller und ein sich Verblenden" (Swed.). Drittens, man läßt sich von außen durch Dinge oder Personen täuschen. Wir sind mindestens doppelt so lobsüchtig, als wir wahr haben wollen! Wenn wir auf Lob ausgehen oder uns doch unmißverständlich darin sonnen, so lassen wir uns durch andere täuschen, oft ohne deren Schuld. Die Gier nach Lob ist selbst in den Demütigsten noch unbegreiflich stark. Wir bekümmern uns fast gar nicht um die Qualität des Lobes. Wie durstige Kamele in der Wüste das schmutzigste Wasser mit Wonne trinken! Wir geben dem Lob eine Bedeutung, die uns tief beschämen sollte! Wir bringen andere dazu, uns zu täuschen, durch die Art, wie wir mit ihnen über uns selbst sprechen. Dies gilt besonders bei frommen Gesprächen und dem Gerede über unseren Charakter. Hier gibt es nur eine Alternative: Unser inneres Leben viel mehr geheim zu halten oder es viel schrankenloser zu offenbaren. Der Mittelweg bedeutet lügen. Das Richtige: überhaupt nicht über sich selbst sprechen! Doch es gibt kaum eine schwierigere Übung christlicher Vollkommenheit, als solches Gerede zu lassen, Wir machen die Leute glauben, daß wir viel edler sind als in Wirklichkeit und veranlassen sie so zu Lob und Bewunderung.

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Das ist Selbstbetrug in höchster Form. Auch geistige Bücher sind äußere Dinge, die uns unecht machen können. Heldenhafte Gedanken sind ansteckend, aber sie versagen den Dienst für heldenhaftes Tun. Sie geben unserer Religiösität nur eine sentimentale Note. "… da aber das Tun doch immer noch etwas Ernsteres ist als das alleinige Lesen selbst des ernstesten Buches, so erklärt sich die Sache von selbst, mit welcher Schwierigkeit da das Tun wird zu kämpfen haben. Es ist leicht das Hören, und nicht schwer das Lesen und ebenso leicht das Zuschauen; aber das Selbsttun ist für jedermann von keinem großen Reize. Was nützt aber jemandem das Wissen und Nicht-Tun-danach?!" (Lorber) Wenn ein geistliches Buch uns nicht demütigt und niederhält, so bläht es uns auf und macht uns unecht.

Zur Vielfältigkeit der Selbsttäuschung Eine Art von Selbsttäuschung ist die der Selbstzufriedenheit. "Lauter bin ich, ohne Vergehen. Rein bin ich und habe keine Schuld. An meiner Gerechtigkeit halte ich fest und werde sie nicht fahrenlassen" (Hiob). Mancher hat einen so starken Glauben an sich selbst, daß kein Fehltritt, kein Mißerfolg ihn erschüttern kann. Jeder Mißerfolg hat eine äußere Ursache. War diese oder jene Tat auch nicht das Beste, das zu tun war, so waren doch Ort und Zeit und Umstände so, daß es irgendwie doch das Beste war. Für ihn gibt es nur Zeichen der Vorsehung. Ja, seine Angelegenheiten sind die Endzwecke Gottes. Eine weitere Form der Selbsttäuschung ist die Kritisiersucht. Es gibt Menschen, die immer so sicher sind, recht zu haben, daß sie sich als Maßstab aufstellen, andere zu beurteilen. So fest ist ihr Selbstvertrauen. Faber warnt: "… das Herz wird kalt, wenn es der Mensch nicht dadurch warm hält, daß er in ihm lebt; ein kritischer Mensch lebt meistens außerhalb seines Herzens". Selbsttäuschung, die keinen Rat annimmt. Meistens sind es schweigsame Menschen, äußerlich ist kein warnendes Anzeichen von Selbstsucht zu erkennen. Ihren Eigendünkel und Eigenwillen halten sie für kluge Zurückhaltung aufgrund ihrer Selbsttäuschung, die sich nicht beraten lassen will. Es gibt auch Selbsttäuschung, die in einem fort Rat sucht und noch schlimmer: bei jedermann. Es sind jene, die immerwährend etwas unternehmen und nie etwas zuwege bringen. Ihre Sucht nach Beratung ist eine Art Eigendünkel. Hat man je einen schwachen Menschen gesehen, der nicht zugleich sehr eingebildet war? Je mehr er fragt und sich mitteilt, um so mehr nimmt die Unehrlichkeit zu. Er wirft sich mit jedem Wort Sand in die eigenen Augen. Je eigensinniger er wird, um so mehr glaubt er an seine eigene Lenkbarkeit. Am Ende herrscht völlige Selbstunkenntnis. Selbsttäuschung tritt auch in der Form von Ehrgeiz auf. Mit einem Satz hat er die Anfangsstadien des geistlichen Lebens genommen und ist in hohe Dinge hineingesprun-

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gen. Er hat seine Seele mit Mystik genährt, und sie dabei verhungern lassen; gewöhnliche Frömmigkeit hätte ihr so gut getan. Er fing an, die Heiligen in dem nachzuahmen, was unnachahmlich ist und endet damit, das religiöse Leben entmutigt aufzugeben. Anfänglich gierte er nach Übernatürlichem und schließlich findet er die gewöhnlichen Übungen des Glaubens schwierig. Die Selbsttäuschung durch falsche Demut. Jedermann fühlt, daß die Demut in besonderer Weise die Tugend der Vollkommenheit ist und jeder will sie erwerben. Wir fangen an, abfällig von uns zu reden (glauben aber nicht im geringsten daran!) Diese Selbstanklagen neigen dazu, geistige Blindheit zu erzeugen. Diese künstliche Selbsterniedrigung bringt uns dahin, daß wir uns im Dienste Gottes nur an Niederes heranwagen. Der Mensch bleibt hinter den Absichten Gottes zurück. Selbsttäuschung untergräbt und zerstört die volle Entfaltung des Menschen. So armselig diese Selbsttäuschung auch ist, hat sie doch ihren Stolz! Es gibt nun vielfältige Kreuzungen bei diesen Arten der Selbsttäuschung. Man verstrickt sich in nichts auf der Welt so sehr wie in Selbsttäuschung. Alle Formen sind schnell um sich greifende Krankheiten. "Solche, die sich nicht prüfen, sind mit Kranken zu vergleichen, bei welchen das Blut infolge der Verstopfung der kleinsten Gefäße verdorben ist" (Swed.). Man braucht ein gewisses Maß frommen Mutes, diese widerliche Erscheinung unserer gefallenen Natur immer genauer kennenzulernen. "Die Selbstliebe als der erbittertste Feind Gottes und seiner Vorsehung, diese wohnt im Innern eines jeden Menschen von Geburt an. Wenn du sie nicht erkennst - und sie will nicht erkannt werden - so wohnt sie in Sicherheit und bewacht die Pforte, daß diese nicht vom Menschen geöffnet - und die Selbstliebe dann vom Herrn ausgetrieben werde. Die Pforte wird vom Menschen dadurch geöffnet, daß er das Böse als Sünde flieht wie aus sich" (Swed.). Daß der Mensch selbst öffnen muß, erklärt der Vater in der Heiligen Schrift: "Ich stehe vor der Tür und klopfe an, wenn jemand Meine Stimme hört und die Tür auftut, so will Ich zu ihm eingehen und Abendmahl halten." Wir müssen die vielen Arten der Selbsttäuschung auch als festes Ganzes betrachten und dabei fällt auf: ihre unbegrenzte Macht! Andere Versuchungen haben ein begrenztes Feld. Selbsttäuschung muß mehr sein als eine Versuchung. Versuchungen stellen sich unter bestimmten Umständen ein, und diese Umstände verkünden uns die kommende Versuchung. Selbsttäuschung ist überall. Sie leitet zu bestimmten Vorgehen an, gibt Beharrlichkeit dazu. Sie ist der Erdboden, der Untergrund für unsere Handlungen und sie überwölbt sie wie das Firmament. Sie lobt und fördert die Eigenliebe, sie leitet das Gewissen irre, sie ist nie müde, immer in unserer Gesellschaft.

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Das zweite Merkmal: ihre Geschicklichkeit, den Schein des Guten anzunehmen. Es ist nicht nur ein geschicktes Sich-Drapieren mit den Gewändern der Tugend. Sie trägt sie beständig! Sähe man ihr die Bosheit an, niemand würde sich täuschen lassen. Die Selbsttäuschung läßt uns Teufelswerk tun im Glauben es sei Gotteswerk! "Selbstsucht, die wohl zum Scheine mit dem Lämmergewand der Liebe angetan, inwendig aber ein reißender Wolf ist, der am Ende alles Edle im Herzen und den Geist zu erdrücken strebt" (Lorber). Heuchelei hat nur ein kurzes Dasein, es sei denn, daß sie mit einem gewissen Maß Frömmigkeit gepaart ist. Selbsttäuschung hält sich mit Absicht in der Nachbarschaft des Guten, um warmgehalten und gepflegt zu werden. Ein drittes Merkmal für die Selbsttäuschung: sie nimmt mit dem Alter zu. Je mehr sich das Leben weitet, um so mehr weiten sich unsere Anlagen zur Selbsttäuschung. Noch ein Merkmal: es gibt ein Ding, und nur dies eine, neben dem die Selbsttäuschung beinahe nicht bestehen kann: Nachhaltiger Schmerz über die Sünde - die Reue. Und eine schwache Stelle hat die Selbsttäuschung: es schmerzt sie, wenn man sie berührt. Die Berührung schädigt sie nicht, aber sie zuckt unter ihr zusammen, und durch ihre Empfindlichkeit bei Berührung, verrät sie sich. Wir haben alle gewisse Eigenheiten, Gewohnheiten, Haltungen in unserem Benehmen; tadelt man sie, ärgern wir uns. Aber warum bleiben wir ganz ruhig, beim Tadel einer bestimmten Unart, und warum fliegen wir wie Schießpulver in die Luft, wenn eine andere berührt wird? Gewöhnlich verrät sich hier die Selbsttäuschung. Je tiefer wir uns in die Erkenntnis unserer eigenen Unwahrhaftigkeit versenken, um so näher kommen wir der erhabenen Wahrhaftigkeit Gottes. Die Erkenntnis unserer Selbsttäuschung kommt einer Heilung am nächsten. So ist großes Mißtrauen gegen sich selbst ein erstes Heilmittel, aber es muß ins Einzelne gehen. Wir müssen uns die Überzeugung beibringen, daß wir dann am sichersten im Unrecht sind, wenn wir ganz sicher sind, im Recht zu sein. Ein weiteres Heilmittel ist das Betrachten der Eigenschaften Gottes. Was wir häufig betrachten, ahmen wir unbewußt nach. Unsere große Chance: wir sind in das Bild Gottes und in Seine Ähnlichkeit geschaffen. Sein Bild liegt in uns, es muß nicht erst geprägt werden. Origenes nennt dafür folgendes Gleichnis: Das Bild Gottes in der Seele Grund ist wie ein lebendiger Brunnen. Wenn jemand Erde, das ist irdisches Begehren, darauf wirft, so hindert und bedeckt es ihn, so daß man nichts von ihm erkennt. Gleichviel bleibt er in sich lebendig und wenn man die Erde wegnimmt, so kommt er wieder zum Vorschein. Origenes nimmt dies aus 1. Mose 26: "Abraham grub in seinen Acker lebendige Brunnen, die Philister verstopften sie und füllten sie mit Erde … und Isaak grub die Brunnen wieder aus und sie fanden Brunnen mit lebendigem Wasser". "Und das Licht

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scheint in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfaßt" (Joh 1). Auch in unsere Finsternis scheint sein Licht. Was wird uns wahr machen? "Die Selbstliebe bewacht die Pforte, daß diese nicht vom Menschen geöffnet wird und der Herr die Selbstliebe austreibt. Die Pforte wird vom Menschen dadurch geöffnet, daß er das Böse als Sünde flieht … Die Erkenntnis der Sünde und die Selbstprüfung sind der Anfang der Buße und die Buße ist das erste der Kirche beim Menschen. Aber Buße ist nicht seufzen und stöhnen, auch eine gewisse Zerknirschung ist nicht Buße! Buße ist nicht möglich ohne Selbstprüfung. Das Böse kann nicht entfernt werden, wenn es nicht zur Erscheinung kommt; das heißt nicht, daß der Mensch das Böse tun solle, sondern daß er sich prüfen soll. Sich prüfen heißt: das Böse anschauen, anerkennen, bekennen und davon abstehen. Damit sich der Mensch prüfen kann, ist ihm der Verstand gegeben und zwar getrennt von seinem Willen, auf daß er wissen, verstehen und anerkennen möge, was gut und was böse ist und wie sein Wille beschaffen ist" (Swed.). "Wer seine Seele finden will, der wird sie verlieren, und wer seine Seele verliert um Meinetwillen, der wird sie finden" (Matth 10). Auch das Gleichnis vom Unkraut im Acker bei Matthäus 13 weist auf unsere Aufgabe hin: es ging ein Mann aus und säte guten Samen auf den Acker und es ging der gute Same auf, aber mit ihm wuchs auch viel Unkraut auf dem Acker. Daß der Mann in diesem Gleichnis der Vater ist und sein Wort der gute Same und der Acker unsere Seele, ist uns erklärt. Es ist nun unsere Aufgabe, freien Boden zu schaffen, für den eingepflanzten guten Samen. Aber ohne seine Hilfe ist uns nichts möglich. "Ohne Mich könnt ihr nichts tun". Das Bild von der Fußwaschung haben wir uns an dieser Stelle betrachtet. "Wenn Ich dich nicht reinige, so hast du keinen Teil an Mir", sagt Jesus zu dem Jünger. "Erforsche dein Herz an jedem Tag, und findest du dann eine andere Liebe und Neigung in ihm als die zu mir, so rufe Mich und zeige mir dein Herz, und Ich werde es sogleich reinigen für Mich und jede unlautere Begierde und Lust aus dir treiben" (Lorber). "Wahrlich, wahrlich Ich sage euch, wer nicht durch die Tür in den Schafstall eingeht (der Schafstall ist die Kirche des Herrn) … Ich bin die Tür und wer durch Mich eingeht wird selig werden und Weide finden". (Joh 10). "Fürchte dich nicht, denn Ich habe dich erlöst! Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist Mein. Wenn du durchs Wasser gehst, Ich bin bei dir, und durch Ströme, sie werden dich nicht überfluten. Wenn du durchs Feuer gehst, wirst du nicht versengt werden, und die Flamme wird dich nicht verbrennen" (Jes 43). Durchs Wasser unseres Eigensinnes und durchs Feuer unserer Eigenliebe müssen wir gehen - aber: "Fürchte dich nicht, denn Ich bin bei dir" (Jes 43).

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Emanuel Swedenborg Hieroglyphischer Schlüssel zu den natürlichen und geistigen Geheimnissen mittels Repräsentationen und Entsprechungen übersetzt von Thomas Noack Vorbemerkung. Der Originaltitel lautet, Clavis hieroglyphica arcanorum naturalium et spiritualium per viam repraesentationum et correspondentiarum. Die Handschrift im Codex 79 wird in The Royal Swedish Academy of Scienes (Kungliga Vetenskapsakademien), Stockholm aufbewahrt, wo meine Frau und ich sie anlässlich einer Studienreise im Jahre 1992 einsehen konnten. Das Werk wurde 1784 von Robert Hindmarsh in London veröffentlicht und bisher nur in die englische, schwedische und französische Sprache übersetzt. Es besteht aus einundzwanzig sogenannten "Beispielen", in denen Swedenborg ähnliche Phänomene auf unterschiedlichen Ebenen betrachtet. Dem schließen sich im Idealfall drei Abschnitte an, nämlich erstens Reflexionen über die in den Beispielen vorgestellten Entsprechungen, zweitens Bestätigungen der in den Beispielen gemachten Aussagen und drittens die Formulierung einiger Regeln. Dieser Dreischritt stellt, wie gesagt, den Idealfall dar, der aber nicht immer vollständig durchgeführt wird. Swedenborg schrieb diesen "Hieroglyphischen Schlüssel" 174436, also gegen Ende seiner Krisen- und Übergangszeit vom Naturforscher zum Seher. Beim Nachdenken über seine Träume, die er schon von 1736 bis 1740 hatte, jedoch sind nur jene der Jahre 1743 bis 1744 aus dem bekannten Traumtagebuch erhalten, konnte er die sich in ihm formende Lehre von den Entsprechungen und Repräsentationen anwenden. In seinem Werk "Die Seele" bekundet Swedenborg 1741 seine Absicht einen "Schlüssel zu den natürlichen und geistigen Geheimnissen mittels Entsprechungen und Repräsentationen" zu schreiben, "der uns schneller und sicherer in die verborgenen Wahrheiten führt" und eine Lehre darstellt, "die der Welt bisher unbekannt war" (De Anima 567). 1744 schrieb er dann besagten "Schlüssel", der wenig oder nichts mit den ägyptischen Hieroglyphen zu tun hat, dafür aber einen ersten Entwurf jener Wissenschaft der Entsprechungen enthält, die dem erleuchteten Bibelforscher und Seher geistiger Welten später klar und ausgereift vor Augen stand. Im "Hieroglyphischen Schlüssel" ist alles noch Rohmaterial, auch die Terminologie ist noch im Werden, tastend, gleichwohl von der Ahnung geleitet, daß auf diesem Wege adamisches Wissen zu finden sei, formuliert der spätere Seher erstmals Gesetze der Grammatik des Geistes. In den "Himmlischen Geheimnissen", dem ersten ganz aus der Erleuchtung geschriebenen Werk der Jahre 1749 bis 1756, wird von ihnen kaum noch die Rede sein; nur der aufmerksame Leser dieses monumentalen Werkes entdeckt auch dort noch die Spuren und Reste jener einstigen Suche nach den 36

Datierung nach W. R. Woofenden, Swedenborg Researcher's Manuel, 1988, 55.

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Regeln der königlichen Wissenschaft der Entsprechungen. Der Seher sieht, der Schüler aber studiert. Im Jahre 1744 ist Swedenborg noch der Schüler, der die Grammatik des Geistes lernen will, der zwar schon ahnungsreich weiß, daß alles sinnlich Sichtbare eine verzweifelte Ähnlichkeit mit den ägyptischen Hieroglyphen hat, die damals noch nicht entziffert waren, dem aber die Tür in die inneren Geheimnisse noch nicht wirklich aufgetan wurde. Wagen wir also einen Blick in das Schulheft eines Pioniers der Entsprechungswissenschaft. Im Folgenden lesen wir die Übersetzung der ersten drei Beispiele.

Auszug aus dem Manuskript "Clavis hieroglyphica" in Emanuel Swedenborgs Handschrift.

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Erstes Beispiel37 So lange die Bewegung andauert, dauert auch das Streben (conatus), denn das Streben ist die bewegende Kraft in der Natur. Das Streben allein ist aber eine tote Kraft. So lange sich die Tätigkeit fortsetzt, setzt sich auch der Wille fort, denn der Wille ist das Streben des menschlichen Geistes (mentis) nach Tätigkeit. Aus dem Willen allein folgt jedoch keine Tätigkeit. So fortdauernd wie die göttliche Wirksamkeit, ist auch seine Vorsehung, denn die Vorsehung ist der göttliche Wille, wirksam zu sein. Aus der Vorsehung allein folgt aber keine Wirksamkeit. Die folgenden Begriffe entsprechen einander: 1. Bewegung, Tätigkeit und Wirksamkeit. Tätigkeit wird allerdings auch der Natur zugeschrieben, weswegen man anstelle von Bewegung auch Tätigkeit hätte setzen können. Aber Tätigkeit fließt genau genommen aus einem Anfang, der von sich aus tätig sein kann bzw. dem ein Wille innewohnt, also aus dem menschlichen Geist. Tätigkeit, häufiger aber Wirksamkeit, sagt man gewöhnlich auch von der göttlichen Vorsehung aus, auch wenn das kein spezifisch geistiger Begriff ist. 2. Streben, Wille und Vorsehung. Weil (die Bewegung) auf ein Streben hinausläuft, ist (Streben) ein bloß natürlicher Begriff. Der Wille hingegen gehört zum vernunftbegabten Geist und die Vorsehung zum alleinigen Gott. Daß Wille und Streben einander entsprechen, möge man im Abschnitt über den Willen nachschauen. Daß aber auch die Vorsehung (in diesem Entsprechungszusammenhang steht), ergibt sich aus folgender Überlegung: So wie der Wille die gesamte menschliche Tätigkeit in sich schließt, so schließt die Vorsehung die gesamte göttliche Wirksamkeit bzw. seinen allumfassenden Willen in sich. 3. Natur, menschlicher Geist und göttlicher Geist bzw. Gott. In der ersten Klasse (classe)38 sind alle Begriffe enthalten, die rein natürlich sind; in der zweiten alle vernunft- und verstandesbezogenen, daher auch die sittlichen, folglich alle den menschlichen Geist betreffenden; in der dritten die theologischen und göttlichen. Deswegen entsprechen diese Begriffe einander. Bestätigung der Leitsätze: 1. Daß die Bewegung so lange andauert wie das Streben ist ein allgemeiner Lehrsatz der Philosophen, denn sie sagen, in der Bewegung sei nichts Reales außer das Streben vorhanden. Außerdem sei die Bewegung ein ständiges Streben. Anstelle von Bewegung kann man auch Tätigkeit setzen, und zwar eine rein natürliche Tätigkeit, die aus einer Kraft hervorgeflossen ist oder eine Wirkung zur Folge hat. 37

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Beachtenswert ist, dass Swedenborg von Beispielen ausgeht. Er will seinen "Hieroglyphischen Schlüssel" also nicht aus der Vernunft ableiten, sondern will von Erfahrungen ausgehen. Swedenborg spricht hier noch von "Klassen", später wird er bevorzugt von "Graden" reden, wenngleich der erstgenannte Begriff in den Himmlischen Geheimnissen noch vorkommt.

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2. Das Streben ist die bewegende Kraft in der Natur: Einem philosophischen Grundsatz (Axioma philosophicum) zufolge besteht eine Kraft in einem ununterbrochenen Streben nach Tätigkeit und ist der Anfang der Tätigkeiten und Veränderungen. Daraus folgt, daß die bewegende Kraft in einem unaufhörlichen Streben nach Veränderung des Ortes besteht. 3. Daß das Streben ohne Bewegung eine tote Kraft ist, folgt auch aus einer der Wolff'schen Regeln, wonach nämlich eine Kraft tot ist, die nur im Streben besteht, und eine lebende Kraft mit örtlicher Bewegung verbunden ist. 4. Was den Willen anbelangt, und zwar den menschlichen, der von einem vernunftbegabten Geist herkommt, der seinerseits Quelle der vernunftbegabten Tätigkeit ist, (muß folgendes gesagt werden): Es gibt auch beseelte Tätigkeiten (actiones animales), die aus einem Willen hervorfließen, der dem vernunftbegabten Willen ähnlich ist. 5. Daß die Vorsehung nicht wirkkräftig gegeben wird, ist aus den Heiligen (Schriften) ersichtlich, denn der menschliche Geist ist es, der die gesamte göttliche Macht zurückstößt. Man kann aber nicht sagen, die Vorsehung sei säumig, nur weil sie nicht aufgenommen werde. Wie ja auch der Wille nicht säumig ist, wenn auch die Tätigkeit noch so sehr ausbleibt. Regeln: 1. Die erste Klasse nenne ich die natürliche; die zweite die Klasse der vernunftbegabten Lebewesen, sie umfaßt auch die sittlichen Gegenstände; und die dritte nenne ich die Klasse der geistigen oder theologischen Sachverhalte. 2. Die erste Materie (Materia principalis) darf nicht durch dieselben Begriffe ausgedrückt werden, sondern durch andere, einer jeden Klasse eigentümliche, wie diese: Streben, Wille, Vorsehung. 3. Und zwar durch solche Begriffe, die beim ersten Hinschauen (primo intuitu) nicht dasselbe zu bezeichnen oder darzustellen scheinen. Man begreift nämlich nicht sofort, daß der Wille dem Streben und die Vorsehung dem Willen entspricht; und daß der vernunftbegabte Geist der Natur und Gott dem vernunftbegabten Geist entspricht usw. 4. Die rein natürlichen Begriffe müssen durch etwas verstandesbezogenere natürliche Begriffe erklärt und definiert werden. Aber die Begriffe der vernünftigen Klasse müssen durch Begriffe der natürlichen Klasse definiert werden und ebenso die Begriffe der theologischen Klasse durch Begriffe der vernünftigen Klasse. So wird das Streben durch die Kraft des Tätigseins definiert, der Wille durch das Streben des menschlichen Geistes nach Tätigkeit und die Vorsehung durch den göttlichen Willen nach Wirksamkeit usw. 5. In vielen Fällen darf man dieselben und ähnliche Begriffe in den einzelnen Klassen anwenden, andernfalls würde man das Denken allzusehr verdunkeln. Begriffe wie "so lange", "andauern", "sich fortsetzen", "allein", "ist", "folgt" und "und" sind nämlich keine wesentlichen Begriffe. Und könnte man sie auch in andere, der jeweiligen Klasse eigentümliche umwandeln, so ist es dennoch besser die gewohnten Begriffe dem Verständnis zuliebe beizubehalten. 6. Ferner (darf man) die eine Formel der einen Klasse (in der anderen Klasse) durch mehrere Begriffe und durch Umschreibung ausdrücken, wie diese Formel: Das Streben allein ist eine tote Kraft. In den folgenden Klassen heißt

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das: Der Wille allein ist ein Streben, dem keine Tätigkeit folgt. D. h. "keine Tätigkeit" oder "Untätigkeit" ist dasselbe wie "tote Tätigkeit", was aber ungeschickt klingt. So verhält es sich auch in der dritten bzw. theologischen Klasse.

Zweites Beispiel In der ganzen Natur ist ein wirkendes Prinzip vorhanden, das dem Streben der Natur eingepflanzt ist. Daher bestimmt die Beschaffenheit dieses Prinzips die Beschaffenheit der Möglichkeit des Wirkens, und die Beschaffenheit der Möglichkeit die des Strebens, und die des Strebens die der Bewegung und daher die der Ursache. In jedem menschlichen Geist ist die Vorstellung und die Liebe zu einem Endzweck vorhanden, die dem Willen des Geistes eingepflanzt ist. Daher bestimmt die Beschaffenheit der Liebe die des Verlangens, und die des Verlangens die des Wohlwollens und des Willens, und die des Willens die der Tat und schließlich die der Erreichung des Endzwecks. Es gibt eine allerreinste Liebe zu uns und für unser Heil, das der Endzweck der Schöpfung ist. Sie ist Gottes Vorsehung eingepflanzt. Daher bestimmt die Beschaffenheit dieser Liebe die seiner Gnade und Vorsehung, und die der Vorsehung die der Wirksamkeit und die unseres Heils, welches der Zweck aller Zwecke ist. Höchst vollkommen ist die Ordnung und die Welt der Gegenstände (mundus repraesentativus), wenn die Vorsehung Gottes, der Wille und die Absicht (Endzweck) des menschlichen Geistes und das Streben und die Wirkung der Natur übereinstimmen. Unvollkommen ist dagegen die Ordnung und die Welt, wenn sie nicht übereinstimmen; und zwar genauso unvollkommen wie das Ausmaß der fehlenden Übereinstimmung. Die folgenden Begriffe entsprechen einander: 1. Das wirkende Prinzip, die Vorstellung eines Endzwecks und die Liebe zum Schöpfungszweck, unserem Heil in Gott. Auf den ersten Blick scheint etwas anderes als die Liebe in Gott dem wirkenden Prinzip in der Natur zu entsprechen. Da aber Gott Anfang und Ende von allem ist, kann man in Gott keinen Anfang angeben, es sei denn ihn selbst. Seiner Vorsehung kann man aber einen Anfang zugestehen, denn sie ist eine werktätige Kraft. Dieser Anfang kann jedoch nichts anderes sein als seine reinste Liebe zum Menschen und für dessen Heil, dem Zweck der Schöpfung. 2. Wirkung, (End)zweck und Zweck der Zwecke bzw. Seelenheil. Die Wirkung gehört in den Bereich der Natur, der Zweck aber in den des menschlichen Geistes, denn der Geist betrachtet eher die Zwecke als die Wirkungen und diese dann nur als werkzeugliche Ursachen zur Verwirklichung des Zweckes. Das rein Menschliche besteht darin, aus einer Wirkung auf den Zweck zu schließen, d.h. allein aus der Gegenwart der Dinge weise zu sein, und außerdem nichts Zukünftiges zu beurteilen. Aber im Menschengeist sind nur Teilzwecke vorhanden und erkennbar. Der Zweck der Zwecke bzw. der allumfassende Zweck ist allein Gottes Sache. Diesen Zweck gilt es zu beschrei-

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ben, um ihn zu verstehen. Er besteht in der himmlischen Gesellschaft der Seelen, d.h. im Heil des menschlichen Geschlechts. 3. Möglichkeit, Wohlwollen und Gnade. Bekanntlich sagt man Wohlwollen vom Menschen und Gnade von Gott aus. Aber was soll man in der Natur als Entsprechendes annehmen? Zweifellos die mehr oder weniger große Möglichkeit, die Geneigtheit oder Bereitschaft zum Wirken, d.h. die Leichtigkeit, von der auch die Möglichkeit abgeleitet wird, die ansonsten "Macht", "Vermögen" usw. bezeichnet. Bekräftigung der Leitsätze: 1. Daß die Natur ein wirkendes Prinzip ist, kann man den Philosophen entnehmen, welche die Natur bestimmen. Chr. Wolff sagt, die allumfassende Natur oder die Natur wurde schlechthin ein Anfang der Veränderungen in der Welt genannt. Die Natur ist eine aktive Kraft, eine Bewegerin oder etwas den bewegenden Kräften Beigeselltes, d.h. dem Streben Beigeselltes, denn das Streben besteht in einer Kraft, so daß das erwähnte Prinzip dem Streben eingepflanzt sein muß. Auch Aristoteles sagt, daß Gott und die Natur nichts vergeblich machen, sondern alles um eines Zweckes willen. Somit gehören das wirkende Prinzip und die Wirkung der Natur an, der Zweck hingegen Gott. Zweck und Wirkung zugleich gehören jedoch dem Menschen an. 2. Daß die Liebe zu einem Zweck dem Willen des menschlichen Geistes eingepflanzt ist, ist hinlänglich bekannt, denn der Wille kommt praktisch nicht zur Erfüllung, wenn nicht irgendein Anreiz der Liebe oder das Verlangen nach einem Ziel vorhanden ist. Doch vergleiche die Stelle über den Willen. 3. Daß in Gott allein der Zweck vorhanden ist und daß die Natur aus eigener Kraft zur Hervorbringung der Zwecke durch Wirkungen hineilt, kann man der Tatsache entnehmen, daß Gott über der Natur ist und mit ihr nichts gemein hat. Die Natur ist nämlich zur Hervorbringung der Zwecke der göttlichen Vorsehung geformt und geschaffen worden, was die Ursache der Entsprechungen und Repräsentationen ist. Der Schöpfungszweck kann kein anderer sein, als eine allumfassende Gesellschaft der Seelen, die Gott als den Endzweck von allem erkennt. Regeln: 1. Zwei Prüfungsarten geben uns zu wissen, ob wir die Wahrheit begriffen haben: Ob die physische Wahrheit in der ersten Klasse tatsächlich enthalten ist, zeigt sich in der zweiten und dritten, der sittlichen und theologischen Klasse. Und ob die sittliche Wahrheit (in der zweiten Klasse enthalten ist), zeigt sich in der physischen und theologischen Klasse. Denn alles muß übereinstimmen und harmonieren, die Wahrheit an sich bekräftigen, da nämlich ein Entsprechungsverhältnis vorliegt. Wird es irgendwo verletzt, dann ist das kein Zeichen der Wahrheit, sondern des Irrtums. 2. Noch eine andere Prüfung tritt hinzu. Weil offenbar die Inhalte der drei Klassen so übereinstimmen können, daß sie neben sich gestellt eine vierte Wahrheit hervorbringen - wie diese: die Welt der Gegenstände ist vollkommen -, deswegen stimmen die Vorsehung Gottes, Wille und Absicht des Menschengeistes und Streben und Wirkung der Natur überein. So ist das eine das Urbild (exemplar), das andere das Abbild (typus) und das dritte das Nach-

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bild (simulacrum). Alles Göttliche ist urbildlich, die intellektuellen, sittlichen und bürgerlichen Dinge sind Abbilder und Bilder, die natürlichen und physischen Dinge hingegen sind Nachbilder. Daher werden sich die Urbilder, die Abbilder und die Nachbilder vollständig darstellen. Auch besteht ein gegenseitiges Entsprechungsverhältnis und Harmonie, denn eines wird vom anderen anerkannt und anerkennt es als etwas dieses eine im Auge Habende.

Drittes Beispiel Es gibt keine Bewegung ohne Streben, aber Streben ohne Bewegung. Wenn nämlich das gesamte Streben in offene Bewegung ausbräche, ginge die Welt zugrunde, denn es gäbe kein Gleichgewicht. Es gibt keine Tätigkeit ohne Willen, aber Willen ohne Tätigkeit. Wenn der gesamte Wille in offene Tätigkeit ausbräche, ginge der Mensch zugrunde, denn es gäbe keine Waage der Vernunft, keine Mäßigerin. Es gibt keine göttliche Wirksamkeit ohne Vorsehung, aber mit Sicherheit eine Vorsehung, die nicht werktätig oder wirkend ist. Wenn die gesamte Vorsehung wirkend am Werke wäre, könnte die menschliche Gesellschaft nicht bestehen bleiben, wie sie ist, denn es gäbe keinen wahren Gebrauch der menschlichen Freiheit. Entsprechungen: 1. Welt, Mensch, menschliche Gesellschaft. Denn der Mensch wird ein Mikrokosmos, eine kleine Welt, genannt; und die menschliche Gesellschaft eine große Welt, französisch Le monde. Damit es eine Welt gibt, ist eine Natur erforderlich; damit es einen Menschen gibt, ist ein vernunftbegabter Geist erforderlich; damit es eine menschliche Gesellschaft gibt, muß es Gott geben. Was das Göttliche ist, erkennt man in der menschlichen Gesellschaft und ganz besonders in der umfassendsten Gesellschaft, der himmlischen Seelengesellschaft. 2. Gleichgewicht, Waage der Vernunft bzw. die Vernunft als Mäßigerin, wahrer Gebrauch der Freiheit. Vieles bändigt und beschränkt den menschlichen Willen, so daß er nicht in offene Tätigkeit ausbricht. Es gibt Zügel und Widerstände verschiedenster Art: Unschickliches, Unehrenhaftes, verschiedene Liebesarten und Leidenschaften, von denen eine die andere zügelt, Furcht, Notwendigkeiten, Unmöglichkeiten. Damit daher im Geist ein Gleichgewicht herrscht, ist die mäßigende Vernunft, die Klugheit oder wägende Vernunft, erforderlich. Außerdem entspricht auch noch die Gerechtigkeit dem Gleichgewicht, aber nur wo das Gerechte und Ungerechte Gegenstand der Rede ist. Der wahre Gebrauch der Freiheit ist das eigentliche Gleichgewicht der menschlichen Gesellschaft, der Mißbrauch hingegen ist die Zerstörung des Gleichgewichts. Regierungsformen, Herrschende, Untergebene, Strafen und Auszeichnungen gibt es einzig und allein zur Zügelung der Freizügigkeit und zur Beschränkung, damit man die gestattete Freiheit wahrhaft hat. Wenn nämlich der göttliche

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Wille absolut herrschte, dann gäbe es keine Freiheit der jetzigen Art. Und ohne Freiheit gäbe es auch das eigentlich Menschliche nicht. Daher würde auch die Gesellschaft nicht bleiben wie sie ist. Siehe Freiheit. Bekräftigung der Leitsätze: 1. Daß die Welt zugrunde ginge, wenn das gesamte Streben in offene Bewegung ausbräche, hat folgenden Grund: In der ganzen Welt gibt es keine Substanz, der nicht die Kraft und das Streben nach Tätigkeit, d.h. ihre Natur, innewohnt. Das gilt sogar für die schwereren Körper und Elemente. Daß sich die atmosphärischen Teile ausbreiten wollen, ist bekannt. Aber daß sich die unteilbaren (Teilchen) gegenseitig zusammen und in Schranken halten - woher das Gleichgewicht kommt -, (ist ein Prinzip), das ebenso die Teile wie das Ganze betrifft. 2. Ähnlich verhielte es sich mit der Vernunft, wenn der ganze Wille in offene Tätigkeit ausbräche. Dann ginge nämlich der Mensch verloren, oder: es gäbe keinen vernunftbegabten Geist, denn der Mensch ist nur insoweit da als der vernunftbegabte Geist da ist. Das Menschliche besteht daher darin, seine Begierden und die unsinnigen Anstrengungen, sie auszuleben zügeln zu können. Wäre daher der Mensch dieser Machtmöglichkeit beraubt, er hörte gänzlich auf zu existieren. Außerdem sind die inneren Empfindungs- (sensoria interna) oder besser Bewegnerven (motoria), wie auch die Körpermuskeln so zusammengestellt, daß ein gemeinsames Gleichgewicht aller Teile besteht, wenn alles zugleich auf eine Tat hinausläuft. Tätigkeit fließt nämlich überreichlich aus einer größeren, aus Teilen bestehenden Kraft unter einer gemeinsamen Kraft. 3. Daß die Vorsehung Gottes nicht wirksam bzw. wirkend in Erscheinung tritt, ist eine theologische Wahrheit. Gott sieht vor und will das Heil aller Menschen, aber dieser allumfassende Wille, Vorsehung genannt, bleibt wirkungslos, denn es gibt Menschen, die der göttlichen Gnade widerstehen, in denen die Vorsehung nicht wirkend und wirksam sein kann.

Martin Walser und Swedenborg von Thomas Noack Christiane Gollwitzer sandte uns den Artikel "Sprache, sonst nichts" von Martin Walser, erschienen in der Wochenzeitschrift "Die Zeit" vom 30. September 1999. Darin entfaltet der Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels sein Verständnis von Sprache und Welt, von Sprachwelt, - und bekennt sich zu Swedenborg, nennt ihn seinen "Paten". Einigen mißfiel dies selbstverständlich: "Herr Walser, was fällt Ihnen ein?! Der schwedische Wissenschaftler und Theosoph Emanuel Swedenborg - ein Durchdenker?" (David Axmann). Uns mießfiel es nicht, weswegen wir besagten Artikel in Auszügen unseren Lesern zur Kenntnis geben wollen.

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Martin Walser: "Man kann nicht über das reden, was der Sprache entspricht oder nicht entspricht, ohne Emanuel Swedenborg zu nennen. Er ist der erfahrungsreichste und lebendigste Durchdenker dieses Zusammenhangs. 'Die ganze natürliche Welt', schreibt Swedenborg, 'entspricht der geistigen; daher nennt man alles, was in der natürlichen Welt aus der geistigen entsteht, etwas Entsprechendes.' 'Der Mensch, welcher Himmel und Welt in kleinster Gestalt ist, hat sowohl die geistige, wie die natürliche Welt in sich.' 'Was daher in seiner natürlichen Welt … durch seine geistige Welt … bewirkt wird, nennt man etwas Entsprechendes.' Die Ursache-Wirkungsfolge ist bei Swedenborg eindeutig: von innen nach außen. Die Bibel, sagt er, sei 'in lauter Entsprechungen geschrieben; jedes Wort darin bedeutet eine Entsprechung'. Er sei vom Himmel belehrt worden, 'daß die Diener der ältesten Kirche auf Erden, welche Menschen des Himmels waren, nur in Entsprechungen gedacht haben, wobei ihnen die natürlichen Dinge der Welt, die sie vor Augen hatten, als Ausdrucksmittel dienten; deshalb gehörten sie zu den Engeln und redeten mit ihnen, und so waren Himmel und Welt durch sie verbunden'. Dann seien die Menschen 'allmählich äußerlich geworden und schließlich ganz materiell, worauf die Lehre von den Entsprechungen verlorengegangen sei ...' Das ist eine Sprachgeschichte der Religion. Die ist aber unsere Ausdruckssprache schlechthin. Hergebeten habe ich Swedenborg, weil er unser Inneres, Geist und Seele oder Wasauchimmer, so ganz und gar zum Ausdrucksursprung des Sprachlichen gemacht hat. Aber gegeben hat es das, sagt er, nur in einem Golden genannten Zeitalter, als die Menschen noch nicht, wie Swedenborg sagt, 'sich durch Selbstliebe und Weltliebe vom Himmel entfernt haben'. Danach werden die Dinge von 'Entsprechungen' zu 'Erscheinungen', die Sprache fängt an, sich selber zu entsprechen. Notgedrungen. Selbstbezogenheit, das ist jetzt ihre Eigenschaft. Je nötiger Gott wäre, um so deutlicher wird jetzt, daß er aus nichts bestehe als aus Sprache. Statt etwas haben wir Wörter. Schon Jakob Böhme konnte nicht umhin, seine Figur so ins Wörtliche treiben zu lassen: '... und durch seinen Mund bei drei Stunden anders nicht gesprochen, als nur solche Worte: Gott, Kot, Gott, Kot, und sich vor Gott als Kot geachtet.' … Swedenborg hatte die seltene Gabe, den Himmel erlebbar zu schildern. Bei der Hölle fällt das leichter, die Hölle hat von Dante bis Strindberg erregende Darsteller gefunden. Swedenborg erzählt, als sei er dabei gewesen, wie die feinste Art Engel, die des innersten Himmels, wie diese Engel 'die göttliche Wahrheit' entgegennehmen: 'Diese Engel vergraben die göttlichen Wahrheiten nicht in ihrem Gedächtnis, bilden sich also auch kein Wissen aus ihnen, sondern nehmen sie gleich nach dem Hören in sich auf und setzen sie in Leben um … Anders die Engel im äußeren Himmel; diese prägen sich die Wahrheiten erst ins Gedächtnis ein, verschließen sie in ihrem Wissen, holen sie später wieder daraus hervor und vertiefen sie mit ihrem Verstande; sie richten sich nach ihnen, ohne ihre Richtigkeit mit der inneren Erfahrung zu prüfen … Merkwürdigerweise

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werden die Engel des dritten Himmels durch das Gehör und nicht den Gesichtssinn an Wahrheit vollkommener.' Mir tut das gut, das Gehör so ausgezeichnet zu sehen: der Sinn, mit dem wir die 'göttliche Wahrheit' beziehungsweise das Wesentliche, nämlich Sprache, erleben. Und daß wir, was wir so empfangen, nicht als Wissen hörten, sondern gleich in Leben umsetzen, darf nicht auf den Himmel beschränkt bleiben. Wo das Wissen so in die Schranken gewiesen wird, muß ein anderer Pate herzitiert werden, Sören Kierkegaard Wir haben zuviel zu wissen gekriegt und fangen zu wenig damit an." Wie wahr! "Die Sprache ist ganz genauso ein Element des Historischen wie des Augenblicklichen. Sie ist das einzige Universale, das du praktizieren möchtest. Sie hat ein Eigenleben seit langem, und sie hat ein Eigenleben in dir." So auf den Sprachmenschen Martin Walser eingestimmt, wollte ich das Eigenleben seiner Sprache hören, sie sei ein "Produktionsmittel, das versagt, wenn man es beherrschen will", und kaufte seine Novelle "Ein fliehendes Pferd". "… diese Geschichte könnte zu dem gehören, das einmal übrigbleibt von einem Jahrhundert." (Stuttgarter Zeitung). Eine Novelle über die permanente Selbstverfehlung des modernen Menschen. Studienrat Helmut Halm möchte inkognito existieren. Er ist auf der Flucht vor sich selbst: im Urlaub. Frau Sabine begleitet ihn bei diesem Unternehmen. Da stellt sich ihm das Schicksal in den Weg: Klaus Buch mit Frau Helene, genannt Hel; angeblich Helmut's Schulkamerad, Jugendfreund und Kommilitone. Der Urlauber Halm freilich erinnert sich an nichts, möchte jedoch diese Peinlichkeit nicht preisgeben. So entsteht die Urlaubsfreundschaft zwischen zwei völlig unterschiedlichen Charakteren. Eigentlich würde man sich aus dem Weg gehen; aber erstens ist man im Urlaub und zweitens ist man Mensch, also Anstand bewahren, die Scheinproduktion des gesellschaftlichen Lebens aufrecht erhalten. Eine Szene im Restaurant Hecht, nicht die wichtigste, aber für uns interessant: Klaus Buch "und Hel schauten eine Zeit lang stumm zu, wie Sabine und Helmut die Käseplatte leerten, Weißbrot aßen, Rotwein tranken. Als Helmut die von Entsetzen geweiteten Augen der Buchs zum dritten Mal durch Aufschauen zur Kenntnis genommen hatte, sagte er, Hels und Klaus' Zuschauen erinnere ihn an eine Szene aus dem Leben des großen schwedischen Philosophen Emanuel Swedenborg. Der habe, als er schon über fünfzig und ein berühmter Mann gewesen sei, einmal allein in seinem Zimmer gegessen. Plötzlich habe er in einer Ecke seines Zimmers einen Mann wahrgenommen, der in dem Augenblick zu Swedenborg herübersagte: Iß nicht soviel. Und wie hat der Herr Philosoph reagiert, fragte Hel. Von dieser Stunde an nahm er nur noch eine Semmel in gekochter Milch zu sich. Und viel Kaffee. Den aber unmäßig süß. Na bitte, sagte Hel. Swedenborg, Klaus, bitte, merk dir den Namen, der interessiert mich." Danke, Martin Walser! Gut

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gemacht! Hoffentlich merken sich nun auch die Leser Deiner Novelle den Namen Swedenborg. "Ein fliehendes Pferd", so nennt Martin Walser seine Novelle. In der Schlüsselszene, ein Pferd, in wilder Flucht, rennt durch ein Dorf, sagt Klaus Buch: "Einem fliehenden Pferd kannst du dich nicht in den Weg stellen. Es muß das Gefühl haben, sein Weg bleibt frei. Und: ein fliehendes Pferd läßt nicht mit sich reden." In Martin Walser's Novelle sind gewissermaßen alle auf der Flucht. Der Ausweg kann nur als Katastrophe erlebt werden, - die freilich alle um Himmels willen vermeiden wollen. Nach Walser's Grundüberzeugung ist die Beschädigung des Menschlichen gesellschaftlich bedingt; die heute aktuellen Sozialisationsformen lassen dem Individuum keine Chance, zu sich selbst zu finden. Martin Walser muß an Swedenborg gedacht haben, als er seiner Gesellschaftskritik den Titel "Ein fliehendes Pferd" gab. Denn nach Swedenborg steht es für die Dynamik des Geistes, der seine dynamis nur im Verständnis des Wahren entfalten kann. Der Preis, den ein fliehendes Pferd für die Flucht vor sich selbst bezahlen muss ist groß. Er heißt: Leblosigkeit, Untergang im Konventionellen. Gestorben ist jeder, der seine eigene Sprache verloren hat.

Ein Swedenborgianer liest Hahnemann und Kent von Thomas Noack Vorbemerkung der Schriftleitung: Am 5. März 2000 fand im Swedenborg Zentrum Zürich ein anregendes Seminar über "Swedenborg und die Homöopathie" statt. Zahlreiche Homöopathen aus der Schweiz und aus Deutschland waren anwesend. Das Seminar wurde von Pfarrer Thomas Noack und der Heilpraktikerin und klassischen Homöopathin Dagmar Strauß geleitet. Mit dieser Nummer der Offenen Tore lösen wir ein damals gegebenes Versprechen ein, die Veröffentlichung der Vortragsunterlagen und weiterer Materialien.

1. Samuel Hahnemann und Swedenborg 1.1. Zur Geistesverwandtschaft Samuel Hahnemann (1755-1843), der Begründer der Homöopathie, scheint von Swedenborgs theologischen Schriften nicht beeinflusst worden zu sein, "obgleich er wahrscheinlich mit einigen anatomischen Werken aus Swedenborgs früheren Jahren vertraut war."39 Maguerite Block, die eine umfangreiche Geschichte der Swedenborgkirche in 39

Maguerite Block, The New Church in the New World, 1984, 162. Frau Block stützt sich auf New Church Review, Vol. 31, p. 290.

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Amerika geschrieben hat, erklärt daher die Ähnlichkeiten in beiden Systemen mit einer gemeinsamen Wurzel und nennt Paracelsus, "dessen gründliche Studenten beide, Hahnemann und Swedenborg, waren und dessen Lehre von den 'Signaturen' für einen Großteil der Ähnlichkeiten zwischen ihren Theorien verantwortlich ist."40 Elinore Peebles weist auf zwei Persönlichkeiten hin, die swedenborgsche Gedanken an Hahnemann vermittelt haben könnten: "Wir wissen, dass … Hahnemann in Kontakt mit Johann Wolfgang von Goethe und Heinrich Heine stand und für sie wohl auch Verordnungen ausstellte; beide waren mit der geistigen Seite der Philosophie Swedenborgs vertraut und von ihr angetan."41 Und schließlich sei erwähnt, dass Hahnemann in das erstmals 1810 veröffentlichte "Organon der rationellen Heilkunde" naturphilosophische Gedanken von Friedrich W. J. Schelling einbezog, der ebenfalls von Swedenborg beeinflusst war. Dennoch hat sich trotz zahlreicher Bemühungen eine direkte Beeinflussung Hahnemanns durch Swedenborg bisher nicht nachweisen lassen.

1.2. Lebenskraft nach Hahnemann und Seele nach Swedenborg Ergänzend zu dem in diesem Heft der Offenen Tore bereits Gesagten, möchte ich auf einige Ähnlichkeiten zwischen Hahnemann und Swedenborg hinweisen, indem ich Zitate gegenüberstellen werde. Hahnemann rechnet im Organismus mit einer "Lebenskraft", die der Seele (anima) im swedenborgschen System sehr ähnlich ist. Hahnemann schreibt: "Der materielle Organism, ohne Lebenskraft gedacht, ist keiner Empfindung, keiner Thätigkeit, keiner Selbsterhaltung fähig; nur das immaterielle, den materiellen Organism im gesunden und kranken Zustande belebende Wesen (das Lebensprincip, die Lebenskraft) verleiht ihm alle Empfindung und bewirkt seine Lebensverrichtungen."42 Ähnliches weiß Swedenborg von der Seele zu berichten; im folgenden Text taucht sogar auch der Begriff "Lebenskraft" auf: "Wer gründlich darüber nachdenkt, kann wissen, daß nicht der Körper denkt, sondern die Seele, da sie geistig ist. Die Seele des Menschen, über deren Unsterblichkeit viele geschrieben haben, ist sein Geist. Dieser ist in der Tat unsterblich, und zwar mit allem, was zu ihm gehört. Er ist es auch, der im Körper denkt, eben weil er geistig ist und das Geistige in sich aufnimmt und geistig lebt, das heißt denkt und will. Daher gehört alles geistige Leben, das im Körper erscheint, dem Geist, und auch nicht im geringsten dem Körper an. Wie bereits gesagt, ist ja der Körper stofflich, und das dem Körper eigentümliche Stoffliche ist dem Geist nur hinzugefügt und fast etwas wie eine Nebensache, unerläßlich für den Geist des Menschen in 40 41

42

M. Block, a.a.O., 162. Elinore Peebles, Homeopathy and the New Church, 472, in: Emanuel Swedenborg: A Continuing Vision, herausgegeben von Robin Larsen u.a., 1988, 468 - 472. Samuel Hahnemann, Organon der Heilkunst, Textkritische Ausgabe der sechsten Auflage, Heildelberg: Haug, 1999, § 10. Diese Ausgabe wird im Haupttext zitiert.

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der natürlichen Welt, in der alles stofflich und an sich leblos ist, um hier sein Leben führen und Nutzen schaffen zu können. Da nun das Stoffliche nicht lebt, sondern nur das Geistige, können wir es als feststehend ansehen, daß alles, was beim Menschen lebt, seinem Geist angehört und der Körper diesem nur dient – ganz wie ein Werkzeug der bewegenden Lebenskraft (vi moventi vitae). Zwar sagt man von einem Werkzeug, es wirke, bewege oder stoße, doch anzunehmen, daß es wirklich das Werkzeug sei und nicht der Mensch, der dahinter steht und wirkt, bewegt und stößt, ist eine Täuschung." (HH 432).

1.3. Was ist demnach Krankheit? Krankheiten sind dementsprechend Verstimmungen der Lebenskraft. Hahnemann: Die Krankheiten sind "(geistartige) dynamische Verstimmungen unseres geistartigen Lebens in Gefühlen und Thätigkeiten, das ist, immaterielle Verstimmungen unsers Befindens" (Organon S. 27). "Wenn der Mensch erkrankt, so ist ursprünglich nur diese geistartige, in seinem Organism überall anwesende, selbstthätige Lebenskraft (Lebensprincip) durch den, dem Leben feindlichen, dynamischen Einfluß eines krankmachenden Agens verstimmt; nur das zu einer solchen Innormalität verstimmte Lebensprincip, kann dem Organism die widrigen Empfindungen verleihen und ihn zu so regelwidrigen Thätigkeiten bestimmen, die wir Krankheit nennen, denn dieses, an sich unsichtbare und bloß an seinen Wirkungen im Organism erkennbare Kraftwesen, giebt seine krankhafte Verstimmung nur durch Aeußerung von Krankheit in Gefühlen und Thätigkeiten …, das ist, durch Krankheits-Symptomen zu erkennen und kann sie nicht anders zu erkennen geben." (§ 11).

1.4. Vom inneren Wesen zum äußeren Entsprechungsbild (Symptomatik) der Krankheiten Der krankmachende Einfluss verwirklicht sich daher von innen nach außen. Hahnemann: "Auch besitzen die feindlichen, theils psychischen, theils physischen Potenzen im Erdenleben, welche man krankhafte Schädlichkeiten nennt, nicht unbedingt die Kraft, das menschliche Befinden krankhaft zu stimmen; wir erkranken durch sie nur dann, wenn unser Organism so eben dazu disponirt und aufgelegt genug ist, von der gegenwärtigen Krankheits-Ursache angegriffen und in seinem Befinden verändert, verstimmt und in innormale Gefühle und Thätigkeiten versetzt zu werden - sie machen daher nicht Jeden und nicht zu jeder Zeit krank." (§ 31). Swedenborg wendet sich in seinem Werk "Über den Verkehr zwischen Seele und Körper" gegen die Vorstellung eines "physischen Einfließens" (von außen nach innen) und vertritt die Vorstellung eines "geistigen Einfließens" (von innen nach außen).

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Die nach außen sichtbare Krankheit ist ein Entsprechungsbild der seelisch-geistigen Krankheit. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass es Verletzungen des Körpers (Unfälle) gibt, die der Chirurg zu reparieren hat; damit soll aber der Blick geöffnet werden für ein Verständnis von Krankheit, das diese nicht mit ihrem organischen Ausdruck gleichsetzt. Die Symptome sind für Hahnemann nur das "nach außen reflectirende Bild des innern Wesens der Krankheit" (§ 7). Er nennt sie auch "Krankheitszeichen" (§ 19). Diese Sichtweise deckt sich mit dem, was Swedenborg über das Wesen der Entsprechungen zu sagen hat: "Zuerst also soll gesagt werden, was Entsprechung ist: Die ganze natürliche Welt entspricht der geistigen, und zwar nicht nur im allgemeinen, sondern auch im einzelnen. Deshalb heißt alles, was in der natürlichen Welt aus der geistigen heraus entsteht, Entsprechendes. Man muß wissen, daß die natürliche Welt aus der geistigen entsteht und besteht, ganz wie die Wirkung aus ihrer wirkenden Ursache. Zur natürlichen Welt gehört alles räumlich Ausgedehnte, das unter der Sonne ist und aus ihr Wärme und Licht empfängt, und zu dieser Welt gehört auch alles, was von jener aus besteht. Die geistige Welt aber ist der Himmel, und es gehört alles zu ihr, was in den Himmeln ist. Weil der Mensch ein Himmel und auch eine Welt in kleinster Gestalt ist, nach dem Bilde des größten, darum findet sich bei ihm sowohl die geistige als auch die natürliche Welt: die innerlichen Bereiche, die zu seinem Gemüt gehören und sich auf Verstand und Willen beziehen, bilden seine geistige Welt, die äußerlichen aber, die seinem Körper angehören und sich auf dessen Sinne und Handlungen beziehen, stellen seine natürliche Welt dar. Als Entsprechendes wird daher alles bezeichnet, was in seiner natürlichen Welt, also in seinem Körper und dessen Sinnen und Handlungen, aus seiner geistigen Welt heraus entsteht, also aus seinem Gemüt und dessen Verstand und Willen." (HH 89f).

2. James Tyler Kent und Swedenborg 2.1. Der Swedenborgianer Kent interpretiert Hahnemanns Organon Die Grundwahrnehmung ist also bei Hahnemann und Swedenborg ähnlich. Daher konnte nun James Tyler Kent (1849 - 1916), der ein Swedenborgianer war und bis heute einer der einflußreichsten Homöopathen ist, Vorlesungen über Hahnemanns Organon halten und dabei dieses Grundlagenwerk ganz im Sinne Swedenborgs interpretieren, ohne von Hahnemann abzuweichen.

2.2. Krankheit verwirklicht sich von innen nach außen Kent beginnt seine "Lectures on Homoeopathic Philosophy" (Vorlesungen über homöopathische Philosophie) mit einem Kapitel mit der Überschrift "Der Kranke". Darin legt er den ersten Paragraphen des hahnemannschen Organons aus, der da lautet: "Des Arz-

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tes höchster und einziger Beruf ist, kranke Menschen gesund zu machen, was man heilen nennt." Interessant aus swedenborgscher Sicht ist das von Kent entfaltete Krankheitsverständnis. Krankheit ist Unordnung im menschlichen Wesen und verwirklicht sich dementsprechend von innen nach außen. Kent schreibt: "Alle Krankheit fließt vom Innersten zum Äußeren"43 (51). "Wenn der innere Mensch krank ist, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich in seinem Körper die Krankheit einstellen wird, weil der innere Mensch den äußeren formt." (67). "Krankheit kann nur vom Zentrum her in den Menschen einfließen und von da aus auf die äußeren Teile wirken, indem es die Regie stört, und das ist die ganze Krankheit." (54f). "Alle Krankheitsursachen gründen in der immateriellen Lebenskraft. Es gibt keine Krankheitsursachen im Stofflichen, die getrennt von der Lebenskraft betrachtet werden können." (111). "Die Krankheiten entsprechen den Neigungen der Menschen, und die Krankheiten der heutigen Menschheit sind der äußere Ausdruck dessen, wie es innen im Menschen aussieht" (209). "Das Bild seines eigenen Innern kommt in der Krankheit zum Vorschein." (209). "Die reinen Krankheiten andererseits, ob erworben oder ererbt, sind jene, die sich aus dem Innersten nach der Peripherie auswirken und dabei den Menschen krank machen." (186). Das alles steht Swedenborgs Verständnis von Krankheit sehr nahe: "Weil von der Entsprechung der Krankheiten gehandelt werden soll, so muß man wissen, daß auch alle Krankheiten im Menschen eine Entsprechung mit der geistigen Welt haben; denn was in der ganzen Natur keine Entsprechung hat mit der geistigen Welt, das kann nicht existieren, denn es hat keine Ursache, aus der es entsteht, folglich (auch keine), kraft derer es besteht." (HG 5711). "Die Krankheiten entsprechen den Begierden und Leidenschaften des Lebensgeistes (animi). Diese sind auch die Ursprünge der Krankheiten, denn diese sind im allgemeinen Unmäßigkeit, allerlei Üppigkeit, rein sinnliche Vergnügungen, dann auch Neid, Haß, Rache, Unzucht und dergleichen, was das Inwendigere des Menschen zerstört; und wenn dieses zerstört ist, leidet das Auswendigere und zieht dem Menschen Krankheit und dadurch den Tod zu … Aus dem Gesagten kann erhellen, daß auch die Krankheiten eine Entsprechung haben mit der geistigen Welt, aber mit den unreinen Dingen daselbst." (HG 5712). Die Krankheit, die sich schließlich im Äußeren zeigt, also die Gesamtheit der Symptome, ist ein Entsprechungsausdruck des eigentlichen, inneren Krankheitsgeschehens. Kent: "Wie das Innere ist, so ist auch das Äußere, und das Äußere kann nur so sein wie die Auswirkungen des Innersten." (208). "Wir haben gesehen, daß wir die Krankheit durch Sammeln von Symptomen kranker Menschen studieren müssen, indem wir uns

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J. T. Kent, Prinzipien der Homöopathie, 1996, 51. Eine deutsche Übersetzung von Kents "Lectures on Homoeopathic Philosophy". Im Folgenden bezieht sich die Seitenzahl im Haupttext immer auf diese Übersetzung.

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auf die Symptome als Sprache der Natur stützen und daß die Totalität der Symptome die Natur und Qualität der Krankheit darstellt und alles ist, was wir von dieser wissen müssen." (283). "Die Krankheit zeigt sich oder drückt sich aus durch die Totalität der Symptome, und diese Totalität (welche die Sprache der Natur bedeutet) ist nicht selbst die Essenz der Krankheit, sie repräsentiert nur die Unordnung des inneren Menschen." (38). "Alle heilbaren Krankheiten können vom Arzt an ihren Zeichen und Symptomen erkannt werden." (55). Kent nennt die Symptome die "Sprache der Natur" (321). Krankheit in diesem Sinne ist ursächlich eine Störung im inneren Menschen, die - wie ein ins Wasser gefallener Stein - ihre Kreise bis zur Peripherie des materiellen Organismus zieht. Störungen, die dort nicht aus der Lebenskraft resultieren, nicht von innen verursacht werden, sollten Verletzungen genannt werden, nicht Krankheiten. Kent schreibt: "Wenn nur das Äußere des Menschen beeinflußt wird, ist seine Lebenskraft nur vorübergehend gestört." (133).

2.3. Der Gemütsbegriff Der geistige Ursprungsort der Krankheiten ist das Gemüt (mens). Kents Gemütsbegriff gleich demjenigen Swedenborgs vollkommen: "Die Verbindung von Willen und Verstand macht den eigentlichen Menschen aus." (18). "Deshalb hat der Arzt nur den inneren Menschen in Ordnung zu bringen, das heißt Wollen und Denken miteinander zu verbinden." (20). Hahnemann stellte fest, "der Geist sei der Schlüssel zum Menschen. Allen seinen Nachfolgern haben sich die Gemütssymptome als die wichtigsten im Arzneimittel- wie im Krankheitsbild erwiesen. Der Mensch besteht aus dem, was er denkt und was er liebt, aus sonst nichts." (24). "Das erste am Menschen ist sein Willen, das zweite sein Verstand, das letzte sein Äußeres bis zu seiner Peripherie, seinen Organen, Haut, Haaren, Nägel usw." (31). "Im Menschen liegt diese zentrale Leitung im Gehirn, und von ihm aus werden alle Nervenzellen beherrscht." (39). "Durch göttliche Ausstattung hat der Mensch in sich ein primäres Ordnungszentrum, das in der grauen Substanz des Gehirns angeordnet ist." (50). "Denken und Wollen bilden einen Zustand im Menschen, der den Zustand, in dem er sich befindet, erkennen läßt. Solange der Mensch das denkt, was wahr ist und an dem, was für alle seine Nachbarn gut ist, an Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit festhält, so lange wird der Mensch auf Erden frei sein von der Anfälligkeit für Krankheit, denn das war der Zustand, für den er erschaffen war. Solange er sich in diesem Stand hielt und seine Integrität wahrte, blieb er unempfänglich für Krankheit und würde kein Fluidum verbreiten, das zur Infektion führt. Doch als der Mensch anfing, Dinge zu wollen, die seinem falschen Denken entsprangen, geriet er in einen Zustand, der seinem Inneren ganz entsprach. So wie sein Willen und Verstand sind, wird auch das Äußere des Menschen sein. So wie das Leben oder der Wille ist auch der Körper des Menschen, und da beide auf dieser Erde eines sind, wird von ihm

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eine Aura entwickelt, die verderbt, entsprechend seinem Weg von der Tugend und Gerechtigkeit zum Bösen" (206). Jeder Kenner hört aus diesen Aussagen Kents die Stimme Swedenborgs sprechen. Dennoch seien die folgenden Vergleichstexte aus den Werken des Sehers zitiert. Das Gemüt (mens) definiert er folgendermaßen: "Zwei Anlagen bestimmen das Leben des Menschen, Wille und Verstand genannt. Sie unterscheiden sich zwar voneinander, sind aber doch so beschaffen, daß sie eine Einheit darstellen sollen, und wenn das der Fall ist, werden sie als Gemüt bezeichnet. Sie bilden daher das menschliche Gemüt, und auf ihnen beruht das ganze Leben des Menschen." (NJ 28). Bei wiedergeborenen (geistig regenerierten) Menschen wird das gespaltene Gemüt wieder eine Ganzheit: "Beim wiedergeborenen Menschen bilden Verstand und Wille ein (ganzheitliches) Gemüt." (HG 9300). Das Gemüt (der Mentalbereich) hat seinen Sitz im Gehirn (GLW 273). "Der Wille zusammen mit dem Verstand ist im Gehirn in seinen Anfängen und im Körper in seinen Ableitungen" (GLW 403). Kent und seinen Schülern haben sich die Gemütssymtome von daher als die beherrschenden eingeprägt. Das ist aus swedenborgscher Sicht nachvollziehbar, denn die Anfänge des körperlichen Prozesses (Physiologie) liegen in der Mentalstruktur (Gemüt) des Menschen. Es gibt eine "Entsprechung zwischen Gemüt und Körper" (GLW 273). "Weil der Mensch ein Himmel und auch eine Welt in kleinster Gestalt ist, nach dem Bilde des größten … darum findet sich bei ihm sowohl die geistige als auch die natürliche Welt: die innerlichen Bereiche, die zu seinem Gemüt gehören und sich auf Verstand und Willen beziehen, bilden seine geistige Welt, die äußerlichen aber, die seinem Körper angehören und sich auf dessen Sinne und Handlungen beziehen, stellen seine natürliche Welt dar. Als Entsprechendes wird daher alles bezeichnet, was in seiner natürlichen Welt, also in seinem Körper und dessen Sinnen und Handlungen, aus seiner geistigen Welt heraus entsteht, also aus seinem Gemüt und dessen Verstand und Willen." (HH 90). Swedenborg geht von der Leiblichkeit des Geistigen (Geistleiblichkeit) aus, die auch bei Kent zum Vorschein kommt. Im folgenden Text erwähnt Kent die innere Lunge: "Schwindsucht ist ein tuberkulöser Zustand der Lunge, der aber seinerseits die Folge von Störungen des inneren Menschen ist, die in der 'inneren' Lunge wirken, lange vor dem Zusammenbruch der Gewebe." (70). "Als wissenschaftliche Homöopathen müssen wir erkennen, daß die Muskeln, Nerven, Bänder und die anderen Teile des menschlichen Körpers ein Bild sind, das dem einsichtigen Arzt den inneren Menschen offenbart. Man kann nicht vom toten Körper her das Leben verstehen, sondern muß den Körper vom Leben her begreifen." (18f). Die geistige Leiblichkeit, die sich unsichtbar unseren materiellen Augen während des Erdenlebens entwickelt (Prozess der Wiedergeburt), tritt nach der Trennung des Geistlebens von der materiellen Leiblichkeit (also nach dem sogenannten Tod) in Erscheinung. Aufgrund jahrzehntelanger spiritueller Erfahrungen

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versichert uns Swedenborg: "Die Gestalt des menschlichen Geistes ist die menschliche. Mit anderen Worten: der Geist ist auch hinsichtlich seiner Gestalt Mensch." (HH 453). Dieser geistigen Leiblichkeit gelten die homöopathischen Heilbemühungen; der materielle Körper profitiert lediglich davon.

2.4. Kents methodischer Halt beim Gemütsbegriff und Swedenborgs Höllenreise Kent gibt deutlich zu verstehen, daß er bei seiner Suche nach den geistigen Ursachen der Krankheiten über den Gemütsbegriff nicht hinausgehen möchte: "Wir haben nicht die Absicht bis jenseits von Wollen und Denken vorzudringen" (18). Kent macht offenbar aus methodischen Gründen, um nicht ins Uferlose abzugleiten, beim Gemütsbegriff Halt und nimmt ihn als relativen Anfangspunkt seiner Theorie des homöopathischen Heilens. Doch nach Swedenborg steht das Gemüt mit Geistern in Verbindung, so dass die Ursachen der Krankheiten bis in die Welt der Geister zurückverfolgt werden können. Dazu die folgende Kostprobe: "Alle Höllengeister führen Krankheiten herbei, (wiewohl mit Unterschied,) aus dem Grund, weil alle Höllen in den Lüsten und Begierden des Bösen sind, mithin im Gegensatz zu dem, was dem Himmel angehört. Daher wirken sie aus dem Gegensatz auf den Menschen ein. Der Himmel, welcher der Größte Mensch ist, erhält alles im Zusammenhang und im unversehrten Stand; die Hölle, weil sie den Gegensatz bildet, zerstört und zerreißt alles. Wenn daher höllische Geister nahe gebracht werden (applicantur), führen sie Krankheiten und zuletzt den Tod herbei. Aber es wird ihnen nicht zugelassen, bis in die eigentlichen festen Teile des Leibes einzufließen, auch nicht in die Teile, aus denen die Eingeweide, Organe und Glieder des Menschen bestehen, sondern nur in die Lüste und Falschheiten. Nur wenn der Mensch in eine Krankheit fällt, dann fließen sie in solche Unreinigkeiten ein, die der Krankheit angehören; denn es existiert durchaus nichts beim Menschen, wenn nicht auch eine Ursache in der geistigen Welt vorhanden ist. Wäre das Natürliche beim Menschen vom Geistigen getrennt, so wäre es von aller Ursache der Existenz, somit auch von aller Lebenskraft (vitali) getrennt. Dies hindert jedoch nicht, daß der Mensch auf natürliche Weise geheilt werden kann, denn mit solchen Mitteln wirkt die Vorsehung des Herrn zusammen. Daß es sich so verhält, wurde mir durch viele Erfahrung zu wissen gegeben, und zwar so oft und so lange, daß gar kein Zweifel übrig blieb. Es wurden mir nämlich böse Geister aus solchen Orten oft und lange nahe gebracht, und je nach ihrer Gegenwart verursachten sie Schmerzen und auch Krankheiten. Es wurde mir gezeigt, wo sie waren und von welcher Art sie waren, und es wurde auch gesagt, woher sie waren. Ein Gewisser, der bei Leibesleben ein sehr großer Ehebrecher gewesen war und seine größte Lust darin gesucht hatte, mit mehreren Frauen die Ehe zu brechen, die er (aber) gleich nachher ver-

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stieß und verschmähte, derselbe setzte ein solches Leben bis in sein Greisenalter fort. Überdies war er auch dem Wohlleben ergeben, und wollte niemand Gutes tun und einen Dienst leisten, außer um seiner selbst willen, und hauptsächlich seines ehebrecherischen Treibens wegen. Derselbe war (nach seinem Tod) einige Tage bei mir; er erschien unter den Füßen, und als mir die Sphäre seines Lebens mitgeteilt wurde, erregte er, wohin er nur kam, in den Knochenhäuten und den Nerven daselbst einen Schmerz, so namentlich in den Zehen an der linken Fußsohle; und als ihm zugelassen wurde, weiter hinaufzudringen, auch in den Teilen, wo er jeweils war, hauptsächlich in den Knochenhäuten der Lenden, ferner in den Häuten der Brustbeine unter dem Zwerchfell, wie auch in den Zähnen von innen her. Während seine Sphäre wirkte, verursachte er auch dem Magen eine große Beschwerde." (HG 5713f).

2.5. Der Mensch als Bürger zweier Welten Es kann hier nur angedeutet werden, daß hinter dem Verständnis von Gesundheit und Krankheit, das Swedenborg und Kent vortragen, eine Anthropologie steht, die den Menschen als einen Bürger zweier Welten sieht. Der Mensch ist dasjenige Wesen, das genau auf die Schnittstelle zwischen dem materiellen und dem geistigen Kosmos gestellt worden ist. Bezüglich der materiellen Schöpfung ist der Mensch dessen Krone; aber mit Blick auf die von ihm nur geahnten geistigen Welten ist er nicht viel mehr als ein Embryo im Mutterleib. Swedenborg schreibt: "Der Mensch ist geschaffen, um gleichzeitig in der geistigen und in der natürlichen Welt zu sein." (NJ 36). Kent vertritt ebenfalls diese Lehre Swedenborgs von den Dualwelten: "Dem Menschen kommen zwei Welten zum Bewußtsein: Die Welt der Gedanken und die Welt der Materie; also die der immateriellen Substanz, und die der materiellen Substanz." (99). "Es gibt zwei Reiche oder Welten: Die Welt der Ursachen und die Welt der Konsequenzen44. In dieser äußeren oder physikalischen Welt können wir nur mit den Augen sehen, mit den Fingern fühlen, mit der Nase riechen, mit den Ohren hören. Solcher Art ist das Reich der Auswirkungen. Die Welt der Ursache ist unsichtbar, nicht mit den fünf Sinnen zu entdecken. Es ist die Gedankenwelt und sie kann nur durch Verstehen entdeckt werden. Was wir um uns sehen, ist nur die Welt des Endlichen, aber die Welt der Ursache ist unsichtbar." (110). "Die beiden Welten, die der Bewegung, der Kraft und die der Trägheit, existieren zusammen. Da ist eine Welt des Lebens und eine der toten Materie. Das Reich der Gedanken und das der Materie sind die Reiche der Ursache und der Wirkung." (126).

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Ich habe an dieser Stelle die Übersetzung von Dr. med. Jost Künzli von Fimmelsberg berücksichtigt, weil hier der Zusammenhang mit Swedenborgs Welt der Wirkungen deutlicher wird.

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2.6. Ursache und Wirkung Die Dualweltentheorie führt zu einem gegenüber dem gewöhnlichen Sprachgebrauch veränderten Verständnis von Ursache und Wirkung. Wer wie Swedenborg die höheren Welten geschaut und erfahren hat, der weiß: UR-Sachen im echten Sinne des Wortes gibt es auf der materiellen Ebene nirgends. Hier gibt es nur Wirkungen, und was wir hier Ursache nennen, das sollte besser VOR-Gang (das, was einem bestimmten Ereignis vorangeht), Durchführung oder von mir aus auch äußere Ursache genannt werden. Dieser swedenborgschen Einsicht entsprechend schreibt Kent: "Alles und jedes, was vor unseren Augen erscheint, ist nur die Verkörperung seiner Ursachen, und es gibt keine anderen Ursachen als die inneren." (68). "alles, was man sehen, fühlen, beobachten oder mit dem Mikroskop erfassen kann, ist äußerlich und Auswirkung." (135). "Innere Übel fließen ab in die äußere Erscheinungsform und die Homöopathie wird fortfahren, sie mehr und mehr hervorzutreiben und verschafft damit dem Organismus eine verhältnismäßig große Freiheit." (213). Die Homöopathie unterstützt das In-ErscheinungTreten von Krankheiten auf der körperlichen Ebene. Der vertikale Ursachenbegriff - der Gegensatz dazu wäre der horizontale Ursachenbegriff, der VOR-Gänge in der Raum-ZeitWelt mit UR-Sachen verwechselt - führt zu einer Kette des Seienden. Dazu Kent: "Alles geht von Ihm (Gott) aus und die ganze Kette vom Höchsten bis zur letzten Materie ist auf diese Weise verbunden." (98f). "Nichts kann existieren, wenn seine Ursache nicht ständig in es hineinströmt." (99). Einige Vergleichstexte aus den Werken Swedenborgs belegen auch in diesem Punkt die Parallelität der Anschauungen: Die Naturalisten (Materialisten) "bedenken nicht, daß das Bestehen ein immerwährendes Entstehen ist oder, was das gleiche, daß die Fortpflanzung eine immerwährende Schöpfung ist und bedenken nicht, daß die Wirkung die Fortdauer der Ursache ist, und daß, wenn die Ursache aufhört, auch die Wirkung aufhört, und daß daher jede Wirkung ohne den Einfluß der Ursache urplötzlich zunichte wird." (HG 5116). "Alle Dinge in der natürlichen Welt sind Wirkungen, während alle Dinge in der geistigen Welt Ursachen dieser Wirkungen sind. Etwas Natürliches, das seinen Ursprung nicht aus Geistigen hätte, gibt es nicht." (GLW 134). Diesen Ursachenbegriff wendet Swedenborg auch auf die Krankheiten an: "Weil von der Entsprechung der Krankheiten gehandelt werden soll, so muß man wissen, daß auch alle Krankheiten im Menschen eine Entsprechung mit der geistigen Welt haben; denn was in der ganzen Natur keine Entsprechung hat mit der geistigen Welt, das kann nicht existieren, denn es hat keine Ursache, aus der es entsteht, folglich (auch keine), kraft derer es besteht." (HG 5711). Aus dem Gesagten ist klar, daß Bazillen, die ja Erscheinungen auf der materiellen Daseinsebene sind, nicht die Ursachen, sondern nur die Bedingungen für das Auftreten

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von Krankheiten sein können. In diesem Milieu kann sich die schon vorher, ursächlich vorhandene Krankheit verwirklichen oder auswirken. Kent: "Sobald der Mensch ein liederliches Leben führt, ist er anfällig für äußere Einflüsse und je liederlicher er lebt, desto anfälliger wird er für die Atmossphäre, in der er lebt. Wenn er liederlich denkt, dann lebt er auch liederlich und macht sich krank durch schlechte Gewohnheiten im Denken und Handeln. Diesen gestörten Gemütszustand hat Hahnamann sehr sicher erkannt, denn er lehrt uns immer wieder, daß besonders auf den Gemütszustand zu achten ist." (68). "Der Mensch wird nicht aus äußerem Anlaß krank. Weder durch Bakterien noch durch die Umgebung, sondern aus Ursachen, die in ihm selbst liegen." (39). "Die Unordnung kommt von innen, aber viele Störungen, die diese Unordnung verschlimmern, kommen von außen." (56). "Bazillen sind keine Krankheitsursache, sie kommen immer erst im Gefolge der Krankheit." (70). "Der Einsatz der feinsten Präzisionsinstrumente ermöglicht uns das Erkennen der feinsten Krankheitsauswirkungen, die das Ergebnis der immateriellen Dinge sind, wie zum Beispiel die Bakterien, die feinste Form tierischen oder pflanzlichen Lebens. Aber die Ursache der Krankheit ist millionenfach subtiler als diese und ist dem menschlichen Auge unerreichbar. Die feinsten sichtbaren Dinge sind nur Auswirkungen der noch viel feineren Dinge, so daß die Ursache bei letzteren bleibt." (114). "Bakterien können Ursachen enthalten, weil die Ursachen bis ins Äußere hinaus wirken. Aber die erste Ursache ist nicht der Bazillus, dieser selbst hat seine Ursachen." (166).

2.7. Die Substanzialität des Geistigen Dem Materialismus ist das Geistige immer nur ein Epiphänomen der Materie des Gehirns. Aus der erwiesenen Abhängigkeit geistiger Prozesse vom Gehirn folgert man, daß der Geist nicht unabhängig von jener Grauen Substanz existieren kann. Dieser Schluß ist freilich genauso töricht wie der, daß Autofahrer keine Fußgänger sein können, nur weil sie als Autofahrer immer im Auto anzutreffen sind und jeder Motorschaden dem Autofahrerdasein ein Ende bereitet. Swedenborg hingegen spricht von der Substanzialität des Geistigen. "Die göttliche Liebe und die göttliche Weisheit ist Substanz und Form." (GLW 40). Die Substanzialität des Geistigen finden wir auch bei Kent: "Substanz in geistartiger Form ist ebenso eindeutig Substanz, wie in konkreter Form der Materie." (96). "Kann sich der Mensch Energie als etwas Substanzhaftes vorstellen, dann kann er sich besser etwas Substanzhaftes vorstellen, das Energie besitzt." (97). "Wir werden durch fortgesetzte Beschäftigung mit der Frage nach der immateriellen Substanz sehen, daß wir einigen Grund haben festzustellen, daß Energie nicht Energie aus sich heraus ist, sondern daß es eine kraftvolle Substanz ist, die uns von der Intelligenz geschenkt wird, die selbst eine Substanz ist." (98).

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Die Homöopathie heilt, indem sie beim Kranken Substanzen ergänzt. Die Potenzierung der Materia medica dient ihrer Substanzialisierung. Kent: "Wir potenzieren unsere Mittel auch um zu ihrem feinstofflichen Gehalt vorzudringen, das heißt, zum Wesen und der Qualität des Mittels selbst. Damit ein Mittel homöopathisch wird, muß es zur Qualität und zur Wirkung der Krankheitsursache ähnlich sein." (111). Nach Swedenborg liegt aller Materie ursprünglich Substanz zugrunde: "Das Materielle hat seinen Ursprung im Substanziellen (materialia suam originem ducunt ex substantialibus)" (EL 207). "Das Substantielle ist der Anfang des Materiellen." (EL 328). Die Krankheit entsteht auf der seelisch-substantiellen Ebene und pflanzt sich von dort aus nach unten fort. Homöopathisches Heilen will den Kranken dort erreichen, wo er ursächlich krank ist. Die Weisheit der Alten sah im Geist die Ursache der Materie. Die Neuzeit hingegen sieht in der Materie die Ursache für den Geist und leugnet jede Form von Metaphysik. Swedenborg ebenso wie die Homöopathie und ihre großen Denker werden erst dann eine Renaissance erleben, wenn der Geist wieder als das anerkannt wird, was er ist: die Ursache aller Dinge.

Homöopathie und die Neue Kirche von Elinore Peebles Viele Gemeinsamkeiten bestehen zwischen Emanuel Swedenborg, dem religiösen Reformer, und Samuel Hahnemann, dem medizinischen Rebell. Beide besaßen eine beinahe unbegrenzte Neugier und einen fähigen Verstand gepaart mit einer geistigen Vision, und beide widmeten sich dem Dienst an der Menschheit, Swedenborg in seiner Suche nach der wahren Bedeutung unseres Lebens auf Erden und unseres geistigen Wachstums durch die Wiedergeburt und Hahnemann in seinem Streben nach Verständnis und Heilung von Krankheit. Beide wirkten nachhaltig auf das spätere religiöse und medizinische Denken. Swedenborgs Schriften haben die dogmatische Theologie der Vergangenheit herausgefordert und verändert, und Hahnemann brach die Herrschaft der wirkungslosen und oft tödlichen medizinischen Praxis seiner Tage. Meine früheste Erinnerung daran, von einer möglichen Beziehung zwischen der Homöopathie und der Neuen Kirche gehört zu haben, führt mich in mein siebentes Lebensjahr zurück, als ich erstmals bei sonntäglichen Versammlungen von Homöopathen der näheren Umgebung anwesend war, die sich im Büro meines Vaters trafen, um Arzneimittel vorzubereiten und Aufzeichnungen ihrer Fälle zu vergleichen. Von den Fünfen, die mehr oder weniger regelmäßig kamen, waren drei Swedenborgianer, so dass sie gut qualifiziert waren, die beiden Disziplinen zu vergleichen. Ziemlich früh lernte ich, diese

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Verbindung als eine Tatsache meines Lebens zu akzeptieren, und als ich heranwuchs, ging ich anderen Leuten damit auf die Nerven, bis eines Tages ein Verwandter, der uns besuchte, sagte: "Hört auf meine liebe Cousine, eine gute Swedenborgianerin und Hahnemannianerin! Hört man sie so reden, dann könnte man glauben, Homöopathie lasse Tote auferstehen." Danach erwarb ich etwas mehr Zurückhaltung und begann mit Constantin Hering übereinzustimmen, dem "Vater der amerikanischen Homöopathie," der "Herings Gesetz" formulierte und 1850 geschrieben haben soll: "Während die Swedenborgianer aus gutem Grund eine homöopathische Behandlung bevorzugen dürften, gibt es überhaupt keinen Grund, warum alle Homöopathen Swedenborgianer sein sollten."45 Er fühlte, dass es die Wissenschaft nicht nötig hatte, sich selbst durch eine religiöse Lehre zu beweisen und es daher auch nicht versuchen sollte. Dennoch war er, als ein Mitglied der Neuen Kirche in Philadelphia, jederzeit bereit, die philosophischen Ähnlichkeiten zu diskutieren, wie es auch viele seiner Kollegen waren. Über diesen Gegenstand gibt es einige interessante Broschüren in der Bücherei der Swedenborg School of Religion in Newton, Massachusetts. Insbesondere eine, "A Defense of Homeopythy against its New Church Assailants"46 (Eine Verteidigung der Homöopathie gegen ihre neukirchlichen Gegner), ist von besonderem Interesse. Hering ebenso wie Richard de Charms lieferten Beiträge dazu. Dr. William Holcombe, der später ein Mitglied der Neuen Kirche in Cincinnati wurde, nahm die negative Position sehr nachdrücklich ein, indem er schrieb, dass er viele Jahre lang ein allopathischer Arzt gewesen sei und die Absicht habe, ein solcher für den Rest seines Lebens zu bleiben. Dennoch wurde er 1851 ein homöopathischer Arzt, der nun mit derselben Leidenschaft zu ihrer Verteidigung schrieb und, gemäß seiner Biographie, so gründlich konvertierte, dass er als der "Vater der südlichen Homöopathie" bekannt ist. Constantin Hering wurde von der medizinischen Vereinigung beauftragt, die Homöopathie als einen medizinischen Irrweg zu entlarven, aber er musste Deutschland verlassen, als ihn seine Nachforschungen veranlassten, diese Heilweise tiefergehend zu studieren und schließlich genau die Wissenschaft zu praktizieren, die er in Verruf bringen sollte. Klugerweise ging er nach Amerika. De Charms erzählt uns, dass Hering, ein Lutheraner, von einem lutherischen Geistlichen beschuldigt wurde, mit den Worten, "dass er als ein Homöopath, den Teufel mit Beelzebub, dem Obersten der Teufel, austreibe."47 45

46

47

Constantin Hering, in Richard de Charms, Homeopathy and the New Church, Broschüre in der Bücherei der Swedenborg School of Religion, Newton, Mass. Richard de Charms, A Defense of Homeopathy against its New Church Assailants (Philadelphia: New Jerusalem Press, 1854). ebenda S. 6.

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Vor vielen Jahren, als mein Interesse an diesem Gegenstand erwachte, überraschte mich die Entdeckung der großen Anzahl homöopathischer Ärzte, die, mit meinen Worten gesagt, "unkirchliche Swedenborgianer" waren. Denn, obgleich nur eine Minderheit aktive Kirchenmitglieder waren, glaubten sehr viel mehr, dass die Vertrautheit mit Swedenborgs Schriften hilfreich in der Ausübung ihrer homöopathischen Therapien sei. Indem ich über Homöopathie schreibe, besonders für jene, die womöglich wenig von ihr wissen, scheint es sinnvoll, mit der Einführung des Gründers dieser Wissenschaft zu beginnen. Samuel Hahnemann wurde in Meißen in Sachsen 1755 als das älteste Kind einer großen und armseligen Familie geboren. Sein Vater, ein Prozellanarbeiter, scheint besondere Qualitäten bei seinem Sohn erkannt zu haben. Er ermutigte sein Interesse an der Natur, gab ihm Unterricht im Denken, lehrte ihn, nach Gründen in allen Dingen zu schauen und unterstützte seinen Wunsch, Arzt zu werden. Hahnemann arbeitete sich durch zwei Jahre vormedizinischer Studien, indem er einem wohlhabenden Griechen Deutsch und Französisch lehrte und englische Bücher ins Deutsche übersetzte. Mit einigen finanziellen Schwierigkeiten brachte er sich durch die letzten zwei Jahre an der Universität Erlangen. Als er 1779 die Abschlussprüfung bestand und zu praktizieren begann, beherrschte er zusätzlich zu seiner Muttersprache Deutsch, nach den Angaben von William Harvey King48, Lateinisch, Griechisch, Englisch, Hebräisch, Syrisch, Italienisch, Arabisch und Spanisch. Er verfügte außerdem über Kenntnisse des Chaldäischen und, wie einige noch hinzufügen, des Sanskrit. Da er zunehmend unzufrieden war mit den drastischen medizinischen Behandlungen, die damals gang und gäbe waren, und befürchtete, den Kranken mehr zu verletzen als zu helfen, gab er vorübergehend seine medizinische Praxis auf und wechselte zur Chemie, eine sich neu entwickelnde Wissenschaft. 1784 war Hahnemann gut bekannt als Chemielehrer für seine sowohl originellen als auch manchmal kühnen Experimente. Während dieses beruflichen Zwischenspiels, bekam er den Auftrag, die Materia Medica des schottischen Arztes William Cullen ins Deutsche zu übersetzen. In diesem Werk fand er eine ihm allzu phantastisch erscheinende Erörterung der Art und Weise, wie Chinarinde bei der Behandlung von Malaria wirke. Daher entschied sich Hahnemann ein Experiment durchzuführen, indem er selbst eine Dosis dieser Arznei nahm. Zu seiner großen Überraschung entdeckte er, dass sie in ihm die Symptome der Malaria hervorbrachte. Hahnemann war so sehr beeindruckt, dass er daraufhin begann, mit anderen Arzneien zu experimentieren. Hahnemann fand heraus, dass das Arzneimittel in jedem Fall bei einer gesunden Person die Symptome der Krankheit hervorbrachte, die es bei einer kranken heilte. 48

William Harvey King, The History of Homeopthy and Its Institutions (New York: Lewis, 1905), Bd. 1, S. 24.

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Dadurch überzeugt, eine sichere Methode der Behandlung von Krankheiten gefunden zu haben, beschritt er einen Weg, von dem er nie mehr abwich. Diese neue medizinische Methode nannte er Homöopathie (griech. ähnliches Leiden) und wählte als ihr Motto "Similia similibus curentur" (Ähnliches soll durch Ähnliches geheilt werden). Hahnemanns spätere Forschung in Medizingeschichte deckte einige Beziehungen zu dieser Theorie oder diesem Ansatz in den Schriften hinduistischer Weiser (ca. 2000 v. Chr.) bis hin zu Hippokrates (ca. 460 v. Chr.) auf. Kurz zuvor entdeckte Hahnemann, warum sich die Ähnlichkeitstheorie nicht durchgesetzt hatte. Zuerst experimentierte er, indem er kleine Dosen der medizinischen Substanzen gesunden Familienmitgliedern und Freunden gab, die sich freiwillig bereit erklärt hatten, geprüft zu werden, und anschließend ihre Reaktionen aufzeichnete, die sie in Form von Symptomen produzierten. Dann verordnete er die passende Medizin jenen Patienten, deren Symptome denen entsprachen, die bei der gesunden Person verursacht wurden. Die meisten benutzten Arzneien waren mehr oder weniger giftig und Hahnemann wußte, dass der Körper versuchen würde, sie so schnell wie möglich auszuscheiden, aber dann verdünnte er sie bis zu dem Punkt, wo sie vertragen werden konnten. Er fand heraus, dass die Patienten, obgleich sie sich manchmal für kurze Zeit besser fühlten, nicht wirklich geheilt wurden und die Krankheit immer noch aktiv war, sobald die Substanz wieder abgesetzt wurde. Unter Beibehaltung seiner grundlegenden Voraussetzung fuhr er fort zu experimentieren. Dabei entdeckte er zufällig den folgenden Zusammenhang: Wenn ein Fläschchen mit einer verdünnten Arznei scharf gegen eine harte Oberfläche geschlagen wurde, was er Verschüttelung nannte, und der Inhalt einer gesunden Person verabreicht wurde, dann hatte die gleichwohl noch immer giftige Arznei in ihrer verdünnten Form einen viel weiteren Aktionsumfang entwickelt. Er setzte diesen Prozess mehrfach fort: Zuerst fügte er einem Teil des rohen Arzneistoffes neun Teile eines Verdünnungsmittels hinzu und unterwarf den Behälter dann der Verschüttelung. Diese Verdünnung nannte er eine Einerpotenz. Dann verdünnte er einen Teil dieser Mischung mit neun Teilen eines Verdünnungsmittels und erhielt nach der Verschüttelung eine sogenannte Zweierpotenz. Bei der Fortsetzung dieses Prozesses erreichte er eine 30er Potenz, in der keine Spur mehr der ursprünglichen Arznei nachweisbar war. Gleichwohl blieben ihre medizinischen Eigenschaften erhalten und waren sehr erhöht. Die Verschüttelung, die ursprünglich mühsam eigenhändig getan wurde, wird jetzt durch hochentwickelte Maschinen erledigt, und die Energie kann in die Tausende erhöht werden. Jüngste Forschungen in England lassen schließen, dass die molekularen Muster auch bei zunehmender Verdünnung dieselben bleiben aber die verborgene Energie anwächst. Jetzt werden Versuche gemacht, um herauszufinden, welche Art von Energie beteiligt ist und warum sie zunimmt.

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Große Anstrengungen werden unternommen, um mehr darüber herauszufinden, warum Homöopathie so funktioniert wie sie funktioniert. Vieles davon ist Methodologie. Die Doktoren unterscheiden sich oft in der Praxis, aber fast alle stimmen ihren drei Grundprinzipien zu: Das Ähnliche kommt an die Krankheit heran und ebenso entweder die kleinste Einzeldosis oder wenige Wiederholungen der angezeigten Medizin. Die meisten homöopathisch bereiteten Arzneimittel stammen aus natürlichen Quellen im Tier-, Pflanzen und Mineralreich. Hahnemann lehrte, alle Dinge in der Natur seien lebende Wesenheiten und es sei notwendig, medizinische Substanzen jenseits ihres materiellen Zustandes zu entwickeln und ihre immaterielle Kraft, die geistig-lebendige Kraft, Krankheiten zu behandeln, zu erschließen. Die Krankheiten hatten seiner Meinung nach eine immaterielle Ursache, die schon vorhanden sei, bevor die sichtbaren materiellen Symptome erschienen. Nirgends in Hahnemanns umfangreichen Schriften, und ich habe alles ins Englische Übersetzte gelesen, erwähnt er Swedenborg oder macht irgendeinen direkten Verweis auf seine Schriften. Aber in vielen Paragraphen während der sechs Ausgaben seines Organons der Heilkunst setzt er körperliche Gesundheit mit geistiger Gesundheit gleich. In seiner Analyse der chronischen Krankheiten, die er für einen Ausdruck des vererbten Bösen hielt, ist seine Behandlung auf die Ausschließung oder Veränderung ihrer zerstörerischen Kraft gerichtet, so dass ihre Wirkung in zukünftigen Generationen geringer sein möge. Tatsächlich ist die homöopathische Wertschätzung konstitutioneller Behandlung von Kindheit an auf dieses Ziel ausgerichtet. In Hahnemanns Briefen und anderen Schriften kann man seine allmähliche Veränderung von einem rein physiologischen Zugang zu den Ursachen der Krankheit hin zu einer mehr geistigen Verursachung sehen. In der ersten Ausgabe seines Organons bezieht er sich auf ein "heilendes Prinzip im Menschen, von dem das Wesen nicht bekannt ist"49. Seine Suche nach einer jenseits des Sichtbaren liegenden korrigierenden Wirkung der Heilmittel setzte er während seiner letzten Jahre fort, und durch seine Werke hindurch ist sein Glaube, dass in Krankheiten eine immaterielle geistartige Kraft existiert, offensichtlich. Er nannte sie die "Lebenskraft", die durch eine ähnliche aber verschiedene Lebenskraft in den Medikamenten getroffen werden muss. Swedenborg schrieb in der "Göttlichen Liebe und Weisheit": "Alle Tiere, die größeren wie die kleineren, leiten ihre Entstehung vom Geistigen in seinem letzten, dem natürlichen Grad ab." Ebenso: "Die Formbildung in beiden Reichen verdankt ihre Entstehung einem geistigen Einfließen." (GLW 346). Dies scheint eine Beziehung zwischen Swedenborgs Lehren und denen von Hahnemann nahezulegen, und mag ein Grund dafür 49

Samuel Hahnemann, Organon of the Art of Healing, übers. von R. E. Dugeon, 1. Auflage (Philadelphia: Hahnemann Publishing Society, 1810).

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sein, dass einige Swedenborgianer eine homöopathische Behandlung ihrer Krankheiten bevorzugt haben. Hahnemann schreibt: "Von schädlichen Einwirkungen auf den gesunden Organism, durch die feindlichen Potenzen, welche von der Außenwelt her das harmonische Lebensspiel stören, kann unsere Lebenskraft als geistartige Dynamis nicht anders denn auf geistartige (dynamische) Weise ergriffen und afficirt werden und alle solche krankhafte Verstimmungen (die Krankheiten) können auch durch den Heilkünstler nicht anders von ihr entfernt werden, als durch geistartige (dynamische, virtuelle) Umstimmungskräfte der dienlichen Arzneien auf unsere geistartige Lebenskraft"50. Wiederum in der "Göttlichen Liebe und Weisheit" lesen wir: "Der Mensch wird aufgrund seines erblichen Gebrechens in Böses aller Art hineingeboren, das dort im Äußersten seinen Sitz hat. Dieses Gebrechen aber werde nur entfernt, wenn die höheren Grade aufgeschlossen werden" (GLW 432). Hahnemann teilte Krankheiten in drei Kategorien ein: (1) die, die der Einzelperson und ihrer Umgebung angehören und sich durch ihre Situation entwickeln; (2) konstitutionelle Vererbung, für die wir besonders empfänglich sind; und (3) Krankheiten, die aus der Volksgemeinschaft herkommen, das heißt konkrete Bereiche des Übels, der Epidemien und Seuchen, die kommen und gehen; sie übertragen ihre zerstörerische Kraft auf Personen, die sie nicht verursacht haben und deswegen in keiner Weise geistig für ihren Einfluß verantwortlich sind. Der zweiten und dritten Art muss, so Hahnemann, auf der dynamischen Ebene begegnet werden, um ihre Wirkungen vom Organismus zu entfernen. Hahnemann erkannte, dass zusätzlich zur geistigen Kraft, die von einem "wohltätigen Schöpfer" geschaffen wurde, um die Einflüsse zu lenken, damit der Körper im Gleichgewicht gehalten werden kann, ein entsprechendes körperliches System vorhanden sein muss, durch welches erstens die Gesundheit erhalten werden kann und dessen hochindividuellen Ausdrucksweisen zweitens durch den ganzen physischen Körper verbreitet sind. Wahrscheinlich beschrieb Hahnemann damit das Immunsystem, das normalerweise sofort reagiert, um die materiellen Wirkungen der krankmachenden Einflüsse zu entfernen. Aber er stellte auch die These auf, dass es nur dann in der beabsichtigten Weise funktioniert, wenn der entsprechende geistige Einfluß in Ordnung ist. Weil das häufig nicht der Fall ist, kann Hilfe, die durch Medikamente bereitgestellt wird, erforderlich sein.

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Ebenda, übers. von William Boerike, M. D., 6. Auflage (Philadelphia: Boericke & Tafel, 1922), S. 103. Organon § 16.

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Im 16. Jahrhundert schrieb ein englischer Arzt, dass "unsere Körper nicht durch verdorbene und ansteckende Ursachen verletzt werden können, außer dass in ihnen ein bestimmter Stoff ist, der geeignet ist, sie zu empfangen, andernfalls würden alle Menschen krank werden, sobald einer krank wird."51 Und in unseren Tagen sagte der kürzlich verstorbene René Dubos, ein Mikrobiologe am Rockefeller Institut for Medical Research nach einer vorurteilsfreien Prüfung der ganzen Mikrobentheorie von Krankheiten, dass "der Mensch immer eine große Anzahl von potentiell gefährlichen Mikroben beherbergt und in seinen Geweben alles für ihr Leben Erforderliche hat. Die meisten von ihnen bleiben wahrscheinlich schlafend, aber einige werden sich schließlich trotz der Anwesenheit von spezifischen Antikörpern ausbreiten, wenn die normale Physiologie des Körpers gestört wird."52 Er setzte einen Zustand des biologischen Gleichgewichts zwischen Mensch und Mikrobe voraus, der instabil wird durch eine Abweichung vom normalen Zustand, eine emotionale, eine ernährungsbedingte, eine umweltbedingte oder eine Abweichung aufgrund ausgiebiger und massiver Behandlung mit Medikamenten. James Tyler Kent fügte eine Anzahl von Hahnemanns verstreuten Angaben zusammen und fand heraus, dass die Erklärung für die offensichtliche Unfähigkeit der geistartigen Kraft, den materiellen Organismus immer im Gleichgewicht zu halten - wobei er annahm, dass dies in einer längst vergangenen Zeit möglich war -, darin bestehen muss, dass die Menschheit es während vieler Generationen dem Bösen und Falschen erlaubt hat, sich einzuschleichen, womit es zu schwierig wurde, die guten Einflüsse in der Vorherrschaft zu halten. Noch und noch erinnert er uns daran, dass Gesundheit vom Geistigen zum Körperlichen fließt, d.h. vom Innersten zum Äußersten und von oben nach unten. Swedenborg sagt dasselbe in den "Himmlischen Geheimnissen", indem er feststellt, dass "der Einfluss" immer vom inneren zum äußeren verläuft (HG 6322). Außerdem fasst Kent den Sinn mehrerer Paragraphen der verschiedenen Ausgaben des Organons mit den folgenden Worten zusammen: "Falschheiten, die mit dem harmonischen Einfluß im Konflikt geraten, werden im physischen Organismus durch ihre natürlichen Entsprechungen gesehen, und das sind die Symptome, die uns sagen, welche Medizin sie entfernen wird und es der immateriellen Lebenskraft, welche alle Teile des Körpers durchdringt, erlaubt wieder für die himmlischen Einflüsse empfänglich zu sein. Daher ist Gehorsam gegenüber den geistigen und natürlichen Gesetzen die absolute Be-

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British Homeopathic Journal Aus einem Gespräch mit René Dubos, M. D. (später erschien es im British Homeopathic Journal), in dem er eine Abhandlung von John Caius aus dem Jahre 1552 zitiert.

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dingung für Gesundheit sowohl in der Seele als auch im Körper. Jede Abweichung mag geistige und natürliche Krankheit bringen."53 Kent sagt uns, Hahnemann war der Meinung, dass es drei Grade in der Kraft gebe und alle Objekte in der natürlichen Welt ihnen entsprechen. Swedenborg bringt das so zum Ausdruck: "Die ganze natürliche Welt entspricht der geistigen Welt" (HH 89). Hahnemanns philosophische Schriften zeigen ein teilweises Verständnis von Swedenborgs Lehre des universalen Menschen (Maximus Homo), obgleich er beide Begriffe nicht benutzt. Er spricht eher davon, dass jede Person eine Vergegenständlichung des "kollektiven geistigen Menschen" ist und glaubt, dass jeder Teil eines Individums seine natürliche Entsprechung mit diesem geistig vergegenständlichten Menschlichen hat. Swedenborg sagt in den "Himmlischen Geheimnissen", dass das wahre Prinzip der Heilung die göttliche Liebe ist, die vom menschlichen Wesen des Herrn und einem Leben des göttlich Wahren bis zu den höllischen Geistern in den Leibern der Menschen gebracht wurde, so dass diese Geister veranlasst werden zu weichen. Er fügt hinzu: "Dies hindert jedoch nicht, dass der Mensch auf natürliche Weise geheilt werden kann, denn mit solchen Mitteln wirkt die Vorsehung des Herrn zusammen." (HG 5713). Hahnemann unterscheidet zwischen dem langsamen Prozess der Heilung oder Hemmung des Fortschreitens von (1) chronischen Krankheiten und der Beschäftigung mit (2) Krankheiten auf der natürlichen Ebene, die die geistige Kraft nicht so gründlich stören. Den chronischen Krankheiten muss auf der geistigen Ebene begegnet werden und sie müssen so weit als möglich durch immaterielle Kräfte überwunden werden, die durch Potenzierung (Verdünnung und Verschüttelung) entwickelt werden. Die an zweiter Stelle genannten Krankheiten durch niedrigere Potenzen der medizinischen Substanzen, aber immer noch durch eine immaterielle Kraft. Kent fühlte, dass das Durchschreiten einer homöopathischen Behandlung chronischer Krankheiten, wie von Hahnemann besprochen, dem Wiedergeburtsprozess analog war, so wie er durch Swedenborg beschrieben wurde. Vor nicht langer Zeit schrieb Dr. Twentyman im British Homeopathic Journal: "Man nahm an, dass Kent ein reiner Hahnemannianer war, aber das war er selbstverständlich nicht. Er war eine Synthese von Hahnemann und Swedenborg."54 Vor einigen Jahren folgerten Forscher in England, dass Hahnemanns Infinitesimaldosen Energie waren, obgleich es nicht klar war, was für eine Art von Energie oder wie sie sich entwickelte. In seinem Organon stellt Hahnemann fest: "Die Lehre von der Teilbar-

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James Tyler Kent, M. D., Lectures on Homeopathic Philosophy (Lancaster, Pa.: Examiner Printing House, 1900). British Homeopathic Journal (July-October 1956), S. 260.

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keit der Materie lehrt uns, dass Energie nie geteilt wird bis zu dem Punkt, wo sie aufhören würde, etwas zu sein und alle Eigenschaften des Ganzen teilen würde."55 Swedenborg schrieb in der "Ehelichen Liebe": "Alles Geteilte ist mehr und mehr vielfach, nicht aber mehr und mehr einfach, weil das immer wieder Geteilte immer näher kommt dem Unendlichen, in welchem auf unendliche Weise alles ist." (EL 329). Und in der "Wahren Christlichen Religion": "Dies stimmt auch überein mit der Weisheit der Alten, wonach alle Dinge bis ins Unendliche teilbar sind." (WCR 33). Es gibt keine Aufzeichnung, dass Hahnemann jemals irgendeiner kirchlichen Organisation angeschlossen war, aber er nannte seine Arbeiten eine "von Gott gegebene Philosophie". Seine Schriften zeigen einen festen Glauben an die Entsprechung der natürlichen mit den geistigen Dingen. Sein medizinisches System ist sicher von dieser Voraussetzung aus entwickelt. Wie Swedenborg war auch Hahnemann ein Mensch, der seiner Sache ganz hingegeben war. Dennoch war er, als er in Paris 88jährig starb, ernüchtert, enttäuscht und unfähig, die Tatsache zu akzeptieren, dass seine langjährige Forschung und logische Argumentation von so vielen seiner Zeitgenossen verworfen oder verspottet wurde. Obwohl ihr Gründer ernüchtert war, wird Homöopathie heute in vielen Staaten der ganzen Welt praktiziert und anerkannt. Gleichwohl ist die Homöopathie in den Vereinigten Staaten, wo eine materialistische und mechanistische Vorgehensweise die Medizin seit den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts dominiert hat, bis vor kurzem allgemein ignoriert worden. Auf der organisatorischen Ebene ist die Geschichte der Swedenborgkirche ähnlich gewesen. Beinahe bis ans Ende des 19. Jahrhunderts gab es, über das ganze Land verstreut, viele neukirchliche Gemeinschaften und Gruppen, die Swedenborg rezipierten. Während desselben Zeitraums gab es homöopathische Schulen und Krankenhäuser in beinahe jedem Staat. In den späteren Jahren des 19. Jahrhunderts gab es 70.000 praktizierende Homöopathen und einige Millionen homöopathische Patienten. Sowohl die Homöopathie, als auch der Swedenborgianismus verloren jedoch nummerisch im frühen 20. Jahrhundert an Boden, ein Trend, der bis vor kurzem angedauert hat. Jetzt gibt es ein unterschwelliges Interesse an Hömöopathie im ganzen Land und ebenso neue Zeichen eines Wechsels und einer verstärken Wirkung nach außen bei den Swedenborgianern. Vielleicht geht unsere Kultur jetzt durch ein Wiedererwachen der geistigen Dimension entgegen. Informierte Swedenborgianer haben traditionellerweise wenig Schwierigkeit, eine medizinische Philosophie zu akzeptieren, die auf der immateriellen, unsichtbaren und akti55

Hahnemann, Organon, Dudgeon Hg., S. 301.

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vierten Kraft des Geistes basiert. Ihre Interpretation durch Kent und seine Analyse der geistigen Entsprechungen, die zwischen homöopathischen Heilsubstanzen und den Organen des Körpers bestehen, ist sehr lesenswert. Es ist oft gesagt worden, dass er glaubte, Swedenborgs Wissenschaft der Entsprechungen sei in Harmonie mit dem, was er die Jahre hindurch gelernt hatte und ihm eine Hilfe in der Bestimmung der Wirkungen seiner Verordnungen war.56 Wir können das illustrieren, indem wir als Beispiel Swedenborgs Erklärung der Entsprechung zwischen Gold und dem menschlichen Herz anführen. Gold entspricht der Liebe: "Das Herz im Worte Gottes bezeichnet den Willen und auch das Gute der Liebe ... Daher werden dem Herzen auch Neigungen zugeschrieben, obgleich sie weder in ihn sind, noch aus ihm hervorgehen." (HH 95). Vor einigen Jahren bestätigte eine Forschung am Massachusetts Institute of Technology die mögliche Verwandschaft bestimmter Metalle mit bestimmten Organen. Sie bemerkten, dass ein nennenswerter Prozentsatz von Gold im Herzen gefunden werde und keine Spur davon in irgendeinem anderen Organ. Homöopathen benutzen potenziertes Aurum (Gold) bei der Behandlung einiger Herzbeschwerden. Es gibt noch viel mehr Ähnlichkeiten in den Schriften Swedenborgs und Hahnemanns, und jeder, der geneigt ist, sie weiter zu vergleichen, wird unweigerlich ein Interesse an diesen Zusammenhängen entwickeln. Ich habe mich manchmal dabei ertappt, dass ich über diese Entsprechungen regelrecht verblüfft war. Wie konnten sie entstehen? Durch die Vorstellung einer allgemeinen, den Dingen zugrundeliegenden Wahrheit? Oder gibt es eine auffindbare, historische Verbindung zwischen Swedenborg und Hahnemann? Wir wissen, dass sich die zwei Männer nie trafen, aber Hahnemann in Berührung war mit Johann Wolfgang von Goethe und Heinrich Heine und möglicherweise auch für sie Rezepte ausgestellt hatte; beide waren vertraut mit der spirituellen Seite der Philosophie Swedenborgs und von ihr angetan. Jahre hindurch haben viele Leute versucht, eine Antwort zu finden, aber wenn nicht einige unübersetzte Briefe oder andere Papiere ans Tageslicht kommen, wird eine tatsächlich belegbare Verbindung ein Geheimnis bleiben. In diesem Punkt jedoch sind wir sicher, wenn wir sagen, dass jeder Mensch auf seine eigene Weise sich von ähnlichen Wahrnehmungen tiefer geistiger Realitäten, die das ganze Universum durchdringen, Anregungen holt. Für solche Menschen, deren Herangehensweise an das Leben weiterhin geistige Realitäten einschließt, mag eine hochentwickelte geistige Philosophie von dem einen genommen werden und ein zusammenhängender Zugang zur Gesundheit und Heilung von dem anderen. Swedenborg und

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Thomas L. Bradford, Life and Letters of Hahnemann (Philadelphia: Boericke & Tafel, 1895).

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Hahnemann müssen als wichtige Führer und Quellen der Inspiration erscheinen, da unser Jahrhundert versucht, seine geistigen Wurzeln wiederzuentdecken.

Homöopathie und Neue Kirche in den USA des 19. Jahrhunderts57 von Maguerite Block Die früheste Verbindung der Homöopathie mit der Neuen Kirche geschah durch Dr. Hans Burch Gram (1786 - 1840), der sich 1825 in New York City niederließ und ein Mitglied der New Yorker Gesellschaft der Swedenborgianer wurde. Dr. Gram, der in Deutschland bei Hahnemann persönlich studiert und beträchtliche Verfolgungen bei seinem Versuch, die neuen Methoden in Kopenhagen einzuführen, erlitten hatte, war der erste homöopathische Arzt in Amerika. Er war nicht nur bei der Bekehrung einer Anzahl prominenter New Yorker Ärzte zu den neuen Lehren erfolgreich, sondern auch darin, dass er sie mit Mitgliedern der Neuen Kirche bekannt machte. 1826 übersetzte er Hahnemanns Abhandlung "Geist der homöopathischen Heillehre"58. Die Homöopathie ging wie ein Lauffeuer durch die Neue Kirche. Ihre Periodika sind voll von Erörterungen ihrer Beziehung zu den Lehren Swedenborgs, und ein großer Teil ihrer Mitglieder nahm sie an. Zwei der größten Firmen homöopathischer Pharmazeuten in Amerika, Boericke und Tafel in Philadelphia und Otis Clapp in Boston, wurden von Neukirchenleuten gegründet. Diese Männer waren außerdem in der Publikation homöopathischer Literatur aktiv, Boericke besaß den maßgeblichen Kapitalanteil am Hahnemann Publishing House.59 Bald schon war eine große Anzahl homöopathischer Ärzte ebenfalls in die Mitgliedslisten der Neuen Kirche eingeschrieben, einige von ihnen wurden später ordinierte Pfarrer.60 Die Gründe für diese Verbindung zwischen den beiden Lehren sind ausführlich in Publikationen der Neuen Kirche dargelegt worden. Anscheinend hat es allerdings keinen direkten Einfluss der Schriften Swedenborgs auf Hahnemann selbst gegeben, obgleich es wahrscheinlich ist, dass er mit einigen anatomischen Werken seiner früheren Jahre

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Den folgenden Einblick in frühe Verbindungen und Kontroversen der Homöopathie mit der Neuen Kirche in den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts entnehmen wir dem Buch von Maguerite Block, The New Church in the New World, 1984, S. 161-165. Dr. Wm. H. Holcombe, The Truth about Homeopathy, S. 8f; New Jerusalem Messenger, Bd. 39, S. 168. New Church Review, Bd. 36, S. 207; New Church Life, Bd. 22, S. 113-115. New Church Messenger, Bd. 108, S. 96, 175.

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vertraut war.61 Das hauptsächliche Verbindungsglied zwischen ihnen scheint Paracelsus zu sein, dessen gründliche Studenten beide, Hahnemann und Swedenborg, waren und dessen Lehre der "Signaturen" für einen Großteil der Ähnlichkeit zwischen ihren Theorien verantwortlich ist. Für Hahnemann war, ebenso wie für Swedenborg, Krankheit eine Angelegenheit des Geistes oder, wie Hahnemann es formuliert: "Dynamische Abirrungen unseres Geistes, gleichwie Leben, das sich durch Empfindungen und Vorgänge kundtut". Die Psora, die chronische Krankheiten verursachte, war ein Miasma oder ein böser Geist, der den Körper durchdrang und sich schließlich als ein Einbruch kundgab.62 Mit Bezug auf das Verhältnis zwischen den beiden Lehren schrieb Dr. William E. Payne, von Bath, Me., wie folgt: "Mit diesem Versuch, die Wissenschaft der Medizin in ihrer ordentlichen Verbindung mit den Lehren der Kirche darzustellen, habe ich mich, dessen bin ich mir bewußt, auf eine Ebene von endloser Ausdehnung begeben … Alle geistigen Krankheiten haben, wie wir uns bemühen werden, ihm Laufe unserer Bemerkungen zu zeigen, ihr Pendant in den Krankheiten des natürlichen Körpers; oder anders gesagt, alle Krankheiten des natürlichen Körpers sind die Endausformungen geistiger Unordnungen oder böser Neigungen des Gemüts. Und während das Gebiet des geistigen Arztes beschränkt ist auf die geistige Ebene, indem er besonders den Krankheiten des Gemüts dient, ist gleicherweise die Gegend des natürlichen Arztes auf die natürliche Ebene beschränkt, indem er vor allem für die Krankheiten des natürlichen Körpers zuständig ist … Den Skeptizismus, der im Schoße der Kirche und in den Gemütern Außenstehender existiert, mag man im wachsenden Unglauben an die Nützlichkeit aller Heilmittel erkennen, als solcher stellt er sich in den Gemüters von Akademikern und NichtAkademikern dar. Wie im einen Fall falsche Prinzipien zur Unterdrückung moralischer Verdorbenheit benutzt werden, so werden im anderen Fall Medikamente zur Unterdrückung körperlicher Krankheit benutzt, oder aber die Wirkungen einer Krankheit werden anstelle der eigentlichen Krankheit entfernt, wie in den Fällen der Entfernung von Tumoren mit dem Messer, damit das Äußere des Körpers gesund und schön scheint, während dieselbe innere Ursache bleibt, weiterhin in das Äußere fließt und sich vielleicht sogar in einer widerlicheren Form als zuvor zeigen wird."63 Der Artikel fährt fort: "Zwei neue Methoden zur Behandlung von Krankheiten haben sich jüngst Neukirchenleuten empfohlen. Die eine, die Hydropathie, oder, wie sie manchmal genannt wird, das Kalt-Wasser-System der Heilung; und die anderen, die Homöopathie, oder das medizinische System, das den Nutzen spezieller Heilmittel anerkennt. Das erstere ist sehr jungen Datums und hat sich Neukirchenleuten aufgrund

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New Church Review, Bd. 31, S. 290. Morris Fishbein, The Medical Follies, S. 31-34. Newchurchman, Bd. 2, S. 509-513.

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der allgemeinen Entsprechung des Wassers empfohlen. Ungefähr ein halbes Jahrhundert ist vergangen seit die Prinzipien des letzteren der Welt zuerst bekannt gemacht wurden in Gestalt einer Wissenschaft und sich Neukirchenleuten empfahlen, wie man nun sehen kann, hauptsächlich daher, dass es den Ursprung aller Krankheiten auf immaterielle, geistige Ursachen zurückführt … Swedenborg sagt: 'Die Krankheiten entsprechen den Begierden und Leidenschaften des Gemüts (animi). Diese sind auch die Entstehungsgründe der Krankheiten, denn diese sind im allgemeinen Unmäßigkeit, allerlei Üppigkeit, rein sinnliche Vergnügungen, dann auch Neid, Haß, Rache, Unzucht und dergleichen, was das Inwendigere des Menschen zerstört; und wenn dieses zerstört ist, leidet das Auswendigere und zieht dem Menschen Krankheit und dadurch den Tod zu.' (HG 5712) … Wenn der Einfluss des Lebens wilder und grausamer Tiere, giftiger Pflanzen und Mineralien in die natürliche Welt frei und ungehindert ist, dann wird natürliche Krankheit nicht vorkommen, denn dieses Leben fließt frei durch das Gemüt, da es ja nach seiner eigenen äußersten Form, entweder auf der tierischen, der pflanzlichen oder der mineralischen Stufe, strebt. Diese Form allein kann es aufnehmen, ohne die Gewalt, die ihr durch ein Leben, das wesentlich von ihrem eigenen Leben abweicht, angetan würde. 'Daher sehen wir', Swedenborg zitierend, 'dass alle Objekte und Gegenstände der natürlichen Welt als eine Art Sicherheitsventil dienen, wenn der Ausdruck erlaubt ist, zum Schutz des natürlichen Lebens des Menschen. Ohne diese könnte er nicht einen Augenblick existieren.' … Wenn sich eine Krankheit gezeigt hat, 'dann wird es notwendig, um den natürlichen Körper wieder zur Aufnahme seines eigenen Lebens herzustellen, also einen Zustand der Gesundheit herbeizuführen, dass die Sperre überwunden wird, dass die Neigung, die eingesperrt ist, und nun in den natürlichen Körpers als ihr äußerstes Aufnahmeorgan fließt, wieder abwärts in ihr ureigenstes Aufnahmegefäß fließt und den natürlichen Körper verläßt, der nur ein aufnehmendes Organ seines eigenen, ihm angemessenden Lebens ist. Um das zu bewirken, muss das Äußerste des Krankheit oder der bösen Neigungen, das im Körper tätig ist, um etwas Aufnehmendes zu formen, in dieselbe Ebene eingeführt werden, um das unordentliche Leben aufzunehmen.' Quecksilber produziert dieselben bösen Wirkungen wie Syphilis, Ähnliches heilt Ähnliches, daher heilt Quecksilber Syphilis."64 In einem Artikel mit der Überschrift "Have the Principles of Homoeopathy an Affinity with the Doctrines of the New Church?" (Haben die Prinzipien der Homöopathy eine Ähnlichkeit mit den Lehren der Neuen Kirche?) erläutert Rev. Richard de Charms seine Theorien der Verbindung. "Es ist nicht wahr, dass eine Krankheit durch eine andere ähnliche Krankheit ausgetrieben wird. Wie wir gezeigt haben, ist das nicht die Theorie einer hömöopathischen Heilung. Die Theorie ist, dass die bösen Geister der Hölle, die 64

Ebenda, S. 520, 532, 541f.

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Krankheit im menschlichen Organismus erregen, dadurch, dass sie in menschliche Gifte fließen, die ihnen entsprechen und welche die Sünde darin (im menschlichen Organismus) erzeugt hat, abgeleitet und von diesem Organismus abgezogen dadurch werden, dass ihnen ein dankbareres Feld für ihre höllischen Aktivitäten geboten wird, nämlich jene ähnlichen Gifte, die mit den Höllen jener Geister im Tier-, Pflanzen- oder Mineralreich unterhalb des Menschen korrespondieren. In diese niedrigeren Gifte oder ihre Wirkungen gehen die höllischen Geister freiwillig und durch göttliche Zulassung, nicht Zwang, weil sie ein größeres Vergnügen in einem äußerlicheren Grund ihrer Aktivität fühlen."65 Diese ausgefallene Theorie wurde von verschiedenen neukirchlichen Ärzten, Homöopathen und Allopathen, scharf kritisiert. Dr. William H. Holcombe, ein allopathischer Arzt, der später zur Homöopathie konvertierte, schrieb: "Wenn eine Person Arsen schluckt, dann ist es keineswegs so, dass sich die Geister in die Arsenmoleküle stürzen, ihre bösartige Aktivität zeigen und dann im Arsen aus dem Körper fahren. Sie bemächtigen sich lediglich des Arsens als eines Wirkstoffes im Äußersten, durch den sie die Zerstörung in seinem Körper bewerkstelligen möchten, die sie in seiner Seele anrichten würden. Ein chemisches Gegenmittel verhindert den höllischen Einfluss, indem es die Form der Substanz verändert … Der Eintritt des Teufels in die Schweine ist eine immerwiederkehrende Illustration bei homöopathischen Neukirchenleuten, aber die beiden wichtigsten Punkte werden übersehen. Die Teufel verlassen die zwei Männer mit großem Widerwillen, indem sie ihre Bitte, in die Schweine zu gehen, mit den mißbilligenden Worten einleiten: 'Wenn du uns austreibst'. Die Sphäre der göttlichen Liebe quälte sie, so dass sie willig wurden, ihre höhere Sphäre der Wirksamkeit zu verlassen zugunsten einer niedrigeren und (im Widerspruch zur Hypothese von Herrn de Charms) weniger angenehmeren."66 Eine andere nicht zustimmende Meinung kam Dr. William M. Murdoch, einem anderen allopathischen, neukirchlichen Arzt: "Ich versichere in aller Wahrheit, dass ich nicht fähig bin ein einziges Prinzip und kaum einen einzigen Ausdruck in den Werken Swedenborgs zu finden, der als eine Unterstützung der Vorstellung aufgefasst werden kann, dass Ähnliches Ähnliches heilt, Similia similibus curantur. Tatsächlich scheint mir das genau das Prinzip zu sein, welches unser Herr zurückwies, als er lehrte, dass es unmöglich sei, Teufel durch Beelzebub, den Obersten der Teufel, auszutreiben … Außerdem glaube ich nicht, dass ein religiöses Journal ein passendes Medium ist, Kontroversen über medizinische Theorien auszutragen … Ärzte erachten die Meinungen Geistlicher über medizinische Angelegenheiten für gänzlich wertlos."67

65 66 67

New Church Repository, Bd. 3, S. 506. Ebenda, S. 542-544. New Church Messenger, Bd. 2, S. 112.

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Dr. Charles S. Mack, Professor am Homoeopathic Medical College der Universität Michigan und später ein neukirchlicher Geistlicher, widmet in seinem Buch "Philosophy in Homoeopathy" mehrere Seiten der Beziehung der Homöopathie zu Swedenborgs Philosophie. Sein Glaube ist, dass "die Theorie der Homöopathie gänzlich annehmbar zu sein scheint für den Glauben, dass wir Empfänger des Lebens von der ersten Quelle des Lebens sind und, wenn Heilung vorkommt, Empfänger der Gesundheit, die Krankheit ersetzt."68

Homöopathie - das göttliche Naturheilgesetz von Dagmar Strauß Zunächst sollen die Begriffe Homöopathie, Allopathie und Naturheilkunde erklärt werden: Es gibt die Allopathie (heute meist mit "Schulmedizin" gleichgesetzt); der Begriff ist abgeleitet von allos = anders, gegensätzlich; und pathos = Leiden. Es gibt die Homöopathie, abgeleitet von homoios = ähnlich. Und es gibt die Naturheilkunde; ihr therapeutischer Ansatz entspricht häufig dem allopathischen Vorgehen, sie verwendet aber überwiegend natürliche Drogen. Homöopathie nimmt unter den drei großen Therapierichtungen eine Sonderstellung ein. Sie unterscheidet sich von den anderen Richtungen durch ein ganz eigenes Denkmodell mit spezieller Krankheits- und Gesundheitslehre, das auf strengen Gesetzen beruht. Um die Homöopathie verstehen zu können, muß man sich vom herkömmlichen Krankheitsund Gesundheitsverständnis lösen. Der Unterschied zwischen Homöopathie und Allopathie wird am deutlichsten anhand der Entwicklung und Entdeckung der homöopathischen Heilgesetze.

Die Entdeckung des homöopathischen Heilgesetzes durch Samuel Hahnemann 1790 Samuel Hahnemann wurde 1755 in Meißen geboren. Sein Vater war Porzellanmaler, und die Familie war nicht sehr wohlhabend. Samuel war ein sehr intelligentes und sprachbegabtes Kind, aber seine Eltern hatten nicht die finanziellen Möglichkeiten, ihn auf eine höhere Schule zu bringen. Dank seiner großen Begabung fand sich ein Gönner, der dem jungen Hahnemann eine höhere Schulbildung finanzierte. Da er schon in jungen Jahren 5 Sprachen fließend sprechen konnte, war es ihm möglich, sich seinen größten Traum zu erfüllen, - Arzt zu werden. 68

Dr. C. S. Mack, Philosophy in Homeopathy, S. 90-99.

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Sein Medizinstudium finanzierte er sich durch Übersetzen von pharmazeutischer, chemischer und medizinischer Literatur. Alle fremdsprachige Fachliteratur ging damals durch seine Hände und so erlangte er schon in frühen Jahren das größte fachübergreifende Wissen seiner Zeit. Zehn Jahre später, 1790, ließ er sich das erste Mal als praktischer Arzt nieder. Er bemerkte allerdings schon bald eine große Unsicherheit im Umgang mit den Patienten, obwohl er über ein großes medizinisches Wissen verfügte. Er spürte, daß es an allgemeingültigen Gesetzen zur Behandlung von Kranken fehlte. Wie konnte er sicher sein, einem Patienten nicht noch mehr zu schaden? Wie konnte er wissen, ob er einen kranken Menschen wirklich zu größerer Gesundheit, oder ob er ihn nur in noch größeres Leid führte? Wo waren die Richtlinien zur Behandlung von kranken Menschen? Es gab so viele unterschiedliche Meinungen zur Behandlung der verschiedenen Krankheiten. Jede Fakultät hielt nur ihre Therapie für die heilbringende. Versammelten sich fünf Ärzte um ein Krankenbett, so gab es fünf Diagnosen und fünf Therapien. Das konnte nicht die wahre Heilkunde sein. Eine Heilung darf nicht von Meinungen abhängen. Welcher Meinung und welchem Arzt sollte er sein Vertrauen schenken? Es mußte doch ein allgemeingültiges Gesetz zur Heilung von kranken Menschen geben! Solange dieses nicht gefunden war, solange wollte er keinen Patienten mehr anfassen. Schon ein Jahr später, 1791, hängte er deshalb seinen Arztkittel an den Nagel. Ab jetzt versuchte er, seine Frau Henriette und die stetig ansteigende Kinderzahl mit Übersetzertätigkeiten mehr schlecht als recht zu ernähren. 1790 mußte er ein Werk des Engländers Cullen übersetzen, der u. a. beschrieb, wie man Wechselfieber mit Chinarinde erfolgreich heilen konnte. Cullen erklärte den heilsamen Einfluß auf das Wechselfieber durch die "magenstärkende Wirkung" der Chinarinde. Darüber wunderte sich Hahnemann sehr, denn er kannte viele Substanzen, die noch viel kräftiger auf den Magen einwirkten, aber keinerlei Einfluß auf das Wechselfieber zeigten. Dies konnte also nicht das Wirkprinzip sein. Es mußte etwas in der Chinarinde geben, das direkt auf das Fieber einwirkte. Er überlegte, wie man wohl die heilsame Wirkung der Chinarinde ergründen könnte, ohne auf Spekulationen angewiesen zu sein. Da bekam er einen göttlichen Einfall: "Was passiert wohl, wenn ein Gesunder die gleiche Menge Chinarinde einnimmt, die Cullen als heilsam bei Wechselfieber beschrieben hat? Um die Wirkungen einer Arznei zu erforschen, ist es wohl das Beste, sie als Gesunder einzunehmen!" Um also der Wahrheit ein wenig näher zu kommen, nahm er trotz des gesundheitlichen Risikos - die Chinarinde in der Dosierung ein, wie sie Cullen als heilsam bei Wechselfieber empfahl.

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Schon nach einigen Tagen spürte er eine Veränderung in seinem Befinden; es stellten sich Symptome ein, die er ganz sorgfältig und penibel aufschrieb. Sein alter gesunder Zustand, wie er ihn von sich selber kannte, verschwand, und Befindensveränderungen auf allen Ebenen stellten sich ein. Er war erschöpft, sein sonst ruhiges Wesen verwandelte sich in nervöse Reizbarkeit, Unruhe und depressive Stimmung. Im Kopf hatte er das Gefühl, als ob das Gehirn gegen den Schädel schlüge. In den Gliedern spürte er Taubheitsgefühle und Zittern. Nach ein paar Tagen schaute er sich diese Symptomenauflistung an und stellte zu seiner Überraschung fest, daß er Symptome entwickelte, die einem Wechselfieber täuschend ähnlich waren. Er setzte die Arznei ab und die Symptome verschwanden nach einigen Tagen. Sein alter gesunder Zustand kehrte auf allen Ebenen zurück. Das konnte aber auch nur ein Zufall sein, und so fing er nochmals an, die Arznei einzunehmen, und wieder stellten sich nach ein paar Tagen diese Befindensveränderungen ein. Es setzte die Arznei erneut ab und alle Veränderungen verschwanden und der alte gesunde Zustand kehrte zurück. Um sicher zu gehen, gab er die Chinarinde gesunden Verwandten und Bekannten, und zu seinem Erstaunen stellten sich bei allen "Prüfern" mehr oder weniger stark diese speziellen Befindensveränderungen ein. Wurde die Arznei abgesetzt, so verschwanden alle Symptome und der jeweils alte gesunde Zustand kehrte zurück. Hahnemann notierte auch die Symptome der anderen "Prüfer" ganz penibel und erstellte so ein Prüfungsprotokoll der Chinarinde bei Prüfung am gesunden Menschen. Angeregt durch diese Entdeckung erwachte sein Forschergeist und nun begann er eifrig, alle damaligen Arzneisubstanzen auf ihre Möglichkeit, das gesunde menschliche Befinden zu verändern, zu untersuchen. Er "prüfte" alle Substanzen an sich, seinen Freunden und Bekannten. Für die Prüfung benutzte er ganz geringe Mengen der Ursubstanz, die täglich mehrmals eingenommen wurden, bis sich deutlich wahrnehmbare objektive und subjektive Befindensveränderungen einstellten. Alle auftretenden Befindensveränderungen, die sich auf der geistigen, emotionalen und körperlichen Ebene einstellten, wurden genau protokolliert und ausgewertet. Nachdem er viele der damals üblichen Arzneien genau geprüft und "Prüfungsprotokolle" erstellt hatte, begann er auch Substanzen zu prüfen, die noch nicht als Arznei verwendet wurden, um deren Potential, das menschliche Befinden zu verändern, zu erforschen. Die Prüfung der Tollkirsche z. B. erbrachte folgende charakteristische Befindensänderungen: Hochroter Kopf, weite Pupillen, durstlos trotz trockenen Mundes, starke Unruhe, Halluzinationen, Halsschmerzen und Ohrenschmerzen rechts, starkes Herzklopfen usw. Die Sammlung an Prüfungsprotokollen sämtlicher Arzneien

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stelle er zur "Reinen Arzneimittelprüfung" zusammen und stellte fest: Jede Arznei macht krank! Jede, ohne Ausnahme.

Ein Gesunder, der eine Arznei einnimmt, wird zum Arzneikranken mit arzneispezifischer Symptomatik! Wird die Arznei abgesetzt, so verschwindet diese Arzneikrankheit und der alte gesunde Zustand kehrt zurück. Das nennt man Arzneimittelprüfung. Als Hahnemann ungefähr 60 - 80 Arzneien auf ihre ihnen innewohnende Wirksamkeit hin geprüft hatte und so über ein sehr genaues Arzneiwissen verfügte, eröffnete er seine Praxis, denn er wollte nun sehen, was er mit diesem Wissen praktisch anfangen konnte. Kam eine Mutter mit einem hochfiebernden Kind, so schaute sich Hahnemann sehr genau diese Befindensveränderungen an. Zeigte dieses Kind z. B. einen hochroten Kopf, erweiterte Pupillen, Unruhe, Halsschmerzen, Ohrenschmerzen und Halluzinationen, so fragte er sich: "Bei welcher Arzneieinnahme ging es mir ähnlich, wie nun diesem kranken Kind? Bei der Tollkirschenprüfung fühlte ich mich ähnlich wie sich dieses Kind jetzt fühlen muß. Er gab nun dem Kind die Tollkirschenurtinktur in ganz geringer Dosis mehrmals am Tag. Das Kind reagierte sehr heftig auf die Arznei, denn das Fieber stieg noch einmal an, die Schmerzen und auch die Unruhe wurden stärker, aber schon nach 1 - 2 Tagen klangen alle Krankheitserscheinungen ab und das Kind wurde auf allen Ebenen wieder gesund. So arbeitete er nun täglich mit Dutzenden Patienten, indem er sich immer wieder genau ihre Befindensveränderungen schildern ließ und überlegte, bei welcher Arznei er ähnliche Prüfungssymptome entwickelte, wie sie nun dieser kranke Mensch schilderte. Als er Hunderte von Patienten erfolgreich behandelt hatte, gab es für ihn keinen Zweifel mehr an seiner Heillehre und er formulierte sie das erste Mal öffentlich, indem er die Grundgesetze zur Heilung von kranken Menschen aufführte. 1. Grundsatz: "Ähnliches werde mit Ähnlichem geheilt." Eine Arznei, die einen kranken Menschen gesund macht, muß bei Prüfung am Gesunden ein ähnliches Erscheinungsbild hervorrufen! 2. Grundsatz: "Prüfung der Arznei am Gesunden" Die Arzneien dürfen nicht am kranken Menschen geprüft werden, weil sein Organismus schon krankhaft gestört ist und so keine reinen Arzneireaktionen zu erwarten sind. Auch sollten kranke Menschen nicht noch zusätzlich belastet werden. Der gesunde Mensch stellt sich zu Verfügung, damit dem kranken Menschen geholfen werden kann. 3. Grundsatz: "Verwendung von potenzierter Arznei" Und wie kam es nun dazu? Hahnemann nahm an Anfang noch ganz geringe Dosen der Ursubstanz (in unserem Fall die Tollkirschentinktur) und verabreichte sie mehrmals täglich, nach dem Ähnlichkeitsprinzip ausgewählt, dem Kind mit dem hohen Fieber. Es

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erfolgten zuerst unangenehme "Erstverschlimmerungen" der herrschenden Symptome. Aber Hahnemann wollte sanft heilen, ohne starke Erstverschlimmerungen, und er schrieb diese heftigen Reaktionen der noch starken Giftigkeit der Substanz zu. Also mußte er die Dosis verringern. Er fing aber nicht an, die Arznei zu halbieren, zu dritteln oder zu vierteln, so wie wir es täten, sondern er nahm ein Teil Tollkirschentinktur mit 100 Teilen Alkohol-Wassergemisch und verschüttelte es zehn Mal kräftig, um es gut zu vermengen, und beschriftete die Flasche mit Tollkirsche C 1 = Centesimal 1; Verhältnis Tollkirsche zu Lösungsmittel 1 : 99 All seine Arzneien "verdünnte" er zu einer C 1. Nun verordnete er nur noch die Arzneien in der C 1 und beobachtete die auftretenden Reaktionen. Die Erstverschlimmerungen waren nicht mehr so heftig, die Heilwirkung blieb jedoch erhalten. Also ging er daran, die Arznei noch "ungiftiger" zu machen. Er nahm von der Tollkirsche C 1 einen Teil, verschüttelte ihn zehn Mal kräftig mit 100 Teilen Lösungsmittel und beschriftete die Flasche mit Tollkirsche C 2 . Auch diese Dosierung prüfte er wieder an seinen Patienten. Die heftigen Erstreaktionen wurden immer sanfter, die erwünschte heilende Wirkung hielt jedoch an. Bei der C 6 stellte er kaum noch Erstverschlimmerungen fest. Mit dieser Dosierung, die keine Verschlimmerungen mehr bewirkte, hätte er sich eigentlich zufrieden geben können. Aber da erwachte abermals Hahnemanns Forschergeist. Nun wollte er gerne wissen, ab welcher Verdünnung keine Wirksamkeit der Arznei mehr spürbar war. Also fuhr er mit dem Verringern der Arzneidosis fort und prüfte jede Dosis auf ihre Wirksamkeit am kranken Menschen. Zu seiner Überraschung war es aber nicht so, wie man leicht hätte vermuten können, daß die Arzneien um so weniger Wirkungen zeigten, je höher er potenzierte, sondern zu seinem großen Erstaunen mußte er das Gegenteil erfahren: Je stärker er die Dosis verkleinerte (verdünnte und verschüttelte), um so stärker wurde ihre Heilwirkung (es gab keine Erstverschlimmerungen mehr) und um so seltener mußte er die Gaben wiederholen. Konnte das mit rechten Dingen zugehen? Hahnemann war ein gewissenhafter Arzt und er prüfte seine Entdeckung immer und immer wieder, bevor er jemandem davon erzählte. Zu seiner Überraschung war es die C 30, die am schnellsten und sanftesten eine Heilung bewirkte. Erst als er Hunderte von Patienten mit einer C 30 schnell, sanft und sicher von ihrem Übel befreit hatte, ging er damit an die Öffentlichkeit. Man erklärte ihn für verrückt und viele seiner (mittlerweile) großen Anhängerschar wandten sich von ihm ab. In den immateriellen Bereich wollten ihm nur wenige folgen und viele, die zwar zunächst Anhänger der "Ähnlichkeitslehre" waren, konnten diesen Weg nicht mitgehen und weigerten sich auch, es zumindest zu versuchen.

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Hahnemann jedoch ließ sich nicht beirren. Sein Ruf als wundersamer Heiler ging nun schon weit über Deutschlands Grenzen hinaus und viele Patienten aus aller Welt pilgerten zu ihm, um von ihren Krankheiten befreit zu werden. Hahnemann fing an, alle möglichen Substanzen aus dem Pflanzen-, Mineral- und Tierreich auf ihre Fähigkeit zu prüfen, das menschliche Befinden zu verändern. Alle Stoffe wurden auf eine C 30 hochpotenziert und erst dann von den Prüfern eingenommen. Er potenzierte auch Substanzen, die in der Ursubstanz, auch in größeren Mengen genossen, keinerlei Arzneikraft aufwiesen - und mußte wieder zu seinem Erstaunen feststellen, daß sie, in der C 30 eingenommen, eine große Kraft besaßen, das menschliche Befinden zu verändern. James Tyler Kent schreibt: "Die Kraft kommt von innen, von einem Zentrum her: Deshalb potenzieren wir unsere Medikamente höher und höher, um eben diesem Zentrum näher zu kommen, denn je näher dem Zentrum, desto intensiver ist die Kraft. In diesem Sinne wird das Medikament durch die Potenzierung immer stärker. Materiell wird das Medikment immer schwächer." Was geschieht aber bei dem so umstrittenen Potenzierungsprozess? Man kann sich das folgendermaßen vorstellen: Hinter jeder Materie steht ja die geistige Kraft, die das Äußere formt. Swedenborg sagt: "Alles materiell Sichtbare hat seine Ursache im dahinterliegenden Geistigen." Durch den Verdünnungs- und Verschüttelungsprozeß wird nun das Geistige oder die Information vom Informationsträger gelöst. Die grobe Außenschale wird nach und nach entfernt und die dahinterliegende Kraft kann sich mehr und mehr entfalten. Diese Kraft wird nun an einen neutralen Informationsträger gebunden (Alkohol-Wassergemisch oder Milchzucker). Diese von der materiellen Bindung losgelöste Arzneikraft vemag nun, unmittelbar auf die seelische Ebene einzuwirken. Hahnemann fand also heraus, daß eine nichtstoffliche Arznei heilen konnte, sofern sie nach dem Ähnlichkeitsprinzip verordnet wurde. Daran gab es nichts zu rütteln, denn die täglichen schnellen und sanften Heilungen waren Beweis genug. Jetzt setzte er wieder seinen logischen Verstand ein und kam zu dem Schluß: "Wenn eine nichtstoffliche Arznei heilend wirkt, so muß die Quelle der Erkrankung (logischerweise) auch im nichtstofflichen Bereich liegen." Diesen nichtstofflichen Bereich nannte er Lebenskraft oder Dynamis. Nicht der Körper ist der eigentliche Träger der Krankheit, sondern die Kraft, welche diesen Körper geschaffen hat, ihn unterhält, Störungen reguliert und ihn nach dem Tode wieder verläßt. Die Lebenskraft kann man nicht sehen, messen oder anfassen, man erkennt sie nur an den Manifestationen, die sie im Körper hinterläßt. Krankheiten können wir niemals sehen, ebensowenig wie wir das Leben selbst sehen können. Die Lebenskraft ist nicht direkt nachweisbar, denn sie steht hinter der Chemie und die organische Chemie entsteht nur durch diese dynamische Kraft. Normalerweise spürt man die Tätigkeit der Lebenskraft

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nicht. Kommt es aber zu einer Verstimmung, so sagt man: "Ich spüre …" Die Funktionen der Organe, wie des Magens, der Leber, der Nieren usw., spürt man normalerweise nicht; in dem Moment aber, wo im immateriellen Bereich (Lebenskraftebene) eine Störung vorhanden ist, sagt man: "Ich spüre meinen Magen, Übelkeit, Schmerzen usw." Erst die Störung dringt zum Bewußtsein vor; wenn alles normal ist, spürt der Mensch nichts! Beginnt man mit den heutigen diagnostischen Geräten eine Untersuchung, würde man zu diesem Zeitpunkt noch kein Ergebnis erhalten, organisch ist alles in Ordnung, aber der Patient hat schon Befindensveränderungen gegenüber seinem gesunden Zustand. Der Prüfer spürt durch die künstliche Arzneikrankheit Befindensveränderungen, und der gesunde Mensch spürt bei Eintreten der natürlichen Krankheit Befindensveränderungen. Ein häufiges Beispiel: Ein Patient beklagt Magendruck, Übelkeit, Empfindlichkeit gegen bestimmte Nahrungsmittel usw. Er geht zu einem Schulmediziner, aber der kann nichts entdecken. So wird der Patient nach Hause geschickt ohne Ergebnis. Der Patient fühlt sich immer noch nicht wohl, die Beschwerden bleiben oder werden immer schlimmer. Jedes Jahr geht er zur Untersuchung ohne Ergebnis. Jahre später entdeckt man ein Magengeschwür, das nun endlich medikamentös behandelt werden kann. Das Magengeschwür ist nicht die Krankheit, sondern das Endresultat der Krankheit! Die sichtbaren Zellstrukturveränderungen, die man mit den heutigen Geräten messen kann, sind das Endresultat der Krankheit, nicht aber die Krankheit selbst. Veränderungen in den Empfindungen verraten uns den Beginn der Erkrankungen, noch bevor Zellstrukturveränderungen sichtbar sind. Nicht die Magengeschwüre sind die Krankheit, sondern der Prozeß der Entstehung des Magengeschwüres. Eine lokale Behandlung dieses Endergebnisses berührt die dahinterliegende Störung nicht. Der Patient war schon krank, als er die Befindensveränderungen feststellte und sagte: "Ich spüre …" - da beginnt schon die Krankheit. Hahnemann arbeitete Tag und Nacht an der Erweiterung seiner Lehre. Er und seine Schüler prüften immer neue Substanzen auf ihre Fähigkeit, das menschliche Befinden zu verändern. Je mehr Mittel gefunden wurden, um so mehr Menschen konnte geholfen werden. Er heilte täglich viele kranke Menschen mit seinen "dynamisierten Arzneien" wie er sie nannte - verordnet nach dem Ähnlichkeitsprinzip. Viele Jahre arbeitete er sehr erfolgreich in seiner Praxis, bis er einige Male bei hartnäckig chronisch kranken Menschen beobachtete, daß die Krankheit nach anfänglicher Besserung immer wieder in alter Stärke zurückkehrte. Er wollte aber nicht nur kurzfristig heilen, sondern schnell, sanft, sicher und vor allem dauerhaft. An der Wahl der Arznei konnte es nicht liegen, da zumindest jedesmal eine kurzfristige Besserung eintrat. An dem Ähnlichkeitsprinzip konnte es auch nicht liegen. Aber woran lag es dann? Um der Sache auf

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den Grund zu gehen, fing er nun ganz penibel an, die chronisch kranken Patienten genauestens zu befragen. Er nahm die Gesamtheit der Symptome des chronisch kranken Patienten auf, und zwar vom Beginn bis zu ihrem Jetztzustand. So erhielt er ein umfassendes Bild der vorherrschenden Krankheit. Auch die Krankengeschichte der Vorfahren nahm er genauestens unter die Lupe. Hahnemann erstellte 12 Jahre lang über jeden chronisch erkrankten Patienten ein umfangreiches Krankenjournal mit allen Aufzeichnungen. Er verglich alle Patientenberichte miteinander, arbeitete gemeinsame Züge heraus und vereinigte alles zu einem großen Ganzen. Hahnemann erkannte ganz bestimmte Zusammenhänge, Gesetzmäßigkeiten und Vererbungsmuster, die er in drei große Gruppen einteilte. Er nannte sie die Psora, Sykosis und Syphilis. Alle zusammen wurden unter dem Begriff "Miasmen" oder auch "Verschmutzungen" zusammengefasst. Er stellte fest, daß die Neigungen zu bestimmten chronischen Krankheiten schon vom Geburt an im Menschen verankert sind und nicht durch äußere Einflüsse hervorgerufen werden. Die Miasmen prägen das Individuum und bestimmen die inneren Neigungen zu bestimmten chronischen Leiden und Empfänglichkeiten für bestimmte äußere Krankheitseinflüsse! Beispiele für Miasmen: Die Psora = der konstitutionelle Zustand des Mangels, der Hemmung oder der Organunterfunktion. Die Sykose = der konstitutionelle Zustand der Überschwenglichkeit, Ausuferung oder der Organüberfunktion. Die Syphilis = der konstitutionelle Zustand der Zerstörung, Degeneration und Aggression oder der pervertierten Organfunktion. In Bezug auf die Haut bedeutet das: Ein Mensch, der unter dem psorischen Miasma geboren ist, neigt zu trockenen, schuppenden und leicht unterdrückbaren Hautausschlägen (Organunterfunktion). Ein Mensch, der unter dem sykotischen Miasma geboren ist, neigt zu Wucherungen wie Warzen, Polypen, Fibrome, Kondylomen, Muttermalen usw. (Organüberfunktion). Ein Mensch, der unter dem syphilitischen Miasma geboren ist, neigt zu Geschwüren, Rhagaden, Fissuren usw. (zerstörende oder pervertierte Organfunktionen) Hahnemann erkannte, daß diese erblichen "Verschmutzungen" (Miasmen) immer eine Grunderkrankung als Ursache hatten, die sich dynamisch an die Lebenskraft heftete und so als Organschwächen und innere Empfänglichkeiten für Krankheiten an die Nachkommen weitergegeben wurde. Miasmen machen also erst für bestimmte Krankheiten empfänglich und prägen die Folgekrankheiten nach Unterdrückung eines Lokalübels durch allopathische Arzneien. Die Miasmen sind die Prägungen des Menschen durch seine Vorfahren, Umwelt und Lebensweise. Der Mensch wird immer so krank, wie seine vererbte Prägung es zuläßt.

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Kent schreibt (immer zitiert aus: "Zur Theorie der Homöopathie: Kents Vorlesungen über Hahnemanns Organon"): "Man kann in vielen Familien Charakteristika und Besonderheiten im Erbgang weitergehen sehen. Zuerst die subjektiven Symptome, später objektive, durch welche sich die Anfangsstadien jeder Krankheit ausdrücken. Aber während sich bei einem Familienmitglied die pathologische Anlage Schritt für Schritt zum Krebs entwickelt, kann dieselbe Anlage bei einem anderen Familienmitglied zur TBC führen usw. - aber wie gesagt aus derselben Anlage." "Nachkommen bekommen nur die innere Krankheit, nicht mehr die äußeren Manifestationen." Den Miasmen liegt immer eine bösartige und aggressive Erkrankung zu Grunde, die keinerlei Selbstheilungstendenz aufweist und erst mit dem Tod des Patienten erlischt. Bei seinem Studium der chronischen Krankheiten beobachtete Hahnemann, daß der Beginn des Krankseins fast immer in der Behandlung eines Lokalübels lag. Hahnemann fand z. B. heraus, daß Patienten, die an der Lungenschwindsucht erkrankten, in jüngeren Jahren alle einen Bläschenausschlag, hauptsächlich zwischen den Fingern hatten, welcher mit den damals üblichen Salben unterdrückt wurde. Da stellte sich ihm die Frage: "Was hat die Unterdrückung einer Krankheit mit der Krankheit zu tun, die nachher folgt?" In der Homöopathie sind die Bakterien und Viren nur die Auslöser nicht aber die Ursache einer Erkrankung. Wären die Bakterien und Viren die eigentliche Ursache, so müßte sich unabdingbar jedes Individuum anstecken, was jedoch nicht der Fall ist. Die Ursachen der Erkrankungen sind immer die inneren vererbten Empfänglichkeiten. Dazu Kent: "Die Bakterientheorie will uns glauben machen, die göttliche Vorsehung hätte diese unendlich kleinen Wesen geschaffen, den Menschen krank zu machen." "Die Bakterien mögen noch von der Ursache enthalten, da die Ursachen bis in die sichtbaren Endzustände fortwirken, aber die wahre, tiefste Grundursache ist nicht in ihnen, die Bakterien selbst haben eine Ursache." "Nicht von äußeren Ursachen wird der Mensch krank, nicht von Mikroben noch sogar von Umwelteinflüssen, sondern nur von Ursachen, die in ihm selbst liegen. Begreift der homöopathische Arzt dies nicht, so fehlt ihm eine echte und wahre Vorstellung von der Krankheit. Entgleisung, Störung im Innersten, im leitenden Zentrum - ein Zuwenig oder Zuviel - das ist die erste Etappe zur Krankheit, darauf folgen dann die ersten äußeren Anzeichen, und zwar zuerst in Form subjektiver, später dann objektiver Symptome. Alle Krankheiten auf Erden sind nur das Spiegelbild dessen, was im Innern des Menschen ist. Wäre es nicht so, wäre er nicht empfänglich für Krankheit, könnte er nicht entwickeln, enthüllen, was in ihm ist. Das Bild dessen, was im Inneren ist, kommt bei der Krankheit heraus. Wie der Mensch denkt, so sein Leben." Menschen z. B., die eine Neigung zu Durchfall haben, infizieren sich schon damit, wenn im letzten Haus in der Straße jemand an Durchfall erkrankt ist.

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Die gleichen Menschen können in einen Raum mit 50 Menschen, die eine Bronchitis haben, gehen, ohne sich anzustecken. Es gibt in der heutigen Zeit niemanden mehr, der ohne starke miasmatische Belastung auf die Welt kommt. Durch die jahrhundertealte Unterdrückung von Krankheiten werden diese Miasmen immer vielfältiger, bösartiger und auch aggressiver. Kent: "Die Miasmen, welche die menschliche Rasse heutzutage krank machen, sind durch allopathische Behandlung noch tausendfach komplizierter gemacht worden." (Kents Erkenntnis um 1900!) Jedes Individuum kommt mit einer bestimmten Stärke an Lebenskraft auf die Welt und mit einer bestimmten Stärke der mitgebrachten Miasmen (die sich an die Lebenskraft als störendes und zerstörendes Element anheften). Jeder von uns hat seine individuelle Neigung zu chronischen Krankheiten. Der eine neigt zu Rheuma, der nächste zu Asthma, wieder der nächste zu Diabetes usw. Kent: "Wir haben zwei Dinge auseinander zu halten, den akuten Zustand, durch die Krankheit hervorgerufen und den darunterliegenden chronischen Zustand, den natürlichen Zustand jedes Patienten, der unter Miasmen geboren ist." Warum erkrankt einer an dieser, der andere an jener chronischen Erkrankung? Wir sind immer nur so gesund wie unsere Vorfahren! Normalerweise hält die Lebenskraft die Miasmen in "Schach" sie schlummern in der Tiefe und können nicht erwachen. Deshalb sind Kinder normalerweise sehr gesund und neigen eigentlich kaum zu chronischen Krankheiten, da ihre Lebenskraft noch ungetrübt ist. Erst im Alter, wenn die Lebenskraft auf natürliche Weise nachläßt, beginnen die chronischen Leiden hervorzubrechen. Aber wie sieht es heutzutage aus? Wie viele chronisch kranke Kinder gibt es in dieser Generation, sprich, wie viele Kinder gibt es eigentlich noch, die nicht schon vom Säuglingsalter an chronisch krank sind? Die Miasmen werden von Generation zu Generation stärker und die Lebenskraft sinkt im Gegensatz dazu! Hahnemann begann alle seine Mittel dahingehend zu untersuchen, welche auslöschenden Wirkungen sie auf diese vererbten Miasmen besitzen und teilte die gesamten Arzneien auch in diese Gruppen ein. Es gibt somit die psorischen, sykotischen und syphilitischen Arzneien. Hatte er einmal das vorherrschende Miasma beim Patienten erkannt, so nahm er eine Arznei, die die Kraft besaß, auf diese Miasmen schwächend einzuwirken und erzielte dadurch dauerhafte Erfolge bei der Heilung von - aus allopathischer Sicht - unheilbar kranken Menschen. Alle Maßnahmen, welche die Lebenskraft schwächen, lassen die Miasmen hervorbrechen. Schwächend auf die Lebenskraft wirken: schlechte Lebensweise, Nahrungs- und Umweltgifte, wenig Schlaf, Allopathie, Impfungen, Kummer usw. Gute Ernährung, gute

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Lebensweise wirken stärkend auf die Lebenskraft, aber nicht schwächend auf die Miasmen. Einzig und allein die Homöopathie vermag direkt auf die vererbten Verschmutzungen reinigend und schwächend einzuwirken. Die Patienten werden im Laufe der Therapie immer belastbarer. Hahnemann widmete den Rest seines Lebens nur noch der Erforschung und Therapie der chronischen Krankheiten und starb im hohen Alter von 88 Jahren 1843 in Paris.

Wie sieht die Homöopathie heute aus? Sie hat sich in den letzten 200 Jahren in ihren Grundzügen nicht verändert. Die Homöopathie ist das göttliche Naturgesetz zur Heilung von kranken Menschen und wird sich auch in Zukunft in ihren Grundlagen nicht ändern. Hahnemanns Nachfolger prüften ständig neue Arzneien, und so können wir heute auf einen Schatz von nahezu 2000 geprüften Arzneien aus dem Pflanzen-, Mineral- und Tierreich zurückgreifen. Einem Homöopathen ist es heute unmöglich, in seinem Leben alle Arzneien am eigenen Leibe zu prüfen. Deshalb stehen die gesamten "Prüfungsprotokolle" als Arzneimittellehre dem Therapeuten zum Nachschlagen zur Verfügung.

Wie findet der Homöopath das ähnlichste Arzneimittel für den Patienten? Ein Patient mit Asthma kommt in die Praxis. Zuerst erfragt der Homöopath die lokalen Asthmasymptome. Wie zeigen sich die genauen individuellen Befindensveränderungen bei diesem Patienten? Zu welcher Tageszeit ist die Atemnot am schlimmsten? Was bessert die Beschwerden? Wann traten das erste Mal diese Atemnotsymptome auf usw.? Alles wird genauestens abgefragt und festgehalten. Dann wird die gesamte Krankengeschichte aufgenommen. An welchen Krankheiten leidet der Patient noch? Was für Krankheiten hatte er schon in seinem Leben? Es wird versucht, die chronologische Reihenfolge präzise nachzuvollziehen! Welche Nahrungsmittelverlangen und -abneigungen hat der Patient? Welche individuellen Persönlichkeitsmerkmale sind vorhanden, z. B. auf der emotionalen Ebene? Welche Ängste bestehen, welche Impulse? Wie ist das Temperament? Wie ist das persönliche Lebensumfeld? Welche Probleme gibt es im täglichen Leben? Gibt es auf der geistigen Ebene Probleme? Wie ist es mit der Konzentration usw.? Welche chronischen oder schweren Erkrankungen tauchen in der Familie und bei den Vorfahren auf? Ungefähr 1 - 2 Stunden dauert so eine erste Befragung des Patienten. Jede individuelle Information, die die Persönlichkeit charakterisiert, ist für den Homöopathen wichtig und führt ihn zu dem ähnlichsten Mittel. Es ist oft nicht einfach für die Patienten, die Beschwerden genau zu beschreiben, da im allgemeinen solche individuellen Symptome keine Beachtung finden. Jede Information, die der Homöopath von dem Patienten erhält, ist wie ein Teil eines Puzzles, das nach der Befragung sorgfäl-

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tig zusammengesetzt werden muß bis ein ähnliches Bild entsteht, wie es bei der Prüfung am Gesunden (beschrieben in den Prüfungsprotokollen) aufgetaucht ist. Die Arznei wird nach dem Schlüssel-Schloß-Prinzip ausgesucht. Der Patient erhält nun seine persönliche Arznei in einer C 30 oder C 200 in Form von kleinen Milchzuckerkügelchen als einmalige Gabe verabreicht. Der Patient wird fragen, was er denn ab nun regelmäßig einnehmen solle und wird die Antwort erhalten - "vorerst nichts mehr!" - Und hier stoßen wir bei den Patienten wie auch bei der Schulmedizin auf große Skepsis. Um dieses zu verstehen, wollen wir noch einmal zusammenfassen und uns die zwei verschiedenen Therapierichtungen betrachten. Zuerst einmal die uns geläufige Allopathie (Schulmedizin).

Allopathische Verordnung der Arznei Wir wissen jetzt, daß jede Arznei krank macht - ohne Ausnahme. Nimmt ein gesunder Mensch eine Arzneisubstanz regelmäßig ein, so bekommt er Befindesveränderungen und er wird arzneispezifisch krank. Setzt er die Arznei ab, so verschwinden die arzneispezifischen Krankheitssymptome und es kehrt der alte gesunde Zustand zurück. (Arzneimittelprüfung am Gesunden!) Was passiert bei der allopathischen Verordnung der Arznei? Wie erleben wir die Behandlung unserer Leiden durch die Schulmedizin? Nehmen wir als Beispiel Halsentzündung: Ein Patient kommt damit zum Arzt. Bei der Untersuchung stellt sich heraus, daß der Hals entzündet und vereitert ist. Als Therapie wird ein Antibiotikum verschrieben mit dem Hinweis, es jeden Tag mehrmals für die Dauer von mindestens 6 - 10 Tagen einzunehmen. Der Patient nimmt seine Tabletten täglich 3 x ein und stellt nach ein bis zwei Tagen fest, daß die Schmerzen nachlassen und sich die Vereiterung zurückbildet. Er nimmt die Arznei noch für den vorgeschriebenen Zeitraum weiter. Die Halsentzündung ist scheinbar "geheilt" oder besser gesagt "verschwunden". Der Patient fühlt sich noch recht schwach, sieht noch mitgenommen aus, was man der gerade überstandenen Krankheit zuschreibt. Der Allgemeinzustand bessert sich auch mit der Zeit und gerade in dem Moment, wo der Patient sich richtig gut fühlt, steckt er sich erneut mit einer Halsentzündung an. Was ist passiert? Jede Arznei macht krank! Der Patient nimmt eine gegensätzliche Arznei ein, solange bis der alte Zustand verschwindet! (Genauso wie es einem gesunden Menschen bei Einnahme einer Arznei passiert). Nimmt ein Gesunder eine Arznei ein, so verschwindet der gesunde Zustand und er wird arzneikrank. Wird die Arznei abgesetzt, so verschwindet die künstliche Arzneikrankheit und der alte gesunde Zustand kehrt zurück. Beim kranken Menschen aber, der eine gegensätzliche Arznei regelmäßig einnimmt, verschwindet der alte kranke Zustand. Dem Körper wird eine künstliche Krank-

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heit übergestüplt, die nach Absetzen der Arznei wieder verschwindet und der "alte Zustand" (in unserem Fall die Halsentzündung) kehrt zurück. Dieses Spiel kennen wir von der normalen Medizin zur Genüge, weshalb die Wartezimmer voll sind mit Patienten, deren Erkrankungen ständig wieder auftreten oder besser gesagt "zurückkehren". Die Patienten meinen, daß sie sich beim Wiederauftreten der Halsentzündungen erneut angesteckt hätten, aber nach Absetzen der gegensätzlichen Arznei kehrt die alte Halsentzündung wieder zurück, um endlich ausgeheilt zu werden. Die Patienten mit wiederauftretender Halsentzündung, Bronchitis, Ohrenentzündungen usw. plagen sich immer mit ein und derselben Krankheit herum. Bleiben allerdings nach einer gegensätzlichen Therapie die Beschwerden dauerhaft verschwunden, so taucht dieselbe Krankheit später auf einer tieferliegenden Schicht wieder auf, mit gleicher Stärke und gleicher Hartnäckigkeit (dies wird aber von der Schulmedizin als "neue" Krankheit angesehen). Es nützt nichts, die gegensätzliche Arznei nur einmal einzunehmen, da die gegensätzliche Arzneikrankheit immer stärker sein muß, als die vorherrschende natürliche Krankheit. Dies wird durch das mehrmals täglich und wiederholte einnehmen der grobstofflichen, gegensätzlichen Arznei erreicht. Die natürliche Krankheit verschwindet während der Einnahme langsam und es kommt zur Unterdrückung. Setzt man das Antibiotikum zu früh ab, so bleiben die Halsschmerzen bestehen. Die allopathische (gegensätzliche) Therapie muß deshalb immer so lange eingenommen werden, bis der alte kranke Zustand verschwindet. Die Allopathie macht sich dieses Gesetz der Wirkung der künstlichen Arzneikrankheit für eine scheinbare Heilung zunutze. Patienten mit chronischen Leiden müssen fast ohne Ausnahme ständig eine Arznei einnehmen, denn wenn sie die Arznei absetzen, kehrt der alte kranke Zustand zurück. Es hat sich an der eigentlichen Krankheit nichts verändert. Die Symptome verschwinden nur, solange die gegensätzliche Arznei eingenommen wird. Die sogenannten Nebenwirkungen, die sich bei langem Gebrauch einstellen, sind die eigentlichen "Prüfungsymptome", die bei Prüfung am Gesunden klarer herauskommen würden. Wird eine gegensätzliche Arznei zu lange eingenommen, kommt es u. U. auch zu irreparablen Organschäden! Wir kennen dieses Problem auch bei den chronischen Kopfschmerzen (Migräne), die mit Schmerztabletten kurzfristig beseitigt werden. Klingt die Arzneikraft der Schmerztablette ab, kommt der Kopfschmerz unerbittlich zurück und eine neue Tablette muß eingenommen werden. Am eigentlichen Zustand ändert sich auf Dauer nichts! Da es oft nach Monaten und Jahren zu einem Gewöhnungseffekt kommt, muß die Dosis ständig erhöht werden, um eine stärkere Arzneikrankheit zu erzeugen. Als "Nebenwirkungen" (Arzneiprüfungserscheinungen) treten dann Magengeschwüre und Nierenleiden auf. Der Patient wird aufgefordert, diese Tabletten nicht mehr einzunehmen und der alte Kopfschmerz kehrt zurück (meist noch sehr verstärkt), und dazu gesellt sich ein Magenund Nierenleiden. Jede Arznei macht krank!

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Bei der Rheumabehandlung war es üblich, Goldspritzen zu verabreichen mit dem Erfolg, daß der alte kranke Rheumazustand verschwand (allerdings nur, solange die Spritzen verabreicht wurden). Nicht selten traten Gemütsveränderungen (als unerwünschte Nebenwirkungen), wie schwere Depressionen mit Selbstmordneigung, auf, und zwar mit dem Bedürfnis, sich aus dem Fenster zu stürzen. Liest man in den Prüfungsprotokollen der reinen Arzneimittellehre unter "Gold", so findet man genau diese Gemütsbeschreibungen wieder. Jeder Homöopath weiß, daß hier eine künstliche Arzneikrankheit erzwungen wird. Der Patient tauscht das schwere Rheumaleiden gegen ein schweres (lebensgefährliches) Gemütsleiden ein. Ein wahrer Therapeut kann nur ein Ziel haben, nämlich die völlige Arzneifreiheit des Patienten, nie aber die Abhängigkeit von Arzneien. Bei ständiger Arzneieinnahme - evtl. über Monate und Jahre kann nie von Heilung gesprochen werden. Wahre Heilung ist dann gegeben, wenn sich der Patient auf einer stabilen Gesundheitsebene befindet, ohne ständig eine Arznei einzunehmen. Aber wie wirkt nun die homöopathische Arznei, und warum geben die Homöopathen nur eine einmalige Dosis einer C 30 oder C 200?

Homöopathische Verordnung der Arznei In der Homöopathie nutzen wir die künstliche Arzneikrankheit um die Lebenskraft zu reizen, damit sie die heilenden Reaktionen in Gang setzt. Wir müssen aber nicht ständig unsere Arznei wiederholen, um dem Organismus eine Arzneikrankheit aufzuzwingen, damit der alte, kranke Zustand während der Einnahme verschwindet. Unsere dynamisierten Substanzen wirken genau auf der Ebene, auf der sich auch die eigentlichen dynamischen Krankheitsgeschehen abspielen. Die primäre Erkrankung liegt im Nichtstofflichen. Durch die Potenzierung wirkt die Arznei nun auf der gleichen Ebene wie der primäre Prozess der Erkrankung. Wir setzten mit unserer individuellen dynamischen Arznei einen Reiz auf der Lebenskraftebene, der durch die Potenzierung auch etwas stärker ist als die vorherrschende natürliche Krankheit. Die Lebenskraft sieht in unserer Arznei einen massiven Störfaktor, (einen die Ordnung störenden äußeren Krankheitseinfluß), gegen den sie sich zur Wehr setzen muß. Und genau dies will der Homöopath erreichen! Um die Ordnung im Organismus wiederherzustellen, beginnt sie nun - angeregt durch diesen künstlichen Krankheitsreiz - alles zu unternehmen, um Abwehrmechanismen dagegen in Gang zu setzen. Sie weiß genau, was sie für Abwehrmaßnahmen ergreifen muß und beginnt, Nervenimpulse auszusenden, Abwehrkörper in Gang zu setzten, Fieber zu produzieren usw. Da aber unser künstlicher Arzneireiz der natürlichen Krankheit sehr ähnlich ist, setzt sie nun genau die Abwehrmechanismen in Gang, die auch nötig gewesen wären, um die natürliche Krankheit zu überwinden. Man hält der Lebenskraft sozusagen ein "Spiegelbild" der erlittenen Krankheit vor. Sie war gewis-

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sermaßen "betriebsblind" für die natürliche chronische Krankheit und hatte keine Möglichkeit dagegenzusteuern. Nur wenn der Arzneireiz stärker ist, als die vorherrschende natürliche Krankheit, erkennt die Lebenskraft den Reiz als äußeren "Krankheitseinfluß" an und beginnt mit den heilenden Abwehrmechanismen. Durch die verschiedenen Potenzierungsstufen haben wir die Möglichkeit, die Reizkraft zu bestimmen. Es gibt keine Arznei, die heilt! Es gibt nur eine heilende Reaktion der Lebenskraft auf einen ähnlichen Arzneireiz! Mit der einmaligen Gabe unserer Arznei in der Potenzierung C 30 oder C 200 setzen wir eine Initialzündung und reizen die Lebenskraft zur Abwehrreaktion gegen unsere künstlich gesetzte Arzneikrankheit. Ist erst der Reiz gesetzt, so beginnen die Regulierungen der Lebenskraft, die sich dann über mehrere Tage bis zu einigen Wochen hin erstrecken können. Der Patient beginnt, die Auswirkungen der Arznei zu spüren, es stellen sich jetzt Befindesveränderungen ein, die er möglichst genau aufzeichnet, damit der Homöopath diese Reaktion kontrollieren kann. Nur durch die Kontrolle der Befindensveränderungen, die unter dem Gesichtspunkt ganz spezieller Heilgesetze betrachtet werden, kann der Homöopath erkennen, ob er wirklich die ähnlichste Arznei gewählt hat. Er wird sich die Befindensveränderungen im Gemütsbereich, im Gefühlsbereich und im körperlichen Bereich genauestens vom Patienten schildern lassen. Er muß jetzt genau beleuchten, ob die Reaktionen im Sinne der Gesetze erfolgen und der Patient so zu einer stabileren Gesundheitsebene geführt wird. Hat der Homöopath nicht die ähnlichste Arznei, sonders aus Versehen eine Arznei gewählt, die dem Patienten nicht ähnlich ist, so kann u. U. auch diese Substanz zur Unterdrückung der Beschwerden führen, denn dann wirkt auch die potenzierte Substanz allopathisch. Denn nicht die Arznei ist homöopathisch, sondern die Verordnung!

Krankheits- und Heilgesetze aus der Sicht der Homöopathie Konstantin Hering (1800-1880) erkannten durch genaues Beobachten der Arzneireaktionen die Gesetze, die das Leben und die Krankheit beherrschen und daß sie mit den therapeutischen Gesetzen harmonieren. Die Lebenskraft reagiert immer nach festen Gesetzen, sowohl bei der Erkrankung als auch bei der Heilung. Die Schulmedizin und die Homöopathie arbeiten nach dem gleichen Naturgesetz, aber nur die Homöopathie nutzt das Wissen um es heilbringend einzusetzen. 1. Gesetz: Eine Heilung verläuft immer von innen nach außen! Die Lebenskraft reagiert auf einen äußeren Krankheitseinfluß immer zentrifugal, das heißt, sie versucht die Störung ihrer Ordnung nach außen hin auf die körperliche Ebene abzuleiten - am besten noch auf die Haut. Auch bei einer positiven Reaktion auf einen homöopathischen Reiz wird sie versuchen, die innere Krankheit nach außen abzuleiten.

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Unser Beispiel: Der Patient mit dem Asthma berichtet nach einiger Zeit, daß seine Atembeschwerden leichter werden, er jetzt aber einen Hautausschlag zu beklagen hat. Hier weiß der Homöopath, daß er eine gute und ähnliche Arznei verordnet hat, denn die Reaktion geht von innen nach außen, von der Lunge zur Haut. Von einem "edlen" zu einem "unedlen" Organ. Die Lebenskraft kann jetzt die Krankheit zentrifugal nach außen hin ableiten. Dies wäre ein optimaler Heilungsverlauf. Auch der Hautausschlag wird nach weiterer Behandlung verschwinden, und zwar ohne eine nachfolgende Krankheit auf einer anderen Ebene zu erzwingen. Sogar die kleinste Lebenseinheit, die Zelle, untersteht diesem Gesetz, denn sie arbeitet von innen nach außen, d. h. von ihrem Kern aus. Das "Leben" ist innen und nicht außen. Kent: "Die Entwicklung einer Krankheit, ebenso gut wie der Heilungsprozeß, verfolgt eine bestimmt Linie, die von einem Ausgangspunkt an zum Endpunkt verläuft: vom Menschen zu seinen Organen und nicht umgekehrt von den Organen zum Menschen." Der Innere Mensch ist der ewige unsterbliche Mensch. Swedenborg sagt: "Der Mensch ist nicht dadurch Mensch, weil er wie ein Mensch aussieht, sondern weil er das Wahre zu denken und das Gute zu wollen vermag." Swedenborg sagt sinngemäß: Jede Person hat ihre spezifische geistleibliche Seinsweise, in der sich ihr "innerer Mensch" darstellt. Dieser innere Mensch ist während des physischen Lebens im äußeren Menschen als dessen inneres Modell verborgen. Der leibliche Tod tangiert den inneren Menschen überhaupt nicht, er ist nur eine Versetzung des Menschen aus der irdischen in eine andere, geistigere Seinsweise, in eine andere Art der Leiblichkeit, die anderen Dimensionen. Die Kontinuität seines Bewustseins erfährt keine Unterbrechung. 2. Gesetz: Heilung verläuft immer von oben nach unten! Der Patient mit dem Asthma produziert jetzt einen Hautausschlag im Gesicht, der nach einiger Zeit zu den Füßen wandert. So erkennt der Homöopath, daß auch weiterhin die Heilung in richtiger Richtung verläuft, bis der Hautausschlag ganz verschwindet. 3. Gesetz: Heilung verläuft in umgekehrter Richtung des Erscheinens, sozusagen ein Rückwärtsabrollen der unterdrückten Krankheiten! Beispiel: Der Patient mit dem Asthma berichtet uns beim Erstgespräch, daß er nicht schon immer an Asthma, sondern davor an chronischer Bronchitis litt, die jahrelang mit allopathischen Arzneien behandelt wurde. Vor der chronischen Bronchitis plagten ihn ständige Halsschmerzen, die auch "erfolgreich" allopathisch therapiert wurden. Ganz früher, als Kind, hatte er chronische Hautausschläge, die durch viele Salbenkuren zum "Verschwinden" gebracht wurden. Der Homöopath verabreicht nun sein individuelles Atemnots- und Persönlichkeitsmittel und danach berichtet der Patient, daß die Atemnot weniger wurde, sich dafür aber die

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alten Symptome der Bronchitis bemerkbar machten. Wieder einige Zeit später hörten die Hustensymptome auf und er bekam eine sehr starke Halsentzündung, die mit Auftreten des ihm bekannten Hautausschlages aufhörte. Ein Wiederaufrollen der alten Beschwerden zeigt dem Homöopathen, daß hier eine sehr vitale Lebenskraft vorhanden und eine Heilung noch möglich ist. Bei schweren, fortgeschrittenen chronischen Krankheiten und bei sehr alten Menschen erfolgt oft eine Besserung ohne das Wiederaufrollen der alten Beschwerden, was auf eine schwache Lebenskraft hinweist; eine vollständige Heilung ist hier kaum noch möglich. Dieses oft unangenehme Aufarbeiten der alten Beschwerden ist für die Patienten sehr lästig und meist unverständlich, für die vollständige Heilung aber dringend notwendig. Ein Beispiel, wie Krankheiten nach dem Naturgesetz verlaufen: Nehmen wir einmal an, ein Patient leidet unter Akne. Er geht zum Hautarzt, der ihm nach kurzer Diagnostik eine Salbe verordnet. Der Patient wendet sie regelmäßig an, und nach einiger Zeit wird die Haut besser, die Entzündungen bilden sich zurück. Der Hautarzt ist zufrieden, denn er war erfolgreich und hat geheilt! Nun ist der Patient einige Zeit sehr glücklich, aber auf einmal "überfällt" ihn ein neues Leiden, es stellt sich eine hartnäckige Bronchitis ein. Jetzt ist nicht mehr der Hautarzt zuständig, sondern der Lungenfacharzt, der die Bronchien und Lungen genauestens untersucht und eine Antibiotikabehandlung für notwendig erachtet. Die Bronchitis ist zwar sehr hartnäckig, aber nach Erhöhung der Dosis verschwindet auch sie dauerhaft. Auch der Lungenfacharzt ist zufrieden und entläßt den Patienten als geheilt! Wieder geht es einige Zeit gut, doch dann taucht eine lästige Schlaflosigkeit auf. Weder der Hautarzt noch der Lungenfacharzt sind nun zuständig, ein Gang zum Hausarzt wird weiterhelfen. Der Patient bekommt Schlaftabletten, die auch prompt wirken. Der Hausarzt ist zufrieden, denn sein Patient kann wieder schlafen. Zwar muß die Dosis von Monat zu Monat erhöht werden, aber Hauptsache, er kann wieder schlafen. Auf einmal bemerkt der Patient eine Veränderung in seinem Gemüt; es stellen sich Ängste ein, die er vorher noch nie kannte; auch die Freunde sagen, daß er sich irgendwie verändert hat. Ein Nervenarzt wird ihm empfohlen, der auch einige gute und zuverlässige Psychopharmaka in der Schublade bereit hält. Jeder Facharzt hat geheilt! Aber was hat die eine Erkrankung mit der vorherigen zu tun? Findet unser Patient nun den Weg zum Homöopathen, so wird dieser in einer langen und ausführlichen Befragung (Erstanamnese) Schritt für Schritt die Reihenfolge der Erkrankungen abfragen und sich alle Symptome genau beschreiben lassen. Besonders die subjektiven Empfindungen und Ängste müssen vom Patienten genau geschildert werden. Nun erhält er seine individuelle Arznei, welche die Gesamtheit seiner Beschwerden abdeckt und zum individuellen Charakter paßt. Ist die Arznei gut gewählt, beginnt ein "Rückwärtsabrollen" oder "Hinauswerfen" der alten Beschwerden - bis hin zur alten

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Akne, die schließlich auch verschwindet. Nun kann endlich die anfängliche natürliche Krankheit geheilt werden. Es ist für einen Facharzt, der nur ein Organgebiet behandelt, sehr schwer zu erkennen, daß die Bronchitis z. B. nur die Akne auf der Bronchienebene ist. Wird ein Hautausschlag durch äußerliche Maßnahmen behandelt, so wird die dahinterliegende Krankheitskraft nicht berührt, denn die Krankheit ist der Prozeß der Entstehung des Hautausschlages, und die Hautveränderungen sind nur das Endresultat der Krankheit. Wird der Hautausschlag zum Verschwinden gebracht, verändert das nichts an der dahinterliegenden Krankheitskraft, die nun gezwungen ist, sich gegen ein anderes (meist lebensnotwendigeres) Organ zu wenden. Kent: "Durch allopathische "Heilung" (Unterdrückung) hat er, was an der Oberfläche und damit relativ harmlos war, in die Tiefe hineingedrückt, und als Folge dieser wissenschaftlichen Ignoranz befindet sich der Kranke nun auf dem Pfade zum Tode." Kent: "… innere Übel fließen in äußere Manifestationen, die Homöopathie fährt fort, auswärts zu treiben, dadurch wird das Innere, werden die edleren Organe entlastet und befreit, das Innere wird relativ krankheitsfrei." Die Bronchien können nur organspezifisch reagieren und daher keinen "Hautausschlag" produzieren (Wenn sie es könnten, wäre die gesetzmäßige Abfolge leichter erkennbar und weniger leicht zu übersehen!). Die gleiche Kraft, die diesen Hautausschlag hervorbrachte, wird nun im Bronchialbereich eine ihm adäquate Erkrankung bewirken, z. B. eine Bronchitis. Ein leichter Hautausschlag, der unterdrückt wurde, bewirkt auch nur eine leichte Erkrankung der Bronchien. Eine schwere Neurodermitis, die man mit äußeren Maßnahmen zum Verschwinden gebracht hat, bewirkt auf der Ebene der Atmungsorgane eine adäquat schwere Erkrankung, z. B. Asthma oder eine Lungenentzündung (die im Gegensatz zum unterdrückten Hautausschlag beide lebensgefährlich sind!). "Je schwerer eine unterdrückte Krankheit, desto schwerer ist die nachfolgende innere Erkrankung." Mit diesem Wissen wird ein Homöopath einen Hautausschlag NIE mit äußerlichen Anwendungen behandeln, sondern immer die innere Krankheit und Empfänglichkeit beeinflussen wollen. Um diese Krankheitsgesetze noch besser verständlich zu machen, will ich im Folgenden aus der Sicht der Homöopathie auf die drei Ebenen des Daseins genauer eingehen. Grundsätzlich müssen wir uns dabei vergegenwärtigen, daß das Gesetz nicht nur die sichtbaren, sondern auch die unsichtbaren Dinge beherrscht.

Die drei Ebenen des Daseins Zum einen gibt es die sichtbare körperliche Ebene und zum anderen die unsichtbare emotionale sowie die geistige Ebene. Konstantin Hering, ein bedeutender Schüler Hahnemanns und Swedenborgs, hat beobachtet, daß die Lebenskraft immer bestrebt ist, den inneren Menschen, sprich die emotionale und geistige Ebene, gesund zu erhalten. Alle äußeren Krankheitseinflüsse, die auf der unsichtbaren Lebenskraftebene einfließen, werden, soweit möglich, sofort zentrifugal auf den körperlichen Bereich abgeleitet (am

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besten auf die Haut), damit der wichtigere, innere Mensch, die emotionale und geistige Ebene, von dieser Störung nicht berührt wird. Der innere Mensch ist der ewige Mensch, der vom Tod nicht berührt wird. Dieser innere ewige Mensch muß gesund bleiben! Die Haut schützt den inneren Menschen. Laufen die äußerlichen Unterdrückungen zu massiv ab und die ererbten Strukturen lassen es zu, so wandert die Krankheit immer weiter nach innen, zu zentraleren Bereichen, bis sie schließlich die körperliche Ebene verlassen muß und auf den emotionalen Bereich überwechselt. (siehe Beispiel beim 3. Heilgesetz). Es können sich Reizbarkeiten, Unzufriedenheiten, Ängste, qualvolle Ängste, Apathie, Unlust, Depression bis hin zur Selbtsmordneigung einstellen (siehe das Beispiel Goldtherapie bei Rheumakranken). Um in der Terminologie von Swedenborg zu sprechen, gibt es somit ein Äußeres, Inneres und Innerstes. Das Äußerste des Menschen ist die körperliche Ebene, das Innere ist die emotionale oder Gefühlsebene und das Innerste ist die geistige oder Verstandesebene. Diese Dreiheit steht nicht nebeneinander sondern ist ineinander verschachtelt (siehe Zeichnung). Alles Geschaffene ist nach dieser "Dreifaltigkeit" aufgebaut. Die körperliche Ebene wiederum hat auch ein Äußeres, Inneres und Innerstes. Zum äußeren körperlichen Bereich gehören (von außen nach innen betrachtet): Haut, Schleimhaut, Muskeln, Knochen, Bänder, Gelenke usw. Zum Inneren zählt man die edleren Organe. Die Wichtigkeit eines Organes richtet sich nach der Schädigung, die der Gesamtorganismus erfährt, wenn das Organ verletzt wird. Von außen nach innen betrachtet zählen dazu Magen, Darm, Blase, Niere, Lunge, Leber. Zum Innersten auf der körperlichen Ebene zählen die Hormondrüsen, Herz und Gehirn. Zum emotionalen oder inneren Bereich des Menschen zählen von außen nach innen betrachtet die Zufriedenheit, Gelassenheit, Urvertrauen, Selbstwertgefühl, Kontaktfähigkeit, Gemeinschaftsempfinden und Liebesfähigkeit. Zum geistigen Bereich zählen von außen nach innen betrachtet das Konzentrationsvermögen, Gedächtnisfähigkeit, logisches Denken, Vernunft, Selbsterkenntnis und Gotterkenntnis. Diese Einteilungen sind natürlich nur "Arbeitsmodelle" um die Störungen und den Heilungsverlauf beurteilen zu könnnen. Diese Ebenen korrespondieren stark miteinander und greifen auch ineinander über. Der äußerste Bereich des Menschen, die Haut, hat auch wieder ein Äußeres, Inneres und Innerstes. Das Prinzip des Äußeren, Inneren und Innersten läßt sich beliebig weiter fortsetzen. Die ganze materielle und immaterielle Schöpfung ist nach diesem Prinzip aufgebaut. Sogar die kleinste Lebenseinheit, die Zelle, hat auch ein Äußeres (Zellhaut), ein Inneres (Zellplasma) und ein Innerstes (Zellkern). Auch der Zellkern hat ein Äußeres, Inneres usw. Die Apfelfrucht besteht auch aus ein Äußeres (Apfelschale), Inneres (Fruchtfleisch) und Innerstes (Apfelkerne). Der Himmel hat ein Äußeres (unterster

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Himmel), Inneres (Mittlerer Himmel), Innerstes (oberen Himmel). Die Hölle hat ebenfalls ein Äußeres (obere Hölle), Inneres (mittlere Hölle) und ein Innerstes (untere Hölle). Selbst der Buchstabe hat (wie wir von Swedenborg wissen) ein Äußeres (natürlichen Sinn), Inneres (geistigen Sinn) und Innerstes (himmlischen Sinn).

Die drei Ebenen des Daseins (nach G. Vithoulkas "Die wissenschaftliche Homöopathie")

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Himmel und Hölle nach Emanuel Swedenborg

Krankheiten gehören auf die körperliche Ebene! Wird der Lebenskraft durch ständige Unterdrückungen die Möglichkeit der Ausleitung auf die körperliche Ebene genommen, so kann sie die Krankheit vom inneren Menschen nicht mehr fernhalten und die Krankheiten dringen in den inneren Menschen ein. Bei einer guten homöopathischen Behandlung werden sich die geistigen und emotionalen Beschwerden zurückbilden, aber gleichzeitig tauchen auf der körperlichen Ebene adäquate Beschwerden auf. Für viele Patienten ist es schwer, diese Tatsache einzusehen und ihre Notwendigkeit zu verstehen. Ein "Verpuffen" der Beschwerden ist bei chronisch Kranken nach den Gesetzen der Natur nicht möglich, sondern nur ein ausleiten, was meist nicht angenehm ist. Werden auch die Probleme der emotionalen Ebene mit ständiger Einnahme von Psychopharmaka unterdrückt, so zieht sich die Krankheit auf immer zentralere Bereiche des menschlichen Daseins zurück. Auf der geistigen Ebene kann es nun zu Zerstreutheit, Vergeßlichkeit, Konzentrationsschwäche, Stumpfheit, Lethargie, Paranoia, Geistesverwirrung und evtl. zu Alzheimer kommen. Man hat festgestellt, daß Patienten mit Geistesverwirrungen nicht mehr fähig sind körperlich akut krank zu werden. Es sind keine Ausleitungsprozesse wie Schnupfen, Husten und Fieber mehr möglich. Die

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Krankheit spielt sich hauptsächlich auf der geistigen Ebene, auf der Ebene des inneren Menschen ab. Kent: "Aber der Kranke von heute wird einer nicht weniger gefährlichen Therapie unterworfen, nur merkt man lang nichts, da die Drogen seine geistigen Fähigkeiten herabsetzen." (Ausspruch Kents um 1900!). Alzheimerkranke Menschen sind oft körperlich relativ gesund, wissen aber nicht mehr, wer sie sind, wo sie wohnen, können die Angehörigen nicht mehr erkennen! Swedenborg: "Der Mensch ist Mensch durch seinen Willen und Verstand!" Was passiert mit dem inneren Menschen dieser Alzheimerkranken, wenn der innere (hier kranke) Mensch seinen Körper verlässt? Swedenborg: "... der leibliche Tod tangiert den inneren Menschen überhaupt nicht, er ist nur eine Versetzung des Menschen aus der irdischen in eine andere, geistigere Seinsweise". Was eine scheinbare "Heilung" für den Körper ist, wird zum Unheil für den inneren ewigen Menschen. Die Menschen wollen ein genußvolles, vergnügliches äußeres Leben - und dazu passen diese lästigen Krankheiten nicht, die hässlichen Hautausschläge usw. Die Schulmedizin betrachtet den Menschen von außen her, und ist ein Hautausschlag verschwunden, so ist der Mensch anscheinend geheilt. Die Homöopathie betrachtet den inneren Menschen und beobachtet alle Veränderungen auf der Geistes- und Gemütsebene. Die homöopathische Therapie besteht nicht im Konsum von Arzneien, sondern ist ein Weg, den der Patient mit seinem Therapeuten geht. Der Therapeut hat das Ziel, diesen Patienten ohne regelmäßige Arzneieinnahme in einen freudvollen, zufriedenen und kraftvollen inneren Gesundheitszustand zu führen. Danach erst kommt auch die Heilung des äußeren Menschen! "Denn unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit, uns, die wir nicht schauen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Darum werden wir nicht müde, sondern ob unser äußerlicher Mensch verdirbt, so wird doch der innerliche von Tag zu Tag erneuert. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich, was aber unsichtbar ist, das ist ewig!" (2. Kor. 4,16-18). Ein Homöopath erkennt die Stärke der Lebenskraft an ihrer Fähigkeit, Krankheiten auf der körperlichen Ebene zu halten. Kommt z. B. ein Patient und berichtet, daß der Hautausschlag durch eine Vitaminsalbe schnell verschwunden ist, weiß der Homöopath, daß hier eine geringe Vitalität der Lebenskraft vorliegt. Kommt dagegen ein Kind mit Neurodermitis, das schon seit Jahren ohne "Erfolg" mit Cortisonsalbe behandelt wird, so kann man auf eine starke Lebenskraft, die sich nicht so schnell unterdrücken läßt, schließen. Zusammenfassung: Werden die äußeren Erscheinungen entfernt, bleiben die inneren Bedingungen unverändert, und die innere Krankheit schreitet im Laufe der Zeit weiter zum Zentrum. Wird eine Krankheit, die eine bestimmte Kraft besitzt, äußerlich

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unterdrückt, wendet sich die gleiche Kraft gegen ein anderes meist lebenswichtigeres Organ. Eine wahrhafte Heilung verläuft immer von innen nach außen. Auch Swedenborg spricht im Homo Maximus S. 124f von dieser Ausleitung von innen nach außen: "Dennoch gibt es umherschweifende Geister von der höllischen Rotte, welche gefährlicher sind als andere. Weil diese im Leibesleben gewöhnt waren, in die Neigungen des Menschen einzugehen, um ihm zu schaden, behalten sie auch im andern Leben diese Begierde bei und suchen auf alle Weise in den Geschmack beim Menschen einzugehen, und wenn sie in denselben eingegangen sind, besitzen sie sein Inwendiges, nämlich das Leben seiner Gedanken und Neigungen, denn wie gesagt, solches entspricht, und was entspricht, das wirkt zusammen. Von solchen werden sehr viele heutzutage besessen, denn es gibt heutzutage inwendigere Besessenheiten, nicht aber wie ehemals auswendigere [18. Jhd.] … Jene gefährlichen Geister gehen hauptsächlich darauf aus, daß sie alle inneren Bande lösen, welche sind die Neigungen zum Guten und Wahren, Gerechten und Billigen, die Furcht vor dem göttlichen Gesetz, die Scheu, der Gesellschaft und dem Vaterland zu schaden. Es wurde mir auch gezeigt, wie sie weggetrieben wurden (die höllischen Geister). Als sie nämlich in die inwendigeren Teile des Haupts und Gehirns einzudringen meinten, wurden sie durch die Absonderungswege daselbst abgeführt und zuletzt gegen die äußeren Teile der Haut getrieben. Und hernach sah man, wie sie in eine Grube, die voll von ausgelöstem Schmutz war, geworfen wurden. Ich wurde belehrt, daß solche Geister den schmutzigen Grübchen auf der äußersten Haut, wo die Krätze ist, somit der Krätze selbst entsprechen." (= Heilung von innen nach außen!) Durch die allopathischen Behandlungen wird verhindert, diese höllischen Geister aus dem Inneren hinauszutreiben. Bei Alzheimer z. B. kann der Geist nicht mehr hinunter bis ins Natürliche hinein wirken! Dieser Mensch hat alle Verstandesfähigkeit (Selbsterkenntnis und Gotterkenntnis) verloren. Es werden nur noch die körperlichen Bedürfnisse befriedigt! Hahnemann ging davon aus, daß eine homöopathische Kur nur dann erfolgreich war, wenn sich am Ende der Behandlung ein Hautausschlag zeigte - auch bei den Patienten, die nie zuvor unter einen Hautausschlag litten! Ausleitung der "höllischen Rotte". Vom inneren ewigen Menschen aus betrachtet, ist das, was wir üblicherweise "Krankheit" nennen (also z.B. Husten, Schnupfen, Fieber), nicht die eigentliche Krankheit, sondern vielmehr der Versuch der Lebenskraft, die innere Ordnung wieder herzustellen! Krankheit ist so betrachtet eigentlich ein Heilprozess! Die Befindensveränderungen, die wir dabei verspüren, sind eben dieser Versuch der Lebenskraft, die innere Krankheit zu überwinden um die Ordnung wieder herzustellen! Der juckende und brennende Krätzeausschlag auf der Haut ist ein notwendiger Heilprozess für den inneren Menschen! Durch äußere Behandlung mit Salben und dergleichen kommt es zur Unterdrückung und die "höllische Rotte" kann ins Inwendige des Menschen vordringen! Das was den

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äußeren Menschen scheinbar krank gemacht hat, ist der Heilprozess des inneren Menschen. Die homöopathische Arzneiverordnung unterstützt diesen zentrifugalen Ausleitungsvorgang und wird auch die Krätzebläschen zur Ausheilung bringen. Krankheitseinflüsse können wir nicht spüren. Wir merken nicht, wenn ein grippaler Infekt einfließt, erst wenn wir anfangen zu niesen, Halskratzen usw. sich einstellt, dann erst spüren wir die Krankheit und sagen "Ich glaube, ich werde krank". Tatsächlich aber ist dies bereits der Versuch, die Krankheit hinauszuleiten. Der eigentliche Abwehrprozeß ist schon - unbemerkt und unspürbar - im Inneren abgelaufen, noch bevor wir Befindensveränderungen unseres gesunden Zustandes bemerken. Diese Befindensveränderung vom gesunden zum kranken Zustand ist aber schon der Heilungsversuch, die Abwehrreaktion der Lebenskraft auf den immateriellen Krankheitseinfluß. Die Zeit vom nicht spürbaren Einfließen der Krankheit auf der nichtstofflichen Lebenskraftebene ins innere des Menschen bis zum Zeitpunkt der ersten Krankheitszeichen nennt die Schulmedizin "Inkubationszeit". Aus homöopathischer Sicht ist "Krankheit" immer ein Heilversuch des Inneren Menschen. Krankheiten gehören auf die körperliche Ebene! Die Schulmedizin versucht alle Krankheiten auf der körperlichen Ebene zum Verschwinden zu bringen. Ist eine Krankheit äußerlich sichtbar verschwunden, so gilt der Patient als geheilt.

Krankheits- und Ansteckungsgesetze Kent: "Die Vorgänge bei Krankheit, Heilung und Ansteckung gleichen sich sehr, und die Prinzipien, die sich auf's eine beziehen, gelten auch beim anderen. Bei der Heilung haben wir den Vorteil, den Potenzgrad ändern zu können, und dadurch ist es uns möglich, das Mittel genau der Empfänglichkeitsebene des Patienten anzupassen." Im Folgenden möchte ich sieben mögliche Reaktionen zeigen, wie die Lebenskraft auf einen äußeren Krankheitsreiz reagiert. Als Beispiel nehmen wir einen Patienten, der an einem chronischen Durchfall als seiner natürlichen Krankheit leidet. 1. Diesem Patienten wird eine homöopathische Arznei verordnet, die bei Prüfung am Gesunden einen ähnlichen Durchfall hervorruft. Durch den Potenzierungsvorgang ist der Reiz stärker als die vorherrschende natürliche Krankheit. Reaktion: Der Durchfall wird geheilt. 2. Der Patient steckt sich mit einer akuten Magen-Darmgrippe an. Diese grassierende Grippe ist stärker als die vorherrschende Krankheit. Der Patient durchlebt sie intensiv. Reaktion: Nach Abklingen der neu dazukommenden Durchfallerkrankung ist auch der chronische Durchfall geheilt. Diese hinzutretende natürliche Krankheit wirkt wie ein homöopathisch verordnetes Arzneimittel. Ein Beispiel aus der Geschichte der Medizin, wie zwei natürliche Krankheiten sich gegenseitig aufheben können: Julius Wagner von Jauregg (1857-1940) erlebte, wie sich

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ein Patienten, der an progressiver Paralyse litt (fortschreitende Lähmung), mit Malaria (Wechselfieber) ansteckte und diese Krankheit sehr heftig durchleiden mußte (trotz seiner schon schweren chronischen Krankheit). Zu seiner Überraschung war die Multiple Sklerose (fortschreitende Lähmung) nach Abklingen der Malaria vollständig geheilt! Eine stärkere natürliche Krankheit hat die vorherrschende Krankheit durch das Ähnlichkeitsprinzip geheilt (Heilung durch Ansteckung einer ähnlichen natürlichen Krankheit!). Julius Wagner führte die Malaria- Behandlung bei progressiver Paralyse ein und erhielt 1927 den Nobelpreis. Das Heilgesetz, das hinter diesem Geschehen wirkte, hat er nicht erkannt. Er erhielt 1927 für seine Entdeckung den Nobelpreis. So können auch heute noch Patienten durch Ansteckung von ähnlichen, stärkeren Krankheiten geheilt werden. 3. Der Patient mit dem chronischen Durchfall wird mit einer ähnlichen Krankheit konfrontiert, die nicht stärker ist, als die natürliche vorherrschende Krankheit. Reaktion: keine Ansteckung und zu keiner weiteren Reaktion. 4. Unser Patient bekommt eine allopathische (gegensätzliche) Arznei verordnet. Durch die häufige, regelmäßige Einnahme ist die Arznei stärker, als die vorherrschende natürliche Krankheit. Reaktion: Die natürliche Krankheit tritt zurück, sie verschwindet scheinbar. Der Patient bekommt eine künstliche Arzneikrankheit evtl. (je nach Empfindlichkeit) mit Prüfungssymptomen. Nach Absetzen der Arznei kehrt die alte natürliche Krankheit zurück (Scheinheilung mit evtl. arzneispezifischen Prüfungssymptomen = Nebenwirkungen). 5. Unser Patient steckt sich mit einem akuten katarrhalischen Infekt an. Dieser Infekt ist eine gegensätzliche Krankheit (sie hat nichts mit dem Durchfall zu tun). Reaktion: Während der Patient diese akute Grippe mit evtl. Schnupfen und Fieber durchsteht, verschwindet der alte kranke Zustand und sein Stuhlgang ist normal. Klingen die Grippesymptome ab, so kehrt der alte chronische Durchfall zurück. Diese Grippe hat wie eine allopathisch gewählte Arznei gewirkt und die natürliche chronische Krankheit unterdrückt. 6. Dem Patienten wird eine homöopathische Arznei verordnet, die der vorherrschenden Krankheit nur in oberflächlichen Teilbereichen, nicht jedoch "der Gesamtheit der Symptome" ähnlich ist. Reaktion: Es kann zum "Verschwinden" der vorherrschenden Krankheit kommen, jedoch ohne gleichzeitige Besserung des Allgemeinbefindens auf der Geistes- und Gemütsebene, eben der Ebene des inneren Menschen. Die natürliche Krankheit ist nur unterdrückt. Nach Abklingen der homöopathischen Arzneiwirkung taucht die alte natürliche Krankheit wieder auf. ("Nicht die Arznei ist homöopathisch, sondern die Verordnung").

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7. Unser Patient kommt mit vielen Menschen zusammen, die eine Bronchitis haben. Diese Bronchitis ist nicht stärker als sein natürliches Krankheitsleiden (chronischer Durchfall). Reaktion: Es kommt zu keiner Ansteckung. Wenn das homöopathische Gesetz ein Naturgesetz ist, so muß es uns auch im täglichen Leben begegnen.

Das homöopathische Prinzip im täglichen Leben! 1. Bei Erfrierungen: Hier kommt das homöopathische Prinzip sehr deutlich zum Ausdruck. Keine Mutter kommt auf die Idee, über die froststarren Finger ihres Kindes heißes Wasser zu gießen (das wäre die allopathische Behandlung), sondern sie nimmt ähnlich kalten Schnee oder Wasser und reibt die Finger vorsichtig ein, bis die Durchblutung wieder in Gang kommt. 2. Bei Verbrennungen: Hier ist die allgemeine (allopathische) Behandlung, den betroffenen Teil sofort unter kaltes Wasser zu halten. Diese Behandlung hat zwar den Vorteil, daß durch den Schock momentan kein Schmerz spürbar ist, sobald jedoch die Kühlung aufhört, treten sehr heftige Schmerzen auf und die Heilung dauert sehr lange. Dagegen steht die homöopathische Behandlung: Bei Verbrennungen wird der betroffene Teil sofort mit ähnlicher Hitze, z.B. sehr heißem Wasser oder erwärmtem Alkohol (wie Hahnemann empfiehlt), behandelt. Der Schmerz wird zwar zunächst noch stärker, läßt aber schon nach kurzer Zeit nach und meist entstehen dann keine Brandblasen. Erfahrenen Köchen war dieses Gesetz schon immer sehr gut bekannt: Bei Verbrühungen und Verbrennungen wird der betroffene Teil immer wieder zur ähnlich heißen Feuerstelle geführt; die Schmerzen lassen schnell nach und es gibt keine Brandblasen.

Homöopathische Heilung im Alten Testament "Da schickte er gegen das Volk die Vipern, die Brandnattern aus, die bissen das Volk und viel Volk von Israel starb. Das Volk kam zu Moses und sie sprachen: Wir haben gesündigt, daß wir gegen ihn redeten und gegen dich, setze dich bei ihm ein, daß er die Vipern von uns wende. Moses setzte sich ein für das Volk und Gott sprach zu Moses: Mach dir eine Brandnatter und tue sie an eine Bannerstange und jeder Gebissene sehe sie an und er wird am Leben bleiben. Moses machte die Viper aus Kupfer und tat sie an eine Bannerstange und so war es: Hatte die Viper einen Mann gebissen und blickte er auf die Viper von Kupfer so blieb er am Leben!" (Numeri 21). Tanz ums goldene Kalb: "Als Moses aber nahe zum Lager kam und das Kalb und das Tanzen sah, entbrannte sein Zorn, und er warf die Tafeln aus der Hand und zerbrach sie unten am Berge und nahm das Kalb, das sie gemacht hatten, und ließ es im Feuer zerschmelzen und zer-

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malmte es zu Pulver und streute es aufs Wasser und gab es den Kindern Israel zu trinken." (Exodus 32). Zum Schluß möchte ich noch aus Herbert Fritsches Buch "Die Erhöhung der Schlange" zitieren, in dem er sich einige interessante Gedanken über die Wirksamkeit von homöopathischen Arzneien und dem Ähnlichkeitsprinzipes macht: "Nun beruht aber die ganze Homöopathie darauf, daß es zahlreiche Kranke gibt, deren Symptome denen der geprüften Arzneien ähnlich sind, daß also beispielsweise ein Patient mit BelladonnaSymptomen angetroffen werden kann, welcher nicht Belladonna als Arznei im Leibe hat. Auch in ihm wirkt Belladonna, jedoch nicht diejenige, die er etwa aus dem Weltbestande des Makrokosmos - von außen her - einverleibt bekommen hätte, sondern diejenige, die er von vornherein latent in sich hatte und die lediglich jetzt, in Form seines Krankseins, aus den Tiefen seines Menschenorganismus freigeworden ist. So nur können wir es verstehen, sonst wäre unerklärlich, daß in der Tat die Symptomengesamtheit der Erkrankungsfälle der Menschheit in ihren Signaturen den Signaturen der am Gesunden prüfbaren Arzneien entsprechen. Daß der Makrokosmos im Entsprechungsverhältnis zum Mikrokosmos Mensch steht, ist Urgut der Initiations-Erkenntnis von Hermes Trismegistos über Paracelsus bis zu Swedenborg und bis zur Gegenwart. Man muß das nur konkret genug nehmen. So konkret wie die Homöopathie es lehrt. Dann sieht man, daß alles, was das All enthält, auch im Menschen latent vorhanden ist: die Belladonna, die Kröte, die spanische Fliege, der Schwefel, das Blei usw. Freilich handelt es sich bei solchem Im-Menschen-Vorhandensein nicht um ein stoffliches, sondern um ein Vorhandensein als Schöpfungs-Prinzip, als okkulte "Eingebundenheit". Kommt es aber dahin, daß sie "eigen-sinnig" werden und mithin gleichsam ins Physische ausbrechen, dann wirken sie, wie die ihnen jeweils entsprechende Arzneiprüfung am Gesunden, d.h. sie rufen Symptome hervor, sie machen krank. Das Eigen-sinnig-Werden der dynamischen Prinzipien im Menschen, die Wendung ins krankmachend Stoffliche, läßt sich beweisen. Gibt man Kranken, deren Symptomenbild auf Schwefel hinweist, potenzierten Schwefel als homöopathische Arznei, so zeigt sich, daß die Patienten während der Heilung ungeheuer zu nennende Mengen Schwefel durch die Haut ausscheiden, bis zu 5,76 Gramm täglich, von der dynamisierten Arznei aus dem Gewebe geschwemmt. Ein Sieg des Geistes über die Materie. Der unerlaubt materiell gewordene, der eigen-sinnig "bockende" Schwefel wird aus dem Organismus des Kranken hinausgedrängt. Dadurch, daß der Schwefel "dumm" wurde, kam es zu den Schwefelsymptomen -: in solchem Sinne darf man sagen, Krankheit ist "Arzneiprüfung". Zugleich aber kam es zu einem Ausfall des Schwefels als eines zum Menschen gehörigen dynamischen Prinzipes. Dieses dynamische Prinzip hat sich auf anarchische Weise in etwas Materielles metamorphosiert und fehlt mithin nun im gesunden Zusammenspiel der Dynamis. Die daraufhin "in Erscheinung tretenden" Symptome besagen nicht nur, daß "dumm" gewordener Schwe-

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fel den Organismus vergiftete, sondern sie melden auch den Hunger nach dem an, was dem Kranken fehlt. "Was fehlt Ihnen?", fragt der Therapeut seinen Patienten. Der Therapeut, der angesichts der Sulfur-Symptomatik des Kranken sieht, daß dynamisierter Schwefel fehlt, verordnet solchen als die passende Arznei. Damit stillt er den Hunger, den höchst spezifischen Sulfur-Hunger - und stillt ihn nicht durch massive Gaben (denn davon fehlt ja nichts, es ist im Gegenteil viel zu viel vorhanden), sondern durch Arznei"Geist", welcher alsdann den "Sieg über die Materie", über den "dumm gewordenen" Schwefel erwirkt, indem er ihn ausscheidet. Die Symptome verschwinden dann: die Symptome, welche sowohl Hunger bekunden (nach dem fehlenden dynamischen Prinzip), als auch zugleich "Überfütterung" (mit der Materie, zu der sich dieses Prinzip metamorphosiert hatte). Der Organismus hat das Fehlende wiedererlangt, Heilung = Wieder-Ganz-Werdung kann verbucht werden." Weiter heißt es an anderen Stellen: "Auch Leibbrand kommt zu dem Ergebnis: 'Der Mensch ist krank.' Er lebt im Grunde genommen aus dem Zentrum seiner Schwäche und 'Deine Gesundheit ist also entgiftete Krankheit'. 'Überdies tritt Erkrankung stets als Schicksal auf. Nur in einem vollends sinn-entleerten Weltbild kann man die Meinung produzieren, so eindringliche Ereignisse wie das Erkranken kämen als peinliche Zufälle beim allgemeinen Hin und Her des kosmischen Getriebes zustande. Warum gerade ich?, fragt der Kranke gern. Oberflächliche Ärzte beruhigen ihn dann mit Belehrungen über biologisches Malheur, z.B. mit Hinweisen auf eine als Unfall zu bewertende Infektion oder auf Diätfehler. Kann aber der wirklich zum Therapeuten taugen, der nicht spürt, daß jede Krankheit Ruf ist und damit Forderungen an den Kranken stellt? Daß Erkrankungen gegenüber die Einstellung Jakobs zu gelten habe: 'Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!', sehen heute die Besten unter den Ärzten ein. Der Segen, der errungen werden soll, läßt sich volkstümlich dadurch ausdrücken, daß der Geheilte als besserer Mensch aus seiner Erkrankung hervorgehen möge. Und das trifft präzis zu: Ein Schritt vorwärts in Richtung echter Menschwerdung muß jedes Krank- und Geheiltwerden führen.' 'Das therapeutische christliche Mysterienwort 'Ecce homo!' - das ein NichtChrist ausrief, heißt auf Deutsch: 'Sieh da: der Mensch!' Pilatus entdeckte das heilsame Simile (das individuelle Heilmittel) des Homo sapiens, bevor er dieses Simile der den Homo sapiens erlösenden Passion preisgab. Nach Maßgabe seiner hochpotenzierten Durchchristung gerät der Mensch also ins Kraftfeld der Heilung. Im Erlöser wird Gott dem Menschen ähnlich und damit zu dessen Simile, welches durch ähnliches Leiden wirkt - Golgatha und sein Passions-Vorspiel sind menschenähnliches Leiden des menschenähnlich gewordenen Gottes, aber dieses wieder hat der Mensch zu 'assimilieren', es hat dem Menschen vom Menschen her an- und eingeähnlicht zu werden, damit es Heil erwirke." Nicht Gleiches heilt, nicht Gegensätzliches heilt, sondern Ähnliches heilt Ähnliches!

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Swedenborg und Kent Über den Einfluß von Emanuel Swedenborg auf die homöopathische Philosophie von James Tyler Kent von Dr. med. Emiel van Galen In der Ausübung der homöopathischen Heilkunde spielt heute die genuine - zumeist "klassisch" genannte - Richtung eine herausragende Rolle. Ein wichtiger Aspekt für die Homöopathie sind das Ausmaß an theoretischem Unterbau und die Regeln, die zu ihrem Gebrauch als therapeutischem System entwickelt sind. Zwei Namen in der Homöopathie ragen dabei heraus: Constantin Hering wegen der großen praktischen Bedeutung des nach ihm benannten "Gesetzes", mehr aber noch James Tyler Kent, der einen Grundstein der klassischen Homöopathie in seinen "Lectures on Homoeopathic Philosophy" gelegt hat. Die klassische Homöopathie von Hering und Kent basiert auf dem genauen Umgang mit dem Ähnlichkeitsgesetz von Hahnemann, wobei die Symptome in ein hierarchisches System gesetzt werden unter einer auffallenden Betonung der Gemütssymptome und solcher, die im jeweiligen Fall besonders eigenartig und merkwürdig sind. Diese Vorgehensweise unterscheidet sich radikal von denjenigen Schulen, die einzig und allein auf der Grundlage des Ähnlichkeitsprinzips Mittel in niedrigen Potenzen verschreiben. Dieser Konflikt, der die Versuche, die Homöopathie auf eine eindeutige Grundlage zurückzuführen, fortwährend behindert, macht zugleich eine befriedigende Untersuchung ihrer philosophischen Grundlagen äußerst schwierig. In der Diskussion über diese Grundlage der homöopathischen Theorie und Praxis bleibt ein bestimmter Aspekt fortdauernd ungenannt; dies gilt auch für die homöopathische Ausbildung und für Veröffentlichungen über die Forschung nach den philosophischen Grundlagen. Die klassische Schule ist nämlich, so wie sie durch die Lehre und das Werk von Hering und Kent vor hundert Jahren begründet wurde, tiefgehend beeinflußt durch die im 18. Jahrhundert entstandenen philosophischen Ideen des schwedischen Gelehrten, Philosophen und Mystikers Emanuel Swedenborg. Dieser Artikel versucht, jene Lücke zu schließen und einen Beitrag für die Grundlagenforschung zu liefern, die notwendig ist, um die Homöopathie im heutigen Rahmen zu festigen und ihr gleichzeitig eine stärkere und deutlichere eigene Identität innerhalb der allseitig bezweifelten "Werte-Freiheit" unserer naturwissenschaftlichen Wirklichkeit zu geben.

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Emanuel Swedenborg (1688 - 1772) Der schwedische Gelehrte Emanuel Swedenborg durchlief während seines Lebens eine Entwicklung vom begnadeten Gelehrten, der als einer der ersten verschiedene Entdekkungen auf naturwissenschaftlichem Gebiet machte, zum Begründer einer Philosophie, die sich schließlich zu einer eigenständigen Form christlicher Theologie entwickeln sollte und in zunehmendem Maße stets mehr mystische Elemente enthielt. Seine wissenschaftliche Grundhaltung wurde geprägt durch die Philosophie von Descartes, den Theorien von Isaac Newton und die aufkommenden Naturwissenschaften. Im Jahr 1715 wurde Swedenborg durch den schwedischen König mit der Aufsicht des Bergbauwesens beauftragt, woraufhin er 1734 sein erstes Werk über die Mineralien veröffentlichte: "Opera Philosophica et Mineralia"69 Hierin entwickelte er seine Naturphilosophie mit Elementen von Descartes, Leibniz und dem englischen Philosophen Locke. In "De Cultu et Amore Dei" von 1745 beschrieb Swedenborg eine Nebeltheorie über die Entstehung des Weltalls, in welcher Gedanken des Philosophen Kant und des Naturgelehrten Laplace zu erkennen sind. Weiterhin ist Swedenborg bekannt geworden für seine originellen Ideen zur Anatomie und Psychologie, die in "Oeconomia Regni Animalis"70 von 1741 und vor allem in "Regnum Animale"71 von 1744 - 1745 zu finden sind. Offenbar war Swedenborg sein ganzes Leben lang bestrebt, zur allumfassenden Synthese zu kommen. In diesen Werken sind die Versuche, Verbindungen zwischen Körper und Psyche, zwischen unterschiedlichen Organen und schließlich zwischen der spirituellen und materiellen Welt zu legen, überall nachzuweisen. Nach 1745 geht die naturwissenschaftliche Vorgehensweise von Swedenborg fließend über in eine persönliche Theologie und - unter Einfluß spiritueller Erfahrungen - in eine persönliche Mystik. Dies ließ eine Vielzahl von geistlichen Werken entstehen, die alle nach seinem 57. Lebensjahr geschrieben sind. Sein bekanntestes geistliches Werk ist "Arcana Coelestia" aus den Jahren 1749 - 1756.

Swedenborgs Einfluß Es ist wahrscheinlich, daß Swedenborg wesentlich häufiger gelesen wurde und viel mehr Einfluß hatte, als öffentlich zugegeben wurde. Die Zurückhaltung liegt möglicherweise

69 70

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Swedenborg, E.: Opera Philosophica et Mineralia. 3 Vols. Friedrich Hekel, Dresden, Leipzig 1734. Swedenborg, E.: Economy of the Animal Kingdom (Oeconomia Regni Animalis, 1740 - 1741). 2 Vols. Übers. von A. Clissold. William Newberry, London 1845. Repr., Swedenborg Scientific Association, Philadelphia 1955. Swedenborg, E.: Animal Kingdom (Regnum Animalis, 1744 - 1745) 2 Vols. Übers. von J.J.G. Wilkinson, William Newberry, London 1843, Repr. Bryn Athyn, Swedenborg Scientific Association, Philadelphia 1960.

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in Swedenborgs Lebensabschnitten als Mystiker begründet, die manchmal nur schwer in einen Zusammenhang mit seiner "rationalen" und "wissenschaftlichen" Vorgehensweise und Publizistik aus den ersten fünfzig Jahren seines Lebens zu stellen sind. Unter berühmten Namen, die Swedenborg als Inspirationsquelle genannt haben, finden wir Coleridge, Carlyle, Tennyson, Goethe, Heine, Thoreau, Blake, Emerson, Baudelaire, de Balzac, Dostojewski, Ezra Pound, August Strindberg und Jorge Luis Borges. Der amerikanische Transzendentalismus gilt als die geistige Bewegung, die die großen Schriftsteller Neu Englands und der amerikanischen Ostküste im 19. Jahrhundert geformt hat. Auch diese intellektuelle Bewegung ist tiefgehend durch die Philosophie Swedenborgs beeinflußt.72

Der Transzendentalismus Swedenborgs philosophische Ideen erreichten um 1784 die Ostküste Amerikas und fügten sich unmittelbar in das damalige intellektuelle Klima in diesem Teil der Neuen Welt ein. Die intellektuelle Strömung beruhte zu einem großen Teil auf dem Erstarken des neuen wissenschaftlichen Verständnisses der Natur, aber es blieb auch Raum für traditionelle Vorstellungen über die fundamentale Einheit der Schöpfung und die alten platonischen Philosophien. In diese Synthese zwischen dem Wissenschaftlichen und dem Mystischen fügte sich die Philosophie Swedenborgs harmonisch ein und führte zu einer neuen Art von Kirchengemeinschaft. Sie wurde "New Church" genannt, die Mitglieder waren bekannt unter dem Namen "Swedenborgianer". Die Wurzeln der "New Church" liegen in London (1789). Die "New Church" in den Vereinigten Staaten wurde 1792 in Baltimore gegründet, und 1817 wurde in Philadelphia der erste Konvent der "Church of the New Jerusalem" abgehalten. Auch wenn die moderne Swedenborgsche Kirche noch immer auf der Theologie von Emanuel Swedenborg aufbaut, muß betont werden, daß Swedenborg selbst während seines Lebens niemals eine Kirche gegründet hat. In diesem Milieu war Raum für eine persönliche, christliche Lebensüberzeugung, die sich mühelos mit der aufkommenden "betrachtenden Wissenschaftlichkeit" der Erleuchtung, der Naturphilosphie des frühen Swedenborg, der mystischen Theologie des späten Swedenborg, neuen Auffassungen über die Literatur usw. verband73.

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73

Treuherz, F.: The Origins of Kents Homoeopathy. Journal of the American Institute of Homeopathy 77 (1984) 130-150. Gardiner, H.: Swedenborg´s Philosophy and Modern Science. British Homoeopathic Journal 49 (1960) 195-205.

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In diese eklektische Überzeugung paßte die Homöopathie als neue, ursprüngliche Heilkunde, die schon früh durch die Swedenborgianer übernommen wurde. Beide Systeme verschmolzen miteinander. In der Verbindung der Philosophie Swedenborgs mit der Homöopathie im Amerika des 19. Jahrhunderts spielte Dr. Garth Wilkinson (1812 1899) eine entscheidende Rolle74. Wilkinson war ein homöopathischer Arzt, der bekannt geworden ist, nachdem er als erster - während seiner Ferien auf Island - die heilende Wirkung der Asche des Vulkans Hecla erkannt hatte (Entstehung von KnochenExostosen). Er nahm daraufhin etwas Hecla-Lava mit nach Hause und potenzierte sie. Neben seinen Verdiensten als homöopathischer Praktiker hat Wilkinson noch in einem anderen Bereich Bedeutung erlangt. Er übersetzte Swedenborgs Werke "Arcana Coelestia", "Regnum Animale" und "Oeconomia Regni Animalis" erstmals aus dem Lateinischen ins Englische75. Ein Jahrhundert nachdem Swedenborg sie verfaßt hatte, kamen seine Werke mit einer neuen intellektuellen Strömung und damit mit Vertretern der Homöopathie in Berührung. Dies führte unmittelbar zu einer "chemischen Reaktion"76. Nach Harris L. Coulter77 war Dr. Garth Wilkinson am Hahnemann-College in Philadelphia ausgebildet worden, welches 1848 durch Constantin Hering errichtet worden war. Hering war zugleich Mitglied der ersten "Society of Swedenborgians" in Philadelphia. Auch Hans Gram, der die Homöopathie als erster in Amerika eingeführt hatte (1825), Otis Clapp aus Neu England, John Ellis aus Michigan und die Verleger Boericke und Tafel waren bekannte Swedenborgianer. Boericke und Tafel brachten viele homöopathische Bücher heraus, aber auch alle Übersetzungen der Werke Swedenborgs78. Garth Wilkinson war im übrigen über Henry James Sr. mit der Homöopathie in Berührung gekommen, einem einflußreichen Verleger und Vater der amerikanischen Schriftsteller William und Henry James Jr. Henry James Sr. war bereits ein bedeutender Swedenborgianer und ein wichtiger Begründer des Transzendentialismus als literarischer Strömung an der Ostküste der Vereinigten Staaten79. Die Beziehungen zwischen den Swedenborgianern und der Homöopathie waren demzufolge bereits sehr eng, und es war dann auch selbstverständlich und auch gesellschaftlich akzeptiert, sich als Homöopath mit der "New Church" zu verbinden. Die Position 74 75 76 77

78

79

Treuherz, F. a.a.O. Swedenborg, E.: Animal Kingdom a.a.O.; Treuherz, F.: a.a.O. Treuherz, F. : a.a.O.; Campbell, A.: The Two Faces of Homeopathy. Robert Hale Limited, London 1984. Coulter, H.L.: Divided Legacy. Vol. 3: Science and Ethics in American Medicine, 1800-1914. North Altantic Books, Richmond/California. Tafel, R.L.: Documents on Swedenborg - Documents Concerning the Life and Character of Emanuel Swedenborg. 2 Vols., bound as 3. Swedenborg Society, London 1875, 1877. Campbell, A.: The Two Faces ... Robert Hale Ltd. London 1984; Treuherz, F.: a.a.O.

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von Constantin Hering macht deutlich, warum so viele Homöopathen dieser Zeit bei der Gemeinschaft der Swedenborgianer Mitglied wurden. Ein vielsagendes Zitat von Hering: "Während die Swedenborgianer aus gutem Grund eine homöopathische Behandlung bevorzugen dürften, gibt es überhaupt keinen Grund, warum alle Homöopathen Swedenborgianer sein sollten."80

Hering war der Überzeugung, daß Wissenschaft sich nicht zu beweisen hatte, indem sie eine religiöse Doktrin übernahm. Aber Philadelphia war ein Mittelpunkt der "New Church". Viele Kollegen Herings und viele seiner Schüler waren mit Swedenborgs Ideen in Berührung gekommen, und vielleicht war es in dieser Zeit auch durchaus Mode, Mitglied dieser etwas elitären, intellektuellen, aber auch gesellschaftlichen Vereinigung zu sein. Hering war jedenfalls Mitglied der "New Church" von Philadelphia und war jederzeit bereit, die philosophischen Schnittstellen zwischen der Homöopathie Hahnemanns und der Lehre Swedenborgs zur Diskussion zu stellen. Es ist übrigens fraglich, ob viele Homöopathen allein aus religiöser Überzeugung Mitglied der Swedenborgianischen "New Church" wurden. Es gibt keine Hinweise darauf, daß die großen Homöopathen in der alltäglichen Organisation der Kirchengemeinschaft eine Rolle spielten. Wahrscheinlicher ist, daß viele Homöopathen in der Philosophie Swedenborgs ein ausgearbeitetes System sahen, das ihnen dabei behilflich war, der Homöopathie ein festes Fundament zu geben.

Swedenborg und Kent Nach Pierre Schmidt81 gehörte Kent erst nach dem Tod seiner Ehefrau den Swedenborgianern an. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits Rektor der "Philadelphia Postgraduate School of Homeopathy". Diese Berührung mit der Philosophie Swedenborgs muß demnach in den Jahren zwischen 1888 und 1899 vermutet werden.

80

81

Peebles, E.: Homeopathy and the New Church. In: Homeopathy and the Swedenborgian Perspective. P. 468 - 472. Schmidt, P.: The Life of James Tyler Kent. British Homoeopathic Journal 53 (1964) 152-160. dto.: Biographie von James Tyler Kent, Zeitschrift für Klassische Homöopathie (ZKH) 6 (1962) 278293. dto.: Biography of James Tyler Kent, BPh, MA, MD, 1849-1916. Voorwoord Final Edition Repertory, p. 3-11. dto.: A Propos du Kentisme, Cahiers du Groupement Hahnemannien (1964) 180-184. dto.: Le Kentisme et al biographie de J.T. Kent: Cahiers du Groupement Hahnemannien (1964) 140155.

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Nach Aussage des Autors Frederic Schmid82 war Kents zweite Ehefrau Clara Louise jedoch eine führende Figur der Swedenborgianischen Kirche in Philadelphia, und er ist durch sie mit Swedenborgs Gedankengut in Kontakt gekommen. Obwohl Garth Wilkinson als Homöopath und als Übersetzer Swedenborgs Bekanntheit erlangt hatte, gibt es keinen unmittelbaren Beweis dafür, daß Kent die Übersetzungen Wilkinsons wirklich gelesen hat.

Kents Brief an Rev. W. F. Pendleton

Der Einfluß seiner zweiten Ehefrau Clara Louise Kent (1856 - 1943) auf Kents Werk darf nicht unterschätzt werden83: "Das Repertorium wurde in einer durch Clara Louise Kent, 82

83

Schmid, F.W..: Reflections on the Tombstone of James Tyler Kent. Transactions of the Liga Medicorum Homoeopathica Internationalis, Sussex 1982, p.345. Kent, J.T.: Repertory of Homoeopathic Materia Medica. Ind. ed., repr. from 6th Am. ed. B. Jain Publishers, New Delhi.

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der geliebten Witwe des berühmten Autors, revidierten Fassung veröffentlicht." Der Autor dieses Aufsatzes entdeckte vor kurzem in der »Swedenborg Library«, Bryn Athyn (USA), einen Brief, den James Tyler Kent am 13. November 1900 geschrieben hatte. Er beweist, daß Kent ein Mitglied der swedenborgschen Neuen Kirche in Evanston gewesen ist. Der Empfänger ist Rev. W. F. Pendleton. Kent wohnte »Suite 707, 92 State Street, Chicago«.84 Laut Treuherz sind Kents "Lesser Writings" in dieser Hinsicht am bedeutendsten. Kents Verweise auf Swedenborg sind in seinen anderen Werken indirekter Natur85. Kent nannte seine Potenzreihe 30, 200, M 10M, 50M, CM, MM "Oktaven in der Reihe der Grade"86 (in Übereinstimmung mit Swedenborgs "Lehre von den Graden" und dessen Ideen über die Unendlichkeit; siehe unten). Kent kommentierte Herings Heilgesetz wie folgt: "Das Zentrum des Menschen besteht aus Willen, Vernunft und Gedächtnis, und diese beeinflussen den physischen Organismus. Diese Vorstellung spielt in Anbetracht der Entwicklung der Symptome - vom Innersten zum Äußersten - eine Rolle ... Und diese Vorstellung wird praktisch bei der Gewichtung der zu repertorisierenden Symptome angewandt ... Die physischen Organe entsprechen dem Zentrum des Menschen, dem Willen und der Vernunft."87 (in Übereinstimmung mit Swedenborgs "Lehre von den Graden"). Schließlich schreibt Kent in seinen "Lesser Writings": "Durch meine Vertrautheit mit Swedenborg habe ich erkannt, daß die aus dem Worte Gottes hervorgebrachte Entsprechung mit allem, was ich erfahren habe, übereinstimmt."88 Bei der Neuauflage von Kents "Lectures on Homoeopathic Philosophy" erschien unter anderem ein Vorwort von George G. Starkey: "Dr. Kent war zugestandenermaßen einem anderen genialen Geist zu Dank verpflichtet, Emanuel Swedenborg, dessen Rang als Wissenschaftler und Forscher von den führenden Wissenschaftlern und Forschern in Europa und Amerika nur zögernd anerkannt wird. Mit einer genialen Begabung, die in einzigartiger Weise die Fähigkeiten der Intuition und des rationalen Denkens verband, 84

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Der Wortlaut des Briefes: »My dear Bishop, As the Rev. L. P. Mercer has organised a new society in Evanston, Mrs. Kent and myself desire to associate with it. We therefore request that you send us letters of dismissal such as it is proper for us to have, that we may unite here. Our first service was held last Sunday and there were twenty members of the New Church present. Mr. Mercer told me there were forty New Churchmen in reach of Evanston and he expected to make it his headquarters shortly. At present we have afternoon service but after the first of the year we expect to have morning service. Sincerely, J. T. Kent«. Eine Abbildung des Briefes findet man in »Homœopathic Links« 3 (1994) 29 und am Ende dieser Veröffentlichung. Treuherz,F.: a.a.O.; Kent, J.T.: New Remedies, Clinical Cases, Lesser Writings, Aphorisms and Precepts. Erhart and Karl, Chicago 1926. Repr., B. Jain Publishers, New Delhi 1981. Treuherz, F.: a.a.O. Treuherz,F.: a.a.O. Kent , J.T.: New Remedies, Clinical Cases , Lesser Writings, Aphorisms and Precepts. Erhart and Karl Chicago 1926. Repr., B. Jain Publishers, New Delhi 1981.

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schuf Swedenborg neue Grundsätze. Einer davon ist die Lehre von den Reihen und Graden."89 Zudem soll Kent laut Starkey gesagt haben: "Meine ganze Lehre gründet sich auf Hahnemann und Swedenborg; ihre Lehren entsprechen sich vollkommen."90

Swedenborgs Lehre von den Entsprechungen Für Swedenborg war es von grundlegender Bedeutung, daß eine mystische Entsprechung zwischen der geistigen Welt und unseren materiellen Dingen bestand. Swedenborg lehrte, daß Form und Funktion des Menschen (Mikrokosmos) einem Vorbild in der spirituellen, höheren Wirklichkeit (Makrokosmos) nachgestaltet waren. Alles, was dort in der höheren Welt bestand und geschah, spiegelte sich wider in dem Ähnlichen, das sich in der weltlichen Wirklichkeit auf der Erde befand. Diese Idee der "Entsprechungen" ist schon sehr alt und wird gemäß Swedenborg bereits auf verschiedene Weise in der alchemistischen Tradition getroffen. Swedenborgs Lehre der Entsprechungen betrachtete das Universum als ein symbolisches System, welches in ein göttliches Licht gestellt werden kann, wenn auch in verschiedenen Abstufungen. Es ist ein universeller Symbolismus, in dem alles in der Außenwelt Sichtbare der Natur ein spirituelles Äquivalent in der Innenwelt hat.91 Die Swedenborgianer betrachteten die Lehre der Entsprechungen unmittelbar als ein Naturgesetz, das schon seit jeher bestanden hat. Diese Lehre ist das Kernstück der Theorie, in der Swedenborg die spirituelle Welt mit der materiellen Wirklichkeit verbindet. Die Anhänger Swedenborgs fanden in der Homöopathie Hahnemanns ein wissenschaftliches System vor, das in den Begriffen der Heilkunde exakt mit den Prinzipien dieser Lehre übereinstimmte. Nach Emerson: "Swedenborg sah und zeigte die Verbindungen zwischen der äußeren Welt und der Seelenlage."92

Swedenborgs Lehre von den Graden In "Oeconomia Regni Animalis"93 und "Regnum Animale"94 beschrieb Swedenborg seine Studien der Anatomie und der Psychologie des Menschen; zwei Felder, die für Swedenborg übrigens in wechselseitigem Bezug zueinander stehen. Swedenborg studierte die Anatomie, aber betrachtete sie nicht allein als etwas Objektives, sondern wünschte die

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Starkey, G. G.: James Tyler Kent, voorwoord bij Lectures on Homoeopathic Philosophy. B. Jain Publishers, New Delhi. Starkey, G.G.: a.a.O. Edwards, P.: The Encyclopedia of Philosophy. Vol. 7/8. Macmillan Publishers, 1972. Treuherz, F.: a.a.O. Swedenborg, E.: Economy of the Animal Kingdom (Oecon. Regni Animalis 1740 - 1741) A. Clissold a.a.O. Swedenborg E.: Animal Kingdom (Regnum Animalis, 1744 - 1745) J.J.G. Wilkinson, a.a.O.

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Anatomie des Körpers auch als "Königreich der Seele" zu sehen, etwas, das auch in den Titeln seiner wissenschaftlichen Werke zum Ausdruck kommt.

Swedenborg unterschied drei hierarchische Strukturen im Menschen, die in Form einer Spirale miteinander verbunden sind. Obenauf stand die Seele mit dem Willen als Triebfeder, als Gefühl (für dieses Niveau gebraucht Swedenborg den Begriff "singular", einmalig/eigen). Das mittlere Niveau ist die Vernunft, mit dem Verstand und der Absicht (für dieses Niveau wird der Begriff "particular" gebraucht). Das niedrigste Niveau beinhaltet die Einbildung, die Erinnerung und das Verlangen und beeinflußt die Körperfunktionen. Dieses Niveau der Psyche wird "general (allgemein)" genannt. Dieser Bestandteil der Lehre Swedenborgs befindet sich an mehreren Stellen in der Kentianischen Homöopathie wieder: in erster Linie ist es eine Erklärung für die durch Kent hervorgehobene Notwendigkeit zur Gewichtung der Symptome, mit anderen Worte, zur Bestimmung, welche Symptome zu welchem Swedenborgschen Niveau der Psyche gehören. Es ist beinahe unglaublich, feststellen zu müssen, daß die Begriffe "particulars" und "generals" durch Kent aus dem Menschenbild Emanuel Swedenborgs entlehnt sein könnten. In Kents ursprünglichen Texten werden die Begriffe "particular" und "general" eingeführt und ihre Erläuterung in das Repertorium von Margret Tyler und John Weir übernommen.95 Nach Kent liegt die Essenz des Menschseins in folgendem: "Der Mensch hat Willen und Verstand, der Leichnam will und weiß nichts. Beides, Willen und Verstand, machen den Menschen aus. Zusammen ermöglichen sie Leben und Aktivität, sie bilden den Körper und verursachen alles Körperliche. Wenn zwischen Willen und Verstand Gleichklang herrscht, ist der Mensch gesund."96 Die "particulars" sind die Symptome, die sich auf dieses Gebiet von "Wille und Verstand" beziehen. Die Gemütssymptome haben Bezug zu den intellektuellen Funktionen, auf Emotion und Stimmung. Und die "generals" sind die Symptome, die den gesamten Menschen ergreifen. Die hierarchische Einteilung der Psyche in die genannten drei Niveaustufen in Swedenborgs "Lehre von den Graden" klingt in Kents "Use of the Repertory" durch97. "Zu berücksichtigende Symptome: Zuerst diejenigen, die sich auf Liebesarten und Abneigungen, Wünsche und Aversionen beziehen (Swedenborgs Seele, das Einzigartige); dann 95

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Kent, J.T.: addenda: Use of the Repertory - How to Study the Repertory - How to Use the Repertory, B. Jain Publishers, New Delhi.; Tyler, M.; Weir, J.: Repertorising - Ergänzung zum Rpertorium. B. Jain Publishers, New Delhi. Kent, J.T.: Lectures on Homoeopathic Philosophy, Chicago 1900. Repr., B. Jain Publishers, New Delhi (repr. from 5th ed., 1954), Repr., Thorsons Publishers, Wellingborough 1979. Kent, J.T.: addenda: Use of the Repertory a.a.O.

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diejenigen, die zum vernünftigen Gemüt, dem sogenannten verständigen Gemüt, gehören (Swedenborgs Vernunft mit dem Verstand); drittens diejenigen, die mit dem Gedächtnis zu tun haben (Swedenborgs Erinnerung, die dritte Ebene)." In demselben "Use of the Repertory" kommt noch eine ältere Facette Swedenborgs zum Vorschein: In seinen ersten anatomischen Studien hatte sich Swedenborgs Interesse vor allem auf das Blut und die Körperflüssigkeiten gerichtet, da er diese als essentiell für die Körperfunktionen erachtete98. Kent setzt seine Anweisungen für den Gebrauch des Repertoriums wie folgt fort: "Die nächsten Symptome, die am wichtigsten sind, sind diejenigen, die sich auf den ganzen Leib oder sein Blut und die Körperflüssigkeiten beziehen: z. B. sein Empfinden für Hitze, Kälte, Wind, Ruhe, Nacht, Tag, Zeit. Sie beinhalten beides: Symptom und Modalität."99 Stammen die Bedeutung und die Auffassung von den typischen homöopathischen Modalitäten aus Swedenborgs frühestem anatomischem Werk ab? Die sogenannte Kentsche Reihe von Potenzschritten lehnt sich ebenfalls an eine bedeutende Stelle von Swedenborg an. Dieser hatte eine komplexe Vorstellung von der Unendlichkeit, wobei vorausgesetzt wird, daß man sich der Unendlichkeit schrittweise annähern sollte. Der Weg zur Unendlichkeit verlief in bestimmten Stufen oder Graden100. Nach Kent haben Potenzen ihren Angriffspunkt in einem kranken Körper in Übereinstimmung mit dem Grad ihrer Verdünnung. Die höchsten Potenzen erreichen das Mittelniveau (Gehirn) und vielleicht das höchste Niveau, die Seele. In dieser Vorstellung werden die Potenzen als Formen mentaler Energie gesehen, ein Gedanke, der in der klassischen Homöopathie zum Allgemeingut gehört101. Die Essenz in der Natur des Menschen wird nach Swedenborg durch den grundlegenden spirituellen Impuls geregelt. Dies stimmt überein mit Hahnemanns Idee, daß Krankheit durch eine Verstimmung der "Lebenskraft", der Dynamis verursacht wird. Die Swedenborgianer betrachteten Krankheit immer als eine Störung des innersten, psychischen Kerns des Menschen, und darum ist Krankheit immer ein psychisches Problem, mit Symptomen und Facetten des Gemüts des Patienten und seiner spirituellen Existenz. Dies stimmt überein mit der prinzipiellen Vorrangigkeit, die Kent in seinen "Lectures" den psychischen Symptomen des Gemüts zuerkennt102.

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Gardiner, H.: a.a.O.;Swedenborg, E.: Economy of the Animal Kingdom, 2 Vols., Übers. von A.Clissold. William Newberry ... a.a.O. Kent, J.T.: addenda: Use of the Repertory ... a.a.O. Edwards, P. : a.a.O.; Gardiner, H.: a.a.O.; Peebles, E.: a.a.O. Kent, J.T.: Lectures on Homoeopathic Philosophy, Chicago 1900 ... a.a.O.; Treuherz, F.: a.a.O. Treuherz, F.: a.a.O.

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Twentyman schloß hieraus im "British Homoeopathical Journal" von 1956 bereits: "Man nahm an, daß Kent ein reiner Hahnemannianer sei, aber das war er natürlich nicht. Er war eine Synthese von Hahnemann und Swedenborg."103

Epilog Die Werke Kents haben auch heute noch große Bedeutung, und es ist erstaunlich, daß der Einfluß der philosophischen Ideen Emanuel Swedenborgs hierbei so lange ungenannt geblieben ist. Hierfür könnten die widerstreitenden Auffassungen in der Homöopahtie verantwortlich gemacht werden, die bemerkenswert viel Interesse gezeigt haben, Swedenborg zu verschweigen. Die Verbreitung der homöopathischen Lehre Kents in Europa verlief möglicherweise über zwei Wege: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging Margret Tyler in die Vereinigten Staaten, um bei Kent Homöopathie zu studieren. Zurück in England, ermutigte sie andere homöopathische Ärzte - finanziell unterstützt durch eine Zuwendung ihrer Mutter Lady Tyler -, bei Kent Studien zu betreiben. Einer der ersten, die hiervon Gebrauch machte, war Dr. John Weir, der nach seiner Rückkehr 1909 der Entwicklung der Homöopathie in England seinen Stempel aufdrückte104. Der Swedenborgianische Einfluß ist auch bei Margret Tyler und John Weir unübersehbar vorhanden: In ihrer Schrift "Repertorising" betonen sie das Hierarchisierungsprinzip als "The Grading of Symptoms"105. Swedenborg gebraucht an einer Stelle die Worte "The Grading of Degrees". Einen zweiten Weg der Verbreitung fand Kents Homöopathie durch Pierre Schmidt vor allem im französisch- und deutschsprachigen Gebiet106. Nach dem einflußreichen französischen homöopathischen Arzt Denis Demarque, einem bedeutenden Gegner Swedenborgs und Kents, ist die Homöopathie in zwei parallele Strömungen geschieden, von denen die eine durch den Gebrauch eines materialistischen Konzepts gekennzeichnet ist, das das Festhalten an der Gewebelehre, der biologischen Meßbarkeit und den chemischen Reaktionen beinhaltet. Auf der anderen Seite steht die vitalistische Homöopathie, die an den überkommenen Ausgangspunkten Samuel Hahnemanns festhält107.

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Twentyman, R.: The Evolutionary Significance of Samuel Hahnemann. British Homoeopathic Journal 64 (1975) 144 - 145. Editorial - The History of Homoeopathy. British Homoeopathic Journal 67 (1978) 2. Campbell, A.: The Two Faces of Homeopathy. British Homoeopathic Journal 74 (1985) 1 - 10; Campbel, A.: The Two Faces Of Homeopathy. Robert Hale Limited, London 1984. Tyler, M.; Weir, J.: a.a.O. Schmidt, P.: The Life of James Tyler Kent ...a.a.O.; Le Kentisme et la biographie de J.T. Kent ... a.a.O. Demarque, D.: l´Homeopathie Medicine de l´Experience. Editions Coquemard, Angouleme 1968.; Demarque, D.: La secte et ses incarnations: Le Swedenborgisme at le Kentisme. Homeopathie (1988)

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Demarque spricht sich dafür aus, daß die moderne Homöopathie vollständig freigemacht werden muß von der früheren Mystik und Philosophie, die zur Entwicklung ihrer Theorie beigetragen haben, die aber jetzt einer Aufnahme der Homöopathie in die moderne wissenschaftliche Heilkunde im Weg stehen. Demarque erachtet dieses Erbe als nutzlos und meint, daß dieser Bestandteil am besten verleugnet werden sollte108. Es sollte deutlich geworden sein, daß der Autor dieses Artikels hiergegen Stellung bezieht. Quelle: "Zeitschrift für Klassische Homöopathie" 1 (1995) 19-29. Wir danken der Schriftleitung für die Abdruckerlaubnis!

Der gute Hirte von Thomas Noack "Ich bin der gute Hirte" (Joh 10,11), dieses Jesuswort steht im Gegensatz zu den Pharisäern, den schlechten Hirten und blinden Blindenführern (Mt 15,14) des vorangegangenen Kapitels des Johannesevangeliums. Sie hätten das Volk weiden sollen und taten es nicht. Solchen Hirten gilt das Wort Ezechiels, der selber einer priesterlichen Familie entstammte und angesichts des Babylonischen Exils ausrufen musste: "Weh den Hirten Israels, die nur sich selbst weiden. Müssen die Hirten nicht die Herde weiden?" (Ez 34,2). In Johannes 10 begegnen uns diese Hirten, die hauptsächlich ihren eigenen Vorteil im Auge haben, als Diebe, Räuber, Fremde und Lohnarbeiter. Den verdorbenen Hirten wird der eine gute Hirte gegenübergestellt. Ein weiterer Zusammenhang des 10. mit dem 9. Kapitel des Johannesevangeliums ist durch den Blindgeborenen gegeben. Denn dieser erkennt in Jesus den von Gott Gesandten und fällt anbetend vor ihm nieder (Proskynese in Joh 9,38109), während die Pharisäer die Göttlichkeit Jesu nicht anerkennen wollen, weil er ihre unsinnigen Sabbatvorschriften nicht beachtet. Der Blindgeborene, im inneren Sinn sind die Heiden gemeint (OE 239), ist ohne geistiges Licht, ohne Religionsunterricht, aufgewachsen und dennoch oder gerade deswegen fähig, den Gottgesandten aus seinen Werken zu erkennen; er ge-

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28 - 33.; Julian, O.A.: Haffen, M.: Homoeopathic Materia Medica. Chicago 1904. Repr., B. Jain Publishers, New Delhi.; Seror, R.: XLVe Revue de presse homeopathique de langue anglaise. Cahiers de Biotherapie 90 (1986) 71 - 76. Treuherz, F.: a.a.O. Zur Proskynese vor Jahwe siehe in den Psalmen: "Werft euch nieder vor dem Herrn in heiliger Pracht." (29,2). "Kommt, wir werfen uns nieder und wollen uns beugen, niederknien vor dem Herrn, unserem Schöpfer." (95,6). "Zu deinem heiligen Tempel hin will ich mich niederwerfen und deinen Namen preisen" (138,2).

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hört zu denen (siehe Joh 10,3f), welche die Stimme des guten Hirten erkennen können, sich ihr anvertrauen und ihm nachfolgen. Das 10. Kapitel ist mit den vorangehenden schließlich auch wie das Gute mit dem Wahren verbunden. Im 8. Kapitel sagte Jesus, wobei wir wissen müssen, dass das Licht dem Wahren entspricht: "Ich bin das Licht der Welt." (Joh 8,12), und im 9. Kapitel heilte er den Blindgeborenen und deutete seine Mission mit den Worten: "Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, damit, die nicht sehen, sehend werden, und die sehen, blind werden." (Joh 9,39). Das Licht ist immer das Licht einer Quelle, vor allem der Sonne, und Jesus, insofern er der Sohn und das "Licht der Welt" ist, ist immer der Gesandte des Vaters, das heißt der göttlichen Liebe. Das innere Licht, das des Mikrokosmos, ist immer das Licht der Liebe, - liebloses, kaltes Licht ist kein Licht aus dem Herzen des Vaters. Daher folgt der Offenbarung des Lichtes nun in Johannes 10 die Enthüllung der fürsorgenden, uns weidenden Liebe. Jesus gibt sich als der gute Hirte und damit letztlich als der "Vater des Lichts" (Jak 1,17) zu erkennen. Im Gleichnis vom guten Hirten ist die Tür das Kennzeichen dafür, wer in guter und wer in böser Absicht kommt. "Wer nicht durch die Tür in den Hof der Schafe hineingeht, sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber." (Joh 10,1). Die Tür, die ja eigens geschaffen wurde, um den Zugang zu gewähren, ist ein Bild für den vom Schöpfer vorgesehenen Zugang zu den Schafen. Derjenige, der diesen, von Anbeginn an vorgesehenen Zugang zur Menschenwelt wählt, gibt sich dadurch, dass er dies kann, als der gute Hirte zu erkennen. Jesus sagt: "Ich bin die Tür zu den Schafen." (Joh 10,7). Das heißt, durch das menschliche Wesen Jesu kommt Gott zu uns Menschen. Unter diesem menschlichen Wesen verstehen wir zunächst die leibliche Gestalt des irdischen Jesus, dann aber auch dessen verherrlichte Gestalt und seine Erscheinungsform vor den Engeln. Auch die menschlichen Vorstellungen, durch die sich Gott uns nähert, können unter dieser Tür verstanden werden. Der gute Hirte ist so gesehen daran erkennbar, dass er mit unseren Worten und unseren Gedanken zu uns spricht, sich also seiner Zuhörerschaft anpasst. Obwohl Gottes Gedanken nicht unsere Gedanken sind (siehe Jes 55,8f), redet er doch auf möglichst einfache, menschliche Weise zu uns. Je komplizierter hingegen jemand die Weisheiten, die er selber nicht verstanden hat, vorträgt, desto naheliegender ist der Verdacht, dass dieser Seelenführer, seinen eigenen Ruf als hochangesehener Lehrer der Weisheit pflegen möchte, dass er also ein Dieb und Räuber ist, der sich die Anerkennung seiner Person betrügerisch verschaffen will. Doch die Schafe können den guten Hirten erkennen. "Die Schafe hören auf seine Stimme, und er ruft die eigenen Schafe mit Namen und führt sie hinaus … die Schafe folgen ihm, weil sie seine Stimme kennen. Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, son-

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dern sie werden ihm davonlaufen, weil sie die Stimme der Fremden nicht kennen." (Joh 10,3-5). Dieses Sensorium hat sich die Gemeinde immerhin bewahren können, die instinktive Erkenntnis dessen, der es gut mit ihr meint. Der Inhalt der Rede ist dabei belanglos, die Unterscheidung des guten Hirten von den schlechten gelingt durch die Stimme. Den Inhalt göttlicher Offenbarungsreden können wir oft nicht von Grund auf beurteilen, aber wir können darauf achten, ob in den Worten die Stimme des guten Hirten erkennbar ist, der wir uns dann anvertrauen können, auch wenn wir nicht schon im vorhinein wissen, wohin sie uns führen wird. Die selbstlose Liebe des guten Hirten zeigt sich darin, dass er sogar sein Leben für die Schafe einsetzt (Joh 10,11). Darin unterscheidet er sich von den Lohnarbeitern, denen das Leben der Schafe nicht das höchste Gut ist. Ihnen geht es primär um den Lohn, um das Leben der Schafe hingegen nur insoweit, als sich damit Gewinne erwirtschaften lassen. "Der Lohnarbeiter, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, der sieht den Wolf kommen und lässt die Schafe im Stich und flieht, und der Wolf reißt und versprengt sie. Denn er ist ein Lohnarbeiter, und ihm liegt nichts an den Schafen." (Joh 10,12f). Indem Jesus ganz und gar für die Schafe lebt, ihr Wohlergehen zu seinem Lebensinhalt macht, überwindet er die der Menschheit seit dem ersten Brudermord eingebrannte Natur. Diesen Bezug zu Genesis 4 hat Arthur Schult gesehen: "Im Gegensatz zu jener Kains-Natur, die da fragt: 'Bin ich der Hüter meines Bruders?' und sich in sich selber abschließt, ist der gute Hirte aufgeschlossen für alle Nöte seiner Mitmenschen und opfert sich in selbstloser Liebe für sie auf."110 Abel, nota bene der Schafhirt, wurde von Kain, der dem Irdischen dient (Ackerknecht), schon zu Beginn der Menscheitsgeschichte ausgerottet, so dass seitdem die Verantwortungslosigkeit und Gefühlskälte in Gestalt der Kainsfrage "Bin ich der Hüter meines Bruders?" die Signatur der gefallenen Menschheit ist. Jesus, der Abel der neuen Schöpfung, richtete das alte Ideal der FürSorge anstelle der Selbst-Sorge wieder auf. Allerdings konnte die Kainsmenscheit auch dieses gerechte Opfer, auch diesen hingebungsvollen Lebenseinsatz, wiederum nicht ertragen und brachte den neuen Abel um. Doch auf diesen Karfreitag folgte ein Ostermorgen. Dem 10. Kapitel schließt sich die Auferweckung des Lazarus an, welche die bösen Hirten zu dem Entschluss treibt, Jesus töten zu wollen (Joh 11,53). Damit beginnt die Passionsgeschichte. Das 10. Kapitel ist somit der Höhepunkt der Selbstoffenbarung des Vaters in der Gestalt des Sohnes. Jesus offenbart seine Einheit mit dem Vater, ja eigentlich sogar die Anwesenheit des Vaters in der Leiblichkeit Jesu. Anläßlich des Tempelweihfestes sagt Jesus: "Ich und der Vater sind eins" (Joh 10,30) und ebenso, "dass in mir der Vater ist und ich im Vater bin" (Joh 10,38). Das Tempelweihfest erinnert die Juden an 110

Arthur Schult, Das Johannes-Evangelium als Offenbarung des kosmischen Christus, 1965, 237.

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die Wiedereinweihung des Tempels, nachdem der syrische König Antiochus IV. den Jahwekult bei Todesstrafe verboten hatte. Jesus, der nach Johannes 2 der wahre Jahwetempel ist, bringt hier also zum Ausdruck, dass fortan er die Gegenwart Jahwes in der Menschenwelt ist. Der gute Hirte offenbart sich vollständig, zunächst seine Liebe, dann den Grund derselben, nämlich die Anwesenheit des Vaters. Das Urgöttliche hat durch Jesus, der die Tür ist, die Menschenwelt betreten. Das ist der Höhepunkt der öffentlichen Selbstoffenbarung Jesu. Im Gespräch mit den Jüngern, also im esoterischen Teil des Johannesevangeliums, werden auch später nochmals die Höhen der Gotteserkenntnis erklommen, aber die Offenbarung des Gesandten vor der Welt hat in Johannes 10 den Gipfel erreicht bzw., wenn man sich die Reaktion der Juden anschaut (Joh 10,31.39), den Gipfel des Zumutbaren bereits überschritten. In den Abschiedsreden wird Jesus sagen: "Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen." (Joh 14,9). Und Thomas bekennt, den Ausnahmezustand der Auferstehung vor Augen habend: "Mein Herr und mein Gott!" (Joh 20,28). Und der Auferstandene erwidert, die Zeit der Kirche vor Augen habend: "Selig sind, die nicht sehen und doch glauben." (Joh 30,29). Damit schließt das Johannesevangelium (siehe Joh 20,30f). Das 21. Kapitel öffnet dann noch ein Fenster in die Zeit der Kirche und zeigt uns das Schicksal der petrinischen Glaubenskirche und des johanneischen Geisteslebens bis zur Ankunft des neuen Jerusalems. Auch das sind Höhepunkte, aber der gute Hirte ist das Höchste der vorösterlichen Liebesoffenbarung. Sie läd uns zu einem Leben des Vertrauens ein: "Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln …" (Ps 23,1).

Rom meldet sich zurück Zur vatikanischen Erklärung "Dominus Iesus" (DI) von Thomas Noack Am 6. August 2000, dem Fest der Verklärung des Herrn, verklärten sich in Rom auch die Gesichtszüge bei Joseph Cardinal Ratzinger, dem Präfekten der vatikanischen Kongregation für die Glaubenslehre, als er seinen katholischen Schafen die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und vor allem natürlich seiner Kirche nach einer Audienz beim Heiligen Vater erklären durfte. Diese Schafe also wissen nun, was sie zu glauben haben. Nun lesen freilich solche innerkatholischen Erklärungen auch nichtkatholische, ja sogar protestantische Schäflein und promt geht es los, das lautstarke ökumenische Blöken über diese jüngste Klarstellung aus Rom. Denn diese Schäflein wissen nun nicht mehr, was sie glauben sollen.

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Dabei war man sich am 31. Oktober des noch nicht Heiligen Jahres 1999 doch schon so einig. In der Gemeinsamen Feststellung des Lutherischen Weltbundes und der katholischen Kirche über die Rechtfertigungslehre (siehe OT 1/00) sprach man von der "römisch-katholischen Kirche" und den "lutherischen Kirchen". Und nun plötzlich erklärt die Römerin: "Die kirchlichen Gemeinschaften …, die den gültigen Episkopat und die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt haben, sind nicht Kirchen im eigentlichen Sinn" (DI 17). Angesprochen dürfen sich die Kirchen der Reformation fühlen, was allerdings jene evangelischen Kirchenführer schmerzt, "die noch zu Jahresbeginn für den zum Heiligen Jahr ausgesprochenen Ablass ein gutes Wort einlegten und mit dem Papst an die Heilige Pforte pochten, hinter der sie das ökumenische Paradies wähnten" (Ulrich Körtner). Doch was kümmert solch ökumenisches Wunschdenken die Römerin, im Heiligen Jahr 2000 blüht sie auf, spricht Pius IX. selig, dem ihre Päpste die Unfehlbarkeit verdanken, und erklärt die reformatorischen Gemeinschaften zu Randerscheinungen des Katholizismus. Soviel Klarheit macht protestantische Ökumenismuseiferer fassungslos. Die Römerin ist "die eine heilige katholische und apostolische Kirche" (Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis). "Die Gläubigen sind angehalten zu bekennen, dass es eine geschichtliche, in der apostolischen Sukzession verwurzelte Kontinuität zwischen der von Christus gestifteten und der katholischen Kirche gibt" (DI 16). "Es gibt also eine einzige Kirche Christi, die in der katholischen Kirche subsistiert [= verwirklicht ist, siehe die Dogmatische Konstitution "Lumen gentium" des Zweiten Vatikanischen Konzils] und vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird." (DI 17). Die Römerin bleibt sich treu. Während manche lutherischen Kirchen derzeit kaum ein wichtigeres Thema zu kennen scheinen als die Wiedereingliederung in die historische Sukzession im Bischofsamt, grosse protestantische Kirchen die Frauenordination wieder problematisieren, oder in reformierten Gemeinden Veranstaltungen zum Reformationsfest abgesagt werden, weil man so etwas für ökumenisch unschicklich und den katholischen Partnern nicht mehr zumutbar hält, wiederholt die Römerin unbeeindruckt von diesem Balzgehabe "einige Glaubenswahrheiten" (DI 23), die "zum Glaubensgut der Kirche gehören" und schon mehrfach in "früheren Dokumenten des Lehramts vorgetragen" wurden (DI 3). So zum Beispiel am 18. November 1302 in der Bulle "Unam sanctam" von Bonifatius VIII.: "Wir erklären, sagen und definieren nun aber, daß es für jedes menschliche Geschöpf unbedingt notwendig zum Heil ist, dem Römischen Bischof unterworfen zu sein." Höre wohl, protestantische (H)erde! In der Neuzeit drückt sich die Römerin zwar etwas höflicher aus, doch in der Sache unnachgiebig. Swedenborgs Wesenschau hat Bestand. "Babylon, die Große, die Mutter der Huren und der Greuel der Erde" (Offb. 17,5), das ist die Römerin (EO 729), und dies ist ihr

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Wesen: "Unter Babylon werden alle verstanden, die durch die Religion herrschen wollen." (JG 54).

Der Mensch als Geschöpf Gottes Körperliche Fehlhaltungen - geistige Zusammenhänge von Ingeborg Maier Vorbemerkung von Thomas Noack: "Ich bin der Herr, dein Arzt" (Ex 15,26), dieses göttliche Wort und das Beispiel Jesu Christi zeigen mir, daß Heil (für die Seele) und Heilung (für den Körper) zusammengehören. So nahm ich im Juli dankbar die seltene Gelegenheit wahr, eine christliche Heilpraktikerin und eine Heilweise kennenzulernen - und zwar nicht nur theoretisch, sondern am eigenen Leib -, die auch im Lichte der Entsprechungswissenschaft vielversprechend ist. Denn die Grundtechnik der Nervenreflextherapie am Fuß (= dem Natürlichen) erinnerte mich spontan an Swedenborgs Wort: "Der letzte (natürliche) Grad ist Zusammenfassung, Behälter und Unterlage der vorhergehenden Grade." (GLW 209). Auf der körperlichen Ebene bedeutet dies, dass über die Füsse, der ganze Mensch erreicht werden kann. Und wie wir ferner wissen, ist aller Wandel nur mit den Füssen, das heißt im natürlichen Grad möglich. So begab ich mich also zu Ingeborg Maier und war gespannt auf eine, wie sich herausstellen sollte ereignisreiche, Therapiestunde. Daraufhin bat ich Frau Maier, den Kern ihrer Behandlung kurz und prägnant in unserer Zeitschrift vorzustellen. Wer sich angesprochen fühlt, mehr wissen möchte oder Hilfe sucht, kann sich an Ingeborg Maier, Dorfmühle 30, 73432 Aalen-Unterkochen, Telefon 0 73 61 / 8 78 84 wenden.

Die Biblische Körpertherapie und Seelsorge ist eine Kurzzeittherapie mit sofortiger Anleitung zur Selbsthilfe. Die körperlich therapeutische Arbeit verbindet sich mit der geistigen Zielrichtung: Loslassen der alten, krankmachenden Wege und dafür Hinwenden zur heilmachenden Beziehung mit dem Schöpfer, bzw. Bewußtmachung, daß der Mensch, und zwar jeder gleich welcher Religion, Geschöpf Gottes ist, für ein ewiges Leben wunderbar gedacht und gemacht. Das Wort aus l.Thess. 5,23-24 beschreibt umfassend Sinn und Zweck der Therapie: "Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch, und euer Geist ganz mit Seele und Leib möge in untadeliger Weise für die Wiederkunft unseres Herrn Jesus Christus bewahrt werden. Getreu ist er, der euch ruft; er wird's auch tun." Zu den Fehlhaltungen: Der kranke und leidende Mensch hat meist unbewußt mit geerbten und durch das Leben gewordenen inneren und äußeren Fehlhaltungen zu tun. Verstärkt durch Unkenntnis anatomisch-statischer Ordnungskriterien reichen diese von der leichten Verspannung bis hin zu ernsten Erkrankungen. Bei vielen Schmerzpatienten insbesondere, stimmt weder die Gesamthaltung noch die psychophysische Gewichtung, der Körper ist nicht geweckt, Geist und Seele eingefleischt und in den täglichen Ge-

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wohnheiten verweltlicht. Verhärtungen und Verkrümmungen kennzeichnen den verzweifelten und menschlich sehr verständlichen Kampf gegen Krankheit und Schmerz. Für den Laien ist es weitgehend unbekannt, daß jeder cm im Querschnitt eines Muskels 25 kg Zug ausüben kann. D.h., daß sich alle Kräfte, die notwendig sind, um die Gewichte, die nicht in Balance sind, zu halten, sich zu einem enormen Kraftaufwand summieren. Wenn z.B. der Kopf nur 30 Grad nach vorn gebeugt ist, erhöht sich der Druck auf die Wirbel durch die Hebelwirkung im Rücken von 12,5 auf 85 kg. Wieviele Menschen laufen täglich mit hängendem Kopf herum! Wenn sich Muskeln zusammenziehen werden sie kürzer und dicker, sie drücken aufeinander. Zwischen den Muskeln sind Arterien, Venen, Nerven, Lymphgefäße, und die Muskeln werden zu einer schmerzenden Schraubzwinge, die alles abklemmt. J. Lorber schreibt zu diesem Thema: "Der Hauptgrund zu einem Schmerze, den stets nur die Seele, nie aber das Fleisch empfindet, liegt also im Drucke, den irgendein zu träge und somit auch zu schwer gewordenes Fleisch auf irgendeinen Lebensteil der Seele ausübt. Es ist daher zeitweilig jede Krankheit zu heilen, wenn man die Fleischmasse zu erleichtern versteht …" (GEJ 5.75.5-6). Weg und Ziel der Therapie ist die Bewußtmachung und Lösung von Fehlhaltungen und die Zurückführung in eine schöpfungsgemäße Ordnung und Grundhaltung. Denn wir sind Tempel des Heiligen Geistes (l. Kor.6,19-20); und wir können und dürfen als Haupt und Verwalter unserer zunächst ganz eigenen Glieder, diese Gabe Gottes, die uns gegeben ist und uns nicht gehört, vom Innersten bis ins Äußerste mit Leben füllen und ausformen bis in die kleinsten Finger und Zehen, damit Gottes Geist ganz in uns ein- und durchfließen kann. Der ganze Mensch ist veranlagt und befähigt, mit allen seinen Gliedern vollkommen lebendig zu werden, damit die Kinder Gottes den Herrn Jesus Christus schon in dieser Welt verkörpern können und ER endlich wiederkommen kann. Römer 8,19: "Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, daß die Kinder Gottes offenbar werden". Wer die Therapie erlebt hat, heil und gesund wurde, kann seinem "Nächsten" Wesentliches weitergeben! Begrenzung: Es wird kein Körperkult zur Verherrlichung des Leibes betrieben. Dem Patienten wird auch kein krankheitsfreier Lebensverlauf angeboten, denn Krankheiten sind Chancen, mit Gottes Hilfe an Leib und Seele zu wachsen und zu reifen. Suggestivbehandlungen schließen sich selbst aus, denn das innerste Loslassen des Patienten kann nur in der freien Willensentscheidung geschehen. Verändert werden soll nur das, was veränderungsbedürftig, -nötig und -möglich ist. Die Behandlungsmethoden setzen sich aus den nachfolgenden Therapien zusammen, die wechselseitig, je nach Erkrankungsschwerpunkt, bei jeder Behandlung zur Anwendung kommen. Die Nervenreflextherapie am Fuß ist Grundtechnik, bzw. wichtigstes

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Handwerkszeug. Durch Hinzunahme der Biblisch-therapeutischen Seelsorge (BTS), ist diese Arbeit nicht mit der üblichen Reflexzonen-Massage zu vergleichen. Am ehesten kommt sie einer Körper-Psychotherapie gleich, mit dem Vorteil, daß über den Körper die meist unbewußten Ursachen, die zur Erkrankung führten, schneller aufgedeckt, bewußt gemacht und geheilt werden können. Im "Homo Maximus" von Swedenborg ist auf Seite 193 sehr treffend der Beginn der Erkrankung im Inwendigeren des Menschen beschrieben: "Weil der Tod nicht anderswoher kommt als von der Sünde, und Sünde alles das ist, was gegen die göttliche Ordnung ist, deshalb verschließt das Böse die allerkleinsten und ganz unsichtbaren Gefäße, aus welchen die zunächst größeren, ebenfalls unsichtbaren, zusammengefügt sind. Denn die allerkleinsten und ganz unsichtbaren Gefäße sind eine Fortsetzung des Inwendigeren des Menschen. Daher kommt die erste und inwendigste Stockung, und daher die erste und inwendigste Verderbnis, die ins Blut kommt. Wenn diese Verderbnis zunimmt, verursacht sie Krankheit und zuletzt den Tod". Die Forschungsberichte der Psychoneuroimmunologie sagen zusammenfassend und vereinfacht aus, daß die Qualität des Denkens, Fühlens und Wollens eines Menschen (vgl. Swedenborgs Gemütsbegriff) entsprechende Hormone und Neurotransmitter (Botenstoffe) freisetzen, auf die das Immunsystem entsprechend reagiert. Am bekanntesten sind die körpereigenen Opiate, die Endorphine, die schmerz- und erregungsdämpfende Wirkung haben. So wird ein hoher Einfluß auf die Qualität der seelisch-geistigen und körperlichen Gesundheit ausgeübt. Wo die Liebe Gottes in Kraft, Vertrauen und Freude über das Denken und Fühlen in das Nervensystem kommt, hat dies öffnende, krankheitsumstimmende, und heilende Auswirkungen auf den ganzen Menschen. Nervenreflextherapie am Fuß (integrierte Lymphbehandlung; spezielle Nerven- und Muskelmassage; modifizierte Gelenkmobilisation): Behandlung des ganzen Menschen vorwiegend über die Reflexzonen im Mikrosystem seiner Füße; im motorischen Nervensystem der statischen und motorischen Muskulatur und der Beckenbänder. Behandlung des zentralen Nervensystems mit dem Einfluß auf die Organe sowie Arterien-, Venenund des Lymphsystems. Schmerzbewältigung- und Streßtraining: Überwindung akuter und chron. Schmerzzustände durch verhaltens- und verheißungstherapeutisch orientierte Übungen zum inwendigen Loslassen. (Das Wort Gottes wird in heil-praktische Anwendung gebracht, z.B. Matth. 16,25 u.a., die ein- und durchfließende Heilungskraft wird vom Patienten wahrgenommen)! Phytotherapie: Entstauung, Entgiftung und Ausleitung von Stoffwechselschlacken aus dem Körper durch pflanzliche Medikamente und Tees; ergänzt und unterstützt mit Mineralien und Vitaminen.

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Rücken- und Haltungsschulung: Rückgratstärkung; Korrektur zur lotgerechten Haltung der Wirbelsäule im Kreuz (Kreuzbein, lat. Os sacrum = heiliger Knochen). Hier geschieht körperliche Beugung und Aufrichtung in eine Wohlfühlhaltung, die sich auf die Seele und den Geist entsprechend auswirkt! Biblisch-therapeutische Seelsorge (BTS), therapiebegleitend, ist eine multiplurale psychotherapeutische Anwendung von Gesprächs- und Verhaltenstherapie, Tiefenpsychologie, Logotherapie sowie biblische Seelsorge. Sie dient als Befreiungshilfe aus negativen körperlichen und seelischen Gebundenheiten, Festlegungen und Abhängigkeiten. Wirkung der Behandlung: Durch die manuelle Stimulation der Nervenenden in den Füßen des Patienten (dort sind die Schmerzen des ganzen Körpers, auch die unbewußt verdrängten, spürbar), und seinem bewußten, vertrauensvollen Loslassen, werden komprimierte Nerven, Blut- und Lymphgefäße befreit. Muskelverspannungen und verhärtungen lösen sich, ebenfalls Blockaden der Wirbelsäule und Gelenke. Es kommt zur Beruhigung und zum Ausgleich zwischen dem willkürlichen und vegetativen Nervensystem. Ein sofortiger Längenausgleich der Muskulatur mit spürbarer Wärme, Leichtigkeit und Weite, durch die bessere Blutzirkulation ist die Folge. Patienten können sich neu bewegen und überwinden ihre Schmerzen. Aufrichtung aus gebeugter Haltung wird möglich, so daß sich Kreislauf und Stoffwechsellage, besonders im Stützund Bewegungsapparat der Wirbelsäule, normalisieren und stabilisieren können. Ebenso kommt der Hormon- und Enzymhaushalt wieder in Ordnung. Wenn die Zu-, Durchund Abflußwege durch den Körper wieder frei geworden sind, können Muskeln und Organe Nahrung und evtl. Medikamente wirkungsvoller aufnehmen. Heilungsreaktionen als gewünschte Antworten des Körpers auf den gesetzten Reiz, weisen auf ein intaktes Immunsystem, auf eine Wende im Verlauf der Krankheit und auf Heilung hin; sie dienen der Haltungsfindung im Kreuz. Vorsorgebehandlungen verhindern späteren Schaden und viel Schmerz! Zielgruppen: Kranke und gestreßte Menschen in jedem Alter. Kinder und ältere Menschen sprechen besonders gut auf die lösende, ordnende, ausgleichende und das Immunsystem stärkende Behandlung an. Schmerz-Patienten mit akuten und chron. Gelenks- und/oder Wirbelsäulenerkrankungen mit Durchblutungsstörungen, Lähmungsund Erregungszuständen sowie psychosomatischen Erkrankungen bilden die Hauptgruppe. Am Immunsystem Geschwächte und Erkrankte, bei denen angeblich "nichts mehr zu machen ist", haben gute Chancen Besserung und auch Heilung zu erfahren, wenn sie sich auf das Loslassen ganz einlassen (Römer 12,1-2)! Wo menschliche Kräfte und Künste an Grenzen stoßen, hat Gott immer noch genügend Möglichkeiten heilend einzugreifen.

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Abschließende Zusammenfassung: In Jesu Bild gestaltet zu werden heißt, sich durch den Prozeß der Heiligung (l.Thess.5,23-24) umprägen zu lassen. Es ist medizinischneurologische Erkenntnis, daß Prägung nur dann geschehen kann, wenn theoretisches Wissen mit körperlichem Tun gekoppelt ist, sonst bleibt es Theorie und die alte Prägung wirkt weiter. Das Umprägen in Jesu Leben kann nicht sanfter und kürzer geschehen, als durch sofortiges Loslassen ins Kreuz. So wie das Bibelwort Geistiges und Göttliches in sich birgt, so enthält der Körper des Menschen Möglichkeiten mit neuem Leben aus Gott gefüllt zu werden, sobald er geweckt, geöffnet, gereinigt und geweitet wird, wenn Haupt und Glieder in bewußter Beziehung zu- und miteinander leben. Der durch den innersten Willen gewirkte körperliche Lösungsmechanismus, der in dieser Therapie zentral vermittelt wird, soll im Alltag reflexartig automatisiert werden. So kann der Patient lernen, in Krisen- und Entscheidungssituationen in der schöpfungsgemäßen Grundhaltung des Körpers im Kreuz gelöst und gesund zu bleiben. Die Folge ist echte Gelassenheit und dankbare Freude, weil innen und außen einander entsprechen, und dies nun ganz natürlich auch körperlich zum Ausdruck kommen kann (1. Kor 6,20). Ein Fallbeispiel, vereinfacht wiedergegeben: Ein 3 1/2-jähriges Kind mit einer psychomotorischen Retardierung, als Nebenbefund eine Spina bifida occulta (ärztl. Diagnose) zwischen den Lendenwirbeln 4 und 5, wurde von der Mutter gebracht. Das Kind konnte nicht laufen, robbte auf dem Boden und beim Tragen auf dem Arm hingen die Beine schlaff herunter waren durch Sauerstoffmangel blau und kalt. Die Mutter hatte eine Schwangerschaftspsychose bei diesem ersten Kind, und starke depressive Phasen, weil sie sich an der Behinderung ihres Kindes schuldig fühlte. Während der Arbeit an den Füßen des Kindes konnte ich der Mutter mit biblischer Seelsorge helfen, ihre Gefühlssituation neu zu sehen und zu ordnen. Nach ebenfalls zwei Behandlungen, rief mich die Mutter abends an und war sehr erregt, weil ihr Kind im Wohnzimmer stand und einige Schritte versuchte. Zur dritten Stunde führte die Mutter das Kind bereits an der Hand und in der vierten lief es freudig durch das Wartezimmer. Die Beine waren inzwischen gut durchblutet, warm und kräftig geworden, weil die Nervenleitungen vom Kopf bis zu den Füßen endlich Kontakt miteinander hatten. In der siebten Stunde war das Kind bereits so kräftig, daß es auch draußen laufen konnte. Es fand keine achte Stunde mehr statt. Die Mutter war voller Freude und dankte Gott sehr inniglich, sie konnte die Heilung ihres Kindes kaum fassen. Ich glaube, daß das Kind bisher gar nicht wußte, wozu es die Füße überhaupt hat, sie wurden ihm bewußt gemacht und belebt, und das hatte völlig ausgereicht! Die Gesamtkosten betrugen nur DM 350,-.

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Nachruf Im Materialdienst 12/99 der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen erschien ein Nachruf zum Tode von Friedemann Horn. Darin hebt Frau Dr. Gabriele Lademann-Priemer hervor: "Friedemann Horn war ein Mensch mit einer großen geistigen Weite, und er war aus tiefem Herzen liebenswürdig … Sachliche Unterschiede, auch kritische Anfragen an Swedenborgs Theologie stellten die menschliche Gemeinschaft nicht in Frage. Horn redete Unterschiede nicht schön, um einer falschen Harmonie willen. Er hatte das Bestreben, die Neue Kirche aus der 'Sektenecke' zu befreien und ihr einen Platz und eine Stimme im Chor der christlichen Kirchen zu verschaffen. So nahm er in seinen letzten Lebensjahren Kontakt zum Ökumenischen Rat der Kirchen auf. Auch vorher pflegte Horn ökumenische Beziehungen. Er war viele Jahre Mitglied im Arbeitskreis 'PSI und christlicher Glaube' der EZW. Die Beziehungen zu den Mitgliedern des Arbeitskreises waren herzlich, Horn war eine tragende Säule des Kreises und brachte viele Anregungen mit … Es hat Horn verletzt, daß gelegentlich die Meinung vertreten wird, die Swedenborgianer nähmen den Tod nicht richtig ernst oder nicht ernst genug, weil er für sie 'nur' der Durchgang in die Geistige Welt sei. Fünf Tage vor seinem Tod saß ich mit Friedemann Horn in Zürich auf einer Bank bei einer Friedhofskapelle nahe dem Zürichsee. Wir sprachen über Krankheit und Tod. Er strahlte eine heitere Gelassenheit aus, aber er stellte zugleich mit tiefem Ernst die Frage: 'Was soll ich antworten, wenn ich in der Geistigen Welt gefragt werde? - Und ich werde gefragt werden!'"

Neuerscheinung Einigen Lesern ist Karl Dvorak noch bekannt. Er war ein Kenner der christlichen Prophetie. In zahlreichen Vorträgen und Seminaren hat er sein Verständnis des inneren Weges und geistige Übungen gelehrt. Aus diesen Tonbändern haben nun seine Freunde ein Buch zusammengestellt: »Leben und Lehre Jesu Christi: Geistige Entsprechungsdeutung und Wiedergabe wichtiger Lebenslehren sowie Anregungen zur Tatnachfolge mit vielen geistigen Übungsanleitungen«. Es kann über Lothar Broß, Krankenhausstr. 10a, D -64823 Groß Umstadt oder Maria Dvorak, Khittelstr. 7/16, A - 3100 St. Pölten zum Preis vom 39,- DM bezogen werden.

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Synchronisation des Videos "Animals and Parables in the Bible" Peter Keune vom Berliner Swedenborg-Zentrum beabsichtigt die Synchronisation des Videos "Animals and Parables in the Bible" (Tiere und Gleichnisse in der Bibel). Dieser Film führt sehr einfühlsam in die geistige Bedeutung der Tierwelt der Bibel ein. Schon vor einigen Jahren wurde auf diese Weise "Swedenborg, the man who had to know" professionell synchronisiert und ist seitdem unter dem Titel "Swedenborg: Forscher im Diesseits und Jenseits" erhältlich. Für das neue Projekt wird nun ein Englisch-DeutschÜbersetzer gesucht, der den Originaltext vom Tonband abschreiben kann, um ihn dann zu übersetzen. Interessenten wenden sich bitte direkt an Peter Keune, Schmarjestrasse 2, D - 14169 Berlin, Tel. 030 - 8011684.

Einladung zur Jahrestagung Die Swedenborgtagung findet dieses Jahr vom 30. Mai bis 4. Juni statt. Unsere Referenten führen Sie in die Vorstellungswelt des nordischen Sehers ein und stehen Ihnen für Auskünfte zur Verfügung. Ein Büchertisch lädt zur Lektüre ein. Unsere Zusammenkunft bietet Ihnen zahlreiche Möglichkeiten zu anregenden Gesprächen mit gleichgesinnten Christen aus dem gesamten deutschen Sprachraum. Beliebte Treffpunkte im Tagungshotel sind der Römerkeller und das gemütliche Café Christine. Familien mit Kindern sind herzlich willkommen. Ein Kinderspielkreis wird nach Absprache mit den Eltern eingerichtet. Ausserdem bieten wir zwei Kindernachmittage über »Die Welt der Engel« an. Falls Sie ein Musikinstrument spielen, haben Sie keine Scheu, es mitzubringen. Gerne wollen wir gemeinsam singen und musizieren. Das ausführliche Programm ist ab sofort beim Swedenborg Zentrum Zürich erhältlich.

Dissertation von Gottlieb Florschütz Dr. phil. Gottlieb Florschütz, Jahrgang 1962, bietet unseren Lesern seine Doktorarbeit über "Swedenborgs verborgene Wirkung auf Kant" zum Preis von nur 10,- DM an. Die Arbeit wurde 1991 von der Philosophischen Fakultät der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel als Dissertation mit dem Originaltitel "Swedenborg und die okkulten Phänomene aus der Sicht von Kant und Schopenhauer" angenommen und wird gegenwärtig von der Swedenborg Scientific Association (USA) ins Englische übersetzt.

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Bei der kritischen Aufarbeitung der Kant-Swedenborg-Kontroverse stellt sich heraus, daß Kant keineswegs nur der nüchterne Rationalist war, als der er oft tituliert wird, sondern daß ihm sogar mystische Ambitionen nachzuweisen sind. Dies gilt vor allem für seine Frühschriften sowie für seine späten Vorlesungen über Metaphysik. Hier nähert sich Kant der Jenseitslehre Swedenborgs wiederum soweit an wie zu Beginn seines Kontaktes mit dem nordischen Seher, von dessen hellseherischer Begabung er sich anfangs fasziniert zeigte. Er nennt dessen Lehre vom moralischen Geisterreich "erhaben" und gesteht der menschlichen Seele nach dem Ableben die Fähigkeit zu "intellektueller Anschauung" zu, mittels derer sämtliche "okulten" Phänomene wie Telepathie, Hellsehen, Präkognition und "Kontakte" mit Verstorbenen möglich und erklärbar wären. Kants Nachfolger und Kritiker Arthur Schopenhauer (1788 - 1860) legt in seinen parapsychologischen Schriften "Versuch über Geistersehn" (1851), "Von der anscheinenden Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen" (1851) und "Animalischer Magnetismus und Magie" (1836) ein überzeugendes Plädoyer für die Echtheit "okkulter" Phänomene ab. Seine parapsychologische Theorie, die noch Hans Driesch als "kurzes Lehrbuch der Parapsychologie" würdigte, kann dem modernen Parapsychologen auch heute noch wertvolle Anregungen bei seinen Erklärungsversuchen paranormaler Phänomene geben, wenngleich Schopenhauers mechanistischer Naturbegriff erweitert werden müßte. Bei seiner Erklärung der geheimnisvollen Prophetie in sog. "Wahrträumen" finden sich erste Anklänge an C. G. Jungs Synchronizitätstheorie, der Auffassung paranormaler Wahrnehmungen als akausaler Sinnzusammenhänge. Interessenten wenden sich direkt an Dr. Florschütz, Mangoldtstr. 19, 24106 Kiel, Telefon 0431 542 131.

Das Neue Testament und frühchristliche Schriften Das Neue Testament und frühchristliche Schriften. Übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord. 1373 Seiten. Leinen. DM 64,- / öS 467,- / sFr. 58.-

Die vorliegende Übersetzung der ältesten Schriften des Christentums ist in mehrfacher Hinsicht neuartig, in den Übersetzungsprinzipien, in der Kommentierung und im Umfang und der Anordnung der Schriften. Nach Swedenborg sind im Neuen Testament nur die vier Evangelien und die Offenbarung im eigentlichen Sinne Gottes Wort (siehe HG 10325). Das Neue Testament dürfte daher nur aus diesen fünf Büchern bestehen. Die Apostelgeschichte und die Briefe könnten aus neukirchlicher Sicht in einem Ergänzungsband "Frühchristliche Schriften" erscheinen. Und das genau ist der Grund, warum

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wir auf die Übersetzung von Berger / Nord hinweisen. Denn hier werden nicht nur die kanonischen Schriften des Neuen Testaments geboten, sondern auch all die anderen, die bis zum Jahr 200 nach Christus entstanden sind. Diese Fülle frühchristlicher Schriften findet man in keiner anderen Ausgabe. Als evangelischer Theologe kann Berger selbstverständlich Paulus und die anderen Briefe nicht aus dem Kanon entfernen, aber er relativiert diese Sammlung, indem er auch andere frühchristliche Schriften aufnimmt. Die Reihenfolge orientiert sich am Entstehungsdatum der Texte. Diese historische Einordnung ist bisher nirgends konsequent vollzogen. Nur am Rande sei bemerkt, dass Berger das Johannesevangelium auf die Zeit gegen Ende der sechziger Jahre des 1. Jahrhunderts datiert, womit er nach unserer Überzeugung goldrichtig liegt. Die Übersetzung will das Verständnis der Texte erleichtern, ohne ihre Herkunft aus einer anderen Kultur und Zeit, zu verleugnen. Den einzelnen Texten sind Kommentare vorangestellt, die die Entstehungsgeschichte, die theologiegeschichtliche Bedeutung und die Wirkungsgeschichte erläutern. In den Fußnoten werden Sacherläuterungen und Übersetzungsalternativen gegeben.

Aus unserer Korrespondenz Herr H. stellte uns die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Bibel: "Es interessiert mich, ob Swedenborg eine Inspiration zur Frage der Glaubwürdigkeit der Bibel hatte … Seit meiner Kindheit lässt mich diese Frage nicht los. Mein Pfarrer wollte mich wegen meinen Zweifeln nicht konfirmieren! Jetzt bin ich 57 Jahre alt und suche immer noch. Die Bücher namhafter Theologen nähren meine Zweifel." Unsere Antwort: Grundsätzlich sind aus swedenborgscher Sicht die historische und die göttliche Glaubwürdigkeit zu unterscheiden. Swedenborgs Inspiration bezieht sich eher auf die göttliche Glaubwürdigkeit. Er versichert, dass in den Büchern der Heiligen Schrift ein geistiger und ein himmlischer Sinn enthalten sei. Sie handeln von der geistigen Wiedergeburt des Menschen und der Verherrlichung des Herrn. In diesem Sinne ist die Bibel Gottes Wort und vollkommen glaubwürdig. Die inneren Sinnschichten sind jedoch im Buchstaben verborgen wie die Seele im Leib. Zur historischen Glaubwürdigkeit äussert sich Swedenborg nicht in dem Umfang und in der Weise wie es angesichts des heutigen Problembewußtseins wünschenwert wäre. Deswegen kann ich Sie nur darauf hinweisen, dass es neben den von Ihnen genannten "namhaften Theologen" Lüdemann, RankeHeinemann usw. auch andere Stimmen gibt. Auch die Archäologie konnte wichtige Beiträge zur Eindämmung der totalen Infragestellung der historischen Glaubwürdigkeit leisten. Gleichwohl ist die Bibel kein objektives Geschichtsbuch - gibt es so etwas überhaupt? -; die biblischen Geschichtsdarstellungen sind allesamt aus der Perspektive des

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Glaubens geschrieben, des Erwählungsglaubens im Alten Testament oder des Christusglaubens im Neuen Testament. In diesem Sinne sind sie tendenziös und subjektiv. Doch die Wahrheit, um die es im Leben eigentlich geht, ist nie nackte historische Wahrheit. Die Inspiration und Glaubwürdigkeit der Bibel besteht nach unserem Glauben darin, dass sich in den Worten, Taten und Visionen der biblischen Schriftsteller die göttliche Wahrheit einflechten konnte. Swedenborg schreibt: "Die Inspiration ist kein Diktat, sondern ein Einfluss aus dem Göttlichen." (HG 9094).

Neudruck der Tafelbibel? Der Swedenborg Verlag erwägt den Neudruck der Tafelbibel. Diese Übersetzung wurde in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts von dem Swedenborgianer und Sprachgelehrten Dr. Leonhard Tafel (1800 - 1880) auf Anregung Theodor Müllensiefens angefertigt und später von seinem Sohn Ludwig Hermann Tafel (1840 - 1909) in zehnjähriger Arbeit gründlich revidiert. L. H. Tafel war bestrebt, die Übersetzung seines Vaters im Sinne einer noch genaueren Wiedergabe des Urtextes so zu verbessern, dass jedes hebräische bzw. griechische Wort durch ein- und dasselbe entsprechende deutsche Wort wiedergegeben wurde. Die Tafelbibel ist also eine sehr wörtliche Übersetzung und gehört damit demjenigen Übersetzungstyp an, den auch Swedenborg, der freilich auch die Ursprachen beherrschte, bevorzugte. Ein Neudruck dieser Tafelbibel ist aber nur dann sinnvoll, wenn eine Nachfrage besteht und wenn wir tatkräftige Unterstützung beim Korrekturlesen erhalten. Daher bitten wir hiermit um Reaktionen aus unserer Leserschaft. Bei entsprechendem Echo könnte die Bibel fadengebunden mit Goldprägung zum Preis von 150,- bis 180,- DM angeboten werden.

Seminar- und Besinnungswoche in Barendorf Das Swedenborg Zentrum Lüneburg lädt wieder zu einem Seminar- und Besinnungswochenende in Barendorf (bei Lüneburg) ein. Thema ist das Vaterunser. Die folgenden Vorträge sind vorgesehen: 1.) Einleitung - Von der Bedeutung des Gebetes (A. Kreuch). 2.) Von "Vater unser" bis "Dein Wille geschehe" - Der Herr und seine Himmel für das Menschengeschlecht (P. Keune). 3.) Von "so auf Erden" bis "sondern erlöse uns von dem Bösen" - Der Weg des Menschen auf Erden in der Führung durch Gott. (S. Keune). 4.) Feierstunde am Sonntag über den Schlußvers "denn Dein ist das Reich …" (A. Kreuch). Das Wochenende findet vom 29.9. (Beginn 19.30 Uhr) bis 1.10.2000 (Ende 13 Uhr) statt. Für Übernachtung und Verpflegung entstehen Unkosten in Höhe von 150,-

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DM plus 10,- DM Seminargebühr. Bei Anfragen und Anmeldung bitte 04131 - 37997 (A. Kreuch) anrufen.

Swedenborg taucht in gegenwärtige niederländische Musikszene ein Martijn Padding (geb. 1956), ein niederländischer Komponist, schreibt eine Oper über Swedenborg "Kann ich eines Tages vielleicht eine Oper schreiben?" ist die Frage, die jedem Komponisten im Kopf herumgeht, der auch nur einen leichten Hang zum Theater hat. Oftmals verwirft er die Idee überhaupt oder er malt sich aus, dass er schon die gesamte Produktion in Händen hält. Wir wissen ja, man kann mächtig alt werden und auf einen Opernauftrag warten. Man stelle sich Martijn Paddings Überraschung vor, als vor ein paar Monaten das Telefon klingelte. "Es war Tadeusz Wielecki vom Warschauer Herbst Festival.," erinnert sich Padding, "und fragte, ob ich gerne eine Oper schreiben würde." Wenn rosarote Zuckerwatte aus seinem Telefonhörer herausgedrungen wäre, er hätte nicht mehr überrascht sein können. Grund für den Auftrag war Paddings Musik selbst. Ein Mitglied des künstlerischen Festival-Ausschusses hatte das Schönberg-Ensemble mit der Aufführung von Paddings "Ein Haus mit einem Dach" gehört und war von dem Stück so hingerissen, dass er alles unternahm, den Komponisten ausfindig zu machen. Eben zu jener Zeit kursierten in Warschau Pläne für eine Trilogie, die auf Aufsätzen über Swedenborg, Blake und Oscar Milosz basierten, entnommen einer Sammlung des polnischen Nobelpreisträgers Czeslaw Milosz. Drei Komponisten wurden für das Projekt ausgewählt. Padding und sein Librettist Friso Haverkamp sprachen sich für Swedenborg (1688-1772) und für William Blake (1757-1827) als ihr Opernsujet aus. "Das Festival lud uns übers Wochenende nach Polen ein. Es war ein seltsames Erlebnis. Wir wurden im Opernhaus von Lodsz herumgeführt. An einer bestimmten Stelle ließen sie mich alleine herumtappen, und als ich einfach eine Tür öffnete, betrat ich einen Probensaal mit 150 Ballerinas, die gerade übten. Da überkamen mich glückliche Erinnerungen, dass ich einmal Ballett-Pianist (Korrepetitor) gewesen war. Deshalb fragte ich, ob ich Tänzerinnen in der Oper verwenden dürfe. "Sicher, kein Problem," war die Antwort. Gerade recht! Voller Euphorie kehrten wir in die Niederlande zurück." Friso Haverkamp hat sich seither gründlich in die Werke Swedenborgs und Blakes eingelesen. "Swedenborg war ein Philosoph und Bergbauingenieur in Diensten des schwe-

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dischen Königs," erklärt Haverkamp. "Er stand im Zentrum des gesamten Spektrums der Naturwissenschaften seiner Zeit. Ungefähr mit 56 Jahren befand sich Swedenborg in einer persönlichen Krise. Er beschreibt seine Visionen aus diesem Lebensabschnitt in demselben makellosen Latein, das er früher zur Erläuterung seiner naturwissenschaftlichen Themen benutzt hatte. Swedenborg entwirft ein verwirrendes Bild des Himmels, inklusive einer detaillierten Klassifikation der Engel. Dieses Werk, beträufelt mit christlicher Inspiration, ist voller überschwenglicher Frömmigkeit. Blake übernahm viele der Gedanken Swedenborgs, aber im Gegensatz zu Blake ist Swedenborgs Beschreibung der Engel staubtrocken. Sein altväterliches Bild von Tugend verbleicht in eine freudlos korrekte, buchalterische Auflistung neben der selbstsicheren Imagination des jungen Blake. In der Tat, unverdauliches Gefasel sind Swedenborgs Texte." Aber diese Tatsache wird Haverkamp nicht davon abhalten, sie zu meistern. Falls er seinen Weg gefunden hat, wird ein Seiltänzer für drei Viertelstunden über dem Publikum schweben. Die Swedenborg-Oper mit dem Titel "Tattooed Tongues" (Tätowierte Zungen), Schnipsel aus dem Jenseits, ist versuchsweise für Oktober 2001 geplant. Das Werk erfordert zwei Vokalsolisten, einen elektronischen Chor und 33 Ballerinas. Auf ein gut Teil unter der Zahl der Schwäne (der 150 Tänzerinnen) hatten Padding und Haverkamp gehofft, aber das ist besser als nichts. Die Choreographie stammt von Amir Hosseinpour, der auch bei der Oper "Hiero" von Guus Janssen [Komponist 1951- ] und Friso Haverkamp beteiligt war. Quelle: Donemus trackings. Vol.2, nr.1. - May 2000

Der Komponist Daniel Glaus Der schweizer Komponist Daniel Glaus (Jahrgang 1957) schrieb eine 20minütige "Kirchen (-Raum-) Musik" bestehend aus fünf Szenen für Alt, Sprecher, Violine, Haupt- und Positivorgel mit Assistenten und Schauspielerin ad libitum (nach Belieben). Die Texte stammen von Daniel Glaus, Ernst Kappeler, Rudolf Steiner und Emanuel Swedenborg. Daniel Glaus ist Kirchenmusiker an der Stadtkirche Biel und Lehrer für Orgel am dortigen Konservatorium und für Theorie und Neue Musik an der Musikhochschule Zürich.

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Hans Magnus Enzensberger Wo warst Du, Robert? Hans Magnus Enzensberger, Wo warst Du, Robert? Carl Hanser Verlag 1998, Halbleinen 34,00 DM, 248,00 öS, 32,80 sfr. Die Taschenbuchausgabe für 16,50 DM erscheint im November 2000.

Enzensberger wurde 1929 in Kaufbeuren geboren. Er studierte Germanistik und Philosophie und begann 1957 seine schriftstellerische Karriere mit zeitkritischer Lyrik. In den Sechzigern veröffentlichte er vor allem politik- und medienkritische Essays. In den Siebzigern widmete er sich dokumentarischen Arbeiten. Daneben war er auch Herausgeber verschiedener Zeitschriften. Mehrere Auszeichnungen, wie der Georg-BüchnerPreis oder der Heinrich-Heine-Preis, ehren sein Werk. Enzensberger spielt mit Zeit und Raum. Ein Roman für junge Menschen und solche, die es geblieben sind. Es war ein ganz gewöhnlicher Tag, als Robert verschwindet. Er sitzt in der Küche und sieht fern. Da wird er plötzlich in die gerade über den Bildschirm flimmernde Szene katapultiert und findet sich an einem fremden Ort, in einer fremden Zeit wieder. Für Robert beginnt eine Zeitreise durch fast vier Jahrhunderte. Jedesmal springt er von einem historischen Schauplatz zum anderen und erlebt hautnah spannende Abendteuer. Enzensbergers Kunst ist die Beiläufigkeit, die lockere, unangestrengte Erzählweise, mit der er Robert und uns - ganz beiläufig - auch mit dem Dorflehrer Emanuel Tidemand bekannt macht. Er "trug stets den gleichen schwarzen, abgeschabten Anzug. Man sah ihm an, daß er ein ewiger Junggeselle war. Und dann die Augen! Blind war er nicht; er merkte alles. Aber dieser helle, silberne Glanz in seinen Pupillen - solche Augen hatte Robert nur einmal zu Gesicht bekommen, bei einer blinden Nachbarin …" Und dieser Tidemand mit den seltsamen Augen kennt den Geisterseher, kennt Emanuel Swedenborg. Er "ist der Kolumbus der Geisterwelt und der Entdecker der himmlischen Wissenschaften. Er verstand die Geheimsprache der Engel, und so manchen schrecklichen Streit hat er mit den Dämonen ausgetragen, die ihm das Leben schwermachten." Ein Prolog und ein Epilog, dazwischen sieben Zeitreisen und ein bisschen Swedenborg, ein schönes Jugendbuch über die Zeit. Was ist sie? "Ein Tag", so Gottfried Keller, "kann eine Perle sein. Und ein Jahrhundert nichts." Und von den Zeitgenossen einer Epoche erlebt jeder eine andere Zeit, - seine Zeit.

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Klaas Huizing Das Ding an sich: Ein Kant-Roman Klaas Huizing , Das Ding an sich: Ein Kant-Roman 2000. 236 Seiten, Kartoniert (auch gebunden erhältlich) 17,00 DM -124 öS - 16,00 sfr.

Kant und die Folgen, ein in unseren Kreisen nicht unbekanntes Thema. Da mag es interessieren, was Klaas Huizing (geboren 1958), Ordinarius am Lehrstuhl für Systematische Theologie der Universität Würzburg, über das "Ding an sich" zu erzählen weiß. Der Philosoph Johann Georg Hamann (1730-1788) erhält unter mysteriösen Umständen eine Scherbe mit dem Abdruck einer menschlichen Hand, wobei ihm berichtet wird, der Abdruck zeige Adams Hand, mit der er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen habe. Hamann zeigt dieses Stück seinem Freund-Feind Kant, und man beschließt, sie zu untersuchen. Die Scherbe widersetzt sich jedoch ersten Versuchen, ihr Material zu erkunden. So wird denn der Diener Kants, Martin Lampe, zu verschiedenen Koryphäen der Zeit entsandt - zu dem Naturforscher Prokop Divisch (1696-1765), der mit Elektrizität experimentiert, zu den Physikern Denis Papin (1647-1712) und Tiberio Cavallo, die sich mit Hitze und Dampf bzw. Kälte und Eis befassen, und schließlich zu dem Mediziner Franz Anton Mesmer (1734-1815), dem Begründer der Lehre vom tierischen Magnetismus. Aber alle scheitern daran, das Geheimnis der Scherbe zu enthüllen; sie bleibt unzerstörbar und wird Kant bei seinem Tode mit ins Grab gegeben. Huizing gelingt es, Philosophie in das Gewand eines amüsanten und intelligenten Romans zu verpacken. Die mysteriöse Scherbe, sie ist das Ding an sich, verblüfft, verunsichert den großen Philosophen: "Ist dieses Ding hier die absolute und unzerstörbare Realität? Das kann und darf nicht sein! Darf nicht! Das Ding an sich ist unerkennbar und wird auf ewig unerkennbar bleiben ... Ist unsere Vernunft nur fähig, diese Wirklichkeit zu erkennen? Das kann und will ich nicht glauben." (167). Und damit tönt das eigentliche Ziel des Romans an; es ist eine Kritik, der "Kritik der reinen Vernunft". Der Alleszermalmer, Eingeweihte erkennen darin den kantigen Verstand, kann eben doch nicht alles zermalmen. Seine letzten Worte auf dem Sterbebett sollen gewesen sein: "Nicht alles läßt sich zermalmen." Und Huizing fügt hinzu: "Bisher allerdings hat keiner der Biographen und Interpreten diese Worte richtig gedeutet." (229). Und wo es in Gestalt einer unscheinbaren Scherbe so sehr um die den Sinnen und dem Verstand unzugängliche Realität geht, da kann auch ein gewisser Geisterseher nicht allzu ferne sein …

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Handbuch Religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen Handbuch Religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen. Herausgegeben von Horst Reller, Hans Krech und Matthias Kleiminger. 5., neu bearbeitete und erweiterte Auflage 2000. 168,00 DM - 1226 öS - 151,00 sfr.

Das Handbuch "Religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen" ist im August 2000 in 5. völlig neu bearbeiteter und erweiterter Auflage auf den Büchermarkt gekommen. Herausgeben wird es im Auftrag der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) von dem von der VELKD und dem Deutschen Nationalkomitee des Lutherischen Weltbundes (DNK/LWB) getragenen "Arbeitskreis Religiöse Gemeinschaften". In den evangelischen Kirchen, im Religionsunterricht und darüber hinaus gilt dieses Handbuch, das nunmehr auch als CD-ROM verfügbar ist, als Standardwerk. Die Stellungnahmen sind von den geltenden Ordnungen des kirchlichen Lebens der Evangelisch-lutherischen Kirche her entwickelt worden. Sie geben eine Orientierung im Umgang mit den religiösen Gemeinschaften, tragen aber keinen kirchenrechtlichen Charakter. Im Unterschied zur 4. Auflage 1993 ist die Neue Kirche in die Gruppe der Sondergemeinschaften aufgenommen worden. Darunter versteht der Arbeitskreis "Gemeinschaften, die teilweise Beziehungen zu den Kirchen haben, aber Sonderlehren vertreten, die in einigen Fällen auch sektiererische Züge tragen; bei einigen dieser Gemeinschaften sind die Mitglieder zugleich Glieder der Landeskirche". In der 4. Auflage gehörte die Neue Kirche noch zu den Sekten, das heißt zu den "Gemeinschaften, die mit christlichen Überlieferungen wesentliche außerbiblische Wahrheits- und Offenbarungsquellen verbinden und in der Regel ökumenische Beziehungen ablehnen". Der Artikel über die Neue Kirche ist sehr sachlich und kenntnisreich verfaßt.

365 x Lebenskunst Im Gütersloher Verlagshaus ist "365 x Lebenskunst" in einer Auflage von 5000 Exemplaren erschienen. Darin hat Horst Prießnitz Worte für jeden Tag von der Antike bis in die Gegenwart zusammengestellt. Auch der folgende Text von Helen Keller, aus "Licht in mein Dunkel" (Swedenborg Verlag) wurde als Wegzehrung für den 4. November aufgenommen: "Wahrlich, ich habe in den Abgrund der Finsternis geschaut, aber mich ihrem lähmenden Einfluß nicht ergeben; im Geiste gehöre ich zu denen, die im Morgenlicht wandeln. Was hat das zu bedeuten, wenn alle dunklen, entmutigenden Stimmun-

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gen des menschlichen Gemüts mich überfallen und mich so dicht umwehen, wie die trockenen Blätter im Herbst? Andere sind vor mir diese Straße dahin gezogen, und ich weiß, daß durch die Wüste ebenso sicher ein Weg zu Gott führt wie durch erfrischende grüne Auen und fruchtbare Obstgärten. Auch ich bin tief gedemütigt worden und mußte mir meine Kleinheit inmitten der Grenzenlosigkeit der Schöpfung eingestehen. Je mehr ich lerne, desto weniger meine ich zu wissen und je besser ich die Erlebnisse zu werten weiß, die mir meine Sinne vermitteln, desto deutlicher werden mir deren Mängel bewußt und ihre Unzulänglichkeit als Lebensgrundlage. Hin und wieder stehen mir die Gesichtspunkte des Optimisten und des Pessimisten so geschickt ausgewogen vor Augen, daß ich alle Geisteskraft benötige, um den Halt an einer praktischen Lebensphilosophie nicht zu verlieren, die mir ermöglicht zu leben. Aber ich gebrauche meinen Willen, erwähle das Leben und weise sein Gegenteil, das Nichts, zurück."

Gerhard Gollwitzer Im Süden, insbesondere in Stuttgart, verbindet sich mit der Deutschen Swedenborg-Gesellschaft auch der Name Gollwitzer. Gerhard Gollwitzer, Bruder des Berliner Theologen Helmut, war hier lange Vorsitzender und prägende Persönlichkeit. Daher sei auf das folgende Buch hingewiesen: Helmut Gollwitzer: Skizzen eines Lebens: aus verstreuten Selbstzeugnissen gefunden und verbunden von Friedrich-Wilhelm Marquardt, Guetersloh 1998. Der Bruder Gerhard wird mehrmals mit Hinweis auf die "mystische Theologie Emanuel Swedenborgs" erwähnt.

Bernhard Lang Bernhard Lang ist uns durch "Der Himmel: Eine Kulturgeschichte des ewigen Lebens", Frankfurt am Main 1990 bekannt, weil er in diesem Buch Swedenborgs Bedeutung bei der Geburt der modernen Himmelsvorstellung ausführlich gewürdigt hat. Daher wird es unsere Leser interessieren, daß Professor Lang nun auch eine Studie für die englische Ausgabe von Swedenborgs "Himmel und Hölle" geschrieben hat, das im September 2000 bei der Swedenborg Foundation erschienen ist.

Swedenborg Zentrum, Apollostrasse 2, CH - 8032 Zürich Schriftleitung : Thomas Noack

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