Mathe Iii Skriptum

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Vorlesungsskriptum

Mathematik 3 Studiengang B.Sc. Biomedizinische Informatik WS 200809 Version vom 17. Dezember 2008

Doz. Gerald Fischer & Dr. Leonhard Wieser

Eduard Walln¨ofer Zentrum 1 A-6060 Hall in Tirol ¨ Osterreich/Austria www.umit.at

c Gerald Fischer, Leonhard Wieser

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Vorwort Die Lehrveranstaltung Mathematik 3 orientiert sich im Wintersemester 2008/09 weitgehend am Buch von Erwin Kreyszig: Advanced Engineering Mathematics, John Wiley & Sons Inc. 8. Ausgabe. Ziel dieses Skriptums ist es, durch Erkl¨arungen und Anwendungsbeispiele ein noch besseres Verst¨andnis f¨ ur die Anwendung der mathematischen Methoden zu erreichen, sowie Schwerpunkte im Stoff zu unterstreichen. Das vorliegende Skriptum enth¨ alt nur die in der Vorlesung behandelte Theorie und Anwendungs¨ beispiele. Die im Ubungsteil gerechneten Beispiele sind hier nicht enthalten. Daher ersetzt das Skriptum nicht den Besuch der Lehrveranstaltung. Anwendungsbeispiele dienen ausschließlich der Vertiefung des Stoffes. Sie werden nicht gepr¨ uft und sind daher gesondert gekennzeichnet. Die rot gedruckten Terme werden am Beiblatt zur Pr¨ ufung angegeben.

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Kapitel 1 Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen

Der britische Physiker, Mathematiker und Astronom Sir Isaac Newton (1643-1727, Abb. 1.1) begr¨ undete gemeinsam mit dem deutschen Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz die Differentialrechnung. Das von Newton formulierte zweite Newton’sche Axiom besagt, daß Kraft gleich Masse mal Beschleunigung ist. Newton erkannte, daß dieses Naturgesetz als Differentialgleichung angeschrieben werden kann. M¨ochte man beispielsweise die Bahnkurve eines Himmelsk¨ orpers im Sonnensystem berechnen, so ist die erste Ableitung der Bahnkurve nach der Zeit seine Geschwindigkeit und die zweite Ableitung seine Beschleunigung. Das zweite Newton’sche Axiom trifft also eine Aussage u ¨ber eine Zeitableitung, d.h. u ¨ber die zeitlich ¨ Anderung der gesuchten Bahnkurve. Da die Kraftwirkung (durch das Gravitationsgesetz) zu jedem Zeitpunkt bekannt ist, l¨ aßt sich von gegebenen Anfangswerten (Ort und Geschwindigkeit) die Bahn des Himmelsk¨ orpers durch L¨ osung einer Differentialgleichung berechnen.

¨ Allgemein bezeichnet man solche Gleichungen, welche eine Aussage u der ¨ber eine Anderung gesuchten Gr¨ oße (n. Ableitung) enthalten, als Differentialgleichungen. Da es h¨aufig m¨oglich ¨ ist, eine Gesetzm¨ aßigkeit u einer gesuchten Gr¨oße anzugeben, sind Diffe¨ber die Anderung rentialgleichungen ein Kerngebiet der angewandten Mathematik. Ab dem 18. Jahrhundert haben Differentialgleichungen zun¨ achst vor allem die Physik revolutioniert und so die Basis f¨ ur die Ingenieurswissenschaften gelegt. Beispiele f¨ ur ber¨ uhmte Differentialgleichungen sind das obengenannte zweite Newton’sche Axiom als Grundlage der Dynamik, die Maxwell-Gleichungen als Grundlage des elektromagnetischen Feldes (z.B. Antennentheorie) und die Schr¨odigerGleichung als Basis der modernen Atomphysik (siehe Abb. 1.2). Aber auch in anderen Anwendungsgebieten haben Differentialgleichungen Einzug gehalten. So modellieren sie z.B. die Bev¨olkerungsentwicklung in soziologischen Studien oder Signalpfade in Zellen in der Biologie.

Eine große Schwierigkeit bei der L¨ osung von Differentialgleichungen ist die breite Vielfalt an verschiedenen Formen, welche zumeist auch unterschiedliche L¨osungswege erfordern und h¨aufig mit einem betr¨ achlichem Rechenaufwand verkn¨ upft sind. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war die Mathematik vor allem darum bem¨ uht, immer neue L¨osungswege f¨ ur verschiedene

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Kapitel 1: Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen

Abbildung 1.1: Isaac Newton im Portrait von Godfrey Kneller aus dem Jahr 1702.

Abbildung 1.2: Der ¨osterreichische Physiker Erwin Schr¨odinger (1887-1961) erkl¨arte durch die von ihm entwickelte Schr¨ odinger-Gleichung - eine partielle Differentialgleichung - den Aufbau der Atomh¨ ulle. Er erhielt 1933 den Nobelpreis f¨ ur Physik. Die von der ¨osterreichischen Nationalbank im Jahr 1983 herausgegebene 1000 Schilling Banknote zeigt sein Portrait.

1.1 Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

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Typen von Differentialgleichungen zu finden. Damit werden zumeist exakte, analytische L¨osungen f¨ ur die Gleichungen gefunden. Mit der Einf¨ uhrung der Computer treten immer mehr N¨aherungsmethoden in den Vordergrund. Diese streben eine computerunterst¨ utzte L¨osung mit ausreichender Genauigkeit f¨ ur die konkrete Fragestellung an. Um dieser Entwicklung Rechnung zu tragen, wir in der Vorlesung folgender Zugang gew¨ahlt: In diesem Abschnitt wird mit den gew¨ohnlichen Differentialgleichungen der grundlegendste Gleichungstyp behandelt. F¨ ur diesen Fall sollen die grundlegende Eigenschaften von Differentialgleichungen diskutiert werden und analytische L¨osungswege f¨ ur die einige Subtypen aufgezeigt werden. Hierbei werden die wichtigsten Eigenschaften von Differentialgleichungen aufgezeigt. In einem weiteren Kapitel wird die Lsung von partiellen Differentialgleichungen vorgestellt. In der Vorlesung Mathematik 4 wird eine Einf¨ uhrung in die computerunterst¨ utzte L¨osung von Differentialgleichungen gegeben. Zun¨achst soll der Begriff der gewo ¨hnlichen Differentialgleichung definiert werden: Eine gew¨ohnliche Differentialgleichung ist eine Differentialgleichung, die nur Ableitungen nach einer reellen Variablen enth¨ alt. Ihre L¨osung ist somit eine Funktion, die von einer Variablen abh¨angt. In den meisten Lehrb¨ uchern der Mathematik (so auch im Kreyszig) wird die gesuchte Funktion zumeist mit y und die unabh¨angige Variable mit x bezeichnet. Bei Aufgabenstellungen mit konkretem Bezug zu einer Anwendung ist es u ¨blich auch andere Bezeichnungen zu verwenden. So bezeichnet man beispielsweise beim radioaktiven Zerfall h¨aufig die Zahl an radioaktiven Kernen mit N (gesuchte Funktion), die unabh¨anige Variable ist die Zeit t. Die ¨ zeitliche Anderung (Abnahme) an radioaktiven Material ist direkt proportional zu N . Man kann schreiben: dN ln 2 =− N, dt TH

(1.1)

wobei TH die Halbwertszeit der radioaktiven Substanz bezeichnet. Da in Gl. (1.1) keine h¨ ohe Ableitung als die erste Ableitung vorkommt bezeichnet man dies als eine gew¨ohnliche Differentialgleichung erster Ordnung. Im folgenden Unterkapitel wird die L¨osung f¨ ur die wichtigsten Typen von gew¨ ohnlichen Differentialgleichungen erster Ordnung besprochen.

1.1

Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

Eine gew¨ohnliche Differentialgleichung, die nur die 1. Ableitung y 0 nach der unabh¨angigen Variablen x enth¨ alt, bezeichnet man als gew¨ohnliche Differentialgleichung 1. Ordnung. Allgemein kann sie in der impliziten Form F (x, y, y 0 ) = 0

(1.2)

angeschrieben werden. H¨ aufig gelingt es, den Abbleitungsterm explizit auf eine Seite der Glei-

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Kapitel 1: Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen

chung zu schreiben: y 0 = f (x, y).

(1.3)

Dies wirkt sich positiv auf die L¨ osbarkeit der Differentialgleichung aus. L¨ osung durch Integration der rechten Seite Bei der einfachste Form von gew¨ ohnlichen Differentialgleichungen 1. Ordnung kommt nur die Ableitung y 0 nicht aber die gesuchte Funktion y selbst vor. Man kann dann schreiben: y 0 = f (x).

(1.4)

Da die Umkehr der Differentialrechnung die unbestimmte Integration ist, kann Gl. 1.4 durch Integration der rechten Seite gel¨ ost werden: Z y = f (x)dx + C. (1.5) Wie aus der Integralrechnung bekannt, ist das unbestimmte Integral nur bis auf eine additive Konstante C definiert. Da f¨ ur C ein beliebiger reeller Wert gew¨ahlt werden, kann besitzt die Differentialgleichung (1.4) unendlich viele L¨osungen. Es soll an dieser Stelle vorweggenommen werden, daß Differentialgleichungen stehts u ugen. Die ¨ber eine Schar von L¨osungen verf¨ Gesamtheit aller L¨ osungen einer Differentialgleichung nennt man die allgemeine L¨osung der Differentialgleichung. Die Bedeutung der Konstanten C in Gl. (1.5) soll an einen klassischen Beispiel aus der Physik erl¨ autert werden. Beispiel: freier Fall ohne Luftreibung ¨ Beim freien Fall ohne Luftreibung ist die Beschleunigung (also die Anderung der Geschwindigkeit v nach der Zeit t) gleich der konstanten Erdbeschleunigung g. Man kann schreiben: dv = g. (1.6) dt Wie oben festgestellt, ist diese Gleichung durch unbestimmte Integration l¨osbar: Z v(t) = g dt + C = gt + C.

(1.7)

In der allgemeinen L¨ osung der Differentialgleichung ist die Geschwindigkeit v = gt + C nur bis auf eine Konstante bestimmt. Physikalisch ist dies so erkl¨arbar, daß Gl. (1.6) nur den freien

1.1 Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

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Fall selbst beschreibt, aber keine Aussage u ¨ber die Anfangsgeschwindigkeit des K¨orpers enth¨alt. Diese muß zus¨ atzlich u ¨ber eine Anfangsbedingung festgelegt werden. Wird der K¨orper z.B. zum Zeitpunkt t = 0 aus der Ruhe heraus (v0 = 0) fallen gelassen, so gilt die Anfangsbedingung v(t = 0) = 0. Daraus erh¨ alt man C = 0 und v = gt. Man nennt dies eine spezielle L¨osung der Differentialgleichung. W¨ urde der K¨orper zu Beginn mit bekannter Geschwindigkeit nach oben geworfen, so w¨ urde C einen negativen Wert annehmen. D.h. die Konstante C deckt alle m¨oglichen Anfangsgeschwindigkeiten C ab. Allgemein besitzen gew¨ ohnliche Differentialgleichungen erster Ordnung immer genau eine Konstante C in ihrer allgemeinen L¨ osung. Um eine eindeutige L¨osung zu erhalten, ist immer eine Zusatzbedingung notwendig. Ist die unabh¨angige Variable die Zeit, so spricht man von einer Anfangsbedingung. Man nennt eine gew¨ohnliche Differentialgleichung mit Anfangsbedingung ein Anfangswertproblem. Ist die unabh¨angige Variable eine geometrische Gr¨oße, so spricht man von einer Randbedingung (Randwertproblem). Richtungsfeld einer Differentialgleichung 1. Ordnung Liegt eine gew¨ ohnliche Diffierentialgleihung 1. Ordnung in expliziter Form y 0 = f (x, y) vor, so kann f¨ ur jedes beliebige Wertepaar xi , yi die zugeh¨ohrige Steigung yi0 = f (xi , yi ) berechnet werden. Berechnet man diese Steigungen f¨ ur eine große Zahl an Punkten und plottet das Ergebnis in die xy-Ebene, so erh¨ alt man ein Richtungsfeld. Zeichnet man (z.B. h¨andisch) in dieses Richtungsfeld Kurven, welche tangential zu den Steigungen verlaufen, so erh¨alt man N¨aherungsl¨ osungen der Differentialgleichung. Richtungsfelder sind daher eine M¨ oglichkeit den L¨osungsvorgang und Eigenschaften von gew¨ohnlichen Differentialgleichungen 1. Ordnung (nur f¨ ur diesen Typ k¨onnen sie gezeichnet werden) anschaulich darzustellen. Z.B. computerunterst¨ utzte (numerische) L¨osungsverfahren basieren auf Richtungsfeldern. Fr¨ uher wurden Richtungsfelder h¨andisch gezeichnet (im Kreyszig ist daf¨ ur ein Verfahren angegeben). Heutzutage empfielt es sich, diese mittels Computer zu plotten. Wir wollen vorest f¨ ur drei Beispiele Richtungsfelder und L¨osungen betrachten. Beispiel - freier Fall ohne Luftreibung: Abb. 1.3 zeigt das Richtungsfeld. Da die Erdbeschleunigung mit 9.81 ms-2 konstant ist, sind alle Steigungen gleich. Der Maßstab ist so gew¨ahlt, daß der Steigungswinkel knapp unter 45o liegt. Die drei Geraden stellen drei spezielle L¨osungen der Differentialgleichung dar.

Beispiel - radioaktiver Zerfall: Gl.(1.1) gibt das Zerfallsgesetz an. Skaliert man die TH 0 Zeitachse so, daß die Zeiteinheit gleich ln 2 ist, so vereinfacht sich die Gleichung zu: N = −N mit −t der allgemeinen L¨ osung N (t) = Ce (¨ uberpr¨ ufen Sie diese L¨osung durch einsetzen in die Differentialgleichung !). Abb. 1.4 zeigt das Richtungsfeld und einige spezielle L¨osungen der Gleichung.

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Kapitel 1: Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen

Abbildung 1.3: Richtungsfeld und einige spezielle L¨osungen f¨ur den freien Fall ohne Luftreibung.

Die multiplikative Konstante C entspricht der Menge an radioaktiver Substanz zum Zeitpunkt t = 0. F¨ ur C=0 erh¨ alt man die triviale L¨osung y ≡ 0. Auch f¨ ur negative C gibt es L¨osungen der Differentialgleichung. Diese sind aber physikalisch sinnlos. Beispiel - van der Pol Gleichung: Die van der Pol Gleichung y 0 = 0.1(1 − x2 ) xy besitzt keine explizite L¨osung. Wie im Kreyszig erw¨ahnt, liegt ihre Anwendung in der Elektronik und zwar in der Behandlung von einfachen Oszillatoren, wie sie z.B. mit Verst¨arkerr¨ohen realsiert wurden (heute sind diese Oszillatoren weitgehen durch Schwingquarze und integrierte Schaltkreise verdr¨angt). Der Weg vom Schaltkreis zur van der Pol Gleichung soll hier aus Platzgr¨ unden nicht dargestellt werden. Die gesuchte Funktion y ist hier die Spannung am Ausgang des Oszillators und x die Zeitableitung der Ausgangsspannung (Phasendiagramm; siehe auch Kreszig Chap. 3.5). In Abb. 1.5 sind das Richtungsfeld und zwei mit numerischen Methoden berechnete spezielle L¨osungen dargestellt. F¨ ur den Startwert (4,-3) (gr¨ une Kurve) n¨ahert sich die L¨osung von außen dem Grenzzyklus (schwarz). F¨ ur den Startwert (0,0.5) (rote Kurve) n¨ahert sich die L¨osung von innen dem Grenzzyklus. Die wesentliche Beobachtung aus dem Richtungsfeld ist, daß die L¨osung f¨ ur fast alle Startwerte gegen den Grenzzyklus konvergiert, was dem Oszillator eine große Stabilit¨at verleiht. Lediglich f¨ ur den Ursprung (0,0) als Startwert nimmt wird y 0 singul¨ar. Dieser Fall ist praktisch nicht von Bedeutung, da es Aufgrund von Widerstands und Verst¨arkerrauschen immer minimale Abweichungen vom Ursprung gibt.

1.1 Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

Abbildung 1.4: Richtungsfeld und einige spezielle L¨osungen f¨ur den radioaktiven Zerfall.

Abbildung 1.5: Richtungsfeld und einige spezielle L¨osungen f¨ur die van der Pol Gleichung.

9

10

1.1.1

Kapitel 1: Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen

Separierbare Differentialgleichungen

In diesem Abschnitt sollen gew¨ ohnliche Diffierentialgleihung 1. Ordnung behandelt werden, die sich in expliziter Form anschreiben lassen und bei denen weiters die Funktion f (x, y) als Verh¨ altnis zweier Funktionen φ und γ angeschrieben werden kann, von denen eine nur von x und eine nur von y abh¨ angt: y 0 = f (x, y) = bzw.

φ(x) , γ(y)

(1.8)

dy φ(x) = . dx γ(y)

(1.9)

Man kann beobachten, daß durch die Schreibweise γ(y)dy = φ(x)dx.

die Variablen getrennt werden k¨ onnen. Multipliziert man die linke Seite mit Seiten nach dx integriert werden: Z Z dy γ(y) dx = φ(x)dx + C. dx Durch die Umformung ge¨andert werden:

dy dx dx

(1.10) dx dx ,

so k¨onnen beide

(1.11)

= dy kann die Integrationsvariable auf der linken Seite auf y Z

Z γ(y)dy =

φ(x)dx + C.

(1.12)

Unter der Annahme, daß φ(x) und γ(y) integrierbar sind, ist die Differentialgleichung (1.8) somit l¨osbar. In der Lehrveranstaltung bzw. im Kreyszig wird die L¨osung von separierbaren Differentialgleichungen an Beispielen gezeigt. Im nachfolgenden Beispiel soll gezeigt werden, wie man durch Modellbildung f¨ ur eine physikalische Aufgabenstellung zun¨achst zu einer separierbaren Differentialgleichung und anschließend zu deren L¨osung gelangt. Anwendungsbeispiel - Modellbildung: Bei der Berechnung eines tats¨ achlichen Vorganges aus unserer Erfahrungswelt muß dieser Vorgang zun¨achst in die Sprache der Mathematik (also in Gleichungen) u ¨bersetzt werden. Hierzu sind immer abstrakte, vereinfachende Annahmen n¨otig. Man spricht daher von Modellbildung (ein Modell ist ein abstraktes Bild der Wirklichkeit).

1.1 Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

11

Wir wollen nun das Beispiel der zylindrischen Wassertonne aufgreifen aus der Wasser ausfließt. Sie habe den Radius R und die Ausfluߨoffnung habe den Radius r. Gesucht sei die F¨ ullh¨ohe H als Funktion der Zeit t. Zum Zeitpunkt t = 0 (ziehen des St¨opsels) sei die F¨ ullh¨ohe gleich H0 . Die F¨ ullh¨ ohe sinkt umso rascher, je gr¨oßer die Geschwindigkeit v ist, mit der das Wasser ausfließt ( dH dt ∼ −v). In einem infitesimalen Zeitinterval dt fließt das infintesimale Volumen dV , welches durch das Produkt aus Geschwindigkeit v und Querschnitt der Ausfluߨoffnung (πr2 ) gegeben ist, aus (dV = πr2 vdt). Der Wasserspielgel muß dabei genau um eine diesem Volumen entsprechende infintesimale H¨ohe dH absinken (negatives Vorzeichen). Das Volumselement dV entspricht daher dem negativen Produkt aus Querschnittfl¨ache der Wassertonne πR2 mal H¨ ohenelement dH (dV = −πR2 dH). Setzt man die beiden Ausdr¨ ucke f¨ ur dV gleich, so erh¨ alt man durch K¨ urzen und Umordnen: dH r2 = − 2 v. dt R

(1.13)

Diese Differentialgleichung ist noch nicht l¨osbar, da sie 3 Variablen enth¨alt (H, t, v). Daher soll zun¨achst die unbekannte Geschwindigkeit als Funktion der anderen beiden Variablen ausgedr¨ uckt werden. Man kann erwarten, daß die Ausflußgeschwindigkeit v mit sinkender F¨ ullh¨ ohe monoton abnimmt. Die theoretische Obergrenze f¨ ur die Ausflußgeschwindigkeit vˆ erh¨alt man aus der Bernoullischen Druckh¨ ohengleichung. Nimmt man die Str¨omung idealsiert als v¨ollig 2 verlustfrei an, so muß die kinetische Energie vˆ2 dm eines ausstr¨omenden Wasserteilchens mit infitesimaler Masse dm gleich der potentiellen Energie gHdm eines Wasserteilchens an der Wasseroberl¨ache sein √ (g bezeichnet die Erdbeschleunigung). Man erh¨alt durch Gleichsetzen und Umformung: vˆ = 2gH. Tats¨ achlich muß aufgrund der verlustbehafteten Str¨omung (Bildung von Wirbeln und Strudeln) und der Kontraktion des Wasserstrahles mit einer verringerten Geschwindigkeit gerechnet werden. Man ber¨ u√ cksichtigt dies durch die positive Ausflußzahl µ < 1 und erh¨alt f¨ ur die Geschwindigkeit: v = µ 2gH. Damit h¨angt v nur noch von H ab und man kann schreiben: √ dH r2 p = −µ 2 2gH = −k H. (1.14) dt R Um zu einer verk¨ urzten Schreibweise zu kommen, wurden alle Konstanten zu einer neuen 2 √ Konstanten k = µ Rr 2 2g zusammengefaßt. In der Praxis besteht bei der Ausflußzahl µ die gr¨oßte Unsicherheit. Sie betr¨ agt f¨ ur Wasser bei einer kreisrunden Bohrung im Boden ca. 0.60-0.65, bei Ausfluß durch ein Rohrst¨ uck mit doppelter L¨ange des Lochdurchmesseres ca. 0.8 und bei Ausfluß durch eine D¨ use 0.97 bis 0.99 (Quelle der Zahlenangaben: A. B¨oge: Mechanik und Festigkeitslehre, Vieweg Verlag, Braunschweig, 1984). Nach Sepeartion der Variblen kann die Differentialgleichung (1.14) wie folgt angeschrieben werden: dH √ = −kdt. (1.15) H

12

Kapitel 1: Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen

Unbestimmte Itegration liefert die allgemeine L¨osung in impliziter Form √ 2 H = −kt + C,

(1.16)

und durch Umformen erh¨ alt man die L¨osung in expliziter Form 1 H(t) = (C − kt)2 . 4

(1.17)

Man beachte, daß Gl. (1.17) die allgemeine L¨osung nicht vollst¨andig beschreibt, da auch H(t) ≡ 0 eine L¨osung der Differentialgleichung ist. √ Aus der Anfangsbedingung H(t = 0) = H0 erh¨alt man f¨ ur C = 2 H0 und f¨ ur die spezielle L¨osung der Differentialgleichung: √ p k 2 2 H0 H(t) = ( H0 − t) , f¨ ur 0 ≤ t ≤ . (1.18) 2 k √

Es soll betont werden, daß die G¨ ultigkeit der L¨osung auf das Intervall [0, 2 √ 2 H0 k

H0 k ]

eingeschr¨ankt

werden muß. F¨ ur t > wird der Term in der Wurzel von Gl. (1.14) negativ, womit die L¨osung f¨ ur diese Zeitpunkte nicht g¨ ultig sein kann. Die L¨osung von Differentialgleichungen ist h¨aufig aufgrund von solchen Beobachtungen auf einen G¨ ultigkeitsbereich einzuschr¨anken.

Abb. 1.6 zeigt das Richtungsfeld und die spezielle L¨osung f¨ ur gew¨ahlte Konstanten. Es soll an diese Stelle wiederholt werden, daß jedes Modell nur eine Approximation der Wirklichkeit darstellt. In dem hier gew¨ ahlten Modell wurden Effekte wie z.B. die Bildung eines Strudels beim Ausfluß nicht detailiert nachgebildet. Daher ist f¨ ur die berechnete Zeit zur Entleerung eine Genauigkeit von etwa 5 bis 10 % zu erwarten. Er ist dennoch bemerkswert (und nicht so selbstverst¨andlich wie es scheint), daß das Modell (¨ ubereinstimmend mit den Beobachtungen aus der Erfahrungswelt) eine endliche Zeit f¨ ur die Entleerung des Gef¨aßes voraussagt. F¨ ur viele physikalische Aufgabestellungen (Radioaktiver Zerfall, Entladung eines Kondensators, Abk¨ uhlen auf Raumtemperatur) n¨ ahert sich die L¨osung nur assymptotisch dem Ruhewert. Hier, bei der Entleerung der Tonne, wird dieser in endlicher Zeit erreicht, wof¨ ur die Wurzel in Gl. ¨ (1.14) verantwortlich ist. Das qualitative Ubereinstimmen des Modells mit der Erfahrungswelt st¨ utzt daher die Annahme, daß die Ausflußgeschwindigkeit proportional zur Wurzel der F¨ ullh¨ ohe ist. ¨ Uberf u ¨ hren in eine separierbare Form: Manchmal k¨onnen auch nicht separierbare Differentialgleichungen durch eine geschickte Substitution in eine separierbare Form gebracht werden. Beispiele hierf¨ ur werden in der Vorlesung und im Kreyszig behandelt.

1.1 Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

13

Abbildung 1.6: Richtungsfeld und spezielle L¨osung f¨ur den Ausfluß aus der zylindrischen Tonne. F¨ur die Konstanten wurden folgende Werte angenommen: R=0.1 m, r=0.005 m, g=9.81 ms-2 , µ=0.65, H0 =0.3 m. Nach 152 s ist das Gef¨ aß entleert.

1.1.2

Exakte Differentialgleichungen

In diesem Abschnitt soll die bisher verfolgte Strategie, Differentialgleichungen 1. Ordnung durch Integration zu l¨ osen, auf ein m¨ oglichst breites Anwendungsgebiet verallgemeinert werden. Um m¨oglichst allgemeine Aussagen bez¨ uglich der Integrierbarkeit zu finden, soll zun¨achst folgende Annahme gemacht werden: Die erste Ableitung der gesuchten Funktion y kann explizit als negativer Quotient zweier Funktionen M (x, y) und N (x, y) angeschrieben werden: y 0 = f (x, y) = −

M (x, y) , N (x, y)

(1.19)

Die L¨osung dieser Differentialgleichung kann immer durch eine implizite Form u(x, y) = C

(1.20)

angeschrieben werden, wobei C die Konstante sei, die bei der allgemeinen L¨osung der Differentialgleichung eingef¨ uhrt werden muß. Um allgemein zu untersuchen, unter welchen Voraussetzungen u(x, y) durch Integration bestimmt werden kann, betrachten wir das totale Differential

14

Kapitel 1: Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen

∂u du = ∂u ∂x dx + ∂y dy der Funktion u(x, y). Da auf der rechten Seite von Gl. (1.20) eine Konstante steht, muß das totale Differential du = 0 sein. Wir k¨onnen schreiben:

∂u ∂u dx + dy = 0 ∂x ∂y

(1.21)

∂u Die partiellen Ableitungen ∂u ∂x und ∂y sind im allgemeinen Fall Funktionen von x und y und wir k¨onnen folgende Abk¨ urzungen einf¨ uhren:

∂u ∂u = M (x, y) und = N (x, y). ∂x ∂y Wir erhalten: M (x, y)dx + N (x, y)dy = 0 bzw.

(1.22)

dy M (x, y) =− . dx N (x, y)

(1.23)

¨ Man beachte die Ahnlichkeit von Gl. (1.23) mit Gl. (1.19). Aufgrund der kommutativen Eigenschaft der Ableitung muß f¨ ur Gl. (1.23) jedoch zus¨atzlich gelten: ∂ ∂u ∂M (x, y) ∂N (x, y) ∂ ∂u ( )= ( ) → = . ∂y ∂x ∂x ∂y ∂y ∂x

(1.24)

∂Q Um Gl. (1.19) durch Integration l¨ osen zu k¨onnen, muß daher gelten: ∂P ∂y = ∂x . Ist diese Bedingung erf¨ ullt, so bezeichnen wir Gl. (1.19) als exakte Differentialgleichung.

Zur L¨osung der Differentialgleichung gibt es nun zwei m¨ogliche Wege: A) Da M (x, y) = ∂u ¨ber dx bestimmt werden: ∂x , kann u(x, y) durch Integration von M u Z u(x, y) = M (x, y)dx + k(y). (1.25) Hierbei ist zu beachten, daß die Integrationskonstante auch eine additive Funktion von y sein kann (diese w¨ urde bei der partiellen Ableitung M = ∂u ∂x wegfallen). Die unbekannte Funktion k(y) kann aus der Bedingung ∂u = N bestimmt werden. ∂y B) Aus N (x, y) = ∂u erh¨ a lt man durch Integration u ¨ber dy: ∂y Z u(x, y) = N (x, y)dy + l(x). (1.26) Hierbei kann die unbekannte Funktion l(x) aus der Bedingung

∂u ∂x

= M bestimmt werden.

Es sind theoretisch immer beide L¨osungswege m¨oglich, jedoch k¨onnen sich diese im Rechenaufwand betr¨ achlich unterscheiden. Es bedarf an Erfahrung, um fr¨ uhzeitig zu erkennen,

1.1 Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

15

welcher Weg der G¨ unstigere ist. In der Lehrveranstaltung und im Kreyszig werden Beispiele zu exakten Differentialgleichungen durchgerechnet. Integrierende Faktoren Wie in der Vorlesung und im Kreyszig an einem Beispiel gezeigt wird, kann eine nicht exakte Differentialgleichung y0 = −

P (x, y) , Q(x, y)

(1.27)

h¨aufig indem man Z¨ ahler und Nenner der rechten Seite mit einer geschickt gew¨ahlten Funktion F (x, y) multipliziert, in eine exakte Differentialgleichung u uhrt werden: ¨bergef¨ y0 = −

P (x, y)F (x, y) M (x, y) =− Q(x, y)F (x, y) N (x, y)

mit

∂(P F ) ∂(QF ) = . ∂y ∂x

(1.28)

Um eine solche Funktion F systematisch berechnen zu k¨onnen, soll zun¨achst untersucht werden, welche Eigenschaften die Funktion erf¨ ullen muß. Durch Anwendung der Kettenregel erh¨alt man F) ∂(QF ) aus ∂(P = : ∂y ∂x Fy P + F Py = Fx Q + F Qx . (1.29) Eine allgemeine L¨ osung dieses Ausdrucks ist zumeist nicht durchf¨ uhrbar. Folgende Umst¨ande helfen, die L¨ osung zu vereinfachen. Zumeist gibt es nicht genau einen integrierende Faktor F , sondern mehrere. H¨ aufig ist es sogar m¨oglich, integrierende Faktoren zu finden, welche nur von x bzw. nur von y abh¨ angen. Wir wollen zun¨achst nach einem integrierenden Faktor suchen, der nur von x abh¨ angt. F (x): In diesem Fall wird die partielle Ableitung von Fy = 0. Man erh¨alt aus Gl. (1.29) durch Umordnen:   1 ∂F 1 ∂P ∂Q = − = R(x). (1.30) F ∂x Q ∂y ∂x Dabei wurde f¨ ur die rechte Seite die Abk¨ urzung R(x) eingef¨ uhrt. Die erhaltene Differentialgleichung ist durch Separation der Variablen F und x l¨osbar. Man erh¨alt: F (x) = e

R

R(x)dx

.

(1.31)

Hierbei wurde bei der L¨ osung die Integrationskonstante gleich Null gesetzt. Dies ist deshalb zul¨assig, da nur nach einer einzigen (der einfachst m¨oglichen) integrierenden Funktion gesucht wird.

16

Kapitel 1: Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen

F (y): Soll F nur von y abh¨ angen wird Fx = 0. Man erh¨alt aus Gl. (1.29) durch Umordnen:   1 ∂F 1 ∂Q ∂P ˜ = R(y). (1.32) = − F ∂y P ∂x ∂y ˜ Wobei die rechte Seite als R(y) bezeichnet wird. Man er¨alt nach Seperation der Variablen und L¨osen der Differentialgeichung: F (y) = e

R

˜ R(y)dy

.

(1.33)

Wiederum sind beide Rechenwege gleichwertig, k¨onnen sich jedoch im Rechenaufwand betr¨achlich unterscheiden.

1.1.3

Lineare Differentialgleichungen 1. Ordnung

Eine Differentialgleichung 1. Ordnung ist linear, wenn sie in der Form y 0 + p(x)y = r(x)

(1.34)

angeschrieben werden kann. Hierbei kommen die gesuchte Funktion y und ihre Ableitung nur in der ersten Potenz vor. Da viele technisch interessante Systeme durch lineare Differentialgleichungen beschrieben werden, soll Gl. (1.34) zun¨achst an einem konkreten Beispiel in einen physikalischen Kontext gebracht werden. Konkretisierung - Temperaturgleichung: Es sei y die Temperaturdifferenz eines K¨orpers zu seiner Umgebung (z.B. Temperatur des K¨ uhlk¨orpers eines Prozessors) und x die Zeit. Die rechte Seite r(x) der Gleichung modelliert dann die Energiezufuhr in der K¨orper. Allgemein kann man dies als erregende Funktion oder Eingangsfunktion bezeichnen. Sie kann z.B. mit der Auslastung des Prozessors zeitlich variieren. Die Funktion p(x) modelliert die K¨ uhlung des K¨orpers. Sie ist zeitlich variabel, wenn z.B. ein Ventilator ein und ausgeschalten wird. H¨aufig interessiert man sich f¨ ur das Verhalten, wenn der K¨orper zwar eine Anfangstempertur y > 0 hat, aber die Energiezufuhr (Eingangsfunktion) gleich Null ist r(x) ≡ 0 (Ausk¨ uhlvorgang). Man spricht von der L¨ osung der homogenen Differentialgleichung. L¨ osung der homogenen Differentialgleichung: Ist die rechte Seite r(x) ≡ 0, so hat die Differentialgleichung die Form: y 0 + p(x)y = 0.

(1.35)

1.1 Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

17

Durch Separation der Variablen erh¨ alt man: dy = −p(x)dx, → ln | y |= − y

Z p(x)dx + ln C.

(1.36)

Bildet man auf beiden Seiten die Exponentialfunktion des Ausdrucks, so bekommt man f¨ ur die allgemeine L¨ osung der homogenen Differentialgleichung: y = Ce−

R

p(x)dx

.

(1.37)

W¨ahlen wir y ≡ 0, so erhalten wir die triviale L¨ osung der homogenen Differentialgleichung. L¨ osung der inhomogenen Differentialgleichung: Die Lsung der inhomogenen Diffeentialgleichung soll hier nur kurz skizziert werden. Der detailierte Lsungsweg ist im Kreyszig beschrieben. Durch Umformung kann die lineare Differentialgleichung (1.34) als nicht exakte Differentialgleichung angeschrieben werden: p(x)y − r(x) dy =− . dx 1

(1.38)

D.h. P = py − r und Q = 1. Wir nehmen an, daß ein integrierender Faktor existiert, der nur von x abh¨angt und erhalten: 1 dF = p(x). (1.39) F dx Somit erh¨alt man f¨ ur den integrierenden Faktor: R

F =e

p(x)dx

.

(1.40)

Nach weiterer Rechnung (siehe Kreyszig) erh¨alt man f¨ ur die L¨osung y: −

y=e

R

p(x)dx

Z

R

e

p(x)dx

 r(x)dx + C .

(1.41)

Leider ist die Anwendbarkeit von Gl. (1.41) nicht so umfassed, wie es auf den ersten Blick scheint. Der Grund hierf¨ ur ist die Auswertung der Integrale, welche h¨aufig in geschlossener Form nicht l¨osbar sind. Die Herleitung und Anwendung von Gl. (1.41) ist daher nicht pr¨ ufungsrelevant.

18

1.1.4

Kapitel 1: Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen

Lineare Differentialgleichungen 1. Ordnung mit konstanten Koeffizienten

Ein praktisch bedeutsamer Sonderfall ist eine konstante Funktion p(x) = k. y 0 + ky = r(x).

(1.42)

Man spricht dann von linearen Differentialgleichung 1. Ordnung mit konstanten Koeffizienten. Ist x die Zeit, so beschreibt Gl. 1.42 ein lineares Zeitunabh¨angiges System mit zeitabh¨angiger Erregung. Die L¨ osung der homogenen Differentialgleichung yh = Ce−kx kann wie oben beschrieben einfach durch Separation der Variablen ermittelt werden. Fr die Berechnung der L¨osung der inhomogenen L¨ osung der inhomogenen Differentialgleichung gilt ein bemerkenswertes Theorem, welches hier ohne Beweis angefhrt wird: Ist eine spezielle (partikul¨ are) L¨ osung yp der inhomogenen Differentialgleichung 1.42 bekannt, so ist deren allgemeine L¨ osung durch die Summe aus L¨osung der homogenen Differentialgleichung yh und einer partikul¨ aren L¨ osung yp gegeben: y = yh + yp = Ce−kx + yp .

(1.43)

Gleichung 1.43 kann insoferne ausgenutzt werden, als das nach der einfachst m¨oglichen parti¨ kul¨aren L¨osung gesucht wird. In der Lehrveranstaltung wird dies anhand von Ubungsbeispielen demonstriert.

1.2

Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen 2. Ordnung

Einige grundlegende Eigenschaften von gew¨ohnlichen Differentialgleichungen 2. Ordnung sollen zun¨achst wieder an einem Beispiel beobachtet werden. Anwendungsbeispiel: nochmals freier Fall ohne Luftreibung Im Abschnitt 1.1 wurde f¨ ur den freien Fall ohne Luftreibung die Geschwindigkeit als Funktion der Zeit gesucht. Hier soll jetzt die Wegstrecke s als Funktion der Zeit gesucht werden. Da die Beschleunigung die 2. Ableitung des Weges nach der Zeit ist, kann man schreiben: d2 s = g. dt2

(1.44)

ds = gt + C1 . dt

(1.45)

Integration nach der Zeit liefert:

Durch nochmalige Integration erh¨ alt man: s=

g 2 t + C1 t + C2 . 2

(1.46)

1.2 Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen 2. Ordnung

19

Wir beobachten, daß die allgemeine L¨osung der Differentialgleichung 2. Ordnung (1.44) zwei Konstanten beinhaltet. Dies ist allgemein so, bei gew¨ohnlichen Differentialgleichungen 2. Ordnung. Daher m¨ ussen zur Bestimmung einer speziellen L¨osung auch zwei Anfangs- bzw. Randbedingungen gegeben sein. Im hier betrachteten Fall entspricht die Konstante C1 der Anfangsgeschwindigkeit und die Konstante C2 dem Anfangsweg. Weiters beobachten wir das Gl. (1.44) eine lineare Differentialgleichung ist und die allgemeine L¨osung eine Linearkombination aus zwei linear unabh¨angigen Funktionstermen (t und t2 ) ist. Auch diese Beobachung hat allgemein G¨ ultigkeit f¨ ur lineare gew¨ohnliche Differentialgleichungen 2. Ordnung. Bei diesem Beispiel konnte die L¨osung durch zweifache Integration gefunden werden. Leider funktioniert dieser Weg nur bei sehr wenigen und einfachen Differentialgleichungen. Wir werden im weiteren dazu gezwungen sein, die L¨osung durch Wahl von geeigneten Ansatzfunktionen zu ’erraten’. Die Beobachtung, daß die allgemeine L¨osung zwei linear unabh¨angige Terme aufweisen muß ist dabei zentral. 1.2.1

Lineare Differentialgleichungen 2. Ordnung mit konstanten Koeffizienten

Eine lineare Differentialgleichung 2. Ordnung mit konstanten Koeffizienten kann in der Form y 00 + ay 0 + by = r(x)

(1.47)

angeschrieben werden. Wir m¨ ochten uns zun¨achst auf den homogenen Fall (r(x) = 0) beschr¨anken: y 00 + ay 0 + by = 0. (1.48) Diese Gleichung l¨ aßt sich nicht durch Integration l¨osen. Der L¨osungsweg, der hier zum Ziel f¨ uhrt versucht die L¨ osung durch ausprobieren von m¨oglichen L¨osungen zu ’erraten’. Man sagt, man macht einen L¨ osungsansatz. Tats¨ achlich kommen nur sehr wenige Funktionen f¨ ur einen solchen Ansatz in Frage. Wir erinnern uns, daß die allgemeine L¨osung einer linearen homogenen Differentialgleichung 1. Ordnung eine Exponentialfunktion enthalten hat. Dies ist auf die besondere Eigenschaft, daß die Ableitung der Exponentialfunktion wieder die Exponentialfunktion ergibt x x ( ∂e uckzuf¨ uhren. Diese Beobachtung legt uns nahe, die Funktion y = eλx auszupro∂x = e ) zur¨ bieren. Sie besitzt die Ableitungen y 0 = λeλx und y 00 = λ2 eλx . Man erh¨alt durch Einsetzen in Gl. (1.49): (λ2 + aλ + b)eλx = 0, bzw. λ2 + aλ + b = 0. (1.49) Hierbei bezeichnet man die rechts angeschriebene Gleichung als charakteristische Gleichung. Ihre Nullstellen erh¨ alt man aus: r a a2 − b. (1.50) λ1,2 = − ± 2 4

20

Kapitel 1: Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen

Daher sind also y = eλ1 x und y = eλ2 x L¨osungen der Differentialgleichung und die allgemeine L¨osung hat die Form: y = c1 eλ1 x + c2 eλ2 x .

(1.51)

Abh¨angig von den Werten a und b sind f¨ ur die Nullstellen λ1 und λ2 der charakteristische Gleichung (1.50) drei F¨ alle zu unterscheiden: a) zwei reelle Nullstellen f¨ ur a2 − 4b > 0, b) eine reelle doppel Nullstelle f¨ ur a2 − 4b = 0, und c) zwei konjugiert komplexe Nullstellen f¨ ur a2 − 4b < 0. Bevor wir uns mit der mathematischen Behandlung dieser drei F¨alle besch¨aftigen, soll ihre physikale Bedeutung an einem Beispiel plausiblisiert werden. Beispiel: Feder-Masse-System mit Stoßd¨ ampfer Abbildung 1.7 zeigt ein Feder-Masse-System mit Stoßd¨ampfer. Es kann durch eine lineare Differentialgleichung 2. Ordnung modelliert werden. Ist der Stoßd¨ ampfer so dimensioniert, daß nur eine geringe D¨ampfung auftritt, so wird die Masse nach einer Anfangsauslenkung eine ged¨ampfte Schwingung ausf¨ uhren (Schwingfall). Dieser Schwingfall entspricht dem oben genannten Fall c) (zwei konjugiert komplexe Nullstellen). Besitzt der Stoßd¨ ampfer hingegen eine sehr große D¨ampfung, so kehrt die Maße nach einer Anfangsauslenkung nur langsam und ohne zu schwingen in die Ausgangslage zur¨ uck (Kriechfall). Der Kriechfall entspricht dem oben genannten Fall a) (zwei reelle Nullstellen). Beide skizzierten F¨ alle sind z.B. f¨ ur die Dimensionierung eines Stoßd¨ampfers eines Kfz nicht ideal. Hier sollte das Feder-Masse-System m¨oglichst rasch auf einen Stoßreagieren, aber nicht schwingen. Der oben genannte Fall b) (eine relle Doppelnullstelle) beschreibt den im Idealfall erreichbaren Kompromiss: die schnellste R¨ uckkehr in die Ausgangslage ohne zu schwingen (aperiodischer Grenzfall, kritische D¨ ampfung). Im folgenden soll die Differentialgleichng f¨ ur b=4 und a=8 (große D¨ampfung), a=4 (kritische D¨ampfung) und a=2 (kleine D¨ ampfung) gel¨ost werden. Die Anfangsbedingen seine jeweiles y(x = 0) = 1 und y 0 (x = 0) = 0. Fall a) zwei reelle Nullstellen y 00 + 8y 0 + 4y = 0 mit y(x = 0) = 1 und y 0 (x = 0) = 0: Ansatz: y = c1 eλ1 x + c2 eλ2 x Nullstellen: λ1,2 = −4 ±



12 = −(4 ∓ √

allgemeine L¨ osung: y = c1 e−(4−

12)x



12) √

+ c2 e−(4+

12)x

1.2 Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen 2. Ordnung

21

Abbildung 1.7: Ein Feder-Masse-System mit Stoßd¨ampfer wie im Faksimile rechts oben dargestellt (Quelle: Erwin Kreyszig, Advanced Engineering Mathematics, John Wiley & Sons Inc. 8. Ausgabe.) kann durch eine lineare Differentialgleichung 2. Ordnung modelliert werden. Die Graphen zeigen zeigen L¨osungen der Differentialgleichung y 00 + ay 0 + 4y = 0 mit den Anfangsbedingungen y(0) = 1, y 0 (0) = 0 f¨ ur a = 8 (Kriechfall), a = 4 (aperiodischer Grenzfall) und a = 2 (ged¨ampfte Schwingung).

22

Kapitel 1: Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen

Anfangsbedingung 1: y(0) = c1 + c2 = 1 Anfangsbedingung 2: y 0 (0) = −(4 − → c1 =

√ 2+ √ 3 12



12)c1 − (4 +



12)c2 = 0



√ 3 und c2 = − 2− 12

spezielle L¨osung: y =

√ √ 2+ √ 3 e−(4− 12)x 12



√ √ 2− √ 3 e−(4+ 12)x 12

Fall b) eine reelle Doppelnullstelle F¨ ur den Fall einer reellen Doppelnullstelle (λ1,2 = − a2 ) muß eine von y1 = e−a/2 x linear unabh¨angige L¨ osung y2 bestimmt werden. Wir w¨ahlen den Ansatz y2 = ue−a/2 x, wobei u eine Funktion von x sei. Die neue Ansatzfunktion besitzt die Ableitungen y20 = u0 y1 + uy10 und y200 = u00 y1 + 2uy10 + uy100 . Setzt man dies in die homogene Differentialgleichung (1.49) ein, so erh¨alt man: (u00 y1 + 2uy10 + uy100 ) + a(u0 y1 + uy10 ) + b(uy1 ) = 0. (1.52) Ordnet man diese Gleichung so um, daß die Terme u00 , u0 und u zusammengefaßt werden, so erh¨alt man: u00 y1 + u0 (2y10 + ay1 ) + u00 (y100 + ay10 + by1 ) = 0. (1.53) Der Term in der letzten Klammer gibt Null, da y1 eine L¨osung der Differentialgleichung ist. Der Term in der ersten Klammer (2y10 + ay1 )ist ebenfalls Null, da 2y10 = −ae−ax/2 = −ay1 . Somit ist u00 y1 = 0, d.h. u00 = 0. Durch doppelte Integration erh¨alt man: u = c1 + c2 x. Somit lautet die allgemeine L¨ osung: y = (c1 + c2 x)e−ax/2 . (1.54) Damit ergibt sich f¨ ur unser Beispiel (y 00 + 4y 0 + 4y = 0; a = 4): y = (c1 + c2 x)e−2x . Anfangsbedingung 1: y(0) = c1 + 0c2 = 1 Anfangsbedingung 2: y 0 (0) = (−2c1 + 0c2 + c2 )e0 = 0 → c1 = 1 und c2 = 2 Fall c) zwei konjugiert komplexe Nullstellen

¨ 1.3 Ubungsaufgaben

23

y 00 + 2y 0 + 4y = 0 mit y(x = 0) = 1 und y 0 (x = 0) = 0:

Wie im Kreyszig gezeigt wird ist die allgemeine L¨osung ist gegeben durch. r a2 −ax/2 y=e (α cos ωx + β sin ωx), mit ω = b − . 4 Damit erh¨alt man f¨ ur unser Beispiel e−ax/2 = e−x und ω = y = e−x (α cos



(1.55)

p (3). Daraus folgt:

√ 3x + β sin 3x).

Anfangsbedingung 1: y(0) = e0 (α cos 0 + β sin 0) = 0. Anfangsbedingung 2: y 0 (0) = e0 (α cos 0 + β sin 0 − → α = 1 und β =



3A sin 0 +



3B cos 0) = 0.

√1 3

Inhomogene Differentialgleichung Wie bereits bei den lineaen Differentialgleichungen 1. Ordnung mit konstanten Koeffizienten kann auch hier die Lsung der lineaen Differentialgleichungen 1. Ordnung mit konstanten Koeffizienten als Linearkombination der allgemeinen Lsung der homogenen Gleichung und einer partikulren Lsung der inhomogenen Gleichung angeschrieben werden (y = yh + yp ).

1.2.2

System von Differentialgleichungen 1.Ordnung

Es ist immer m¨ oglich, eine gew¨ ohnliche Differentialgleichung n.-ter Ordnung in ein System von n gew¨ohnlichen Differentialgleichungen 1. Ordnung mit n Unbekannten Funktionen umzuformen. Dies ist vor allem f¨ ur die computerunterst¨ utzte (numerische) L¨osung von Differentialgleichungen von Vorteil, da sich die numerische L¨osung von Differentialgleichungen 1. Ordnung leicht in Algorithmen mit breiter G¨ ultigkeit u uhren l¨aßt. ¨berf¨ Wir wollen die Umformung in ein System von gew¨ohnlichen Differentialgleichungen 1. Ordnung am Beispiel der linearen Differentialgleichung 2. Ordnung y 00 + p(x)y 0 + q(x)y = r(x) zeigen. F¨ uhrt man anstelle der 1. Ableitung von y eine neue Variable u = y 0 ein so erh¨alt man: y 0 = u, u0 = −p(x)u − q(x)y + r(x).

1.3

(1.56)

¨ Ubungsaufgaben

P (x) Theoriefrage: Zeigen Sie allgemein wie f¨ ur die gew¨ohnliche Differentialgleichung y 0 = − Q(x)

24

Kapitel 1: Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen

ein Integrierender Faktor gefunden werden kann, der nur von x abh¨angt. Beispiel: L¨ osen Sie die folgenden Anfangswertprobleme: x 0 a) y = 3 √y , y(x = 0) = 1. 2

2

+y b) y 0 = − x 2xy , y(x = 1) = 1. c) y 00 + 5y 0 + 6y = 0, y(x = 0) = 1, y 0 (x = 0) = 0. ¨ Uberpr¨ ufen Sie die L¨ osungen.

Beispiel: Bestimmen Sie die allgemeinen L¨osungen folgender Differentialgleichungen: √ a) y 0 = xy. y+4x2 b) y 0 = 2 cos x sin y . c) y 00 + 2y 0 + y = 0. ¨ Uberpr¨ ufen Sie die L¨ osungen. Beispiel: L¨ osen Sie die folgenden Anfangswertprobleme: 0 a) y = 2 + y, y(x = 0) = 1. yex b) y 0 = − 2y+e x , y(x = 0) = −1. 00 c) y + 9y = 0, y(x = 0) = 0, y 0 (x = 0) = 1. ¨ Uberpr¨ ufen Sie die L¨ osungen. Beispiel: Bestimmen Sie die allgemeinen L¨osungen folgender Differentialgleichungen: a) y 0 = (x + 1)y −3 . 1 b) y 0 = − 2y+xy 2x . Hinweis: xy ist ein integrierender Faktor. c) y 00 + 6y 0 + 8y = 0. ¨ Uberpr¨ ufen Sie die L¨ osungen.

Kapitel 2 Fourierreihen

Die unter dem Begriff Fourier-Analyse subsummierten Methoden gehen auf den franz¨osischen Mathematiker Jean Baptiste Joseph Fourier (1768-1830, Abb. 2.1) zur¨ uck. Der Großteil der Me¨ thoden wurde von Fourier w¨ ahrend des Agypten-Feldzuges von Napol´eon Buonaparte, an dem er als Gelehrter und Landvermesser teilnahm, entwickelt. Daher verwundert es nicht, daß die klassischen Fourier Methoden, wie sie in diesem Kapitel behandelt werden, zum Gebiet der analytischen Mathematik geh¨ oren. Ihre Bedeutung f¨ ur die Medizinische Informatik ergibt sich vor allem durch die digitalen bzw. numerischen Weiterentwicklungen (z.B. Fast Fourier Transformation, FFT), welche in den Vorlesungen aus Signal- und Bildverarbeitung behandelt werden. Diese Verfahren werden in der modernen Medizintechnik beispielsweise bei der Berechnung von Magnetresonanz- und Computer-Tomografie-Bilddaten eingesetzt. Zun¨achst sollen im Rahmen der Vorlesung jedoch die Fourierreihen als Basis aller weiterf¨ uhrenden Verfahren behandelt werden. In der Literatur werden Fourierreihen u ur periodische Funktionen ¨blicherweise zun¨achst f¨ eingef¨ uhrt. Die wesentliche Beobachtung von Fourier war, dass periodischen Funtionen durch eine Summe von trigonometrischen Funktionen (’sinusf¨ormige Schwingungen’) plus einer konstanten Funktion dargestellt werden k¨ onnen. Periodische Funktionen sind besonders in der Elektronik und damit auf der hardwarenahen Seite der Informatik weit verbreitet. Man beachte, daß hier eine besondere Attraktivit¨ at f¨ ur die Anwendung besteht. Sinusf¨ormigen Schwingungen bilden die Grundlage der Wechselstromrechnung, konstante Gr¨oßen werden durch die Gleichstromrechnung abgedeckt.

2.1

Beispiel - symmetrische Dreieckfunktion

In dem Abschnitt soll die Idee hinter den Fourierreihen zun¨achst am Beispiel einer Dreieckfunktion vermittelt werden. Dreieckfunktionen treten in der Elektronik bei den meisten Generatoren auf, die Signale mit ver¨ andererbarer Frequenz erzeugen (Grundausstattung in jedem Elektroniklabor). Es soll zun¨ achst eine periodische Dreieckfunktion mit der Amplitude 1 und der Periode 2π

26

Kapitel 2: Fourierreihen

Abbildung 2.1: Jean Baptiste Joseph Fourier (Quelle: Wikipedia - freie Enzyklop¨adie)

betrachtet werden. Diese Funktion f (x) kann wie folgt angeschrieben werden:  f (x) =

2 πx

f¨ ur 2 2 − π x f¨ ur

− π2 < x ≤ π2 π 3π 2 <x≤ 2

mit f (x + 2π) = f (x).

(2.1)

Diese Funktion ist in Abb. 2.2 dargestellt. Es soll an dieser Stelle zun¨achst ohne Beweis behauptet werden, daß die Funktion f (x) auch durch eine unendliche Reihe mit Sinus-Gliedern dargestellt werden kann: f (x) =

8 1 1 (sin x − 2 sin 3x + 2 sin 5x ∓ ...). 2 π 3 5

(2.2)

In Abb. 2.2 ist auch der Graph dieser Reihe dargestellt, wobei einmal nur das 1. Glied, dann alle Glieder bis zum 3., 5. und 7. Glied dargestellt sind. Man erkennt, daß mit wachsender Zahl an Gliedern die Funktion immer besser approximiert wird. Man kann zeigen, daß im Grenzwert f¨ ur unendlich viele Glieder die Reihe sogar exakt gegen die Funktion f (x) konvergiert, was das ’Ist-Gleich-Zeichen’ in Gl. (2.2) rechtfertigt. Wie im Kreyszig geeigt wird, kann die Beobachtung an diesem Beispiel auf eine große Familie an peridischen Funktionen erweitert werden, wenn zus¨atzlich zum sin noch cos-Glieder und ein konstantes Glied eingef¨ uhrt werden. Faktisch alle in der Technik vorkommenden periodischen Funktionen (z.B. Taktsignale in der Elektronik, Druckgr¨oßen in Kolbenmaschinen) k¨onnen durch eine Fourierreihe dargestellt werden. Wir erhalten dadurch einen neuen Blickwinkel auf die peridische Funktion. Wir bezeichnen die mit sin x und cos x verk¨ upften Glieder als Grundschwingung bzw. 1. Harmonische und die mit sin nx und cos nx verkn¨ upften Glieder als n. Oberschwingung bzw. n. Harmonische. In der Musik legt die Frequenz der Grundschwingung die Tonh¨ohe fest, die Oberschwingungen die Klangfarbe des Instrumentes. So ist beispielsweise die Klangfarbe des Kammertones a1 (Grundschwingung 440 Hz) bei einer Blockfl¨ote (wenig Oberschwingungen) anders als bei einer Trompete (starke Oberschwingungen).

2.1 Beispiel - symmetrische Dreieckfunktion

27

Abbildung 2.2: Peridische Dreieckfunktion (oben) und ihre Approximation durch Fourierreihen bis zum 1., 3., 5. und 7. Glied.

28

Kapitel 2: Fourierreihen

2.2

Fourierreihen - Ansatz

Wir wollen uns in diesem Kapitel zun¨achst wie im Kreyszig auf Funktionen mit der fundamentalen Periode 2π beschr¨ anken. Die Fourierreihe kann wie folgt angeschrieben werden: ∞ X

f (x) = a0 +

(an cos nx + bn sin nx).

(2.3)

n=1

Bei gegebener Funktion f (x) sind die Koeffizienten a0 , an und bn zun¨achst unbekannt. Ihre Berechnung bezeichnet man als Fourierreihenentwicklung. Sie basiert auf dem unten beschriebenen Ansatz. Die hier gezeigte Behandlung ist umfangreicher als im Kreszig. Wir nehmen an, die Reihe beschreibt die Funktion mit einem Residum (Fehler) ρ(x): ρ(x) = f (x) − a0 −

∞ X

(an cos nx + bn sin nx).

(2.4)

n=1

Das Residum sollte f¨ ur eine gesammte Periode [−π, π] betragsm¨aßig m¨oglichst klein werden. Man fordert Z π ρ2 (x)dx → min. (2.5) −π

Hier sorgt das Quadrat in Gl. (2.4) daf¨ ur, daß auch negative Fehler positiv gez¨ahlt werden (Alternative zur Betragsbildung). Durch die Integration werden die Fehler u ¨ber die gesammte Periode aufsummiert. Setzt man Gl. (2.4) in Gl. (2.5) ein, so erh¨alt man: Z

π

[f (x) − a0 − −π

∞ X

(an cos nx + bn sin nx)]2 dx → min.

(2.6)

n=1

Die Unbekannten a0 , an und bn werden durch Nullsetzen aller partiellen Ableitungen nach a0 , an und bn berechnet. Dies kann f¨ ur a0 wie folgt angeschrieben werden: ∂ ∂a0

Z

π

[f (x) − a0 − −π

∞ X

!

(an cos nx + bn sin nx)]2 dx = 0

(2.7)

n=1

Man erh¨ alt nach Durchf¨ uhrung der partiellen Ableitung und Umordnung des Ausdruckes (vergleiche Kreyszig): Z

π

Z

π

f (x)dx = a0 −π

Z dx +

−π

π

∞ X

(an cos nx + bn sin nx)dx

(2.8)

−π n=1

F¨ ur die Integrale im Summenterm auf der rechten Seite gilt: Rπ −π

cos nx dx =

Rπ −π

sin nx dx = 0, n ∈ N.

(2.9)

2.2 Fourierreihen - Ansatz

29

Die Beobachtung, daß fast alle Integrale auf der rechten Seite Null werden erleichtert die Behandlung wesentlich. Sie ist auch zentral f¨ ur den theoretischen Hintergrund der Fourierreihen. Durch diese Eigenschaft kann das konstante Glied aR0 unabh¨anig von an und bn berechnet werden. π Damit erh¨ alt man unter Ber¨ ucksichtigung von −π dx = 2π: Z π 1 f (x)dx. (2.10) a0 = 2π −π Zur Berechnung der Koeffizienten an und bn soll zun¨achst die Eigenschaft der Orthogonalit¨ at eines trigonometrischen Systems angef¨ uhrt werden: Rπ −π



cos mx cos nx dx = Rπ −π

−π

sin mx sin nx dx = 0, m, n ∈ N, m 6= n.

cos mx sin nx dx = 0, m, n ∈ N.

(2.11) (2.12)

Die Behandlung dieser Integrale kann im Kreyszig nachgelesen werden. Abb. 2.3 plausibilisiert, warum die Integrale Null werden (Symmetrieeigenschaften des Integranden). Zur Berechnung aller Koeffizienten am setzt man alle partiellen Ableitungen des Funktionals (2.6) nach am gleich Null: ∂ ∂am

Z

π

[f (x) − a0 − −π

∞ X

!

(an cos nx + bn sin nx)]2 dx = 0

(2.13)

n=1

Man erh¨ alt nach Ableiten und Umordnen (vergleiche Kreyszig): Z

π

Z

π

f (x) cos mx dx = −π

[a0 + −π

∞ X

(an cos nx + bn sin nx)] cos mx dx

(2.14)

n=1

Aufgrund der Orthogonalit¨ at geben die Integrale u ¨ber das konstante Glied und auch jene u ur m 6= n Null. Nur das ¨ber dieRsin-Glieder Null. Die Integrale u ¨ber die cos-Glieder sind f¨ π Integral −π cos mx cos mx dx = π liefert aufgrund der quadratischen Operation im Integranden ein Ergebnis gr¨ oßer Null. Man erh¨ alt somit: Z 1 π am = f (x) cos mx dx. (2.15) π −π Die Berechnung der Koeffizienten bm ist v¨ollig analog zur Berechnung der am (siehe auch Kreyszig). Daher wird hier nur das Ergebnis angeschrieben: Z 1 π bm = f (x) sin mx dx. (2.16) π −π Es soll abschließend betont werden, die Berechnung der Koeffizienten a0 , am und bm auf der Minimierung eines Funktionales (2.6) beruht. Es kann gezeigt werden, daß dieses Funktional nur

30

Kapitel 2: Fourierreihen

Abbildung 2.3: Beispiel zur Orthogonalit¨at des trigonometrischen Systems. Das obere Bild zeigt die Funktionen cos 2x und sin 3x. Das unter Feld zeigt das Produkt cos 2x sin 3x. Die gelb hinterlegte Fl¨ache entspricht dem Integral. Aufgrund der Symmetrie heben sich die positiven und negativen Fl¨achen exakt weg. Das Integral gibt Null.

2.3 Gerade und ungerade Funktionen

31

ein Extremum (Minimum) besitzt. Daher ist die Fourierreihenentwicklung ein a¨ußerst stabiles Verfahren. F¨ ur endliche, st¨ uckweise stetige periodische Funktionen konvergiert die Reihe gegen die exakte Funktion.

2.3

Gerade und ungerade Funktionen

Im Kapitel 2.1 sind in der Fourierreihe der Dreiecksfunktion nur sin-Glieder vorgekommen (a0 = a1 = ... = 0). Verantwortlich daf¨ ur ist eine besondere Symmetrieeigenschaft der in Gl. (2.1) definierten Dreiecksfunktion. Sie ist ungerade, d.h. sie ist punktsymmetrisch bez¨ uglich des Ursprunges. Es gilt: f (x) = −f (−x) ... ungerade Funktion.

(2.17)

Von allen Gliedern der Fourierreihe (2.3) sind nur die sin-Glieder punktsymmetrisch bez¨ uglich des Ursprunges (siehe Abb. 2.4). Daher kommen in der Reihenentwicklung auch nur diese Terme vor (alle an = a0 = 0). Im Gegensatz zum sin sind das konstante Glied und die cos-Glieder spiegelbildlich bez¨ uglich der Ordinate. Man spricht von geraden Funktionen: f (x) = f (−x) ... gerade Funktion.

(2.18)

In der Reihenentwicklung von geraden Funktionen kommen daher nur gerade Terme vor (alle bn = 0, siehe Abb. 2.4). Besonders in der Elektronik haben zahlreiche Signale Symmetrieeigenschaften, die bei der Berechnung der Fourierreihen ausgenutzt werden k¨onnen. Eine Funktion f (x) kann auch immer aus einem ungeraden Anteil f1 (x) und einem geraden Anteil f2 (x) zusammengesetzt werden (f (x) = f1 (x) + f2 (x)). H¨ aufig vereinfacht dies die Rechnung, wie an folgendem Beispiel gezeigt werden soll. Die periodische S¨ agenzahnfunktion f (x) sei gegeben als: x + 1, f¨ ur − π < x < π, mit f (x) = f (x + 2π). (2.19) π Diese Funktion besitzt den geraden Anteil f2 (x) = 1 mit trivialer Fourierreihe (nur konstantes Glied) und der ungeraden Anteil f1 (x) = πx (siehe Abb. 2.5). Beim ungeraden Anteil k¨onnen nur die Koeffizienten bn ungleich Null sein, was Rechenaufwand einspart und Fehlerquellen ver¨ meidet. Ubungsaufgabe: Berechnen Sie die Fourierreihe von f (x). S¨agezahnfunktionen dienen in der Elektronik/Informatik z.B. zur Horizontal- und Vertikalablengkung des Elektronenstrahles am Bildschirm. Symmetrieeigenschaften haben eine weitere praktische Bedeutung, welche hier nur kurz angedeutet werden soll (detailierte Behandlung im Kreszig). Oft haben Funktionen nur in einem endlichen Intervall ein physikalische Bedeutung. Als Beispiel sei hier z.B. die Auslenkung f (x, t) einer schwingenden Gitarrensaite genannt (t ist die Zeit). Hier ergibt die Funktion nur f¨ ur x im Intervall [0, L] (L ... L¨ ange der Saite) einen physikalischen Sinn. Außhalb ist die Funktion f (x) =

32

Kapitel 2: Fourierreihen

Abbildung 2.4: Beispiel f¨ur gerade und ungerade Funktionen. Die gleichschenkelige Dreiecksfunktion kann als ungerade (links) aber auch als gerade Funktion (rechts) definiert werden. Im ersten Fall enth¨ alt ¨ die Fourierreihe nur sin-Glieder. Im zweiten Fall nur cos-Glieder. Ubungsaufgabe: Berechnen Sie die Fourierreihen der beiden Funktionen.

Abbildung 2.5: S¨agezahnfunktion f (x) aus Gl. 2.19 (volle Linie). Sie kann aus der ungeraden Funktion f1 (x) (strichpunktiert) und der geraden, konstanten Funktion f2 (x) zusammengesetzt werden (punktiert).

2.4 Funktionen mit beliebiger Periode p = 2L

33

Abbildung 2.6: Skalierung der Abszisse. Die Variable x hat die Periode 2π, die Variable ξ hat die Periode p = 0.2.

undefiniert. Man kann dies nutzen, und sich die Funktion außerhalb der Saite beliebig periodisch vorgesetzt denken. Damit werden Grund- und Oberschwingung auf der Saite in Form von Fourierreihen behandelbar. Anlog ist auch der Einsatz von Fourier-Methoden in der digitalen (medizinischen) Bildverarbeitung zu plausibilisieren. Die Bildfunktion ist nur f¨ ur Pixel innerhalb der Bildes definiert. Außerhalb kann man sich die Funktion beliebig (also auch periodisch) vorgesetzt denken.

2.4

Funktionen mit beliebiger Periode p = 2L

Im vorigen Kapitel wurde vereinfacht angenommen die Fundamentalperiode sei 2π. Im allgemeinen Fall jedoch sei die Fundamentalperiode p. Manchmal ist es zweckm¨aßig die Abk¨ urzung L f¨ ur die halbe Fundamentalperiode einzuf¨ uhren (siehe Kreszig). Um eine klare Abgrenzung zum vorangegangenen Kapitel zu erm¨oglichen, schreiben wir hier f¨ ur die unabh¨angige Variable ξ (anstelle von x). Durch die Koordinatentransformation x=

π 2π ξ= ξ L p

(2.20)

kann jede Funktion auf das Intervall [−π, π] skaliert werden (siehe Abb. 2.6). Dann lauten die Vorschriften zur Fourierreihenentwicklung: Z 1 p f (ξ) dξ, p 0 −L Z Z 1 L mπξ 2 p 2mπξ am = f (ξ) cos dξ = f (ξ) cos dξ, L −L L p 0 p Z Z 1 L mπξ 2 p 2mπξ bm = f (ξ) sin dξ = f (ξ) sin dξ. L −L L p 0 p a0 =

1 2L

Z

L

f (ξ) dξ =

(2.21)

(2.22)

(2.23)

34

Kapitel 2: Fourierreihen

Gl. (2.21) bis (2.23) sind am Formelblatt zur Pr¨ ufung angef¨ uhrt.

2.5

Komplexe Fourierreihen

In diesem Kapitel soll gezeigt werden, daß Fourierreihen auch in komplexer Form angeschrieben werden k¨onnen. Eine (in der Praxis eher seltene) Anwendung dieses Verfahrens ist die Reihenentwicklung komplexer Funktionen fc (x). Der bedeutende Vorteil komplexer Fourier-Reihen ist die kompakte Schreibweise, die mit Hilfe der komplexen Zahlen erreicht wird. Durch diesen Vorteil bedienen sich praktisch alle Weiterentwicklungen der Fourierreihen (vor allem die ’digitalen’ Verfahren wie die FFT und die z-Transformation) der komplexen Notation. Die Betrachungen werden hier auf reelle Funktionen f (x) eingeschr¨ankt. Wir wollen uns zun¨ achst die Euler Formel eix = cos x + i sin x in Erinnerung rufen. Man kann beobachten, daß je ein cos- und sin-Term sehr kompakt in den Exponenten der e-Funktion geschrieben werden k¨ onnen. Die imagin¨are Einheit i ist dabei eine Art ’Mascherl’, welches verwendet wird um sin und cos-Term zu unterscheien. Um zu einer kompakten Schreibweise zu gelangen, notieren wir zun¨ achst (die Periode von f (x) sei 2π): einx = cos nx + i sin nx.

(2.24)

e−inx = cos nx − i sin nx.

(2.25)

Addiert man die beiden Ausdr¨ ucke (2.24) und (2.25), so erh¨alt man nach Division durch 2: 1 cos nx = (einx + e−inx ). 2

(2.26)

Damit ist es gelungen, den cos-Term als Summe zweier komplexer e-Funktionen darzustellen. Analog erh¨alt man durch Subtraktion von (2.24) und (2.25) nach Division durch 2i: sin nx =

1 inx (e − e−inx ). 2i

(2.27)

Aus Gl. (2.26) und (2.27) erh¨ alt man f¨ ur die n. Harmonische der Reihe: 1 1 an cos nx + bn sin nx = (an − ibn )einx + (an + ibn )e−inx . 2 2

(2.28)

Wir f¨ uhren nun den komplexen Fourierkoeffizienten cn = 21 (an − ibn ) ein. Weiters schreiben wir f¨ ur das konstante Glied c0 = a0 und f¨ uhren die Hilfsgr¨oße kn = 12 (an + ibn ) ein. Wir k¨onnen nun die Fourierreihe (2.3) wie folgt anschreiben: f (x) = c0 +

∞ X 1

(cn einx + kn e−inx ).

(2.29)

¨ 2.6 Ubungsaufgaben

35

Um die Schreibweise noch weiter abzuk¨ urzen, lassen wir nun auch negative Indizes f¨ ur n zu. Weiters ersetzen die Hilfsgr¨ oße durch einen komplexen Fourierkoeffizienten mit negativem Index c−n = kn : f (x) =

∞ X

cn einx .

(2.30)

−∞

¨ Gl. (2.30) ist die komplexe Fourierreihe. Sie ist das komplexe Aquivalent zur reellen Fourierreihe (2.3). Sie kann jedoch deutlich kompakter angeschrieben werden. Die komplexen Fourierkoeffizienten cn berechnen sich aus: Z π 1 cn = f (x)e−inx dx. (2.31) 2π −π ¨ Man beachte, daß es hier m¨ oglich ist, das Aquivalent zu Gl. (2.10), (2.15) und (2.16) in einem einzigen Ausdruck anzuschreiben. F¨ ur die allgemeine Periode p = 2L lauten dann die entsprechenden Beziehungen: f (ξ) =

∞ X

cn einπξ/L ,

(2.32)

−∞

cn =

1 2L

Z

L

f (ξ)e−inπξ/L dξ.

(2.33)

−L

Gl. (2.32) und (2.33) sind am Formelblatt zur Pr¨ ufung angef¨ uhrt.

2.6

¨ Ubungsaufgaben

Beispiel: Berechnen Sie die Fourierreihe (Koeffizienten a0 , an , bn ) der unten dargestellten Funktion f (x) mit der Fundamentalperiode 2L = 4. Hinweis: f (x) kann als Summe einer geraden und einer ungeraden Funktion angeschrieben werden. Geben Sie auch die Koeffizienten c−1 , c0 , c1 der komplexen Fourierreihe von f (x) an. Beispiel: Berechnen Sie die Fourierreihe (Koeffizienten a0 , an , bn ) der unten dargestellten Funktion f (x) mit der Fundamentalperiode 2L = 4. Hinweis: f (x) kann als Summe einer geraden und einer ungeraden Funktion angeschrieben werden. Geben Sie auch die Koeffizienten c−1 , c0 , c1 der komplexen Fourierreihe von f (x) an. Beispiel: Berechnen Sie die Fourierreihe (Koeffizienten a0 , an , bn ) der unten dargestellten Funktion f (x) mit der Fundamentalperiode 2L = 6. Hinweis: beachten Sie die besonderen Symmetrieeigenschaften von f (x). Geben Sie auch die Koeffizienten c−1 , c0 , c1 der komplexen Fourierreihe von f (x) an.

36

Kapitel 2: Fourierreihen

Theoriefrage: Zeigen Sie, wie man vom Fourierreihenansatz durch Minimierung des Residums die Beziehungen zur Berechnung der Koeffizienten a0 , am und bm erh¨alt. Nutzen Sie die Eigenschaft der Orthogonalit¨ at des durch die Ansatzfunktionen gebildenten Funktionensystems. Theoriefrage: Zeigen Sie, wie man durch Nutzung der Eulerformel von der Fourierreihe mit den reellen Koeffizienten a0 , an und bn zu einer komplexen Darstellung der Reihe mit den Koeffizienten cn kommt. Beispiel: Berechnen Sie die Fourierreihe mit den komplexen Koeffizienten cn der unten dargestellten Funktion f (x) = k | cos x | (Ausgangssignal des Vollweggleichrichters). Hinweis: verwenden Sie die Beziehung cos x = 12 (eix + e−ix ) zur Vereinfachung der komplexen Integration. Wie groß ist die Fundamentalperiode der Funktion ? Beispiel: Berechnen Sie die Fourierreihe mit den komplexen Koeffizienten cn der unten dargestellten periodischen Funktion f (x) = ke−|x| , f¨ ur −1 < x < 1, mit f (x) = f (x + 2).

¨ 2.6 Ubungsaufgaben

37

38

Kapitel 2: Fourierreihen

Kapitel 3 Fourierintegrale & Fouriertransformation

Durch die Fourierreihenentwicklung ist es gelungen, periodische Funktionen in Grundschwingung und Oberschwingungen zu zerlegen. Das schafft einen neuen Blickwinkel auf physikalische Probleme und technische Fragestellungen. Somit k¨onnen ein vertieftes Verst¨andnis und quantitative Ans¨atze zur Probleml¨ osung gewonnen werden. Es stellt sich die Frage, ob diese Vorteile auch f¨ ur aperiodische Funktionen nutzbar gemacht werden k¨onnen. Die Verallgemeinerung der Fourierreihen auf aperiodische Funktionen erfolgt durch Fourierintegrale. Es soll an dieser Stelle bereits vorweggenommen werden, daß die Verallgemeinerung nicht so vollst¨andig gelingt, wie dies oft zu w¨ unschen w¨are. Es gibt durchaus Funktionen von großem praktischem Interesse (z.B. die Sprungfunktion), die nicht durch Fourierintegrale behandelt werden k¨onnen. Die Funktionen, welche in diesem Kapitel behandelt werden haben zumeist impulsartigen Charakter. In der Praxis sind diese Funktionen h¨aufig zeitabh¨angige Gr¨oßen (Signale). F¨ ur solche impulsartigen Signale gelingt es, durch die Fourierintegrale exakt ihr Frequenzspektrum zu berechnen (z.B. Kippimpuls bei der Magnetresonanztomographie).

3.1 3.1.1

Fourierintegrale Beispiel - Rechteckimpuls

Wir betrachten ein periodisches Rechtecksignal fL (x) mit der Fundamentalperiode 2L > 2:  ur −L < x < −1  0 f¨ 1 f¨ ur −1 < x < 1 fL (x) =  0 f¨ ur 1 < x < L.

(3.1)

Wir untersuchen nun die Funktion im Grenz¨ ubergang L → ∞. Abb. 3.1 zeigt die Funktion fL (x) f¨ ur 2L = 4, 8, 16. Im Grenzwert besteht die Funktion nur aus einem Rechteckimpuls und ist daher aperiodisch. Wir schreiben:  f (x) = lim fL (x) = L→∞

1 f¨ ur − 1 < x < 1 0 sonst

(3.2)

40

Kapitel 3: Fourierintegrale & Fouriertransformation

Abbildung 3.1: Funktionsverlauf und Amplitudenspektra zum Beispiel Rechteckimplus (Quelle: Erwin Kreyszig, Advanced Engineering Mathematics, John Wiley & Sons Inc. 8. Ausgabe.)

Man erkennt, dass (zumindest einige) aperiodischen Funktionen als Grenzwert einer periodischen Funktion mit unendlicher Periodendauer interpretiert werden k¨onnen. Wir untersuchen als n¨achstes, wie sich die Fourierkoeffizienten an verhalten, wenn L vergr¨oßert wird. Mit Hilfe von Gl. (2.21) und Gl. (2.22) erhalten wir:

a0 =

1 2 sin(nπ/L) , an = . L L nπ/L

(3.3)

Gl. (3.3) beschreibt das Amplitudenspektrum der geraden Funktion fL (x) (alle bn = 0). Wir f¨ uhren die Abk¨ urzung ωn = nπ/L ein. (Dies ist physikalisch sinnvoll. Wenn x die Zeit ist, dann steht ω f¨ ur die Kreisfrequenz = 2π mal Frequenz). Wie aus Abb. 3.1 ersichtlich, hat die H¨ ullkurve des Spektrums immer die Form sin(ωn )/ωn . Die Amplitude des Spektrums sinkt mit 1/L, hingegen nimmt die Dichte der Amplituden im gleichen Ausmaß zu. Es ist naheliegend, diese Beobachtung auszunutzen. F¨ uhrt man eine spektrale Amplitudendichte ein, bei der sich die beiden beschriebenen Effekte kompensieren, so ist das Ergebnis unabh¨angig von L. Dies erfolgt im n¨achten Abschnitt.

3.1 Fourierintegrale

3.1.2

41

Grenz¨ ubergang zum Fourierintegral

Wir betrachten nun eine beliebige periodische Funktion fL (x) mit der Fundamentalperiode 2L. Sie besitzt die Fourierreihe: fL (x) = a0 +

∞ X

(an cos ωn x + bn sin ωn x), ωn =

n=1

nπ . L

(3.4)

Hier ist ωn wie im Beispiel oben definiert. Um den Grenz¨ ubergang L → ∞ durchf¨ uhren zu k¨onnen, ersetzen wir die Koeffizienten a0 , an und bn durch Gl. (2.21), (2.22) und (2.23). Da die Variable x bereits vergeben ist, nennen wir die Laufvariable zur Integration v: fL (x) =

Z

1 2L

L

fL (v)dv + −L

Z L ∞ 1X fL (v) cos ωn vdv [cos ωn x L −L n=1 Z L + sin ωn x fL (v) sin ωn vdv].

(3.5)

−L

Um die Beobachtungen aus dem Bespiel oben zu nutzen, f¨ uhren wir die Variable ∆ω = π/L f¨ ur den Abstand zwischen zwei Harmonischen ein. Man beachte, daß dies dem Kehrwert der Amplitudendichte im Spektrum entspricht. Wir erstetzen in Gl. (3.5) 1/L vor dem Summenterm mit ∆ω/π und ziehen ∆ω in die Summe: fL (x) =

1 2L

Z

L

fL (v)dv + −L

Z L ∞ 1X [cos ωn x∆ω fL (v) cos ωn vdv π −L n=1 Z L + sin ωn x∆ω fL (v) sin ωn vdv].

(3.6)

−L

Man erkennt, daß der Summenterm einer den Riemannsummen ¨ahnliche Form annimmt. Im Gegensatz zu den Riemannsummen wird aber u ¨ber ein unendliches Intervall summiert. Daher wird im Grenzwert L → ∞ die Summe zu einem uneigentlichen Integral (∆ω → dω). Um die Existentz des uneigentlichen Integrales zu gew¨ahrleisten, muß u ¨ber die Funktion fL (x) entsprechend verf¨ ugt werden. ur ist, daß f (x) absolut integrierbar R ∞Eine hinreichende Bedingung hierf¨ ist. D.h. das Integral −∞ | f (x) | dx existiert. Man beachte, daß dies eine starke Einschr¨ankung darstellt, welche die Anwendbarkeit des Verfahrens (wie oben diskutiert) eingrenzt. Durch die Eigenschaft der Absolut-Integrierbarkeit wird der erste Term auf der rechten Seite von 3.6 (stammt vom konstanten Glied her) im Grenzwert L → ∞ Null. Man erh¨alt: 1 f (x) = π

Z

∞

Z



cos ωx 0

Z



f (v) cos ωvdv + sin ωx −∞

 f (v) sin ωvdv dω.

(3.7)

−∞

Hierbei wurde aus den diskreten Werten ωn die kontinuierliche Funktion ω. Es soll betont werden, daß (in Analogie zum Kreszig) der Grenzwert¨ ubergang hier nur plausibilisiert wurde, jedoch nicht in Form einer vollst¨ andigen mathematischen Behandlung vollzogen wurde. Wir

42

Kapitel 3: Fourierintegrale & Fouriertransformation

beobachten, daß die Integrale mit dem Funktionsargument v analog wie die Definition der Koeffizienten bei der Fourierreihe sind. Es ist daher naheliegend, folgende Abk¨ urzungen einzuf¨ uhren: Z Z 1 ∞ 1 ∞ A(ω) = f (x) cos ωx dx, B(ω) = f (x) sin ωx dx. (3.8) π −∞ π −∞ Die kontinuierlichen Funktionen A(ω) und B(ω) f¨ ur die aperiodische Funktion f (x) sind das Analogon zu den Koeffizienten an und bn einer periodischen Funktion. Entspricht die Variable x der Zeit, so beschreiben A(ω) und B(ω) das exakte Frequenzspektrum der Funktion. Es sei hier bemerkt, daß nur Fourierintegrale die exakte Berechnung von Spektren erlauben. Digitale Verfahren wie z.B. die Fast-Fourier-Transformation liefern lediglich Sch¨atzwerte der gesuchten Spektren. Ist das Spektrum A(ω) und B(ω) bekannt, so kann die zugeh¨orige Funktion f (x) wie folgt berechnet werden: Z ∞ f (x) = [A(ω) cos ωx + B(ω) sin ωx]dω. (3.9) 0

Man bezeichnet Gl. (3.9) auch als Fourierintegraldarstellung der aperiodischen Funktion f (x). Sie ist das Analogon zur Fourierreihe einer periodischen Funktion. Gl. (3.8) und (3.9) sind am Beiblatt zur Pr¨ ufung angegeben. 3.1.3

Anwendungsbeispiel: MRT-Kippimpuls

Bei der Magnetresonanztomographie wird durch die Kombination eines Gradientenfeldes mit einem Kippimpuls das Schichtbild ausgew¨ahlt. Abb. 3.2 zeigt das Prinzip. Nach Anlegen des Gradientenfeldes ist die Resonanzfrequenz eine Funktion des Ortes. Will man die Magnetisierung in einer Schicht mit endlicher Dicke kippen, so muß der Kippimpuls Frequenzanteile in einem Interval [ω0 −∆ω, ω0 +∆ω] enthalten. Hier bestimmt der Parameter ω0 die Lage der Schichtmitte und ∆ω die Schichtdicke. Außerhalb der Schicht sollen die Frequenzanteile im Idealfall Null sein. Wir beobachten, daß das gew¨ unschte Spektrum z.B. nur mit sin-Gliedern erzeugt werden kann (entspricht der Festlegung des Zeitpunktes Null) und w¨ahlen A(ω) ≡ 0, sowie:  k f¨ ur ω0 − ∆ω < ω < ω0 + ∆ω B(ω) = (3.10) 0 sonst. Hierbei sollen alle Spins in der Schicht gleichm¨aßig mit der Amplitude k angeregt werden. Damit erhalten wir f¨ ur die Fourierintegraldarstellung des Kippimpulses f (x): Z

ω0 +∆ω

f (x) = k

sin ωx dω,

(3.11)

ω0 −∆ω

und nach Integration den Kippimpuls: f (x) =

k {cos[(ω0 − ∆ω)x] − cos[(ω0 + ∆ω)x]}. x

(3.12)

3.1 Fourierintegrale

43

Abbildung 3.2: Exemplarische Darstellung des Prinzips der Schichtauswahl bei der Magnetresonanztomographie. Nach dem Anlegen eines Gradientenfeldes (oben) entsprechen niedrige Resonanzfrequenzen ω kaudalen Regionen, hohe ω den kranialen Regionen (unten). Bild modifiziert aus Hans H. Schild, MRI made easy (... well almost), Schering AG - Druckhaus Berlin.

Abbildung 3.3: Berechneter MRT-Kippimpuls (dicke Linie). Die H¨ullkurve ist strichliert gezeichnet.

Dies kann mit Hilfe des Summensatzes werden: f (x) = 2k

cos α−cos β=−2 sin( α+β ) sin( α−β ) 2 2

sin(∆ωx) sin(ω0 x). x

wie folgt angeschrieben

(3.13)

Abb. 3.3 zeigt den berechneten Kippimpuls. Der Term sin(∆ωx)/x legt die H¨ ullkurve der Funktion fest. Die Mittenfrequenz ω0 der Schicht findet sich im Term sin(ω0 x) wieder. Praktisch l¨aßt sich der berechnete Kippimpuls nur n¨aherungsweise realisieren, da eine Begrenzung auf endliche Dauer erforderlich ist. Durch diese Begrenzung kommt es - durch das im Kreszig beschriebene Gibb’sche Ph¨ anomen - zu Oszillationen im Anregungsprofil B(ω). In machen Anwendungen ist dies st¨ orend, und es werden daher modifizierte Kippimpulse verwendet. Bei der typischen Kippimplusdauer von wenigen ms liegt ∆f = ∆ω/2π in der Gr¨oßenordnung von einem kHz. Bei einer Grundfeldst¨ arke von 1.5 T wird f0 = ω0 /2π rund 64 MHz.

44

3.2

Kapitel 3: Fourierintegrale & Fouriertransformation

Fouriertransformation

Im Kapitel 2.5 wurde durch Einf¨ uhren einer komplexen Notation eine kompakte Schreibweise erreicht. Auch das oben einge¨ uhrete Fourierintegral kann mit Hilfe der komplexen Zahlen in eine kompakte Form gebracht werden, die man als Fouriertransformation bezeichnet. Um zur Fouriertransformation zu gelangen setzen wir zun¨achst die beiden Fourierintegrale in Gl. (3.8) in die Fourierintegraldarstellung (3.9) ein. Wir erhalten: Z Z 1 ∞ ∞ f (x) = f (v)[cos ωx cos ωv + sin ωx sin ωv] dvdω. (3.14) π 0 −∞ Man beachte, daß diese Beziehung durch Umordnen auch aus Gl. (3.7) erhalten werden kann. Der Term in der eckigen Klammer kann mit Hilfe des Summensatzes cos α cos β+sin α sin β=cos(α−β) nach Umordnung auch wie folgt angeschrieben werden:  Z Z ∞ 1 ∞ f (x) = f (v) cos(ωx − ωv) dv dω. (3.15) π 0 −∞ Wir beobachten, daß der Term in der eckigen Klammer den Integranden des a¨ußeren Integrales u ¨ber dω darstellt. Da im Integranden ω nur im cos vorkommt, ist der Integrand eine gerade Funktion. Aufgrund der Symmetrie bez¨ uglich der Ordinate k¨onnen wir die Integrationsgrenzen ¨andern und schreiben schreiben:  Z ∞ Z ∞ 1 f (x) = f (v) cos(ωx − ωv) dv dω. (3.16) 2π −∞ −∞ Durch diese Manipulation ist in beiden Integralen von −∞ bis ∞ zu integrieren, was sich positiv auf die Symmetrieeigenschaften der Transformation auswirkt. Um die komplexe Schreibweise einzuf¨ uhren wird ein Trick verwendet. Wir ersetzen in Gl. (3.16) den cos durch den sin und beobachten, daß dieses Integral Null geben muß, da im Integranden eine ungerade Funktion steht.  Z ∞ Z ∞ 1 f (v) sin(ωx − ωv) dv dω = 0. (3.17) 2π −∞ −∞ Wir k¨onnen daher den Integranden in (3.16) mit Hilfe der Euler Formel wie folgt erweitern: cos(ωx − ωv) + i sin(ωx − ωv) = ei(ωx−ωv) ,

(3.18)

da das Integral u upften Imagin¨arteil immer Null gibt. Wir ¨ber den mit dem sin-Term verkn¨ erhalten: Z ∞Z ∞ 1 f (x) = f (v)ei(ωx−ωv) dvdω. (3.19) 2π −∞ −∞

3.2 Fouriertransformation

45

Um zur Fouriertransformation zu gelangen, dr¨ ucken wir die Exponentialfunktion in Gl. (3.19) als Produkt von Exponentialfunktien ei(ωx−ωv) =eiωx e−iωv aus. Weiters schreiben wir, um zu einer 1 symmetrischen Transformationsbeziehung zu gelangen: 2π = √1 √1 . Wir erhalten: 2π 2π 1 f (x) = √ 2π

Z



−∞



Z

1 √ 2π



f (v)e

−iωv



dv eiωx dω.

(3.20)

−∞

Diese Gleichung hat eine ¨ ahnliche Form wie Gl. (3.7), u ¨ber welche die Fourierintegrale eingef¨ uhrt wurden. Der wesentliche Unterschied ist, daß die sin und cos Terme durch Exponentialfunktionen mit komplexen Exponenten ersetzt wurden. Analog zur Definition der Fourierintegrale definieren wir die Fouriertransformation: 1 fˆ(ω) = √ 2π



Z

f (x)e−iωx dx.

(3.21)

−∞

Das Analogon zur Fourierreihendarstellung ist die inverse Fouriertransformation: 1 f (x) = √ 2π

Z



fˆ(ω)eiωx dω.

(3.22)

−∞

Man beachte die Symmetrie der Transformationsbeziehungen (3.21) und (3.22). Diese Transformationsbeziehungen werden auch am Beiblatt zur Pr¨ ufung angegeben. Das Wesen einer Transformation ist, daß eine Funktion einer Variable f (x) in eine Funktion einer anderen Variable fˆ(ω) u uhrt werden kann und umgekehrt. H¨aufig ist bei der Fou¨bergef¨ riertransformation eine physikale Interpretation der Variablen m¨oglich. Ist zum Beispiel x die Zeit, so entspricht ω der Kreisfrequenz. Damit hat der Betrag von fˆ(ω) die physikalische Bedeutung eines Spektrums. H¨ aufig verwendet man in Zusammenhang mit der Fouriertransformation zeitabh¨angiger Gr¨ oßen die Begriffe Zeitbereich und Frequenzbereich. Wir haben am Bespiel des MRT-Kippimpulses gesehen, daß oft anwendungsnahe Probleme besser im Frequenzbereich angeschrieben werden k¨ onnen. Eine weitere Anwendung ist, daß sich mache im Zeitbereich formulierte Fragestellungen besser im Frequenzbereich l¨osen lassen. Beispiele hierf¨ ur werden in der Vorlesung behandelt.

3.2.1

Eigenschaften der Fouriertransformation

Die in Gleichung (3.21) definierte Fouriertransformation kann durch die verk¨ urzte Schreibweise ˆ f (ω) = F{f (x)} angeschrieben werden. Die inverse Fouriertransformation (3.22) kann in der Form f (x) = F −1 {fˆ(ω)} angeschrieben werden. Diese kompakte Notation ist bei der Darstellung der wichtigsten Eigenschaften der Fouriertransformation n¨ utzlich.

46

Kapitel 3: Fourierintegrale & Fouriertransformation

Linearit¨ at Die Fouriertransformation ist eine lineare Operation. Es existieren die Fouriertransformationen der beiden Funktionen f (x) und g(x) und weiters seien a und b zwei beliebige (komplexe) Konstanten, so gilt: F{af (x) + bg(x)} = a F{f (x)} + b F{g(x)}.

(3.23)

Beweis: Die Linearit¨ art der Fouriertransformation folgt aus der Linearit¨at der Integration. R∞ F{af (x) + bg(x)} = √12π −∞ [af (x) + bg(x)]e−iωx dx R∞ R∞ = √a2π −∞ f (x)e−iωx dx + √b2π −∞ g(x)e−iωx dx = a F{f (x)} + b F{g(x)}.

(3.24)

Analog dazu ist auch die inverse Fouriertransformation linear. Verschiebungsatz Wird die Funktion f (x) um die Zeit T verschoben, so erh¨alt man f¨ ur die verschobene Funktion g(x) = f (x − T ). F¨ ur die Fouriertransformierte dieser Funktion kann man schreiben: 1 F{g(x)} = √ 2π

Z



1 g(x)e−iωx dx = √ 2π −∞

Z



f (x − T )e−iωx dx.

(3.25)

−∞

Wir f¨ uhren nun f¨ ur die Integration u ¨ber die Zeit x eine um T verschobene Zeitachse ξ = x − T ein und erhalten: R∞ F{g(x)} = √12π −∞ f (ξ)e−iω(ξ+T ) dξ −jωT R ∞ (3.26) = e√2π −∞ f (ξ)e−iω(ξ) dξ −jωT =e F{f (x)}. Die Integration u ¨ber die Zeitachse ξ gibt aber genau die Fouriertransformierte von f (x). Wir k¨onnen schreiben: F{f (x − T )} = e−jωT F{f (x)}.

(3.27)

Eine Verschiebung um T im Zeitbereich entspricht daher im Frequenzbereich einer Multiplikation mit e−jωT . Man beachte, daß der Betrag | e−jωT | immer genau eins ist. Wie zu erwarten, wird der Betrag der Fouriertransformierten als Funktion von ω durch eine zeitliche Verschiebung nicht ver¨ andert. Eine zeitliche Verschiebung der Funktion ¨andert daher nur die Real- und Imagin¨aranteile der Transformierten bei unver¨andertem Betrag.

3.2 Fouriertransformation

47

Ableitungen Es sei f (x) stetig mit den Grenzwerten lim|x|→∞ f (x) = 0, und es sei die 1. Ableitung der Funktion f 0 (x) absolut integrierbar. Dann gilt: F{f 0 (x)} = iωF{f (x)}.

(3.28)

Beweis: Die Fouriertransformation der 1. Ableitung kann wie folgt angeschrieben werden: Z ∞ 1 0 √ f 0 (x)e−iωx dx. (3.29) F{f (x)} = 2π −∞ Durch partielle Integration erh¨ alt man:   Z ∞ 1 −iωx F{f 0 (x)} = √ f (x)e−iωx |∞ −(−iω) f (x)e dx . −∞ 2π −∞

(3.30)

Da die Funktion f (x) in den Grenzwerten | x |→ ∞ Null wird, erhalten wir: F{f 0 (x)} = 0 + iωF{f (x)}.

(3.31)

Man beachte, daß die Ableitung einer Funktion im Zeitbereich einer einfachen Multiplikation im Frequenzbereich entspricht. Diese Beziehung ist daher u.a. f¨ ur die Signalverarbeitung von hohem Interesse. Durch mehrfache Anwendung von Gl. (3.28) k¨onnen auch Ausagen u ¨ber Ableitungen h¨oherer Ordnung getroffen werden. Beispielsweise erh¨alt man f¨ ur die zweite Ableitung: F{f 00 (x)} = −ω 2 F{f (x)}.

(3.32)

D.h. n-faches Ableiten im Zeitbereich entspricht der Multiplikation mit (iω)n im Frequenzbereich. Daher nehmen im Zeitbereich formulierte Differentialgleichungen im Frequenzbereich die Form von algebraischen Gleichungen an. Die Fouriertransformation kann daher auch ein n¨ utzliches Werkzeug zur L¨ osung von Differentialgleichungen sein, wie unten an einem Beispiel demonstriert wird. Bei unseren Betrachtungen zur Fouriertransformation der Ableitung einer Funktion wurde Eingangs gefordert, daß f (x) stetig sei. Mit Hilfe der Theorie der Distributionen kann die Gltigkeit von Gl. (3.28) auch auf st¨ uckweise stetige, fourierfransformierbare Funktionen (z.B. Rechteckimpuls) erweitert werden. Dies erweitert die Anwendbarkeit erheblich. Filter - L¨ osung im Frequenzbereich In dieser Anwendung soll die L¨ osung einer Differentialgleichung mit Hilfe der Fouriertransformation gezeigt werden. Hierzu wird wird ein Tiefpaßfilter 1. Ordnung betrachtet, an dessen Eingang ein Rechteckimpuls gelegt wird. In der digitalen Schaltungstechnik k¨onnte diese Konfiguration

48

Kapitel 3: Fourierintegrale & Fouriertransformation

algebraische Gleichung

-

L¨osung im Frequenzbereich

6

F −1

F ?

direkte L¨ osung

Differentialgleichung

-

L¨osung im Zeitbereich

Abbildung 3.4: Schematische Darstellung der L¨osung von linearen Differentialgleichungen mittels Fouriertransformation. b

ue (t) 6

r

b

R

U

ue (t)

ua (t) C

−T

T

t

b

r

b

Abbildung 3.5: Tiefpaß 1. Ordnung mit Rechteckimpuls am Eingang. beispielweise dazu dienen, ein verrauschtes Nutzsignal von einem hochfrequentem St¨orsignal zu trennen. Selbstverst¨ andlich kann man dieses Beispiel auch mit den herk¨ommlichen Methoden der Differentialrechnung l¨ osen (partikul¨are L¨osung einer Differentialgleichung 1. Ordnung). Vom Rechenaufwand sind beide L¨ osungswege in etwa vergleichbar. Der Vorteil der L¨osung mittels Fouriertransformation ist, daß das Arbeiten im Frequenzbereich einen zus¨atzlichen Blickwinkel auf die Problemstellung schafft und damit u.a. eine Aussage u ¨ber die Grenzfrequenz des Filters m¨oglich wird. Abb. 3.4 zeigt eine schematische Darstellung der beiden L¨osungswege. In diesem Abschnitt soll nur die L¨ osung im Frequenzbereich angegeben werden. Die L¨osung im Zeitbereich wird in einem eigenen Kapitel berechnet. In diesem Anwendungsbeispiel soll die Notation der in der Praxis verwendeten Schreibweise angepaßt werden. Da die unabh¨ angige Variable der Zeit entspricht, schreiben wir t anstelle von x. Abb. 3.5 zeigt das Tiefpaßfilter mit dem Widerstand R und der Kapazit¨at C. Die Spannung ue (t) am Eingang ist durch einen Rechteckimpuls mit der Amplitude U und der Dauer 2T gegeben. Gesucht ist die Spannung ua (t) am Filterausgang. Sie wird durch die Differentialgleichung RC

dua (t) + ua (t) = ue (t) dt

(3.33)

bestimmt. Die Herleitung dieser Beziehung basiert auf den Gesetzen der Elektrodynamik. Sie wird wird hier nicht angegeben, da dies nicht Teil der Vorlesung ist. Das Produkt RC definiert die typisches Zeitkonstante τ des Systems (τ = RC). Die Anwendung der Fouriertransformation auf Gl. (3.33) kann wie folgt angeschieben werden:

3.2 Fouriertransformation

49

F{τ

dua (t) + ua (t)} = F{ue (t)}. dt

(3.34)

Aufgrund der Linearit¨ at der Fouriertransformation erh¨alt man: τ F{

dua (t) } + F{ua (t)} = F{ue (t)}. dt

(3.35)

Die 1. Ableitung kann durch eine Multiplikation mit iω ersetzt werden: (iωτ + 1)F{ua (t)} = F{ue (t)}.

(3.36)

Es ist zweckm¨ aßig f¨ ur die in den Frequenzbereich transformierten Funktionen die Abk¨ urzungen u ˆe (ω) bzw. u ˆa (ω) einzuf¨ uhren und den Ausdruck so umzuordnen, daß die unbekannte Funktion am Filterausgang auf der linken Seite der Gleichung steht: u ˆa (ω) =

1 u ˆe (ω). 1 + iωτ

(3.37)

Man kann beobachten, daß f¨ ur kleine Kreisfrequenzen (ωτ  1) die Fouriertransformierte der Ausgangspannung n¨ aherungsweise gleich jener der Eingangsspannung wird (ˆ ua ' u ˆe ). Man sagt, das Filter l¨aßt diese Frequenzen durch. F¨ ur hohe Kreisfrequenzen (ωτ  1) wird die Ausgangsu ˆe spannung ged¨ ampft (ˆ ua ' iωτ ). Man sagt, das Filter sperrt. Aufgrund dieser Beobachtung ist es zweckm¨aßig die Grenzfrequenz ωg des Filters so zu definieren, daß gilt: ωg τ = 1. Man erh¨alt: ωg =

1 . τ

(3.38)

Bisher wurde die gegebene Eingangsspannung ue (t) noch nicht in der Rechnung ber¨ ucksichtigt. Die Ergebnisse oben gelten daher allgemein f¨ ur alle fouriertransformierbaren Eingangsfunktionen. F¨ ur das gegenw¨ artige Beispiel erhalten wir durch Fouriertransformation der Eingangsspannung ue (t): r 2 sin T ω u ˆe (ω) = U . (3.39) π ω Damit kann die L¨ osung im Frequenzbereich wie folgt angeschrieben werden: r 2 U sin T ω u ˆa (ω) = . π 1 + iωτ ω

(3.40)

Man beachte, daß die Konstante τ eine Eigenschaft des Filters (Grenzfrequenz) festlegt, w¨ahrend

50

Kapitel 3: Fourierintegrale & Fouriertransformation

Abbildung 3.6: Frequenzspektrum am Eingang (blau) und Ausgang des Tiefpasses f¨ur f¨ur τ = 0.5 s (magenta) bzw. tau = 2 s (gr¨ un). In allen F¨allen wurde T = 1 s und U = 1 V gew¨ahlt. Links ist das Spektrum in einem linearem Plot, rechts in einem doppelt logarithmischen Plot dargestellt.

T eine Eigenschaft des Eingangssignals (Impulsdauer) festlegt. In der Praxis soll zumeist bei gegebener Impulsdauer eine geeignete Grenzfrequenz gew¨ahlt werden. Abb. 3.6 zeigt exemplarisch das Spektrum der Eingangs- und Ausgangsspannung f¨ ur einige spezielle Werte der Konstanten. Rein formal kann die R¨ ucktransformation der L¨osung in den Zeitbereich durch Einsetzen der Frequenzbereichsl¨ osung (3.40) in die inverse Fouriertransformation (3.22) erfolgen. Leider f¨ uhrt diese Vorgehensweise zumeist auf Integrale, die auf herk¨ommlichem Wege mit vertretbarem Aufwand kaum l¨ osbar sind. So erhalten wir beispielsweise f¨ ur die Problemstellung in diesem Kapitel: U ua (t) = π

Z



−∞

1 sin T ω iωt e dω. 1 + iωτ ω

(3.41)

Im n¨achsten Kapitel wird das Faltungstheorem behandelt, welches die L¨osung dieses Integrals erm¨oglicht. Zun¨ achst soll aber noch eine Beobachtung gemacht werden, welche die Betrachtungen im n¨achsten Abschnitt motiviert. Im Integranden von Gl. (3.41) steht das Produkt der 1 Terme 1+iωτ und sinωT ω . F¨ ur jeden dieser beiden Terme ist die inverse Transformation bekannt und kann im Kreszig nachgelesen werden. Ein Zweck der Faltung ist es - basierend auf den bekannten inversen Transformationen der Einzelterme - die inverse Transformation des gesammten Ausdrucks zu erm¨ oglichen. 3.2.2

Faltung

Es soll in diesem Kapitel zun¨ achst die Definition der Faltung angegeben und deren Funktion an einem Beispiel gezeigt werden. Erst dann wird auf das f¨ ur die Fouriertransformation so wichtige Faltungstheorem eingegangen. Die Faltung (engl. convolution) f ∗ g(x) zweier Funktionen f (x) und g(x) ist definiert als: Z



h(x) = f ∗ g(x) =

Z



f (p)g(x − p)dp = −∞

f (x − p)g(p)dp. −∞

(3.42)

3.2 Fouriertransformation

51

Abbildung 3.7: Faltung der Beispielfunktionen f und g aus Gl. (3.43). Auf der linken Seite sind die Funktionen f (p) und g(x − p) f¨ ur x = -2, -4 und -6 dargestellt. Rechts ist das Ergebnis der Faltung. Die Stellen x = -2, -4 und -6 sind markiert.

Beispiel: Es seien  f (x) =

1 f¨ ur | x |< 4 0 sonst,

 g(x) =

1 f¨ ur | x |< 1 0 sonst.

(3.43)

R∞ ur x =-6, -4 und -2. Abb. 3.7 zeigt die Auswertung des Faltungsintegrals −∞ f (p)g(x − p)dp f¨ An der Stelle x = −6 gibt das Integral Null, da f¨ ur jedes p immer entweder g oder f gleich Null ist (Pulse u ¨berlappen nicht). An der Stelle x = −4 gibt das Integral 21 , da das Reckeck in f mit der ¨ H¨alfte der Rechteckfunktion g (Gesammtfl¨ache ist 1) u An der ¨berlappt (teilweise Uberlappung). Stelle x = −2 gibt das Integral 1, da die beiden Rechtecke vollst¨andig u ¨berlappen. Man erkennt, daß f¨ ur steigendes x das Spiegelbild von g von links nach rechts u uher ¨ber f gezogen wird. Fr¨ wurde dies gerne mit einem Blatt Transparentpapier dargestellt, auf dem links die Funktion f und rechts die Funktion g aufgezeichnet war. Biegt oder faltet man das Blatt in der Mitte, so kann man g u ¨ber f bringen. Daher stammt der Name Faltung.

52

Kapitel 3: Fourierintegrale & Fouriertransformation

Das hier gezeigte Beispiel hat einen praktischen Hintergrund. Man kann die Funktion f als digitales Signal betrachten. Die Impulsbreite von g mittelt immer genau jener Teil einer Funktion f mit der sie bei der Faltung u ¨berlappt. Wre der Funktion f ein hochfrequentes St¨orsignal (Rauschen) u urde dieses durch die Faltung unterdr¨ uckt. Man kann ¨berlagert, so w¨ durch Faltung also mathematische Filteroperationen ausf¨ uhren. Diese werden vor allem in der digitalen Signal- und Bildverarbeitung gerne eingesetzt, da damit digitale Filter realisiert werden k¨onnen, welche durch analoge Schaltkreise nicht realisierbar sind. Man bezeichnet g dann als Filterkern. In unserem Beispiel war der Filterkern ein Rechteckimpuls. Das dadurch realisierte Filter wird als ’Moving-Average’ Filter bezeichnet. Im Beispiel oben war die Funktion f (x) nicht fouriertransformierbar. Wir wollen uns nun auf das Faltungstheorem bei der Fouriertransformation konzentrieren und daher im weiteren fordern, daß f (x) und g(x) fouriertransformierbar seien. Es gilt dann F{f ∗ g(x)} =



2πF{f (x)}F{g(x)}.

(3.44)

Beweis: Setzt man das Faltungsintegral aus (3.42) in das Faltungstheorem ein, so erh¨alt man indem man die Fouriertransformation auf der rechten Seite ausschreibt: 1 F{f ∗ g(x)} = √ 2π



Z

−∞



Z

f (x − p)g(p)e−iωx dxdp.

(3.45)

−∞

Hierbei wurde auch die Reihenfolge der Integration vertauscht. Wir substituieren jetzt q = x − p und erhalten: 1 F{f ∗ g(x)} = √ 2π

Z



Z

−∞



f (q)g(p)e−iω(p+q) dqdp.

(3.46)

−∞

Dieses Doppelintegral kann in zwei Integrale mit je einer Variablen geteilt werden und liefert das Faltungstheorem: Z ∞ Z ∞ 1 F{f ∗ g(x)} = √ f (q)e−iωq dq g(p)e−iωp dp (3.47) −∞ √ 2π −∞ = 2πF{f (q)}F{g(p)}. Wendet man die inverse Fouriertransformation auf das Faltungstheorem an, so erh¨alt man: Z ∞ (f ∗ g)(x) = fˆ(ω)ˆ g (ω)eiωx dω. (3.48) −∞

Diese Beziehung wird im kommenden Abschnitt zur R¨ ucktransformation der Filterausgangsspannung in den Zeitbereich verwendet.

3.2 Fouriertransformation

3.2.3

53

Filter - L¨ osung im Zeitbereich

Wir schreiben zun¨ achst Gl. (3.41) aus Kapitel 3.2.1 nochmals an: Z 1 sin T ω iωt U ∞ ua (t) = e dω. π −∞ 1 + iωτ ω

(3.49)

Weiters u ¨bernehmen wir folgende Transformationsbeziehungen aus dem Kreyszig und schreiben t anstelle f¨ ur x, da es sich um zeitabh¨angige Funktionen handelt:  −t/τ 1 τ e f¨ ur t < 0 ˆ f (t) = (3.50) , f (ω) = √ 0 sonst 2π 1 + iωτ und  g(t) =

1 f¨ ur | t |< T , gˆ(ω) = 0 sonst

r

2 sin T ω π ω

Wir k¨onnen nun mit Hilfe der Faltung die Ausgangsspannung wie folgt darstellen: r Z U ∞ τ 1 2 sin T ω iωt U √ e dω. ua (t) = (f ∗ g)(t) = τ τ −∞ 2π 1 + iωτ π ω Wir erhalten, indem wir das Faltungsintegral ausschreiben:   f¨ ur t < −T Z ∞  0 R U U t+T −p/τ e dp f¨ ur − T < t < T , ua (t) = f (p)g(t − p)dp = τ 0  τ −∞  U R t+T e−p/τ dp f¨ ur t > T τ t−T

(3.51)

(3.52)

(3.53)

und nach L¨ osung der Integrale die Ausgangsspannung im Zeitbereich:   0 U [1 − e−(t+T )/τ ] ua (t) =  2U sinh ( Tτ )e−t/τ

f¨ ur t < −T f¨ ur − T < t < T . f¨ ur t > T

(3.54)

Abb. 3.8 zeigt exemplarisch die Faltung f¨ ur t =-2, 0 und 2, sowie die Spannungen ue (t) und ua (t) f¨ ur spezielle Werte der Konstanten. 3.2.4

Dirac Impuls

In der Technik ist h¨ aufig die Antwort eines Systems auf eine sehr kurze impulsf¨ormige Erregung von Interesse (z.B. Stoß in einem mechanischen System). Der Begriff kurz ist hier so zu verstehen, daß die Dauer des Impulses kurz gegen alle Eigenzeitkonstanten des Systems ist. In Abb. 3.9 ist die f¨ ur das Tiefpaßfilter aus Abschnitt 3.2.1 die Ausgangsspannung f¨ ur die Erregung mit kurzen

54

Kapitel 3: Fourierintegrale & Fouriertransformation

Abbildung 3.8: Faltung der Funktionen f (p) und g(t − p) (rot strichliert) aus dem Anwendungsbeispiel Tiefpaßfilter f¨ ur t =-2, 0 und 2 (links). Die Konstanten wurden analog zu oben gew¨ahlt: U =1 V, T =1 s, und τ =0.5 s (magenta) bzw. τ =2 s (gr¨ un). Rechts ist die Eingangsspannung ue (t) und die Ausgangsspannung ua (t) dargestellt.

3.2 Fouriertransformation

55

Abbildung 3.9: Impulsantwort des Tiefpaßfilters aus Abb. 3.5 f¨ur verschiedene kurze Impulse mit identischer Fl¨ ache 1 Vs. Oben links: Vergleich von zwei Rechteckimpulsen mit 0.2 s (rot) und 0.1 s (gr¨ un) Dauer. Oben rechts: Vergleich eines Rechteckimpulses mit einem Dreieckimpuls (blau). Unten: Impulsantwort am Ausgang des Filters mit Zeitkonstante τ =1 s. Die farbliche Zuordnung ist gleich wie am Eingang des Filters. Die strichlierte Kurfe ist die Antwort auf einen Dirac-Impuls.

56

Kapitel 3: Fourierintegrale & Fouriertransformation

Impulsen gleicher Fl¨ ache dargestellt. Man erkennt, dass diese kaum von der Form des Impulses abh¨angt, solange dieser kurz genug ist. Ausgehend von dieser Beobachtung erscheint es zweckm¨aßig f¨ ur kurze Impulse (im Grenz¨ ubergang unendlich kurze Impulse) geeignete Methoden zu schaffen, welche durch Vernachl¨assigung der Kurvenform bei gegebener Fl¨ache eine Vereinfachung der Rechnung erm¨oglichen. Die wird durch die Einf¨ uhrung des Dirac Impulses erreicht. Die Einf¨ uhrung des Dirac Impulses orinetiert sich hier wiederum grunds¨atzlich am Lehrbuch von Erwin Kreyszig. Dieser wird hier jedoch hier jedoch f¨ ur die Fouriertransformation eingef¨ uhrt, w¨ahrend im Kreyszig der Dirac Impuls f¨ ur die verwandte Laplace Transformation eingef¨ uhrt wird. Zur Vereinfachung soll ein Rechteckimpuls mit der Dauer T und der Fl¨ache eins betrachtet werden:  1/T f¨ ur − T2 < x < T2 fT (x) = (3.55) 0 sonst Ohne Beweis soll festgehalten werden, daß das Ergebnis auch fr jede andere Kurvenform eines Impulses von endlicher Dauer g¨ ultig ist. Durch die Festlegung der Flche auf eins mußdie Amplitude des Impulse fT (x) dem Kehrwert der Impulsdauer T entsprechen. Damit nimmt mit Verkrzung der Dauer die Amplitude zu und geht im Grenzwert T → 0 gegen unendlich. 3.2.5

Verwandte Transformationen

Bei der Fouriertransformation ist die zu transformierende Funktion f (x) in Form einer analytischen Gleichung gegeben. Der Wunsch, dieses Verfahren auch auf gemessene Signale (z.B. EEG, EKG) anwenden zu k¨ onnen, hat zur Entwicklung der Diskreten Fourier Transformation (DFT) gef¨ uhrt. Ist die Zahl der Meßwerte eine ganze Potenz von 2 (z.B. 256, 512, ...), so kann die DFT mit geringer Rechenzeit durchgef¨ uhrt werden. Man bezeichnet das bez¨ uglich Rechenzeit optimierte Verfahren als Fast Fourier Transformation (FFT). Die Rechenzeitersparnis ist ein Hauptgrund daf¨ ur daß MRT, bzw. CT Bilddaten h¨aufig eine Aufl¨osung von 256 × 256 Pixel aufweisen. Beim L¨ osen von Differentialgleichungen wie im Beispiel oben schr¨ankt die Fouriertransformation die Anwendung auf ’impulsartige’ Funktionen ein. Außerdem ist die R¨ ucktransformation in den Zeitbereich h¨ aufig sehr aufwendig. Die Laplace Transformation beseitigt diese Nachteile. Sie ist das Werkzeug der Wahl zur Berechnung von Schaltvorg¨angen in der Elektrotechnik und analogen Elektronik, sowie von Ausgleichsvorg¨angen in der Regelungstechnik. Die z-Transformation ist das digitale Gegenst¨ uck zur analogen Laplace Transformation. Sie ist das m¨ achtigste Verfahren bei der Dimensionierung von Schaltkreisen der digitalen Signalverarbeitung (z.B. digitale Telefonie, digitales Fernsehen).

3.3

¨ Ubungsaufgaben

Theoriefrage: Zeigen Sie, wie man f¨ ur eine periodische Funktion fL (x) mit der Fundamentalperiode 2L durch den Grenzwert¨ ubergang L → ∞ zur Fourierintegraldarstellung einer

¨ 3.3 Ubungsaufgaben

57

aperiodischen Funktion f (x) gelangt. Nennen Sie eine hinreichende Bedingung, f¨ ur die Fourierintegrale existieren. Beispiel: Ein Kippimpuls zur Magnetresonanttomographie erzeuge folgendes Anregungsprofil: A(ω) ≡ 0 und B(ω) ist die in der Skizze unten dargestellte Dreiecksfunktion. Der Parameter ω0 legt die Schichtmitte fest, und ∆ω legt die Schichtdicke fest. B(ω) 6k @ @ @ @ @

ω0 − ∆ω

ω0

-

ω0 + ∆ω

ω

Beispiel: Man berechne die Fouriertransformation des biphasischen Defibrillationsimpulses f (x):  0 f¨ ur t < −τ  U f¨ ur − τ < t < 0 f (x) = (3.56)  −U e−t/τ f¨ ur t > 0.

Beispiel: Man berechne die Fouriertransformation der Funktion f (x):  2 k[1 − ( x−T T ) ] 0 < t < 2T f (x) = −f (−x) f (x) = 0 t > 2T.

(3.57)

Hinweis: Nutzen Sie die Ableitungsregel zur Vereinfachung der Integration. Beispiel: Man berechne die Fouriertransformationen der unten dargestellten Funktionen f (x) und f 0 (x): f 0 (x) 6k

f (x) 6 k

T

@ @ @ @ @ -

−T

T

-

x

−T

T

x

58

Kapitel 3: Fourierintegrale & Fouriertransformation

Beispiel: Man berechne die Fouriertransformation der Funktion f (x) unter Ausnutzung der Linearit¨ atseigenschaften: f (x) 6 2k k -

−3T

−T

T

3T x

Beispiel: Man berechne die Fouriertransformation der Funktion f (x): f (x) 6 k @

@ @ @

@ @ @ @

−2T

−T

@ @

T

-

2T x

Hinweis: Mit Hilfe des Additionstheorems kann die L¨osung aus der Fouriertransformation des Dreieckimpulses berechnet werden. Die Ableitungsregel erm¨oglicht eine Kontrolle mit wenig Rechenaufwand. Beispiel: Berechnen Sie die Funktion h(x), die man durch Faltung der Funktionen f (x) und g(x) erh¨ alt. Skizzieren Sie die L¨ osung.   k f¨ ur | x |< π cos x f¨ ur | x |< π f (x) = , g(x) = . (3.58) 0 sonst 0 sonst

Beispiel: Berechnen Sie die Funktion h(x), die man durch Faltung der Funktionen f (x) und g(x) erh¨ alt. Skizzieren Sie die L¨ osung.   −x k f¨ ur | x |< 1 xe f¨ ur x > 0 f (x) = , g(x) = . (3.59) 0 sonst 0 sonst

Kapitel 4 Vektoranalysis

4.1

Einfu ¨ hrung, Grundlagen

Im Folgenden wird kurz die im Kapitel verwendete Schreibweise eingef¨ uhrt: Vektoren werden normalerweise als fettgedruckte (Klein-)Buchstaben gekennzeichnet, deren Komponenten mit demselben Buchstaben in normaler Schrift (mit Subindizes). Wenn die Form Darstellung der Komponenten nicht von Bedeutung ist, k¨onnen Vektoren grunds¨atzlich sowohl als Zeilen- als auch Spaltenvektor angeschrieben sein. Etwa bei Matrizenmultiplikationen ist eine Unterscheidung allerdings sehr wohl von Bedeutung. Punkte im Raum, die unabh¨ angig von einer Koordinatendarstellung sind, werden mit Großbuchstaben in normaler Schrift geschrieben. Matrizen werden auch als Großbuchstaben dargestellt, ebenso wie geometrische Teilmengen des Raumes (Punkte, Fl¨achen, Kurven). Der folgende Abschnitt wiederholt einige Begriffe aus der linearen Algebra, anschließend werden wichtige Begriffe der Vektoranalysis eingef¨ uhrt: Raumkurven, Vektorfelder, skalare Funktionen.

4.1.1

Koordinatensysteme, Koordinatentransformation

Wir bezeichnen mit Rn den n-dimensionalen Euklidischen Raum, der die Grundlage f¨ ur unsere physikalischen Modelle bildet. Jeder Raumpunkt r l¨asst sich als Linearkombination von n linear unabh¨angigen Vektoren (Basisvektoren) auf folgende Art darstellen:

r=

n X

ri ei

(4.1)

i=1

Die Koeffizienten ri bezeichnen wir als Koordinaten von r bez¨ uglich der Basis ei . Verwendet man stattdessen eine andere Basis von Rn , nennen wir sie e0i mit Koordinaten ri0 , so l¨asst sich die urspr¨ ungliche Basis in die neue mit einer invertierbaren, linearen Abbildung u uhren: ¨berf¨ f (ei ) = e0i

∀i

(4.2)

60

Kapitel 4: Vektoranalysis

Stellt man die Abbildung durch eine Matrix A dar, so ergeben sich folgende Zusammenh¨ange:   0   r1 r1  ..   ..  0 0 (4.3) (e1 , ..., en )A = (e1 , ..., en ),  .  = A .  0 rn rn Die Koordinaten-Vektoren transformieren sich invers zu den Basisvektoren selbst. Um die jeweils andere Transformation zu erhalten, muss die Matrix A invertiert werden. Wir werden haupts¨ achlich mit kartesischen Koordinatensystemen arbeiten, die sich dadurch auszeichnen, dass die Basisvektoren auf 1 normiert sind und paarweise aufeinander orthogonal stehen (orthonormale Basis). Zwei orthonormale Basen transformieren sich zueinander u ¨ber orhtogonale Matrizen. Solche Matrizen haben die Eigenschaft, dass Multiplikation mit deren Transponierter RR> = R> R = In (4.4) gerade die n−dimensionale Einheitsmatrix ergibt. 4.1.2

Raumkurven

Definition Ein wichtiges Konzept im Rahmen der Vektoranalysis sind (parametrische) Kurven im Raum, also Funktionen, die einem skalaren Parameter einen Ortsvektor zuordnen. Dabei h¨angt der Ortsvektor oft stetig (differenzierbar) vom Parameter ab. Bei Problemen aus der Mechanik l¨ asst sich beispielsweise die Bewegung von Massenpunkten mit solchen Raumkurven darstellen, wobei der Parameter die Zeit ist. In Abb. 4.1 ist etwa die Bahn eines Planeten im Schwerefeld eines anderen als Raumkurve dargestellt. Mathematisch

Abbildung 4.1: Elliptische Bahn eines Planeten um einen anderen. Der Ausgangspunkt wird nach der Umlaufzeit wieder erreicht. Die Pfeile deuten die Bewegungsrichtung an. verstehen wir unter einer Raumkurve C also eine Abbildung von der Art r : I ⊆ R −→ R3 :

t 7→ r(t)

(4.5)

4.1 Einf¨ uhrung, Grundlagen

61

mit einem beliebigen Intervall I. Beispiele: 1. Gleichf¨ ormige Bewegung: r(t) = r0 + v0 t

(4.6)

mit konstanten Vektoren r0 und v0 2. Beschleunigte Bewegung (Wurfparabel): r(t) = r0 + v0 t + g

t2 2

(4.7)

mit konstanten r0 , v0 und g (Erdbeschleunigung). Tangentenvektor Wird die Bahn eines Massenpunktes durch eine Raumkurve dargestellt, interessiert man sich oft auch f¨ ur seine Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit. Diese Gr¨oßen werden durch den sogenannten Tangentenvektor bestimmt, der die Raumkurve in jedem Punkt linear approximiert. Der Tangentenvektor in einem Punkt P l¨asst sich konstruieren, indem man den Vektor von P zu einem benachbarten, ebenfalls auf der Kurve liegenden Punkt Q betrachtet, und mit Q entlang der Kurve Richtung P wandert (Abb. 4.2). Das f¨ uhrt uns zur Definition der Ableitung einer

Abbildung 4.2: Konstruktion des Tangentenvektors anhand der Bahnkurve mit Darstellung (t2 , t3 ). Tangentenvektoren sind in P und im Koordinatenursprung O eingezeichnet.

62

Kapitel 4: Vektoranalysis

Raumkurve: Den Vektor

r0 (t) =

dr r(t + ∆t) − r(t) = lim dt ∆t→0 ∆t

(4.8)

nennt man den Tangentenvektor der Kurve C im Punkt r(t), falls r an dieser Stelle differenzierbar und die Ableitung 6= 0 ist. Man erh¨alt den Tangentenvektor also durch Differenzieren jeder seiner Komponenten. Ist der Tangentenvektor 0, kann dies entweder bedeuten, dass die Kurve an dieser Stelle keine Tangente hat (z.B. konstante Funktion) oder dass die Parametrisierung “ung¨ unstig” gew¨ahlt 2 3 ist. Ein Beispiel f¨ ur letzteren Fall ist etwa die Kurve r(t) = (t , t , 0) f¨ ur t ∈ [0, ∞] mit r0 (t) = (2t, 3t2 , 0) (siehe Abb. 4.2), f¨ ur die die Ableitung im Punkt t = 0 der Nullvektor ist. Die Kurve besitzt aber sehr wohl eine Tangente, wie im Bild zu erkennen. Das Problem l¨ost man in diesem Fall, indem man die Parametrisierung ¨andert und t2 durch einen neuen Parameter 3 s ersetzt: r(s) = (s, s 2 , 0). Dies a ¨ndert zwar die Durchlaufgeschwindigkeit, die Gestalt der Kurve bleibt jedoch gleich. Beachte dabei den Unterschied der beiden Begriffe Tangente und Tangentenvektor: Beim Tangentenvektor kommt es auf Betrag und Richtung an, und der Betrag h¨angt auch von der Parametrisierung ab. Die Tangente hingegen ist eine Gerade und h¨angt nur von der Geometrie der Kurve ab. Wenn sich etwa eine Kurve an einer Stelle u ¨berschneidet, gibt es dort keine eindeutige Tangente,

Abbildung 4.3: Kurven mit nicht eindeutigen Tangentenvektor in manchen Punkten. (Quelle: Kreyszig) wohl aber jeweils einen Tangentenvektor f¨ ur die einzelnen Stellen in der parametrisierten Kurve (Abb. 4.3). Man spricht allgemein von einer glatten Kurve, wenn in jedem Punkt ein eindeutiger Tangentenvektor (in einer beliebigen Parametrisierung) existiert, dieser Tangentenvektor im Kurvenverlauf stetig variiert und nirgends 0 wird. Man nennt eine Kurve st¨ uckweise glatt, wenn sie sich aus endlich vielen glatten Kurven zusammensetzen l¨asst. Ein Beispiel daf¨ ur ist etwa ein Rechteck, das aus vier glatten Kurven besteht. Beachte, dass Glattheit und st¨ uckweise Glattheit also eine Frage der Parametrisierung ist. F¨ ur Bahnkurven in der Mechanik (mit der Zeit als Parameter) entspricht der Tangentialvektor genau dem Geschwindigkeitsvektor der Bewegung.

4.1 Einf¨ uhrung, Grundlagen

63

Bogenl¨ ange F¨ ur die Bestimmung der Bogenl¨ ange einer Kurve in parametrischer Darstellung kommt der Tangentialvektor zur Anwendung: Zun¨achst approximieren wir die Kurve durch endlich viele Geradenst¨ ucke, deren L¨ angen man leicht angeben kann (Abb. 4.4):

Abbildung 4.4: Parametrische Kurve im R2 mit Unterteilung in einzelne Segmente.

Sn =

X

si = |r(ti + ∆ti ) − r(ti )| n p X (r(ti + ∆ti ) − r(ti ))2 = si =

i

(4.9) (4.10)

i=1 n X i=1

s

r(ti + ∆ti ) − r(ti ) ∆ti

2 ∆ti

(4.11)

Macht man nun den Grenz¨ ubergang n → ∞ und ∆ti → ∞ (wodurch das ∆ zu einem d wird), so ergibt sich das Integral ZB p ZB r dr dr lim Sn = · dt = r0 (t) · r0 (t)dt. (4.12) n→∞ dt dt A

A

Beispiel: Kreisbogen r(t) = R(cos ωt, sin ωt, 0)

(4.13)

r (t) = Rω(− sin ωt, cos ωt, 0)

(4.14)

0

Bestimmen wir die Bogenl¨ ange des Kreisbogens von Winkel 0 bis zu einem Winkel α, so ergibt sich das erwartete Resultat α Zω S(α) = Rωdt = Rα. (4.15) 0

64

Kapitel 4: Vektoranalysis

Bemerkung: Der Parameter ω (“Winkelgeschwindigkeit” der gew¨ahlten Bahn) f¨allt bei der Berechnung der Bogenl¨ ange heraus. Dies leuchtet ein, weil die Bogenl¨ange immer nur von der Geometrie der Kurve abh¨ angig ist, nicht aber von der gew¨ahlten Parametrisierung. Man kann die Bogenl¨ ange von einem fixen Anfangspunkt r(a) und variablen Endpunkt als Funktion des Parameters t auffassen Zt q s(t) = r0 (e t) · r0 (e t)de t.

(4.16)

a

Dann erh¨alt man durch Differenzieren nach t gerade den Integranden auf der rechten Seite. Quadriert man zus¨ atzlich die Gleichung, so ergibt sich  2  2  2  2 ds dx dy dz = + + . (4.17) dt dt dt dt Es ist u ¨blich, dass man ds als das Bogenelement der Kurve bezeichnet, wobei die folgende Beziehung gilt: ds2 = dx2 + dy 2 + dz 2 (4.18) 4.1.3

Skalare Funktionen, Vektorfelder

Wir werden nun weitere Begriffe einf¨ uhren, n¨amlich skalare und vektorielle Funktionen. Viele Zusammenh¨ ange in der Physik lassen sich durch Funktionen dieser beiden Typen darstellen. Wir nennen eine skalare Funktion eine Abbildung der Art f : M ⊆ R3 −→ R :

P 7→ f (P ),

(4.19)

die jedem Raumpunkt eine skalaren Wert zuordnet. Beispiele hierf¨ ur sind etwa die Temperatur- oder Druckverteilung eines Objekts zu einem bestimmten Zeitpunkt (Wetterkarte). Andere Beispiele, sogenannte Potentiale, werden wir sp¨ater noch kennenlernen. Ebenfalls vom skalaren Typ ist eine Funktion, die jedem Punkt seinen Abstand zum Koordinatenursprung zuordnet: f (P ) = |P − O|, oder in kartesischen Koordinaten p f (x, y, z) = x2 + y 2 + z 2 . (4.20) Wir nennen ein Vektorfeld eine Abbildung der Art v : M ⊆ R3 −→ R3 :

P 7→ v(P ),

(4.21)

die jedem Raumpunkt einen Vektor zuordnet. Ein Beispiel daf¨ ur ist das Geschwindigkeitsfeld eines bewegten Mediums (fest, fl¨ ussig, gasf¨ormig) oder das Gravitationsfeld (Kraftfeld) eines Massenpunktes: Betrachten wir etwa eine Kreisscheibe vom Radius R, die in der x − y−Ebene liegt und mit

4.1 Einf¨ uhrung, Grundlagen

65

Abbildung 4.5: Geschwindigkeitsvektoren einer rotierenden Kreisscheibe. (Quelle: Kreyszig) legt ein Punkt der Scheibe mit der Umlaufzeit 2π ω um die z−Achse rotiert (Abb. 4.5). Dannp Koordinaten (x, y, 0) in der Zeit (2π/ω) die Strecke 2πr = 2π x2 + y 2 zur¨ uck. Das ergibt f¨ ur jeden Punkt den Geschwindigkeitsvektor ! ! p 1 2π x2 + y 2 (−y, x, 0) p (4.22) 2π x2 + y 2 ω (Einheitsvektor mal Betrag). Damit l¨ asst sich das Geschwindigkeitsvektorfeld auch schreiben als       x 0 −y in der x − y − Ebene. (4.23) v(x, y, z) =  x  =  0  ×  y  z ω 0 Das Kraftfeld eines Massenpunktes der Masse M (im Koordinatenursprung liegend) auf eine weitere Masse m am Ort r ist gegeben durch das Gravitationsgesetz

Abbildung 4.6: Darstellung eines Gravitationsfeldes. (Quelle: Kreyszig)

F(r) = −G

Mm r, |r|3

(4.24)

66

Kapitel 4: Vektoranalysis

2

wobei G = 6.674 · 10−11 Nm die Gravitationskonstante bezeichnet (Abb. 4.6). kg2 Wir werden in den n¨ achsten beiden Abschnitten auf Differentiation und Integration im Raum n¨aher eingehen und dabei immer wieder auf skalare und vektorielle Funktionen stoßen.

4.2

Differenzieren

Wir wollen uns im Rahmen der Vorlesung haupts¨achlich mit Problemen im 1- bis 3-dimensionalen Raum besch¨ aftigen und auf h¨ oher dimensionale R¨aume nicht n¨aher eingehen. Die Einf¨ uhrung der partiellen Ableitung und die Formulierung der Kettenregel in mehreren Dimensionen kommt jedoch gleich in der verallgemeinerten Form. 4.2.1

Partielle Ableitungen, Kettenregel

Wir betrachten eine vektorwertige Funktion y, die von mehreren Variablen abh¨angt:     x1 y1 (x1 , ..., xm )  ..    .. y : M ⊆ Rm −→ Rn :  .  7→   . xm

(4.25)

yn (x1 , ..., xm )

Die Definition der partiellen Ableitung einer Komponente yi der Funktion lautet dann in einem Punkt x ∈ M yi (x1 , ..., xj + ∆xj , ..., xm ) − yi (x1 , ..., xm ) ∂yi = lim . (4.26) ∆xj →0 ∂xj ∆xj Die Funktion ist dann partiell nach xj differenzierbar, falls dieser Grenzwert existiert, bzw. partiell differenzierbar, falls sie f¨ ur alle Koordinaten xj partiell differenzierbar ist. Die partielle ¨ Ableitung gibt also den Grad der Anderung einer Funktion in eine bestimmte Richtung an und ist selbst wieder eine Funktion. Man verwendet dabei das Symbol ∂ im Unterschied zum Symbol d bei Funktionen mit nur einer Ver¨ anderlichen. Man kann f¨ ur y alle partiellen Ableitungen an einem Punkt in einer n × m-Matrix, der sogenannten Jacobi-Matrix J(y), zusammenfassen:   ∂yi J(y) = (4.27) ∂xj i,j ¨ Ahnlich wie f¨ ur die eindimensionale Differentialrechnung kann man auch f¨ ur mehrere Dimensionen eine Kettenregel f¨ ur die Ableitung angeben. Betrachten wir die Hintereinanderausf¨ uhrung der Abbildungen einer (skalaren) Funktion f und einer vektoriellen Funktion y (z.B. Koordinatentransformation): y

f

fy : M ⊆ Rm −→ N ⊆ Rn −→ R :

fy (x) = f (y(x))

(4.28)

Dann gilt f¨ ur die partiellen Ableitungen der Hintereinanderausf¨ uhrung n

X ∂f ∂yj ∂fy = , ∂xi ∂yj ∂xi j=1

(4.29)

4.2 Differenzieren

67

falls die partiellen Ableitungen von f und der yj an dieser Stelle existieren. In Matrixschreibweise l¨asst sich dann die Jacobi-Matrix der Zusammensetzung als Produkt der Einzelmatrizen darstellen: J(fy ) = J(f )J(y) (4.30) In Komponenten ausgeschrieben lautet diese Gleichung folgendermaßen:  

∂f ∂x1

···

∂f ∂xm



=



∂f ∂y1

···

∂f ∂yn



 ·

∂y1 ∂x1

.. .

∂yn ∂x1

··· .. . ···

∂y1 ∂xm

.. .

∂yn ∂xm

  

(4.31)

Der Subindex y bei f wurde hier weggelassen, weil man auch durch die Argumente xi bzw. yj erkennen kann, welche Art von f gemeint ist. 4.2.2

Gradient, Richtungsableitung

Definition des Gradienten Bildet man die partiellen Ableitungen einer skalaren Funktion f in alle Raumrichtungen, so erh¨alt man eine vektorwertige Funktion (Vektorfeld), die wir den Gradienten nennen. In drei Dimensionen schreibt man   ∂f ∂f ∂f grad f = (4.32) , , = ∇f, ∂x ∂y ∂z wobei der sogenannte Nabla-Operator als  ∇=

∂ ∂ ∂ , , ∂x ∂y ∂z

 (4.33)

definiert ist. Der Nabla-Operator ist also ein vektorartiger Operator, der hier auf eine skalare Funktion angewandt wird. Richtungsableitung Eine weitere Form einer Ableitung f¨ ur eine skalare Funktion f ist die sogenannte Richtungsablei¨ tung. Sie ist ein Skalar, der die Anderungsrate von f in eine vorgegebene Richtung beschreibt. So gesehen besteht der Gradient aus (4.32) aus drei spezifischen Richtungsableitungen, n¨amlich gerade in die Richtungen der Koordinatenachsen. F¨ ur einen vorgegebenen Richtungsvektor n mit Betrag 1 ist die Richtungsableitung von f im Punkt p definiert als f (p + sn) − f (p) . s→0 s

(Dn f )(p) = Dn f = lim

(4.34)

68

Kapitel 4: Vektoranalysis

¨ Die Funktion f wird also entlang einer Geraden durch p in Richtung n variiert, und deren Anderungsrate betrachtet. Wir betrachten zun¨achst die Hintereinanderausf¨ uhrung der zwei Funktionen fr : R −→ R3 −→ R (4.35) s 7→ r(s) 7→ f (r), wobei die linke Abbildung r(s) = p + sn die parametrische Darstellung der Geraden ist. Dann kann die Richtungsableitung wegen (4.35) und wegen der Definition der Ableitung in einer r Ver¨anderlichen auch geschrieben werden als df ds . Aufgrund der Kettenregel ergibt sich die wichtige Folgerung Dn f =

∂f dx ∂f dy ∂f dz dr dfr = + + = (grad f ) · = (grad f ) · n. ds ∂x ds ∂y ds ∂z ds ds

(4.36)

Die Richtungsableitung l¨ asst sich also als Projektion des Gradienten auf die vorgegebenen Richtung (Einheitsvektor) darstellen. Man kann diesen Zusammenhang auch schreiben als Dn f = (grad f ) · n = |grad f | cos(γ),

(4.37)

wenn γ den Winkel zwischen grad f und n bezeichnet. Betrachtet man nun eine Variation aller m¨oglichen Richtungsvektoren mit L¨ ange 1, wird der Wert f¨ ur Dn f genau dann maximal, wenn γ = 0 ist. Daraus k¨ onnen wir folgern, dass die Richtungsableitung genau in die Richtung des Gradienten maximal wird. Mit anderen Worten, der Gradient von f zeigt gerade in die Richtung der maximalen Steigung von f . Wir k¨onnen umgekehrt diese Eigenschaft auch als Charakterisierung des Gradienten auffassen: Sei der Gradient so definiert, dass er in die Richtung der maximalen Steigung von f zeigt und sein Betrag den Wert dieser Steigung hat. Da dieser Definition im Gegensatz zu (4.32) kein spezifisches Koordinatensystem zu Grunde liegt, k¨onnen wir sagen, dass der Gradient vom gew¨ahlten (kartesischen) Koordinatensystem unabh¨angig ist. Praktisch bedeutet das, dass etwa in einem anderen kartesischen Koordinatensystem (x∗ , y ∗ , z ∗ ) der Gradient   ∂f ∂f ∂f grad f = , , (4.38) ∂x∗ ∂y ∗ ∂z ∗ in dieselbe Richtung zeigt wie im urspr¨ unglichen. Beispielsweise kann das andere Koordinatensystem gedreht sein relativ zum urspr¨ unglichen. Gradient als Fl¨ achennormale Wir betrachten hier eine Fl¨ ache S ⊆ R3 , die durch eine Gleichung f (x, y, z) = 0 dargestellt werden kann. Beispielsweise l¨ asst sich die zweidimensionale Sph¨are mit Radius R durch f (x, y, z) = x2 + y 2 + z 2 − R2 repr¨ asentieren. Man kann nun beliebige Kurven auf S betrachten, die durch einen bestimmten Punkt laufen: r(t) = (x(t), y(t), z(t))

(4.39)

4.2 Differenzieren

69

Wegen der charakterisierenden Gleichung von S gilt also f (r(t)) = 0 und damit wegen der Kettenregel (4.29) 0=

∂f dx ∂f dy ∂f dz df = + + = (grad f ) · r0 . dt ∂x dt ∂y dt ∂z dt

(4.40)

Der Gradient in einem bestimmten Punkt P steht also normal auf den Tangentenvektor jeder beliebigen Kurve, die auf S liegt und durch P geht. Somit steht der Gradient auch normal auf die Gesamtheit aller Tangentenvektoren in einem Punkt, der sogenannten Tangentenebene (Abb. 4.7).

Abbildung 4.7: Normale auf eine Tangentenebene, die Kurve C l¨auft auf der Oberfl¨ache. (Quelle: Kreyszig) Beispiel: Kugeloberfl¨ ache Stellt man eine Kugeloberfl¨ ache durch die oben genannte Gleichung dar, so ergibt sich als Gradient grad f = 2(x, y, z), (4.41) also in jedem Punkt der nach außen zeigende Normalvektor auf die Kugel. Potentiale Man nennt eine skalare Funktion, deren Gradient ein gegebenes Vektorfeld ergibt, ein Potential. Falls ein Potential f¨ ur ein Vektorfeld existiert, nennt man dieses ein konservatives Vektorfeld. Nicht jedes Vektorfeld ist konservativ, eine Charakterisierung werden wir sp¨ater kennenlernen. Die Vorteile, mit einem Potential anstatt einem Vektorfeld arbeiten zu k¨onnen, liegen z.T. auf der Hand: Die Reduktion von drei Komponenten auf eine spart Rechenarbeit. Einen anderen Vorteil, wie etwa die Wegunabh¨ angigkeit von Linienintegralen, werden wir noch kennenlernen. Beispiel: Kraftfeld einer Punktladung q0 auf eine andere Ladung q Nach dem Coulombschen Gesetz gilt f¨ ur diese Kraft F(r) =

1 qq0 r 4πε0 |r|3

(4.42)

70

Kapitel 4: Vektoranalysis

mit r dem Abstandsvektor zwischen den beiden Ladungen. Man kann leicht u ufen, dass ¨berpr¨ f¨ ur das Potential definiert durch f (x, y, z) =

1 qq0 p 4πε0 x2 + y 2 + z 2

(4.43)

genau die Beziehung grad f = −F gilt. Dividiert man die Gl. (4.42) bzw. (4.43) durch die Probeladung q (Bezug auf eine Einheitsladung), so erh¨alt man daraus genau den Ausdruck f¨ ur die elektrische Feldst¨ arke E bzw. das elektrische Potential φ einer Punktladung. Beispiel aus der Bildverarbeitung Der Gradient findet z.T. auch Anwendung in der Bildverarbeitung, etwa bei Grauwertbildern (R¨ontgen, MRI, Ultraschall). In solchen Grauwertbildern ist jedem Ort im Bild eine Zahl (Grauwert) aus einem bestimmten Bereich zugeordnet. Der Gradient zeigt dann in die Richtung der st¨arksten Ver¨ anderung dieses Grauwertes, und gibt mit seinem Betrag auch ein Maß f¨ ur diese Ver¨anderung an. An den Stellen, an denen der Gradient ein gewisse Schwelle u ¨berschreitet, werden somit die Kanten von Objekten zu finden sein. Die detektierten Kanten kann man wiederum verwenden, um Objekte aus dem Bild zu extrahieren. 4.2.3

Divergenz

Der Nabla-Operator kann auch auf Vektorfelder angewendet werden. Wie wir sehen werden, ist das Ergebnis dieser Operation ein Skalar, die sogenannte Divergenz des Vektorfeldes. Die Divergenz hat Bedeutung in vielen Bereichen der Physik, wie etwa in der Str¨omungslehre oder in der elektromagnetischen Feldtheorie. Definition F¨ ur ein gegebenes, differenzierbares Vektorfeld v(x, y, z) mit den Komponenten v1 , v2 und v3 ist die Divergenz definiert als div v =

∂v1 ∂v2 ∂v3 + + . ∂x ∂y ∂z

(4.44)

Man kann also die Divergenz auch als “Skalarprodukt” des Nabla-Operators mit dem Vektorfeld ¨ v auffassen. Ahnlich wie beim Skalarprodukt zweier Vektoren wird hier jede Komponente des Nabla-Operators auf die entsprechende Komponente von v angewandt:  div v = ∇ · v = 

∂ ∂x ∂ ∂y ∂ ∂z

 

 v1  ·  v2  v3

(4.45)

4.2 Differenzieren

71

Genau wie der Gradient ist auch die Divergenz unabh¨angig vom gew¨ahlten kartesischen Koordinatensystem. F¨ ur ein Vektorfeld v, das in anderen Koordinaten (x∗ , y ∗ , z ∗ ) dargestellt ist (z.B. gedrehtes Koordinatensystem), ergibt die Divergenz div v =

∂v1 ∂v2 ∂v3 + + ∂x∗ ∂y ∗ ∂z ∗

(4.46)

dasselbe skalare Feld wie in den urspr¨ unglichen Koordinaten. Nachdem die Anwendung des Nabla-Operators auf ein skalares Feld ein Vektorfeld, und auf ein Vektorfeld ein skalares Feld ergibt, kann man auch beide Operationen kombinieren. Man erh¨alt dadurch den sogenannten Laplace-Operator (∆, nicht zu verwechseln mit dem Symbol ¨ f¨ ur “kleine Anderungen” einer Gr¨ oße): div grad f = ∇ · (∇f ) = ∇2 f = ∆f

(4.47)

In der Elektrostatik kennen wir das elektrische Feld E und das zugeh¨orige Potential φ. Die Divergenz des Feldes hat eine besondere Bedeutung und h¨angt mit der Quellendichte zusammen (siehe n¨achster Abschnitt). Wegen E = −grad φ ergibt sich also div E = −∇2 φ.

(4.48)

Man kann zeigen, dass die Divergenz des elektrischen Feldes einer Punktladung (CoulombGesetz) außerhalb der Ladung verschwindet, also div E(r) = ∇2 φ(r) = 0,

fu ¨r r 6= 0

(4.49)

Kontinuit¨ atsgleichung Wir wollen uns jetzt ein besseres Bild von der Bedeutung der Divergenz machen. Betrachten wir dazu das Geschwindigkeitsvektorfeld v eines bewegten Mediums, z.B. einer Fl¨ ussigkeit oder eines Gases. Dabei wird, zu einem bestimmten Zeitpunkt, jedem Ort im Raum der Geschwindigkeitsvektor der Teilchen zugeordnet, die sich dort befinden. Der Einfachheit halber beschr¨anken wir uns auf zwei Dimensionen. Wie in Abb. 4.8 dargestellt, betrachten wir ein kleines Fl¨achenst¨ uck ∆A = ∆x∆y an einer Position (x, y). Wir m¨ochten nun wissen, wie viele Teilchen u ¨ber die Grenzlinien in das Fl¨ achenst¨ uck gelangen, bzw. wie viele es verlassen. Wir f¨ uhren daher ein Vektorfeld u = %v ein, das v mit der Teilchendichte wichtet. Diese Gr¨oße hat dann die Dimenkg m kg sion [u] = [%][v] = m 2 s = ms , gibt also die Menge (Masse) der Teilchen an, die pro Zeit- und L¨angeneinheit durch die Grenzfl¨ ache des Fl¨achenst¨ ucks geht. Die Gesamtmenge der Teilchen durch die linke Kante ergibt daher ∆y∆tu1 (x, y +

∆y ) = ∆y∆tu1 (x). 2

(4.50)

Hier m¨ ussen wir beachten, dass nur der Teil von u senkrecht zur Kante (also u1 ) einen Beitrag liefert. Das zweite Argument von u1 lassen wir der Einfachheit halber weg. Analog lassen sich

72

Kapitel 4: Vektoranalysis

die Anteile durch die u ¨brigen Kanten bestimmen: rechts ∆y∆tu1 (x + ∆x, y + ∆y 2 ) = ∆y∆tu1 (x + ∆x) ∆x oben ∆x∆tu2 (x + 2 , y + ∆y) = ∆x∆tu2 (y + ∆y) unten ∆x∆tu2 (x + ∆x 2 , y) = ∆x∆tu2 (y)

(4.51)

Abbildung 4.8: Fluss eines Vektorfeldes durch ein Fl¨achenelement ∆A in 2D. F¨ ur die Nettozunahme bzw. -abnahme der Teilchen im Fl¨achenst¨ uck muss man alle 4 Terme summieren und dabei auf die richtigen Vorzeichen achten: ∆y∆tu1 (x + ∆x) − ∆y∆tu1 (x) + ∆x∆tu2 (y + ∆y) − ∆x∆tu2 (y) = ∆t ∆x∆y | {z }

h

u1 (x+∆x)−u1 (x) ∆x

+

u2 (y+∆y)−u2 (y) ∆y

i

(4.52)

∆A

¨ Auf der anderen Seite entspricht der Fluss durch die W¨ande des Fl¨achenst¨ ucks genau der Anderung der Teilchenmenge im Inneren: −∆%∆A (4.53) Setzt man nun beide Terme gleich, dividiert durch ∆t und ∆A und macht den Grenz¨ ubergang ∆x, ∆y und ∆t gegen 0, so erh¨ alt man die sogenannte Kontinuit¨atsgleichung der Str¨omungslehre: ∂% + div (%v) = 0 ∂t

(4.54)

Sie besagt nichts anderes als die Erhaltung der Masse bei Str¨omungen. F¨ ur eine station¨ are Str¨ omung (Dichte a¨ndert sich nicht mit der Zeit) gilt div (%v) = 0,

(4.55)

und wenn die Dichte auch r¨ aumlich konstant ist, dann folgt div (v) = 0.

(4.56)

Die letzte Bedingung ist auch die sogenannte Inkompressibilit¨atsbedingung (inkompressibel = Dichte des Mediums r¨ aumlich konstant).

4.2 Differenzieren

73

Wir haben somit gesehen, dass die Divergenz den Nettofluss des Vektorfeldes durch ein Volumselement (Fl¨achenelement) misst, also Abfluss minus Zufluss. Anschaulich gesprochen entspricht eine positive Divergenz eher einem Auseinanderlaufen der Vektoren (Quellen), eine negative Divergenz hingegen eher einem Zusammenlaufen der Vektoren (Senken). Betrachten wir zum ¨ der auf eine ruhige Wasseroberfl¨ache trifft. Die GeschwindigBeispiel einen d¨ unnen Strahl Ol, ¨ keitsvektoren der Ol-Partikel als zweidimensionales Vektorfeld zeigen dann von dem Punkt weg, ¨ an dem das Ol auftrifft. Die Divergenz ist dort positiv. Wenn man auf der anderen Seine eine d¨ unne Wasserschicht in einem Becken mit Abfluss als zweidimensionales Vektorfeld beschreibt, so werden die Vektoren eher in Richtung des Abflusses zeigen. Der Abfluss ist eine Senke, und die Divergenz ist dort negativ. Beispiel: Betrachten wir etwa das Geschwindigkeitsvektorfeld der Kreisscheibe aus Abb. 4.5   −y v(x, y, z) =  x  ω, (4.57) 0 so ergibt sich als Divergenz gleich 0, was in diesem Fall die Inkompressibilt¨at der Kreisscheibe zum Ausdruck bringt. 4.2.4

Rotation

Definition und Bedeutung Man kann den Nabla-Operator auch wie ein Kreuzprodukt f¨ ur Vektoren auf ein Vektorfeld anwenden. Damit ergibt sich wieder ein Vektorfeld, die sogenannte Rotation (rot , im Englisch sprachigen Raum auch curl). Die formale Definition in kartesischen Koordinaten (in einem Rechtssystem) f¨ ur ein Vektorfeld v lautet also   ∂v3 ∂v2 ∂y − ∂z  1 ∂v3  rot v = ∇ × v =  ∂v . (4.58) ∂z − ∂x  ∂v2 ∂v1 ∂x − ∂y Bemerkung: Im Gegensatz zu Gradient und Divergenz, ist die Definition der Rotation nicht direkt auf den 2-dimensionalen Raum u ¨bertragbar. Bettet man ein 2-dimensionales Vektorfeld im R3 ein, so ist nach (4.58) nur die z-Komponente ungleich 0. Das bedeutet also, dass die Rotation im 2-Dimensionalen zu einer skalaren Funktion entartet. Da wir auch die Rotation in (4.58) f¨ ur ein vorgegebenes kartesisches Koordinatensystem definiert haben, soll auch an dieser Stelle gesagt sein, dass die Rotation in einem anderen kartesischen Koordinatensystem mit derselben Definition dasselbe Vektorfeld ergibt. Auf ¨ahnliche Weise wie die Divergenz mit dem Netto-Fluss durch ein kleines Volumselement kann man sich die Rotation als diejenige Gr¨oße vorstellen, mit der ein infinitesimal kleiner K¨orper (z.B. eine Kugel) im Vektorfeld aufgrund der Pfeilrichtungen “rotiert”. Dabei hat diese Gr¨oße sowohl eine Richtung (Drehachse), als auch einen Betrag (Drehgeschwindigkeit), sie ist also eine

74

Kapitel 4: Vektoranalysis

vektorielle Gr¨ oße. Im 2-Dimensionalen ist hingegen nur eine Drehachse m¨oglich (n¨amlich die ¨ gedachte z-Achse, Abb. 4.9), daher ist das Aquivalent der Rotation in 2D eine skalare Gr¨oße. Betrachten wir noch einmal das Beispiel der drehenden Kreisscheibe, so ergibt sich hier als Rotation das konstante Vektorfeld   0 rot v(x, y, z) =  0  . (4.59) 2ω Der Betrag eines sich drehenden Vektorfeldes ist also immer die doppelte Winkelgeschwindigkeit der Drehbewegung. Abbildung 4.9 zeigt dieses Vektorfeld.

Abbildung 4.9: Darstellung der Rotation eines Vektorfeldes an zwei Stellen durch kleine, an der Drehachse befestigte Kreisscheiben. Vektorfelder mit einer Rotation gleich 0 nennt man auch wirbelfrei. Eigenschaften Wir k¨onnen zwei wichtige Eigenschaften der bisher kennen gelernten Operatoren direkt aus ihren Definitionen herleiten: F¨ ur ein zweimal stetig differenzierbares Vektorfeld v gilt div (rot v) = 0,

(4.60)

und f¨ ur ein zweimal stetig differenzierbares skalares Feld f gilt rot (grad f ) = 0.

(4.61)

Die Gleichung (4.61) heisst mit anderen Worten, dass ein konservatives Vektorfeld wirbelfrei ist. Unter bestimmten Umst¨ anden gilt sogar die Umkehrung: Aus rot v = 0 kann man die Existenz eines Potentials f mit grad f = v folgern. Die genaue Formulierung dieses Satzes lautet:

4.3 Integration

75

F¨ ur ein Vektorfeld v, das auf einem einfach zusammenh¨angenden Gebiet D definiert ist und dort eine stetige partielle Ableitung besitzt, sind folgende Aussagen ¨aquivalent: • Es gibt ein Potential f mit grad f = v, • rot v = 0 in D. Die Bedingung “einfach zusammenh¨ angend” von D bedeutet, dass jeder geschlossene Weg in D stetig u uhrt werden kann in einen Punkt. Das gilt zum Beispiel f¨ ur das Innere einer ¨bergef¨ Kugel oder einer Kugelschale, jedoch nicht mehr f¨ ur den Zwischenraum von zwei konzentrischen Kreisen. Bemerkung: In 2 Dimensionen lautet die 2. Bedingung in Komponenten angeschrieben gerade ∂v2 ∂v1 = . ∂x ∂y

(4.62)

Dies erinnert stark an die Bedingung einer exakten Differentialgleichung aus dem ersten Kapitel.

4.3

Integration

Wir kommen nun zu den mehrdimensionalen Integralen. Wie bei der Differentiation gibt es verschiedene M¨ oglichkeiten f¨ ur die Integration im Raum, je nach Typ der Funktion und Integrationsbereich. 4.3.1

Mehrdimensionale Integrale

Ebene

Abbildung 4.10: Unterteilung eines Bereiches R in kleine Rechtecke. (Quelle: Kreyszig)

Doppelintegrale stellen die zweidimensionale Verallgemeinerung von bestimmten Integralen in einer Ver¨ anderlichen dar. F¨ ur eine gegebene Funktion f in R ⊆ R2 teilt man den Definitions-

76

Kapitel 4: Vektoranalysis

bereich R in kleine Rechtecke mit der Fl¨ache ∆xi ∆yi (Abb. 4.10). Das Integral vob f u ¨ber R approximiert man zun¨ achst u ¨ber die Summe u ¨ber n Rechtecke und bildet dann den Grenzwert n → ∞: ZZ n X Sn = f (x, y)dA (4.63) f (xi )∆xi ∆yi = i=1

R

Die Berechnung eines solchen Integrals f¨ uhrt man u ¨ber zwei Integrationen mit jewils einer Variablen von x und y aus, wobei im Allgemeinen die Reihenfolge von x und y keine Rolle spielt (Abb. 4.11): Zb

ZZ f (x, y)dxdy = R



h(x) Z

  a

g(x)



Zd

 f (x, y)dy  dx = c



 q(y) Z   f (x, y)dx dy 

(4.64)

p(y)

Man beachte hierbei, dass die Integrationsgrenzen durchaus wieder von der jeweils anderen Variable abh¨ angen k¨ onnen.

Abbildung 4.11: Integrationsgrenzen f¨ ur ein Gebiet R. (Quelle: Kreyszig)

Raum Die r¨aumliche Integration einer Funktion f (x, y, z) mit Definitionsbereich T ⊆ R3 kann in analoger Weise zu den Doppelintegralen auf ein Tripelintegral mit drei sukzessiven Integrationen erweitert werden: ZZZ f (x, y, z)dxdydz (4.65) T

4.3 Integration

4.3.2

77

Kurvenintegrale

Definition und Beispiele Wir beginnen hier mit einer kurzen Motivation aus der Physik. Betrachten wir die Bewegung eines beliebigen K¨ orpers (Massenpunkt) in einem konstanten Kraftfeld F (z.B. dem Gravitationsfeld eines anderen K¨ orpers). Die mechanische Arbeit, die an diesem K¨orper verrichtet wird, ist dann gegeben durch die zur¨ uckgelegte Wegstrecke mal der Kraft in Wegrichtung (Abb. 4.12). Um die Gesamtarbeit zu berechnen, m¨ ussen wir den gesamten Weg in lauter kurze St¨ ucke un-

Abbildung 4.12: Berechnung der Verschiebungsarbeit einer Bahnkurve.

terteilen und die Summe u ¨ber alle Teilarbeiten bilden. Sei jetzt einmal angenommen, dass die Kurve durch r(t) parametrisiert ist, dann ergibt sich f¨ ur die Summe aller Arbeiten der Ausdruck W =

n X

F(r(t)) · (r(ti+1 ) − r(ti ))

i=1

∆ti . ∆ti

(4.66)

Macht man den Grenz¨ ubergang hin zu infinitesimal kleinen Wegst¨ ucken, wird aus dieser Summe letztendlich ein Integral. Das f¨ uhrt uns zum so genannten Kurven- oder Linienintegral des Vektorfeldes F entlang der Kurve C: Z

Z F(r)dr =

C

C

dr F(r(t)) (t)dt = dt

Z

F(r(t))r0 (t)dt

(4.67)

C

Man bezeichnet hier die Kurve auch als Integrationsweg oder Integrationspfad. Im Linienintegral wird also das skalare Produkt aus Richtungsvektor des Feldes und Tangentenvektor der Kurve gebildet und u ¨ber C integriert. Man beachte, dass wir hier zwar eine spezielle Parametrisierung von C angenommen haben (von der auch der Tangentenvektor abh¨angt), aber letztendlich ist der Wert des Integrals von der Parametrisierung unabh¨angig. Wichtig ist nur, dass es (bis auf endlich viele Punkte) u ¨berall einen eindeutigen Tangentenvektor geben muss, also der Integrationspfad sollte glatt oder zumindest st¨ uckweise glatt sein. St¨ uckweise glatt geht deshalb, weil man “kleine” Mengen (z.B. Punkte) aus dem Definitionsbereich herausnehmen kann, sich der

78

Kapitel 4: Vektoranalysis

Wert des Integrals dadurch aber nicht a¨ndert. Das Integral ¨ andert jedoch sein Vorzeichen, wenn der Integrationspfad in umgekehrter Richtung durchlaufen wird, wenn sich also die Orientierung ¨andert. St¨ uckelt man zwei oder mehrere Wege C1 , ..., Cn zu einem Gesamtweg C zusammen, so erh¨ alt man f¨ ur das gesamte Linienintegral gerade die Summe Z F(r)dr =

n Z X

F(r)dr.

(4.68)

i=1 C

C

i

Eine besondere Schreibweise gibt es f¨ ur einen geschlossenen Pfad, dies deutet man oft durch ein I Z anstatt dem an. (4.69) Fasst man das Linienelement dr durch seine Komponenten auf, und multipliziert diese formal mit den Komponenten des Vektorfelds, ergibt sich eine Schreibweise f¨ ur das Linienintegral, wie sie etwa im Kreyszig auch verwendet wird: Z Z F(r)dr = (F1 dx + F2 dy + F3 dz), (4.70) C

C

wobei F1 , F2 und F3 die einzelnen Komponenten von F bezeichnen. Linienintegrale fu ¨ r konservative Vektorfelder Linienintegrale sind im Allgemeinen vom Integrationspfad abh¨angig. Eine Ausnahme hiervon machen jedoch die konservativen Vektorfelder. Man kann mit der Wegunabh¨angigkeit von Linienintegralen sogar die Konservativit¨at charakterisieren: Ein Vektorfeld F besitzt genau dann ein Potential f mit grad f = F, wenn das Linienintegral entlang eines beliebigen Weges C nur von deren Endpunkten, nicht aber vom Weg an sich abh¨angt. Der Beweis in der einen Richtung erfolgt durch Anwendung der Kettenregel: Angenommen, f sei ein Potential von F, und r(t) sei eine Darstellung des Weges mit den beiden Endpunkten r(0) = A und r(1) = B, dann k¨onnen wir f¨ ur das Linienintegral schreiben Z1

Z F(r)dr = Z

0

1

(4.71)

0

∂f dx ∂f dy ∂f dz + + ∂x dt ∂y dt ∂z dt

 dt =

(4.72)

df dt = f (r(1)) − f (r(0)) = f (B) − f (A). dt

(4.73)

0

Z

C 1

(grad f ) · r0 (t)dt =

4.3 Integration

79

Das Integral ist also gegeben durch die Werte des Potentials am Anfangs- und Endpunkt der Kurve und unabh¨ angig davon, wie die Kurve genau verl¨auft. Der Beweis der umgekehrten Richtung des Satzes findet sich etwa im Anhang vom Kreyszig. Wir wollen ihn an dieser Stelle weglassen. Die Wegunabh¨ angigkeit von Linienintegralen l¨asst sich noch auf eine andere Weise charak-

Abbildung 4.13: Zusammensetzen von zwei Pfaden mit gleichem Anfangs- und Endpunkt bzw. Unterteilen eines geschlossenen Pfades in zwei Teile.

terisieren, n¨ amlich u ¨ber geschlossene Pfade: Man kann n¨amlich sagen, dass Linienintegrale u ¨ber beliebige geschlossene Kurven genau dann verschwinden, wenn Linienintegrale u ¨ber zwei beliebige Pfade mit gleichem Anfangs- und Endpunkt gleich groß sind (Abb. 4.13). Damit kann man auch folgern: Ein Vektorfeld F besitzt genau dann ein Potential f mit grad f = F, wenn das Linienintegral entlang eines beliebigen geschlossenen Weges C gleich 0 ist. Von dieser Eigenschaft kommt urspr¨ unglich der Name konservativ. Beschreiben wir etwa die Bewegung eines K¨ orpers in einem Kraftfeld, stellt das Wegintegral gerade die mechanische Arbeit dar, also die Zu- oder Abnahme der mechanischen Energie auf seiner Bahnkurve. Diese ¨ Energie ist insofern erhalten, als dass sie auf geschlossenen Wegen keine Anderung erf¨ahrt. Klassisches Beispiel f¨ ur so ein System ist das Gravitationsfeld einer Massenverteilung oder das elektrostatische Feld einer Ladungsverteilung. Kommen hingegen Verlustkr¨afte wie Reibung oder Luftwiderstand hinzu, verliert das System die Eigenschaft der Konservativit¨at, und es wird dissipativ. Ein typisches Beispiel f¨ ur ein nicht konservatives Feld ist das rotierende Geschwindigkeitsfeld (4.59) im vorigen Abschnitt.

80

Kapitel 4: Vektoranalysis

Abbildung 4.14: Parametrisierung einer Kugel mit Hilfe zweier Winkel. Die Tangentialebene in einem Punkt (u0 , v0 ) und deren Basis, bestehend aus den Tangentialvektoren ru und rv sind ebenfalls eingezeichnet.

4.3.3

Oberfl¨ achenintegrale

Darstellung von Oberfl¨ achen im Raum, Tangentialebenen Wir kennen im Prinzip zwei M¨ oglichkeiten, eine Fl¨ache S im Raum mittels Funktionen darzustellen, n¨amlich • durch eine Gleichung g(x, y, z) = 0 oder • in parametrischer Form als r(u, v) = (x(u, v), y(u, v), z(u, v)) .

(4.74)

Zum Beispiel k¨ onnen wir die Einheitssph¨are entweder durch die Gleichung g(x, y, z) = x2 + y 2 + z 2 − 1

(4.75)

   x(u, v) sin(u) cos(v)  y(u, v)  =  sin(u) sin(v)  z(u, v) cos(u)

(4.76)

oder durch die Parametrisierung 

¨ darstellen (siehe auch Abb. 4.14). Ahnlich wie Tangentialvektoren an Kurven l¨asst sich an jeden Punkt der Fl¨ ache S eine Tangentialebene legen, vorausgesetzt, S hat an dieser Stelle keine

4.3 Integration

81

Spitze oder Kante (ist also glatt). Die Tangentialebene einer Fl¨ache S am Punkt P ist definiert als die Menge aller Tangentialvektoren von Kurven auf S die durch P laufen. Das ergibt im Allgemeinen eine Ebene, die sich mit zwei linear unabh¨angigen Richtungsvektoren darstellen l¨asst. F¨ ur gegebene Parametrisierung r(u, v) = (x(u, v), y(u, v), z(u, v)) ,

r(u0 , v0 ) = P

(4.77)

laufen etwa die beiden Kurven r(u, v = v0 ), r(u = u0 , v)

(4.78)

durch P , und deren Tangentialvektoren ∂r ∂r (u0 , v0 ), rv = (u0 , v0 ) (4.79) ∂u ∂v bilden eine Basis der Tangentialebene in P (Abb. 4.14). Einen Normalenvektor bzw. Einheitsnormalenvektor auf die Tangentialebene erhalten wir durch ru =

N = ru × rv ,

n=

N . |N|

(4.80)

Oberfl¨ achenintegral einer skalaren Funktion Bei gegebener Fl¨ ache S mit Parametrisierung wie im vorigen Abschnitt und gegebener skalarer Funktion f (r) auf S interessiert uns nun das Integral von f u ¨ber S. Da wir es im Allgemeinen mit gekr¨ ummten Fl¨ achen zu tun haben, betrachten wir zun¨achst ein infinitesimal kleines Fl¨achenst¨ uck um den Punkt r(u, v), (Abb. 4.15). Da dieses Fl¨achenst¨ uck im Allgemeinen ein

Abbildung 4.15: Herleitung des Integrals u ¨ber die Gesamtoberfl¨ache S. Parallelogramm bildet, erhalten wir den Fl¨acheninhalt durch den Betrag des Kreuzproduktes der beiden aufspannenden Vektoren. Durch Erweitern mit ∆u und ∆v erhalten wir den Ausdruck r(u + ∆u, v) − r(u, v) r(u, v + ∆v) − r(u, v) . (4.81) f (r(u, v))(∆u∆v) × ∆u ∆v

82

Kapitel 4: Vektoranalysis

Die beiden Faktoren des Kreuzproduktes approximieren die partiellen Ableitungen der Parametrisierung r, also f¨ ur kleine ∆u, ∆v n¨ahern sie sich den Basisvektoren der Tangentialebene ru und rv . F¨ ur die Summe u ¨ber alle Einzelfl¨achen erhalten wir im Grenzwert das so genannte Oberfl¨achenintegral von f u ¨ber S, das hiermit lautet ZZ

ZZ f (r)dA =

S

f (r(u, v))|N(u, v)|dudv,

(4.82)

R

wobei R den betreffenden Bereich im u-v-Raum bezeichnet. Somit kann man das Oberfl¨achenintegral auf ein Doppelintegral zur¨ uckf¨ uhren. Man kann (4.82) nun beispielsweise verwenden, um den Fl¨acheninhalt einer (gekr¨ ummten) Fl¨ache S zu berechnen. In diesem Fall muss man die zu integrierende Funktion f (r) = 1 setzen. Oberfl¨ achenintegral eines Vektorfeldes Wir definieren das Oberfl¨ achenintegral eines Vektorfeldes F u ¨ber eine Fl¨ache S als den Fluss von F durch diese Fl¨ ache (Flussintegral). Der Fluss sei wie gehabt definiert als die Projektion von F auf die Fl¨achennormale, multipliziert mit dem Fl¨acheninhalt (Abb. 4.16). Dadurch ¨andert sich

Abbildung 4.16: Fluss eines Vektorfeldes durch ein Fl¨achenelement. im Ausdruck (4.81) nur der Faktor f (r(u, v)), der durch die Projektion F · n ersetzt wird. Mit dem Grenz¨ ubergang zu einem Integral erhalten wir das Oberfl¨achenintegral des Vektorfeldes F u ¨ber S als Fluss durch die Gesamtoberfl¨ache. Man kann hier verwenden, dass der Einheitsvektor n, multipliziert mit dem Betrag |N|, gerade N selbst ergibt. Somit erhalten wir ZZ

ZZ F · ndA =

S

F(r(u, v)) · N(u, v)dudv.

(4.83)

R

Orientierung von Fl¨ achen Die Definition des Normalvektors (4.80) h¨angt von der Reihenfolge der beiden Faktoren im Kreuzprodukt ab. Als Folge dessen kann N zwei verschiedene Orientierungen haben (in die Fl¨ache hinein, aus der Fl¨ ache heraus), die sich nur durch das Vorzeichen unterscheiden. Dementsprechend kann daher auch das Vorzeichen des Integranden in (4.83) wechseln. Man muss sich daher im Einzelfall im Klaren sein, welche Orientierung der Fl¨achennormale gemeint ist. F¨ ur

4.3 Integration

83

das Oberfl¨achenintegral einer skalaren Funktion in (4.82) ist die Orientierung egal. Eine Fl¨ache heißt dann orientierbar, wenn eine Orientierung der Fl¨achennormale stetig und auf eindeutige Weise u ur eine ¨ber die gesamte Oberfl¨ache fortgesetzt werden kann. Ein Beispiel f¨ nicht orientierbare Fl¨ ache ist das M¨ obius-Band (Abb. 4.17): Wenn man mit dem Normalvektor um das Band l¨ auft und dabei die Orientierung beibehalten m¨ochte, zeigt dieser nach einem Umlauf in die entgegengesetzte Richtung wie am Beginn. Im Falle einer nicht orientierbaren Fl¨ache ist also das Flussintegral nicht definiert.

Abbildung 4.17: M¨ obius-Band als Beispiel f¨ ur eine nicht orientierbare Fl¨ache. (Quelle: Kreyszig)

Satz von Gauß Der Satz von Gauß (Divergenztheorem) bringt Flussintegrale u ¨ber geschlossene Oberfl¨achen und Volumsintegrale in Beziehung miteinander. Dieser Zusammenhang zum Beispiel dann von Bedeutung, wenn eine Form des Integrals intuitiver oder einfacher zu l¨osen ist als die andere. Wir werden außerdem noch zwei Beispiele aus der Physik kennenlernen, in denen der Satz von Gauß den Zusammenhang zwischen einem Feld und seinen Quellen ausdr¨ uckt. Der Satz von Gauß lautet folgendermaßen: Sei T ein geschlossenes Volumen im Raum mit st¨ uckweise glatter Oberfl¨ache S. Sei weiters eine Vektorfunktion F(x, y, z) gegeben, die in einer offenen Teilmenge von R3 , die T enth¨alt, partiell differenzierbar ist mit stetigen partiellen Ableitungen. Dann gilt folgende Gleichheit: ZZZ

ZZ F · ndA

div FdV = T

(4.84)

S

Anwendungsbeispiele fu ¨ r den Satz von Gauß Elektrisches Potential Wir berechnen zun¨ achst den elektrischen Kraftfluss einer Punktladung q im Mittelpunkt einer Kugel mit Radius R durch die Kugeloberfl¨ache. Die elektrische Feldst¨arke an der Kugeloberfl¨ache hat den Wert 1 qr . (4.85) E= 4πε0 R3

84

Kapitel 4: Vektoranalysis

Berechnet man das Oberfl¨ achenintegral dieses Feldes u ¨ber die Kugeloberfl¨ache (mit geeigneter ¨ Parametrisierung), erh¨ alt man (siehe Ubungsbeispiel) ZZ q E · ndA = . (4.86) ε0 S

Bei diesem Ausdruck f¨ allt auf, dass der Fluss nur von der Ladung q im Inneren der Kugel, nicht aber vom Kugelradius R abh¨ angt. Man kann sogar zeigen, dass das Ergebnis von (4.86) unabh¨angig von der genauen Gestalt des geschlossenen Volumens und von der Position der Ladungen im Innern des Volumens ist. Nehmen wir jetzt im Innern eines Volumens V mit Oberfl¨ache S eine beliebige Ladungsverteilung mit Raumladungsdichte %(r), so berechnet sich die Gesamtladung q als das Volumsintegral u ¨ber %. Dies setzen wir in (4.86) ein und wenden außerdem den Satz von Gauß an: ZZZ q 1 = %(r)dV (4.87) ε0 ε0 ZZ Z ZVZ = E · ndA = div EdV (4.88) S

V

Der zweite und vierte Ausdruck sind jeweils ein Volumsintegral. Da die Gleichung f¨ ur beliebige Volumina V gilt, k¨ onnen wir die Integranden gleichsetzen und erhalten die wichtige Beziehung div E =

% . ε0

(4.89)

Das elektrische Feld ist also proportional zur Ladungsdichte, die ihrerseits die “Quellen” des elektrischen Feldes darstellen. Daraus kann man f¨ ur das elektrische Potential φ schließen ∇2 φ = −

% , ε0

(4.90)

der Laplace-Operator ergibt also 0 im ladungsfreien Raum. Man nennt (4.90) auch die PoissonGleichung bzw. Laplace-Gleichung, falls die rechte Seite 0 ist. W¨ armeleitung Wir wissen zun¨ achst aus physikalischen Experimenten, dass W¨arme grunds¨atzlich von h¨oheren zu niedrigeren Temperaturen fließt. R¨aumlich gesehen fließt sie in Richtung des st¨arksten Temperaturunterschiedes, also in Richtung des Gradienten des Temperaturfeldes T (r) v = −λgrad T,

(4.91)

wobei λ eine Proportionalit¨ atskonstante, die sogenannte W¨armeleitf¨ahigkeit ist. Der W¨armefluss durch eine beliebige Oberfl¨ ache S eines geschlossenen Volumens V kann geschrieben werden als ZZ v · ndA. (4.92) S

¨ 4.4 Ubungsaufgaben

85

Wegen des Gauß’schen Satzes ergibt sich ZZ ZZZ ZZZ v · ndA = −λ div (grad T )dxdydz = −λ ∇2 T dxdydz. S

V

(4.93)

V

Auf der anderen Seite gibt der W¨ armefluss durch die Oberfl¨ache gerade die Abnahme (Zunahme) der im Volumen gespeicherten Energie ZZZ ∂H ∂T − =− κ% dxdydz, (4.94) ∂t ∂t V

wobei wir hier Konstanten f¨ ur die Materialdichte % und spezifische W¨armekapazit¨at des Materials κ eingef¨ uhrt haben. Wiederum k¨onnen wir aufgrund des beliebig gew¨ahlten Volumens V die Integranden der Gleichungen (4.93) und (4.94) gleichsetzen und erhalten dadurch die W¨armeleitungsgleichung ∂T K = c2 ∇2 T, c2 = . (4.95) ∂t κ%

4.4

¨ Ubungsaufgaben

4.4.1

Differentialrechnung

Beispiel: Gegeben ist eine skalare Funktion f (x, y, z) = eine Fl¨ache im Raum durch die Parametrisierung x = u2 + v 2 ,

y = u2 − v 2 ,

1 x2 +y 2 +z 2

von 3 Variablen. Weiters sei

z = 2uv

(4.96)

gegeben. a) Geben Sie f als Funktion der Parameter u und v auf der Fl¨ache an. b) Berechnen Sie die partiellen Ableitungen von f nach u und v. c) Wenden Sie f¨ ur die Berechnung der partiellen Ableitungen aus b) nun die Kettenregel an: Bestimmen Sie dazu zun¨ achst die Jacobi-Matrizen   ∂f ∂f ∂f , , (4.97) ∂x ∂y ∂z und  

∂x ∂u ∂y ∂u ∂z ∂u

∂x ∂v ∂y ∂v ∂z ∂v

 

(4.98)

und bilden das Produkt der beiden Matrizen. Zeigen Sie, dass die sich ergebende Matrix   ∂f ∂f , (4.99) ∂u ∂v

86

Kapitel 4: Vektoranalysis

mit dem Ergebnis aus a) u ¨bereinstimmt. Um die Gleichheit zu zeigen, muss man noch x, y und z im Ergebnis durch u und v ausdr¨ ucken. Beispiel: Gegeben ist eine skalare Funktion der Gestalt f (x, y) =

y , x

(4.100)

wobei x = x(t) und y = y(t) Funktionen von einem Parameter t sind. Wenden Sie die Kettenregel an und finden Sie einen Ausdruck f¨ ur die Ableitung df . dt

(4.101)

Vergleichen Sie das Resultat mit der Regel f¨ ur die Ableitung eines Quotienten. Theoriefrage: F¨ ur welche Typen von Funktionen (skalar oder vektoriell) wird der Gradient gebildet? In welche Richtung zeigt er, und wie groß ist sein Betrag? Theoriefrage: Was misst, anschaulich gesprochen, die Divergenz eines Vektorfeldes, das die Bewegung von Teilchen modelliert? Bringen Sie jede der 3 Aussagen div v > 0, div v < 0 und div v = 0 in Zusammenhang mit einer der folgenden Aussagen: 1. Der Nettofluss durch ein kleines Volumselement (bzw. Fl¨achenelement f¨ ur 2-dimensionale Vektorfelder) an der Stelle ist 0. 2. An der Stelle befindet sich eine Senke. 3. An der Stelle befindet sich eine Quelle.

Beispiel: Bestimmen Sie die Divergenz der folgenden Vektorfelder: a) v = (x3 + y 3 , 3xy 2 , 3zy 2 ) b) v = (e2x cos(2y), e2x sin(2y), 5e2z ) c) v = (x2 + y 2 , 2xyz, z 2 + x2 ) Beispiel: Bestimmen Sie die Divergenz des elektrischen Feldes einer Ladung q0 im Koordinatenursprung 1 q0 (x, y, z) (4.102) E(x, y, z) = p 4πε0 x2 + y 2 + z 2 3 f¨ ur r 6= 0. Beispiel: Bestimmen Sie die Rotation der folgenden Vektorfelder. Leiten Sie aus dem

¨ 4.4 Ubungsaufgaben

87

Vektorfeld ein Potential ab, falls ein solches existiert. a) v = (yex , ex , 2z) b) v = (3x2 , 2yz, y 2 ) ¨ Beispiel: Uberpr¨ ufen Sie folgende Relationen durch komponentenweises Nachrechnen: a) div (rot v) = 0 b) rot (grad f ) = 0

4.4.2

Integralrechnung

Beispiel: Berechnen Sie die Doppelintegrale durch zwei sukzessive Integrationen (zuerst nach y, dann nach x). Bestimmen Sie anschließend die Integrationsgrenzen f¨ ur die umgekehrte Reihenfolge anhand der beigef¨ ugten Abb. 4.18 und f¨ uhren die Integration erneut aus. Vergleichen Sie die Ergebnisse. R1 R2x a) (x + y)2 dy dx b)

0 x R1 Rx

(1 − 2xy) dy dx

0 x2

Abbildung 4.18:

88

Kapitel 4: Vektoranalysis

Beispiel: Bestimmen Sie die beiden Koordinaten des Schwerpunkts des Halbkreises R (s. Abb. 4.19) ZZ ZZ 1 1 x dx dy und y = y dx dy. (4.103) x= A A R

R

Abbildung 4.19:

Beispiel: Bestimmen Sie das Wegintegral des Vektorfeldes v vom Punkt (1, 0, 0) nach (0, 1, 0), einmal u unden Sie, warum im Fall a) beide ¨ber den Weg C1 , dann u ¨ber C2 , C3 (Abb. 4.20). Begr¨ Wege dasselbe Ergebnis liefern. Zeigen Sie, dass man das Ergebnis in a) auch ohne Integration unter Verwendung eines Potentials bestimmen kann (f¨ ur das Potential siehe fr¨ uheres Beispiel). a) v = (3x2 , 2yz, y 2 ) b) v = (xy, −y 2 , 0)

Abbildung 4.20:

Theoriefrage: Wie lautet der Satz von Gauß f¨ ur eine Vektorfunktion F, die stetig partiell

¨ 4.4 Ubungsaufgaben

89

differenzierbar ist in einem Volumen V mit st¨ uckweise glatter, geschlossener Oberfl¨ache S? Welche Arten von Integralen werden hier in Beziehung gesetzt? Beispiel: Gegeben sei die Einheitssph¨are S mit einer Parametrisierung (4.76). Bestimmen Sie f¨ ur die folgenden Vektorfelder das Oberfl¨achenintegral u ur ¨ber S. Verifizieren Sie f¨ a) den Satz von Gauß, indem Sie die Divergenz des Vektorfeldes und das entsprechende Volumsintegral bilden. a) v = (x, y, z) b) v = √ (x, y, z) 3 x2 +y 2 +z 2

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